Ich würde sterben,
hätte ich nicht das Wort
ERSTER TEIL
Kindheit und Jugend
Lebenslauf
Geboren ward Klabund,
Da war er achtzehn Jahre
Und hatte blonde Haare
Und war gesund.
Doch als er starb, ein Trott,
War er zwei Jahre älter,
Ein morscher Luftbehälter,
So stieg er aufs Schafott.
Er bracht ein Zwilling um…
(Das Mädchen war vom Lande
Und kam dadurch in Schande
Und ins Delirium.)
Am 308. Tag des Jahres 1890 – etwas genauer: am Dienstag, den 4. November – kam in Crossen an der Oder Alfred Georg Hermann Henschke um 1.oo Uhr mittags auf die Welt und die glücklichen Eltern waren der Apotheker Dr. Alfred Henschke und seine Ehefrau Emilie Antonie.
In seinem Geburtsjahr war das Deutsche Kaiserreich fast 20 Jahre alt, nur noch drei Monate fehlten. Diese Reichsgründung erfolgte im Spiegelsaal des Schlosses von Versailles nach dem Sieg des „Norddeutschen Bundes“ und seiner süddeutschen Verbündeten über Kaiser Napoleon III. von Frankreich am 18. Januar 1871.
Weniger als 38 Jahre später starb Klabund in Davos, die Welt hatte einen „Erdenbürger“ weniger und niemand hätte davon Notiz genommen. Wenn – ja nicht wenn – heute über jenen Alfred Georg Hermann zu lesen wäre, er sei einer der berühmtesten Persönlichkeiten der in diesem Jahr Geborenen. Sein Sternzeichen ist zwar Skorpion, aber nach dem chinesischen Horoskop wurde er unter dem Sternzeichen des „Metall-Tigers“ geboren. Vielleicht hat er deswegen Nachdichtungen aus dem chinesischen geschrieben?
Übrigens, am 9. Januar desselben Jahres erblickte Kurt Tucholsky das Licht der Welt und 18 Tage nach ihm Charles de Gaulle.
Seit 1888 wohnte die Familie Henschke – aus Frankfurt/Oder kommend – in Crossen und Dr. Henschke betrieb dort die Königlich-privilegierte Adler-Apotheke, die sich in der Dammstraße 344/45 befand, Fredis Geburtshaus, um die Meinungsverschiedenheiten, wo er geboren wurde, auszuräumen.
Oft
Gedenk ich deiner
Kleine Stadt am blauen
Rauen Oderstrom,
Nebelhaft in Tau und Au gebettet
An der Grenze Schlesiens und der Mark,
Wo der Bober in die Oder,
Wo die Zeit
Mündet in die Ewigkeit —
Crossen war damals eine ca. 7000 Einwohner zählende preußische Klein – und Garnisonsstadt, kaisertreu, provinziell und konservativ, in der die Eltern großes Ansehen genießen. Fredi war gerade mal drei Jahre alt, da wurde sein Vater 1893 in den Magistrat berufen, dem er bis 1930 angehörte und 1907 wählte man ihn zum unbesoldeten ersten Beigeordneten, also dem Stellvertreter des Bürgermeisters und noch zu Lebzeiten wurde er Ehrenbürger von Crossen. Heute würde man sagen, die Familie gehörte zu den Honoratioren der Stadt.
Guido von Kaulla schreibt:
„ …Dr. Henschke ist ein Mann von ungewöhnlicher Tatkraft. Vom Ausbruch des Ersten Weltkrieges an ist Fredis Vater sieben Jahre lang ehrenamtlicher Bürgermeister. Und als danach die Stadt (zugleich mit der Umbenennung des an der Apotheke liegenden Teiles der Roß-Straße in „Dr. Henschke-Straße“ diesen Altbürgermeister zu ihrem Ehrenbürger macht, da teilt der Sohn das am 1. 3. 22 der Schwiegermutter nach Passau mit und bittet, seinem Vater zu gratulieren: er sei ein so ausgezeichneter Mensch.
Fredi hat an ihm ein Vorbild für ein auf die Gemeinschaft gerichtetes Wirken. Der bürgerliche Kernspruch „Arbeiten und nicht verzweifeln“ ziert denn auch die Wand des gemütlichen kleinen Dachzimmers, das ihm zeitlebens im Elternhaus reserviert bleibt. Mitgehörtes Politisches gibt schon dem Knaben Stoff für Reime.“
Vom Vater geerbt, ist Fredi sehr musikalisch und die Eltern fördern diese musikalische Ader.
Unter dem Titel „An der Dammstraße erklang ein „Amati“ veröffentlicht der Redakteur der Crossener Heimatgrüße einen Artikel, den ich auszugsweise einfügen möchte.
„Klabund fand als Konzertpianist Beifall“ Friedrich Waschinsky hat das Wort:
„… Der älteste Sohn des Apothekers Dr. Henschke ist weit über Crossens Grenzen hinaus als eigenwilliger Dichter und Essayist bekannt. Ich erlebte ihn aber auch als begabten Pianisten. Ich hatte zusammen mit Alfred Henschke eine Zeitlang Klavierunterricht bei der ausgezeichneten Musikpädagogin Flora Schmeidler, wohnhaft an der Grabenstraße. Klabund und ich wurden ihre fortgeschrittensten Schüler. Wir durften uns sogar als Solisten bei Veranstaltungen in der Aula des Real Progymnasiums präsentieren. Dabei warteten wir mit Musikstücken auf, die erhebliche Ansprüche stellten.
Alfred Henschke hatte dabei griffmäßig mir gegenüber einen Vorteil. Sein Handrücken war um fast 2 cm breiter als meiner. Dadurch konnte er bequem Oktavenläufe, sogar zwölftönige, greifen. So spielte er bei einem Konzert eine schwierige Komposition von Feruccio Busoni, der damals als Liszt-Interpret berühmt war. Dem konnte ich nur, ebenfalls auswendig, die Phantasie „Am stillen Herd zur Winterszeit“ von Wagner entgegensetzen. Rauschender Beifall belohnte uns. Man riet sogar meinen Eltern, mich zur Ausbildung als Pianist auf das Dresdener Konservatorium zu schicken. Daraus wurde aus wirtschaftlichen Gründen nichts. Es hätte mir sicher nicht geschadet. Das merkte ich, als ich nach 1945 mich für die Musik entschied und dann als Leiter einer qualifizierten Kapelle für Unterhaltungs- und Tanzmusik sowie von 1952 bis 1976 als Organist des Hauptfriedhofs in Frankfurt/Oder wirkte.“
Amateurhaft sind diese „Crossener Stadtmusikanten“ sicher nicht gewesen, denn die Chronik weiß auch zu berichten von Artur Lipsch, der ein faszinierender Geigen-Virtuose gewesen sein soll. „Als Militärmusiker fiel er in Potsdam bei der Tafelmusik dem Kronprinzen durch seine große Begabung auf. Er erhielt von ihm, wie er mir erzählte, eine Amati-Geige als Geschenk“, erzählt Friedrich Waschinsky. „Er ging später als Dirigent der Kurkapelle nach Vevey am Genfer See und wurde danach Kapellenleiter im Berliner Café „Vaterland“, das nur erstklassige Kräfte engagierte.
Was die mehr oder weniger begabten Musiker gespielt hatten, ist wenigstens zum Teil überliefert, denn eines der Programme um 1900 ist erhalten geblieben und daraus ist zu entnehmen, man spielte nach dem Geschmack der damaligen Zeit u. a. Kompositionen von Friedrich von Flotow, Engelbert Humperdinck und Johann Strauß.
Anlässlich eines Jubiläums erschien in der „Heimatgrüßen“ ein weiterer Artikel über Friedrich Waschinsky:
„ …Der jetzige Jubilar besuchte das Crossener Realprogymnasium bis zum „Einjährigen“, gehört somit zu den ältesten noch lebenden Schülern dieser Anstalt und war Klassenkamerad von Rudolf Zeidler und Alfred Henschke alias „Klabund“.
Und ein guter Tippgeber sei Friedrich Waschinsky für Guido von Kaulla gewesen, als dieser „Brennendes Herz Klabund“ schrieb.
Der Vater ein anerkannter Chopininterpret, Fredi zog lieber einige Jahre später mit eigenen Texten durch die Lokale Berlins und Münchens, oder wie Guido von Kaulla es formulierte. „Sein Leben lang wird er es lieben, auf dem Klavier zu improvisieren, eigenen Versen Melodie und Begleitung zu schaffen. Zuweilen hält er eigene Kompositionen schriftlich fest. Und manchmal bereitet er vor der Entstehung eines Gedichtes diesem den Weg durch eine Art von rhythmischem Singsang mit seinem wenig wohlklingenden aber gut charakterisierenden Bariton. Auch auf der Laute kann er sich später begleiten.“
Und die Frauen sollen ihm dabei zu Füßen gelegen sein. Erinnert mich irgendwie an „Man müsste Klavier spielen können“ von Friedrich Hermann Dietrich Schröder.
Jähzornig soll Fredi gewesen sein. Ob es stimmt? Also berufe ich mich wieder mal auf Guido von Kaulla, der schreibt:
„ …Väterlichem Erbe entspringt ebenfalls seine Anlage zum Jähzorn. Freilich hält der Sohn diese Eigenschaft für gewöhnlich unter Kontrolle. In der Fortsetzung „Menschen, eine Lebensskizze“ seines Erstromans „Fahrt ins Leben“ vermerkt der knapp Neunzehnjährige, dass er – im Gegensatz zu den Jünglingen um ihn herum – an der Erziehung durch seine Eltern nichts auszusetzen habe. Und der Zwanzigjährige lässt in seiner Erzählung „Die Nottaufe“ den selbst biographisch gezeichneten Martin Häberle über sich sagen: „Er hatte die Energie vom Vater, das schwärmerisch Verzückte aber von der Mutter geerbt.“
Klabund selber sieht das in einem Brief an seinen väterlichen Freund Walther Heinrich (Unus) einmal so:
… „Ich habe ein gänzlich undiszipliniertes Temperament, es gelingt mir wohl manchmal – es wie den wandelbaren Geist des Märchens in die Flasche zu verschließen, aber ich kann es nicht lange halten, der Korken springt und ein Riese schwillt hervor.“
Sein Sohn Ernst Heinrich charakterisiert Klabund im Vorwort des Buches „Briefe an einen Freund“:
„ … Aus den unbefangenen und ungeschminkten Zeilen des jungen Dichters ließe sich sein Charakterbild lebendig nachzeichnen: seine Ironie und seine Phantasie; seine unbändigen Triebe und seine Sehnsucht nach Reinheit; seine launenhafte Unruhe und seine innere Heimatlosigkeit; seine kritische Stellung zur deutschen Politik und seine Vaterlandsliebe; und in allem seine körperliche Hinfälligkeit und seine unversiegende Schaffenskraft.“
Fredi ist ein „schmächtiges Kind“ aber ungemein sportlich. In der nahen Militärschwimmanstalt lernt er früh schwimmen, treibt sich mit gleichaltrigen an der Oder rum, man baut Dämme und angelt, sicher wird so mancher Fisch seinen Weg in die Kochtöpfe der Mütter gefunden haben.
Fredi rudert, er turnt und fährt Rad und im Winter läuft er Schlittschuh, genug überschwemmte und zugefrorene Wiesen entlang der Oder gibt es ja. 1928 finden die Davoser Eislaufkonkurrenzen statt, Fredi als Zuschauer begeistert sich über die Verbesserung des Weltrekordes um zwei Zehntelsekunden durch den Norweger Ronald Larsen, berichtet der Davoser Redakteur Jules Ferdmann. „Ein Weltrekord in 43,1 Sekunden! Ist es nicht wunderbar?“
Suche ich Gemeinsamkeiten mit meinem Verwandten, finde ich die ganz frühe Begeisterung bei und beiden für alles was kreucht und fleucht und was draußen wächst. Die Betonung liegt auf „draußen“ und so gibt es eine Reihe von Tiergeschichten und Gedichten, die diese Begeisterung zeigen, z.B. die Geschichte von der Grille Helene. Im Garten seiner Großeltern habe ein Reh gestanden, leider tönern, immerhin, aber die Pflanzen waren echt und so sagt er einmal: „Ich hasse es, Pflanzen zu pressen und zu klassifizieren und in ein Herbarium zu kleben. Sakuntala sagt: Ich empfinde eine schwesterliche Liebe zu diesen Pflanzen. Ohne Sakuntala zu kennen, empfand ich diese Liebe zu den Pflanzen“.
Sakuntala ist eine Frauengestalt des indischen Dichters Kalidasa, der wohl Ende 4. / Anfang 5. Jahrhunderts lebte.
Die Grille Helene
„Eine Grille, namens Helene, zirpte vom 1. Juni bis 31. Juli (einundsechzig Tage) ununterbrochen, bis ihr der Stoff ausging. Darauf setzte sie sich ihren Kapotthut auf, hängte sich ihre altmodische Markttasche um und begab sich eiligst in die nächstgelegene Klein- beziehungsweise Mittelstadt. Sie trat in ein Posamenteriewarengeschäft und sprach:
„Ich möchte siebentausend Meter Stoff.“ Der gelbhaarige Kommis errötete bis in die Haarspitzen und klappte sein Mundwerk wie eine Unke verwundert auf und zu:
„Wie bitte?“
Bereitwillig wiederholte die Grille:
„Ich möchte siebentausend Meter Stoff.“
Der Kommis schwänzelte:
„Sieben – tausend Meter Stoff! Zu Diensten, gnädige Frau. Wir werden das Gewünschte durch einen Grossisten besorgen lassen. Darf ich fragen, welchen Stoff Sie benötigen?“
„Siebentausend Meter Stoff“, sagte die Grille und bekam vor Aufregung einen grünen Kopf.
Der Kommis knabberte erregt an seinen Fingernägeln.
„Gnädige Frau“, flötete er, „darf ich fragen, von welchem Stoff?“
„Siebentausend Meter Stoff“, sagte die Grille.
Der Kommis wippte wie eine Spitzentänzerin auf seinen Zehen:
„Gnädige Frau, von welcher Art darf der Stoff sein: Seide? Voile? Leinen? Samt? Barchent? Wolle? Crepe de Chine?“
„Stoff“, sagte die Grille.
Der Schweiß stand ihr auf der Stirn. Sie fiel schwer ächzend in einen Lehnstuhl. Ihr Kleid knackte in allen Nähten. Veitstänzerisch schwankte der Kommis. Sein Ruf klang hilfeheischend wie der Schrei des Nebelhornes in dunkler Nacht.
„Was für ein Stoff, gnädige Frau?“
„Stoff“, sagte die Grille, „einfach Stoff.“
Der Kommis bullerte:
„Wozu benötigen Sie den Stoff, gnädige Frau?“
Die Grille raunzte ärgerlich:
„Wozu? Frage? Zum Zirpen natürlich …“
„Zum – Zirpen -?“
Der Kommis platzte wie ein aufgeblasener Frosch,
Das gab Stoff – für die Reporter – siebentausend Zeilen,
Die Grille ging leer aus.“
Eine wohlbehütete und sorglose Kindheit, in der Fredi als etwas scheues Kind aufwächst und in der er seine Phantasien ausleben kann. Eine, die er im so genannten „Heidehibbel“ in den Oderauen auslebte, beschreibt er: „Dort gingen Geister um. Ich habe einmal versucht, Geister zu beschwören. Aber kein Geist zeigte sich. Nur ein hübsches Mädchen aus Rusdorf.“
„Der Heidehibbel“
Was aber war diese „Heidenlandschaft“ und wo lag sie, deren angeblicher oder tatsächlicher Romantik er ein Denkmal setzen wird und wo … „zwischen Grillenmusik, Heuschrecken und Kiefernwäldern tanze dort des Nachts ein goldenes Irrlicht, das man den Heidestern nenne, welches allen Heidewanderern in Frieden und Wahrheit heimleuchtet“? In seinem 1918 erschienenen Roman „Bracke“ schreibt Fredi:
„ … Bei Crossen, in der Nähe des Heidehibbel, hatte sich ein Sumpf durch die jährlichen Überschwemmungen der Oder gebildet.
Auf dem tanzte Nacht für Nacht ein greuliches Irrlicht und lockte die Männer an sich, dass sie elend im Sumpf versanken.
Denn es war anzusehen wie ein Weib, ganz mit goldenen Brüsten, goldenen Haaren und den grünlichen Augen einer Kröte.
Da flehten die Frauen Bracke an, dass er den bösen Geist vertreiben möge mit Predigt oder mit dem Schlagen des Kreuzes oder mit herzlicher Beschwörung – indem der Unhold schon fünf rüstige Männer aus der Stadt zu Tode gebracht, die außerhalb des Friedhofes der Rechtgläubigen bei den Juden bestattet wurden, denn so wollte es die Geistlichkeit.
Bracke ging in der Nacht über die Aue zum Heidehibbel.
Die Grillen zirpten.
Lauschte nicht der Conte Gaspuzzi, den Kopf leicht seitwärts geneigt, der Grillenmusik?
Verschlafene Heuschrecken sprangen.
Saß nicht auf jeder Nasr-ed-din, der Türke?
Die Feldblumen dufteten.
Bracke setzte sich am Heidehibbel unter eine Kiefer.
Die Luft begann zu tönen. Der Wind knisterte in den Kiefern. Der Sand wandelte.
Und er sah in kurzer Entfernung im Schein des Mondes, der auf gelben Strahlen ihm zum Tanze geigte, das goldene Licht tanzen.
Bracke trat darauf zu und fasste mit fester Hand in das goldene Feuer: er ballte es in seiner Hand, wie wenn er einen Menschenhals packte, und zerrte das Goldene zu sich heran aufs feste Land.
„Ich will dich retten, Irrlicht, Wahnlicht, das du künftig in Ruhe und Wahrheit zu scheinen vermagst“.
Als aber das Licht auf dem Sande stand, da begann es sich zu beruhigen mit feinem Flattern wie ein junger Vogel, wenn die Mutter ihn lockt, oder wie ein unruhig Kind, das man streichelt.
Sacht entwand es sich seiner Hand, stieg aufwärts und ward zum Stern, der noch heutigen Tages über dem Heidehibbel bei Crossen steht und der Heidestern genannt wird und allen Heidewanderern in Friede und Wahrheit heimwärts leuchtet.“
In der Ausgabe vom Juni 1970 des „Crossener Heimatblattes“ schreibt Dr. Joachim Reich – und dieser Artikel ist nicht so romantisch, aber er erklärt endlich präzise – wo der „Heidehibbel“ zu finden ist:
Bootsfahrt rund um den „Heidehibbel“
Spreewaldlandschaft bei Rusdorf Goskarer Fischwald auf den Wiesen
Im Mai oder Juni war es immer wieder einmal so weit, dass der Wasserstand der Oder unterhalb des Abbruches der alten Dammstraße die kleine Stützmauer erreichte. Das galt uns als Zeichen, eine Bootsfahrt um den „Heidehibbel“ nach Goskar und auf der Oder zurück zu unternehmen. Vorbei am Bootshaus des Ruderclubs von 1913 ging es durch den Fischergraben in den Stadtgraben. Das „anrüchige“ linke Ufer meidend fuhren wir immer in Tuchfühlung mit den tief im Wasser stehenden Weidensträuchern am anderen Ufer entlang bis etwa 300 m hinter Biedermanns Grundstück. Hier begann der Jansbeutel, hier hatten bekannte Angler ihr Standquartier. So zum Beispiel der alte Mattner von Zeidlers, Meister Göbel oder Lixe Weichert, der auf die Frage, ob die Fische beißen, immer nur antwortete; „Verfluchte Sch… heute beißt-wieder kein Aas!“
Die Schweinelache kam in Sicht. Sie war ein gutes Angelgewässer und der letzte Zufluchtsort Crossener Selbstmörder. Hier gab es viele Blutegel.
Kurt Regel zeigte uns einmal am Ufer des Rusdorfer Weges, der hier vorbei führte, sein blutendes Bein. Jenseits dieses Weges lag die kleine Schweinelache. Nach dem Hochwasser war sie gut mit Fischen gefüllt. Bäcker Simsch hat einmal kurz hintereinander fünf Hechte herausgeholt.
Doch weiter auf dem Jansbeutel! Nach einigen Kurven dieses romantischen Gewässers gelangte man an eine Spitzkehre, vor der wir immer mit Volldampf zu rudern begannen, um die Tüchtigkeit des Steuermannes zu testen. Nur einer war dieser Lage gewachsen: Werner Thöne. Selbst unser sonst so tüchtiger Dauersteuermann und Buhenspezialist Günther Moser musste hier ausnahmsweise resignieren.
Wir erreichten die alte Holzbrücke, die – mit Schienen beschwert – mitten im Wasser stand und umfahren werden musste. Hinter ihr lag die Stelle, wo man bei flachem Wasser noch die alten Heizrohre der Leitung von den Rusdorfer Bergen den Röhrbrunnen in der Stadt wahrnahm.
Hier war auch immer eine Furt, an der man im Sommer gut Schlammpeizker fangen konnte. Die darauf folgende Insel, mit Unkraut überwuchert und mit einzelnen Weidensträuchern bewachsen, diente den Crossener Schülern als Zufluchtsort bei ihren Indianerspielen. Nach einer Rechtsbiegung um 90 Grad wurde das Gewässer immer schmaler. Vorbei an einer Weideninsel, die alljährlich ein Krähennest beherbergte, kam man in das Revier der Familie Bertig, die hier die Fischereigerechtsame besaß. Das Wasser war an dieser Stelle an heißen Sommertagen so flach und klar, dass man am Gewässergrund den rostigen Raseneisenstein zu erkennen vermochte.
Allmählich traten die Ufer wieder zurück. Der Gewässerlauf bog rechtwinklig nach links um. Hier lagen als Reste einer Endmoräne wurfgerecht Feldsteine am Ufer, eine stete Gelegenheit für die Rusdorfer „Pauernjungen“ und Machens jeden aus Richtung Crossen kommenden Bootsfahrer unter Beschuss zu nehmen. Sie hüteten Ihre Gänse und waren auch durch Rufe wie „Verfluchte Kräten, wir kommen Euch gleich*‘ nicht abzuschrecken. Nur einmal habe ich sie friedlich erlebt. Wir kamen im Boote meines Vaters, von Herrn und Frau Windisch jun. begleitet. Diese nannten ein Paddelboot ihr Eigen, das, außen weiß gestrichen, am Kiel die Farben blau-rot trug, so dass jeder dachte, es sei ein Boot von den 13ern. Mit diesem Ehepaar landeten wir, zogen die Boote an Land, die von den Rusdorfer Gänsehütern interessiert bestaunt wurde und fotografierten alle zusammen, Das Bild besitze ich heute noch. Dass man sie für würdig befand, fotografiert zu werden (1925), imponierte den Jungen maßlos. Der ganze Hass auf die Städter, der bekanntlich auch in den Worten „Ihr Crussener Halunken, im Dracke versunken, in Putter gebroaten und dunnich geroaten“ zum Ausdruck kam, war wie weggeblasen.
Fuhr man weiter, kam man an einen kleinen Kanal, der direkt zum vorderen Heidehibbel führte. Durch ihn gelangte der Bootfahrer in eine märchenhaft schöne Spreewaldlandschaft. Umgeben von Kiefernwald, leichten hier die Fische unter den überhängenden Ufern und kamen, aufgescheucht, hervor. Wilde Kaninchen und gelegentlich auch ein Hase, der sich vor dem Hochwasser gerettet hatte, hoppelten gleichfalls entsetzt davon, wenn unser Boot in ihren Bereich eindrang.
Dieser vordere Heidehibbel kann einmal eine alte Schutzsiedlung gewesen sein, zumal die Oder früher zwischen ihm und den Rusdorfer Bergen entlang floss, äußerte einmal Studiendirektor Dr. Hübener. Sein Sohn Rudolf fand tatsachlich einen Tonscherben. Hoffen wir, dass dieser nicht von „Töpfchen-Neumann“ stammte.
Zurück zum Jähnsbeutel fahrend, gelangten wir an ein kleines Brückchen. Wir mussten drüber hinweg, da es vom Wasser umspült war. Nun beobachteten wir rechts die Störche. Wenn wir uns wie ein Stück Natur, wie ein Fischer benahmen, konnten wir ganz schön dicht an sie herankommen. Sie lebten in einem Froschparadies auf den im Juni überschwemmten blühenden Wiesen.
Allmählich kam der kleine Heidehibbel in Sicht. Wir hielten uns zwischen ihm und den beginnenden Tschausdorfer Wäldern. Schließlich verlor sich der Jähnsbeutel in den Wiesen, die, mäßig überschwemmt, eine Durchfahrt zur Oder gestatteten.
Auf diesen Wiesen gewahrte ich eines Tages viele Menschen. Zuerst konnte ich mir ihre Anwesenheit nicht erklären. Je näher ich jedoch herankam, umso mehr gewann ich den Eindruck, dass Goskarer wildfischten. Sie standen, als ich bei ihnen war, verlegen lächelnd mit den Füßen auf den unsichtbaren Netzen im Wasser. Auf meine Frage: „Na, was macht Ihr denn hier“, bekam ich zur Antwort: „Wie woaten mand nur so!“ Das kann ich nur vorstellen, dass Ihr mand nur so watet‘, war meine Entgegnung. Sie hatten mich irrtümlich für einen Spitzel der Crossener Fischer gehalten.
Noch einige Hundert Meter, dann war die Oder erreicht. Nun ging es mit Unterstützung der Hochwasserströmung Richtung Heimat.“
Und Manfred Hunger vom Lebuser Heimatverein schreibt mir über den „Heidehibbel:
„ … Den „Heidehibbel“ halte ich auch für eine mundartliche Variante der vielfach verbreiteten landschaftlichen Bezeichnung „Heidenhügel“, meist mittelalterliche Deutungen der Anwohner, für kleine – aber markante – Bodenerhebungen, in denen sie zuweilen vorgeschichtliche Funde machten, so auch in meinem Heimatort in Thüringen. Der Flusslauf und der Pegel der Oder, Bober usw. hat sich im Laufe der Zeit verändert und Stellen, die heute von Wasser bedeckt oder als Schrundstellen gerade mal so aus dem Sumpf ragen, können früher Siedlungsstellen oder Thingstellen gewesen sein. Aus den ehemaligen heidnischen Götter – durch die Christianisierung zwar offiziell entmachtet, doch etwas von den alten Vorstellungen blieb – wurden Gespenster und Geister, die im Volksglauben nie ganz ausgerottet werden konnten, Trotz Völkerverschiebungen und Neubesiedlungen halten sich alte Namensgebungen mit ihren manchmal mystischen Deutungen erstaunlich über viele Jahrhunderte. Gerade in Lebus haben wir Hinweise auf solche Änderungen. Vielleicht hat der „Heidehibbel“ bei Krossen eine ähnlichen Stellenwert und geheimnisvollen Ruf in der Tradition der Crossener gehabt.“
Meine Frau, unsere Tochter und ich lieben ein Klabund-Gedicht besonders und das passt zu Fredis „Heidehibbel“ Stimmung:
Wanderung zur Nacht
Wenn ich in Nächten wandre
Ein Stern wie viele andre,
So folgen meiner Reise
Die goldnen Brüder leise.
Der erste sagts dem zweiten,
Mich zärtlich zu geleiten,
Der zweite sagts den vielen,
Mich strahlend zu umspielen.
So schreit ich im Gewimmel
Der Sterne durch den Himmel.
Ich lächle, leuchte, wandre
Ein Stern wie viele andre.
Als kleiner Junge habe ich die Stifte meines Vaters in der Nachbarschaft verkauft, das gab Ärger. Fredi hat sich schlauer angestellt. Schon als Fünfjähriger habe er selbstgereimte Verse aufgesagt, so Guido von Kaulla. Sehr zum Entzücken der Familie und wahrscheinlich insbesondere der Großeltern in Marburg, und das brachte sicher manchen „Groschen“ ein. Dass sich das Entzücken – wenigstens anfänglich – ändern würde, ahnte niemand. Und mit einer zu Weihnachten bekommenen Drehorgel zog er kostümiert durchs elterliche Haus, eine sehr künstlerische Darbietung, die belohnt wurde.
Und bereits an dieser Stelle kann ich getrost die Eitelkeit von Fredi einfügen. Nicht nur seine komödiantischen Einlagen dienten dieser, sondern auch seine sehr frühen Schreibversuche. Die nämlich waren zumeist zuerst biographisch und dann eitel. Und natürlich legte er sehr früh großen Wert auf sein Äußeres.
In den „Crossener Heimatblättern“ erschien vor Jahren ein Artikel, in dem „Bertchen“ Gutsche-Karee zum 90. Geburtstag gratuliert wurde. In Neu-Rehfeld geboren nahm sie nach ihrer Konfirmation eine Stelle als Hausmädchen bei Apotheker Henschke in Crossen an. „Sie hat damals für den jungen Dichter Alfred Henschke-Klabund die Wäsche gewaschen und die Hosen gebügelt. „Klabunds Hosen“, so weiß sie zu erzählen, „mussten stets eine scharfe Bügelfalte haben.“
Wenn Eitelkeit etwas Negatives ist, was ich bezweifele, kann Fredi nichts dafür, denn dann hat er sie vom Vater geerbt, der lebte sie manchmal geradezu „vorbildlich“.
Schulzeit
Herbst 1886 soll er eingeschult werden, Masern und hohes Fieber machen dies unmöglich und Fredi besucht daher erst ab Ostern 1887 die Knabengrundschule in Crossen. „Besucht“ ist der richtige Ausdruck, denn er lernt sehr schnell und leicht, aber ein „Streber“ wird er nie, seine Schulkameraden mögen ihn, hilfsbereit ist er und für jeden „Blödsinn“ zu haben.
Nach der Grundschule „besucht“ (siehe oben) er das Real-Progymnasium in Crossen bis zum Herbst 1906. Abitur ist auf dieser Schule nicht möglich, er wird nach Frankfurt/Oder wechseln müssen.
Ostern 1902, nach einem Theaterbesuch schreibt er sein erstes Theaterstück mit dem Titel „Der Verrat“. Guido von Kaulla setzt Theaterstück in Anführungszeichen, warum weiß ich nicht, denn dieser Verrat ist wohl verschollen, bzw. ich habe ihn nicht gefunden.
Im (fingierten) „Tagebuch eines Knaben“ beschreibt Fredi 1910, dass sein Vater 1904 schwer an Lungenblutungen erkrankte – „Doch die Natur des Kranken hat sich als ungeheuer zäh erwiesen“ – Aber er ahnt nicht, dass er von seinem Vater auch dessen Krankheitsdisposition mitgeerbt hat.
Bleiben möchte ich aber noch ein paar Zeilen bei der Crossener Schulzeit. Guido von Kaulla schreibt: „Im Herbst 1906 muss Fredi, weil (damals) in Crossen nur ein Real-Progymnasium ist, zur Obersekunda (Michaelis-Klasse) nach Frankfurt/O. ins humanistische Friedrichsgymnasium gehen. Herr Calvary hat ihn vorbereitend schon in Griechisch unterrichtet.“
Moses Calvary
Und der war nicht der Lehrer von Klabund! In einem Artikel der „Crossener Heimatgrüße ist über Moses Calvary zu lesen:
„ … Im Schuljahr 1907/08, also mit 31 oder 33 Jahren kam er als wissenschaftlicher Hilfslehrer (Assessor) nach Crossen. Schon am 14. Mai 1918 wurde er als Oberlehrer (Studienrat) fest angestellt. Im Sommerhalbjahr 1914 ließ er sich beurlauben besuchte, bzw. erkundete als überzeugter Zionist Palästina. Er kehrte jedoch an die Oder zurück und lehrte hier weitere fünf, also insgesamt zwölf Jahre. Im Herbst (Michaelis) 1919. so hielt Direktor Dr. Hübetier in der Festschrift von 192? fest, ging Moses Calvary nach Litauen. Sem Nachfolger in der Oderstadt wurde der Studienrat Max Roland.“
Die Leser der Heimatgrüße sind sehr aufmerksam und ein weiterer Artikel belegt:
„ … Klabund gehörte nicht zur Calvary-Klasse
In der Februar-Nummer 1973 veröffentlichten die „Heimatgrüße“ ab Illustration der Besprechung des Buches „Brennendes Herz Klabund“ von G. v. Kaulla das Foto einer Klasse des Crossener Real-Gymnasiums mit dem Oberlehrer Moses Calvary. Das Foto, das hiermit noch einmal abgedruckt wird, stammte aus dem besprochenen Buch, und die Legende dazu sagte aus, das der Junge in der hinteren Reihe links Alfred Henschke, der spätere Klabund, wäre.
Diese Behauptung, die die „HG“ in der Februar-Nummer übernahmen, bezweifelten mehrere Landsleute in Briefen an die Redaktion. Es waren dies vor allem Frau E. Liebig, jetzt in Hannover, ferner eine einstige Anwohnerin der Crossener Schlossstraße, (…) die jetzt in der DDR wohnt, und schließlich Landsmann Ernst Zimmermann, Berlin. Insbesondere die beiden Damen berichteten unabhängig voneinander und teilweise übereinstimmend, dass sie einzelne der Jungen erkannt hätten und dass diese wesentlich jünger seien als der 1890 geborene Alfred Henschke.
(…) kann die Aufnahme frühestens 1911 gemacht worden sein. Weiter ist der „Festschrift zur 400-jahrigen Feier des Realgymnasiums Crossen an der Oder“ zu entnehmen, dass Moses Calvary als wissenschaftlicher Hilfslehrer 1907 zu wirken begann. Der 1890 geborene Alfred Henschke Klabund ist bei Beginn der Lehrtätigkeit Moses Calvarys am Realgymnasium also 17 und zum Zeitpunkt der Aufnahme mindestens 21 Jahre alt gewesen. Er kann nicht unter den abgebildeten Unterstuflern sein.
(…) Guido von Kaulla hat sich der Beweiskraft der Fakten bereits gebeugt. Er will das Bild aus seinem Klabund Buch nehmen, sofern es zu einer 2. Auflage kommt.“
Aber Klabund kannte Moses Calvary, in einem Leserbrief zu den beiden Artikeln ist zu lesen:
„ …Ferner übernahm mein Vater von Herrn Calvary die Leitung der Volksbücherei. Dort hatte er übrigens eine Begegnung mit Klabund. der eines Tages aufkreuzte und nach Calvary fragte, von dessen Palästina-Reise er nichts gewusst hatte. Also gab es doch eine Beziehung zwischen den beiden, obwohl Klabund nicht Calvarys Schüler gewesen war.“
Diese Bekanntschaft – die tiefer gewesen sein muss, bestätigt Klabund in einem Brief:
„ … Crossen (Oder), Ostersonnabend 1911 (oder wie man hier sagt: Kuchebacksonnbd.)
Sehr geehrter Herr Heinrich,
mit der Überarbeitung der meisten Novellen, die mir hier zur Hand lagen, bin ich jetzt fertig. Die Situation hab‘ ich in keinem Falle verändert. Es scheint mir doch sehr gewagt, den erstmaligen frischen bildmäßigen Eindruck durch nachträgliche Retouche verbessern zu wollen. Etwas Gutes kommt bei dem verstandesmäßigen Herumprobieren doch nicht ‚raus; im Gegenteil, der Effekt (im rechten Sinne) geht zum Teufel. Ich habe meine ganze Sorg-falt- soweit sie mir überhaupt zu eigen ist – auf Verbesserung des Stiles und Konzentration der Handlung gewandt und manch‘ Stück, besonders von den älteren, fürchterlich zusammengestrichen (z. B. „Kleine blonde Liselotte“, die aber wahrscheinlich in einem Jahr noch kleiner [aber desto blonder] werden wird.) – Ich schicke Ihnen ein paar Novellen mit, als Ersatz für den „Don Juan“, den Sie schwerlich zu Gesicht bekommen werden. Nach einer zweimaligen Korrektur ist er mir derart über, dass ich Anfälle kriege, wenn ich ihn von weitem sehe. – Ich freue mich auf Berlin, Freitag hoffe ich einzutreffen. Ihre Karten kamen mir beide wie Grüße aus einer „besseren Welt“. So sehr wird man hier mit geistigen Menschen überfüttert. Der Oberlehrer Calvary ist der einzige, mit dem sich standesgemäß verkehren lässt. — Der ist es auch gewesen, der mich mal auf antike Skulpturen gebracht hat. Ich habe in ihren Abbildungen geschwelgt. Kennen Sie etwas Verehrungswürdigeres als die Brüste der Nike von Samothrake? (Sie wissen, mein Faible für Brüste sitzt tief – und tiefer als der Tag gedacht.)
Mit den herzlichsten Ostergrüßen
Ihr dankbar ergebener Alfred Henschke. Der „Komet“ ist eine augenscheinlich neue satirische Wochenschrift, herausgegeben von Fuhrmann und Frank Wedekind. Nr. 4 brachte ein Gedicht von mir. Eine der nächsten Nummern bringt wahrscheinlich mein „Dirnengespräch“.
Im Winter 1906/07 erwischt es Fredi mal wieder, wochenlang liegt er „flach“. Guido von Kaulla schreibt:
„ …Im Winter 1906/7 beginnt der Sechzehnjährige zu kränkeln. Zu Weihnachten muss er sich drei Wochen mit doppelseitiger Lungenentzündung und sehr hohem Fieber niederlegen. Im neuen Jahr kommt er für sechs Wochen nach Crossen ins Krankenhaus. Keineswegs wird schon eine Lungentuberkulose diagnostiziert. (Das Wort „keineswegs“ bedeutet in dieser Biographie, dass einer der demonstrativ publizierten literarhistorischen Legenden betont widersprochen werden muss; immer aber ist die hier gegebene Schilderung bereits Gegendarstellung angesichts der dem Biographen in ihrer Gesamtheit wohlbekannten Behauptungen der Pseudo-„Klabundkenner“, die irrigerweise glauben: unkorrigiert fabulieren und manipulieren zu können.)“
Ostern 1906 wechselt Fredi nach Frankfurt/Oder auf das humanistische Friedrichsgymnasium und 1923, anlässlich einer Feier der Kleist-Gesellschaft schreibt er:
„ … Hier bin ich in die Schule gegangen, das heißt in einen roten Kasten, eine Art Pionierkaserne, wo wir gedrillt wurden, eiserne Brücken ins Nichts zu schlagen. Wie unglücklich ist man mit fünfzehn Jahren. Ich möchte nicht noch einmal fünfzehn Jahre sein. Die selige Jugendzeit gehört auch zu dem sentimentalen Requisitenschwindel, mit dem der Mensch sich zu umgeben liebt. Ein ganzer Mensch, und darum glücklich, ist das Kind, ehe es in die Hände berufener Pädagogen fällt. Glücklich, ein ganzer Mensch, kann auch wieder der Mann sein. Aber der Fünfzehnjährige, nicht Fleisch, nicht Fisch, von Religionslehrern zu Pensionsmädchen, von der Iphigenie in die Tuchmachergasse taumelnd, ohne gehen gelernt zu haben, sich mit Flugversuchen abplagend: was will er, was kann er, was bedeutet er? Eine Träne hängt er in den Wimpern des Gottes, um eben zu Boden zu fallen und zu verdorren.“
Seine Gesundheit ist zu dieser Zeit stabil, aber nach einem Bad im Crossener Zackenfallweiher bekommt er eine doppelseitige Lungenentzündung und muss für einige Wochen erneut das Bett in einem Krankenhaus hüten. Sein Vater erzählt später Guido von Kaulla, das dieses Bad der Auslöser der Tuberkulose gewesen sei und nicht eine spätere Wanderung im Riesengebirge. Diese unternahm er in den großen Ferien 1905 bei schlechtem Wetter und das Ergebnis war eine schwere Rippenfellentzündung, die ihn erneut für Wochen aufs Krankenlager wirft und ihn über ein Vierteljahr der Schule fernhält. Fredi meinte dazu, wenn er bedenke, dass er in dieser Zeit viel lesen konnte (u.a. Grabbe) um anschließend ausgiebig über das Gelesene nachzudenken und zu einer, wie er sagt, künstlerischen Sicht des Lebens zu kommen, dann habe diese Erkrankung auch etwas Positives gehabt.
Einigermaßen wieder hergestellt entschließt er sich mit dem Vater im Februar 1907 zur endgültigen Erholung nach Locarno zu reisen und das milde Klima des Tessins bekommt ihm, später wird er immer wieder dorthin zurückkehren.
Fredi gilt danach als genesen, soll sich aber schonen, leichter gesagt als getan, denn auf seinen geliebten Sport will er nicht verzichten und so verzichtet er zwar auf das Turnen, aber er fährt Rad und schwimmt nach wie vor oft in der Oder, oder rudert. Als Ausgleich macht er mit Vorliebe weit ausgedehnte Spaziergänge in die Wälder, „wobei ihm – wie auch später – Wanderpartner, die mit ihm still zu sein verstehen, immer die liebsten sind. Zuweilen, wenn er einer Erregung nicht Herr zu werden vermag, flüchtet er sich geradezu in diese Wanderungen, bis er sich innerlich wieder gefangen hat“, lese ich im „Brennenden Herz“.
Und bei einem dieser Waldspaziergänge erlebt er die Geschichte vom neu entdeckten „Stockvogel“:
„ … Ich stocherte mit meinem Spazierstock in einem Ameisenhaufen herum. Wild und geängstigt liefen die Tiere durcheinander. Plötzlich hob ich ihn heraus und ging davon. Die Ameisen, die den Stock in den Lüften verschwinden sahen, schrien: „Welch ein seltsamer Vogel!“ – Eine besonders kecke Ameise war am Stock emporgeklettert. Ich musste sie abschütteln. Ganz aufgeregt kam sie bei den anderen an. Atemlos stieß sie hervor: „Er hatte einen Menschen in den Klauen, er frisst Menschen!“ – Darauf ging sie hin, fiel in Tiefsinn, schrieb ein Buch: „Art, Abstammung und Organismus des neu entdeckten „Stockvogels“ und wurde zum ordentlichen Professor der Zoologie an der Ameisenuniversität Przmnldtbk ernannt.“
Frankfurter Friedrichs-Gymnasium
Fredis Großeltern Emil Anton Hermann Henschke und Auguste Emilie Maria Rasenauer sind 1900, bzw. 1902 in Frankfurt/Oder gestorben und so wohnte er während seiner Schulzeit im Frankfurter Friedrichs-Gymnasium in einer Schülerpension.
In den „Crossener Heimatgrüßen“ erschien über die Jahre 1906 bis 1909 der Artikel „Klabund-Erinnerungsstätten in Ostbrandenburg“, ein Auszug:
„ … Guido von Kaulla erzählte in seiner Biographie „Brennendes Herz Klabund“ unter anderem allerlei über die Obersekundaner- und Primanerjahre des Dichters in Frankfurt an der Oder. Wo in dieser Stadt die Schülerpension lag, in der zeitlich nach Gottfried Benn auch der in Crossen aufgewachsene Alfred Henschke wohnte, verriet er jedoch nicht. (…)
Das „Graubuch“ über die Frankfurter Gymnasiasten Benn und Klabund verfasste Hans-Jürgen Rehfeid. (…) Aber es gelang ihm auch, durch das Stöbern in Archiven und Adressbüchern der Odermetropole einige interessante Fakten hinzuzufügen. Im Wesentlichen handelt es sich dabei um die Feststellung, dass mit dem einstigen Friedrichs-Gymnasium (jetzt Maxim-Gorki-Oberschule) und nicht weit davon entfernt mit dem Hause Gubener Str. 31a Gebäude erhalten sind, in denen der romantische Expressionist mit Heimat in Crossen ihn prägende Jahre verbrachte. (…) Der spätere „Klabund“ wohnte deshalb von 1906 bis zum Abitur 1909 in der Schülerpension von Agnes Leonhard. Gubener Str. 31a.“
Und wer es genau wissen will: „Das 2. Obergeschoß nutzte um die Jahrhundertwende Agnes Leonhard als Schülerpension. Bei ihr wohnten in ihrer Friedrichsgymnasiastenzeit die Dichter Gottfried Benn von 1897 bis 1903 und Alfred Henschke. genannt Klabund. von 1906 bis 1909.
In den Frankfurter Buntbüchern schreibt Hans-Jürgen Rehfeld (Ausgabe 3) mit dem Titel „Wir dachten oft daran zurück“ über Gottfried Benn und Klabund am Frankfurter Friedrichs-Gymnasium zu dieser Schülerpension:
„ … Agnes Leonhard, eine verwitwete Rechtsanwaltsgattin, bewohnte in dem um 1870 erbauten Haus die zweite Etage und vermietete, da das Alumnat des Gymnasiums 1882 geschlossen wurde, regelmäßig an auswärtige Schüler. Ihre Pension entsprach den von der Schulordnung geforderten Bedingungen, die vorsah, dass „Schüler, denen es in einer Pension an der nötigen Aufsicht fehlt, dieselbe auf Anordnung des Direktors mit einer geeigneteren zu vertauschen“ haben. Sicher berichtete Stephan Benn seinem älteren Bruder Gottfried von den dichterischen Versuchen seines Pennäler Freundes. Bei einer Geburtstagsfeier lernte der vier Jahre ältere Medizinstudent Klabund flüchtig kennen. Dieser las ihm ein paar Gedichte vor – „Gottfried Benn äußert sich anerkennend und behält den Eindruck von einem entsetzlich hageren Jungen mit großem Kopf und klugen, blauen bebrillten, glänzenden großen Augen – ein Junge, der nach außen hm frisch witzig und lebhaft ist, aber im Inneren sinnend und nachdenklich.“ (Kaulla) Eine Freundschaft zwischen ihnen entwickelt sich zu diesem Zeitpunkt jedoch nicht.“
Gottfried Benn „als des Toten ältester Freund“ hielt die „Totenrede für Klabund“ und durch seine Formulierung ist ein Irrtum entstanden, die Legende von der Jugendfreundschaft zwischen Gottfried Benn und Klabund. Die stimmt so nicht, denn Benn besuchte die Schule vor Klabund.
In dieser Rede sagt er:
„ … Aus diesem Tal also, das wir heute durchfuhren, stammt Klabund. Diese Hügel, dieser Strom. Als er sie zum ersten Male verließ, als Junge, um auf eine andere Schule zu kommen, begegneten sich unsere Wege. Wir waren beide auf derselben Schule, dem Friedrichs-Gymnasium zu Frankfurt an der Oder, auch in derselben Pension in der Gubener Straße, und wir dachten oft daran zurück“
Aber da war noch Stephan Benn, Gottfrieds jüngerer Bruder und mit dem besuchte er dieselbe Klasse und beide wohnten in der Pension von Frau Agnes Leonhard. Sie wurden gute Freunde und ein „verrücktes Paar“. Gemeinsam gaben sie die Pensionswochenschrift „Die Kugel“ heraus und sie traten auch mit selbstgeschriebenen Sketchen auf. Fredi schreibt darüber an seine Eltern am 4. November 1911: „Zum Kaffee war ich wieder Zuhause, wo .ich dann den Räuberhauptmann von Köpenick (sehr naturgetreu!) darstellte. Alles, ganz genau, selbst „Die linke Schulter zog er hoch!“ […] Anbei: „Der Räuberhauptmann von Köpenick“ oder „Der geschundene Bürgermeister“.
Guido von Kaulla schreibt über die beiden Stubengefährten:
„ … Stephan und Fredi haben beide eine komödiantische Ader. Sie verfertigen eine Zeitlang sonntag-vormittags die Pensionswochenschrift „Die Kugel“ oder er sieht beispielsweise als begeisterter Theatergänger am 3. 4. 1908 das Berliner Schauspiel „Stein unter Steinen“ von Sudermann, und schon reizt ihn das naturalistische Theaterstück zu einer Parodie, die er dann auch zusammen mit Stephan mimt: „Die Edelmütige Dame – (Naturalistisch-mystisch-symbolistische Szene ohne Mord, Blutsturz, Gesang und Tanz in einem Aufzug) -von Knallfred H.“
Und es beginnt der Crossener erstmals sanft zu berlinern, wenn er der Hauptperson in den Mund legt: „Ick jehör‘ zum alljemeinen / Großen Menschenpöbel mang. / Stein bin ick unter Steinen / Wie unser Dichter sang.“
Im Gymnasium spielt er in der Schüleraufführung der „Menächmi“ des Plautus mit. Zuweilen glänzt Fredi auch durch sein solistisches vierhändig spielen auf dem Fortepiano, das heißt: mit großer Gelenkigkeit drückt er die Tasten mit Händen und – Füßen!“In Frankfurt galt das gleiche wie auch schon in Crossen, Fredi lernte ungewöhnlich leicht und wurde bald Klassenprimus und er wird beim Abitur vom „Mündlichen“ befreit. Hausaufgaben erledigt er spielend: genug Zeit bleibt für das kulturelle Leben, für Theater und Literatur.
Guido von Kaulla berichtet über einen weiteren Freund aus der Frankfurter Schulzeit:
„ …In der Schule gewinnt er sich aus der „Oster-Klasse“ einen neuen Freund – den ältesten Sohn des Justizrates Gebhardt: Julius, der etwas jünger ist, aber lebensreifer. Die genüssliche Schilderung, die Julius von seinen Amouren gibt, empfindet Fredi zwar als zynisch, aber beide stecken bald in ihrer freien Zeit dauernd zusammen. Jetzt wächst seine Belesenheit sehr, zumal ihm seine Gabe der raschen Auffassung bereits zu einer auffallend hohen Lesegeschwindigkeit verhilft. Die bedeutendste Taschenbuchreihe der damaligen Zeit – Philipp Reclams Universalbibliothek mit ihren Tausenden von Nummern – gibt dem Schüler die Möglichkeit: Weltliteratur zu vertrauter Wirklichkeit werden zu lassen. „Reclams“ sind beispielsweise: A. Forkes Übertragung des altchinesischen Schauspiels vom „Kreidekreis“ und „Die Geschichte des märkischen Eulenspiegels Hans Clauert“ (Vorstufe zum Roman „Bracke“) und „Die Ballade vom Zuchthaus zu Reading“ von Oscar Wilde in der Übersetzung seines späteren Freundes Walther Unus.
Verse des Schweizers Conrad Ferdinand Meyer bedeuten ihm viel. Den stärksten Rang hat für ihn Goethes Lyrik. In der Schülerzeit wurzeln schon die Zeilen der „Literaturgeschichte“ (1919): „Wir kommen von Goethes Lyrik; wir wollen wieder zu ihr zurück. Denn jeder Gang zu ihr ist wie ein Heimweg ins Vaterhaus.“ Ebendort huldigt er Richard Dehmel: „Er hat die Tradition der deutschen Lyrik über eine Zeit der schauerlichen Zerfahrenheit und Traditionslosigkeit hinübergerettet […-] das Liebeslied neu geschenkt: das dunkle Du, das dunkle Ich, die durch die Nacht sich suchen – und sich finden.“
Für Theaterbesuche benötigten die „Pensionsschüler“ die Genehmigung vom Klassenordinarius, Tanzstunden genehmigte der Direktor, auf die komme ich noch. Fredi liest, liest und liest, Autoren: Richard Dehmels oder Conrad Ferdinand Meyer, aber auch Arno Holz, „Daffnis“ begeistert ihn. Zu dessen 60. Geburtstag schreibt Fredi:
Nun wirst Du sechzig Jahre alt
(Und bist jünger als die Jüngsten).
Als Sekundaner schwänzte ich die Schule.
Oben auf dem Kleist-Turm: Über dem Föhrenwalde
In der Frühlingssonne
Las ich das Buch der Zeit
Unten im Tal floß die Oder,
Um meine junge Stirn strömten deine Rhythmen.
Als ich dumpf wie eine Kröte an der Erde kroch,
Hat mich dem Phantasus beflügelt.
Du hast mir lächelnde Lieder gesunden,
Schäfer Daffnis.
Ich will dir danken, daß du lebst.
Fredi schreibt und schreibt bereits während der Zeit auf dem Gymnasium, hauptsächlich Gedichte, die er später in seine Veröffentlichungen einfügen wird, z.B. „Still schleicht der Strom“ abends an der Oder vermerkt er präzise, entstanden am 8. April 1908 und dazu Übersetzungen aus dem Französischen (Gedichte Baudelaires und Verlaines).
Durch Julius Hermann Wilhelm Gebhardt, der etwas jünger als Klabund war, lernte er die blonde Grete Balkenholl kennen, die im November 1908 „seine große Liebe“ wurde und der er zahlreiche Gedichte widmete. Im Band „Die Himmelsleiter“, erschienen unter dem Titel „In Memoriam G.B.“ 1916 bekennt er: „Was du mir warst – wer darf es wissen? / Was du mir wirst – was kann es sein?“
Grete Balkenholl und Julius Gebhardt heirateten, aber die Verbindung der drei blieb erhalten. Eta (Margarete) Harich-Schneider (geb. 16. November 1894 in Oranienburg, gestorben am 10. Januar 1986 in Wien), eine deutsche Cembalistin, Musikwissenschaftlerin, Japanologin und Schriftstellerin erinnert sich:
„… Er (Klabund) empfahl mich auch an seine Freunde Grete und Julius Gebhardt in Frankfurt an der Oder, und Julius leitete meine Scheidung ein; die beiden Gebhardts wurden meine besten Freunde und haben mir jahrelang selbstlos und sehr aktiv geholfen. Bei ihnen habe ich Klabund immer wieder gesehen.“
Stephan Benn verließ das Friedrichs-Gymnasium 1908, Julius Gebhardt Ostern 1909. In den noch verbleibenden Frankfurter Monaten schloss sich Klabund stärker an seinen Klassenkameraden Karl Friedrich Städter, den späteren Redakteur der „Hallischen Nachrichten“, an“ so Guido von Kaulla.
Im September 1909 legte Klabund sein Abitur ab und geht nach München zum Studium.
Übrigens gab es zum Friedrichsgymnasium noch einen Artikel in den Medien:
„ … Wo Klabund lernte – Rückbenennung in Friedrichsgymnasium
Die Frankfurter Stadtverordneten stimmten am 19. November 1992 der Riickbenennung der Maxim-Gorki-Schule an der Gubener Straße in Friedrichsgymnasium zu. Sie folgten damit Vorschlägen ihres Kulturausschusses und der Konferenz des Gymnasiums III. Eltern. Schüler und Lehrer erklärten, sie wollten die Namensänderung im Dezember festlich begehen. Für den 1. Juli 1994 wird ein weiterer Festakt anlässlich des 300jährigen Bestehens der Bildungsanstalt geplant. Deren Gründung ist urkundlich mit dem Geburtstag des damaligen Stifters und Kurfürsten Friedrich III., dem späteren ersten preußischen König, verbunden.
Das traditionsreiche humanistische Friedrichsgymnasium besuchten u. a. die Dichter Gottfried Benn und Alfred Henschke-Klabund. Der berühmteste Lehrer der Schule war der Historiker Leopold von Ranke.“
Kindheit und Jugend wären eigentlich vorbei, aber da sind ja noch die Mädchen und über die muss geschrieben werden. Wer erinnert sich nicht an die eine oder die zahlreichen Jugendlieben? Also geht dieses Kapitel noch ein paar Zeilen weiter.
Verliebt, aber nicht verlobt und nicht verheiratet!
So etwa um 1904 „verliebt“ sich Fredi das erste Mal, sehr heftig und sehr schüchtern. Guido von Kaulla leidet mit:
„ … In dieser Zeit hat er zum ersten Mal das, was man im Sprachgebrauch der Zeit eine „Flamme“ nennt. Die scheu im stillen Angebetete ist die nur um ein Weniges ältere Hanna Zeidler, die Tochter des Besitzers des „Crossener Tageblattes“, eines Duzfreundes seines Vaters. Hanna ist zart und bildhübsch und klug. Noch im “Irene“-Gedichtzyklus wird der Knabe geschildert, der an Scham leidet, vor Liebeskummer einsam im Oderbruch sich die Lippen zerbeißt, und der es nicht wagt, das von der – hier Margarete genannten – Angebeteten auf dem Schulweg verlorene Taschentuch direkt zurückzugeben: es wird ihrem Bruder ausgehändigt. „Georg“ (also Fredi) verwünscht immer wieder seine „übergroße Feinheit“, die ihn aus Schüchternheit nicht zu wirklich unbefangenem Plaudern mit dem ihn sehr freundlich behandelnden Mädchen kommen lässt. In der Stille nur widmet er ihr seine ersten Gedichtzusammenstellungen – „Hannah“ und „Du“; darin schon das „Der Wind weht durch die Gassen.“
Platonisch bleiben auch noch seine folgenden „Liebeleien, z.B. in Frankfurt/O., Hanna Zeidler verlobt sich 1907, aus der Traum. „Alfred Henschke mag wegen seiner häufigen Krankheiten körperlich labil sein und äußerlich nicht gerade dem Prototyp des Frauenhelden entsprechen, aber die Mädchen reizt sein kecker Charme und sein loses Mundwerk“ habe ich gelesen. Und alle Abenteuer verarbeitet er ab seinem 16. Lebensjahr in literarischen Versuchen, mehr oder minder gelungen, werden seine Kritiker später schreiben.
Die „Crossener Heimatgrüße“ veröffentlichen im Oktober 1970 (Ausgabe 5) einen Artikel eben zu diesem Thema, den Guido von Kaulla für die „Heimatgrüße“ geschrieben hat:
Autobiographie des 18jährigen Dichters
Guido von Kaulla berichtet über ein der Öffentlichkeit unbekanntes Manuskript
„… Die Fahrt ins Leben (Roman) –Begonnen am 29. XI. 1908 Beendigt am 7. XII. 1908″ steht über der – bisher unveröffentlichten Handschrift, in der Georg Hermann Alfred Henschke seine Kindheit und Schulzeit erzählt. Dieser Kurz-Roman war als I. Teil einer Selbstbiographie gedacht und umfasst in der Abschrift 28 Schreibmaschinenseiten. Bis zur Seite 20 spielt die Handlung in Crossen, danach in Frankfurt/ Oder. Als „Held“ nennt der Verfasser sich „Georg Rasenack“.
Das kleine Werk in seiner auch Einzelheiten charakterisierenden Zeichnung der Verhältnisse des Hauses und der heimatlichen Umwelt beginnt mit der Sicht auf die verschneite Stadt. Ehe der Verfasser aber auf diesen Wintermorgen – und da auf die Schilderung seiner eigenen Geburt näher eingeht, lässt er uns einen Blick zurück tun in die Geschichte der hier „Kleinberg“ genannten Stadt Crossen, vom 30jährigen Krieg bis zum großen Wirbelsturm von 1886. Erst dann beginnt das Gespräch zwischen der jungen Frau, die ihre Wehen herannahen fühlt, und dem verschlafenen Apotheker-Gatten, der zum Sanitätsrat laufen wird, während das Dienstmädchen schnell die Hebamme holt.
Es folgen viele ausführlich beschriebene Stationen des jungen Lebens, u. a. ein Geburtstag des Vaters mit dem Ständchen der Feuerwehr und dem einer Kapelle aus dem Bekanntenkreis, der gereimten Rede des befreundeten Pastors, der Kochfrau, die schon am Nachmittag erscheint, dem Müdewerden, dem Gebet vor dem Einschlafen und den vielen Träumen. Erzählt wird von den Kinderkrankheiten ebenso wie von den Knabenfreundschaften, so von der Freundschaft mit dem Sohn des nachbarlichen Drogisten. Diese beiden – Vater und Sohn — tauchen später noch in den Schriften Klabunds auf.
Die erste Verliebtheit fehlt nicht. Der Elfjährige findet anlässlich eines Besuches bei den Eltern des Vaters in Frankfurt/Oder Gefallen an der kleinen Spielgefährtin. Auch die erste bewusste Lüge (in Marburg, wo man den Vater der Mutter besucht) wird nicht ausgelassen. Es erschüttert ihn die erste Berührung mit dem Tode, als das Brüderchen Werner stirbt. Er ist hingerissen vom ersten Theaterbesuch bei einer Wanderbühnen-Vorstellung, die im Schützenhaus stattfindet. Das erste eigene „Theaterstück“ entsteht. Die Erkrankung wird geschildert, zu Beginn eines Ferienaufenthaltes in Schreiberhau, die dem Heranwachsenden zum Schicksal werden soll.
Nicht zuletzt aber gelten viele Seiten seiner scheu angebeteten ersten Flamme“. Man liest da, dass (1904) die Eltern in die Schweiz fahren, weil der Vater sich in Graubünden von einer schweren Krankheit erholen muss Eine Tante führt den Haushalt. Während dieser Zeit verliebt sich Georg. Bisher hat er sich abgestoßen gefühlt von dem Treiben der Klassenkameraden mit den Mädchen. Er selbst wagt es kaum, ihnen in die Augen zu sehen. Jetzt also betet er seine heimlich Geliebte von weitem an. Sein ganzes bisheriges Leben ist er ihr Nachbar gewesen, ohne ihre Anmut und Schönheit zu bemerken. Es ergreift ihn ganz plötzlich, als sie sich begegnen und ihre Augenpaare – ihre dunklen und seine blauen – sich zufällig treffen. Beherrscht von seiner Sehnsucht wird er krank, wenn er sie einen Tag nicht gesehen hat. Seine Liebe ist fast wunschlos: Er will sie nur sehen. Mit ihr zu sprechen, kommt ihm aberwitzig vor, so sehr ihm dies höchstes Glück wäre.
Erst nach einem Jahr beschäftigt ihn der Gedanke, ob sie ihn auch wiederliebe. Bei einem Fest, an dem beide teilnehmen, sitzt Georg scheu in einer Ecke des großen Saales, als sie auf ihn zukommt und sich ohne Feierlichkeit neben ihn setzt. Sie wartet -und erwartet, dass er ein Gespräch beginne. Doch Georg wird blass und kann kein Wort hervorbringen. Trotzig – spöttisch steht sie auf und geht. Er verwünscht sich innerlich, seine Verlegenheit, seine Unbeholfenheit! Als er später allein ist, macht sich sein Kummer in lautlosem Weinen Luft. Er gibt – die Hoffnung auf, ihr jemals zeigen zu können, wie ihm ums Herz ist.
Im Sommer 1905 trifft ein Tanzmeister aus Guben ein, um einen Tanz- und Anstandskurs zu geben Das Mädchen hat schon früher daran teilgenommen. Georg hat keine Lust dazu, aber sein Vater besteht auf der Tanzstunde und so findet er sich wider Willen jeden Dienstag und Freitag von 1/2 8 bis 10 Uhr im Saal des „Reichsadler“ ein. Manches Mädchen ermuntert ihn, doch Georg mag mit keiner von ihnen anbändeln, denn er trägt noch unverrückt das Bild der Dunkeläugigen im Herzen.
Im Herbst 1906 kommt Georg in eine Schülerpension nach Frankfurt/Oder. Ein Bändchen Gedichte begleitet ihn. Um die Jahreswende meldet sich seine Krankheit wieder, so stark, dass er im Frühjahr den Süden aufsuchen muss: Er fährt nach Locarno. Den Zurückgekehrten trifft die Nachricht von der Verlobung seiner Angebeteten. Seine Gedanken sind schwer: Diese Verlobung sei vielleicht nur zustande gekommen, weil er der Geliebten nie von seiner Liebe gesprochen.
Trost findet er nur in seinen Liebesliedern, in der Beschäftigung, viele davon in Musik zu setzen . .. .“Noch lange bildet diese Crossener Liebe für ihn eine seelische Sperre, bis endlich bei einer Geburtstagsfeier den Oberprimaner ein neues Erlebnis davon befreit. Aber das ist schon nicht mehr in Crossen. Fredi Henschke hängt an „Die Fahrt ins Leben“ eine vorauseilende Abitur-Schlussbemerkung und schließt dieses Kapitel seines Lebens ab.
Wer war die Crossenerin? „Nachbarin“? „Dunkle Augen“! Sie heiratet am 27. Mai 1910 in St. Marien den sieben Jahre älteren Bremer Pastor Robert Leonhardt und wird von Pastor Dibelius (dem nachmaligen Bischof) j getraut. Und dann – 1910 in einer Erzählung – wird Alfred Henschke etwas deutlicher: Jetzt nennt er sie „Hanni Beckenhöver“ und bezeichnet sie als „Verwandte des Druckereibesitzers“. In einem Gedicht schildert er, wie er das Taschentuch der Angebeteten errötend – ihrem Bruder – zurückgibt. Und ein Heftchen mit Gedichten noch aus der Crossener Zeit trägt den Sammeltitel „Hannah“. | Die erste Liebe des Dichters ist also Hanna Zeidler, geboren am 16. September 1890, Rudolf Zeidlers ältere Schwester, die später zwei Söhnen das Leben schenkt und schon als Dreiunddreißigjährige starb.“
Die Cousine Grete
Margarete Hermine Louise Bertha Früstück, geboren in Oldenburg 1892 war meine Oma. Ihre Mutter Charlotte Anna Elise Buchenau ist die fünf Jahre ältere Schwester von Emilie Antonie (Tante Toni genannt), Klabunds Mutter.
Klabund war also der Cousin meiner Oma.
Die beiden haben sich oft getroffen, in Marburg, wenn er die Großeltern besuchte und bei Urlauben der Familie auf den Nordsee-Inseln, aber auch in Crossen. Guido von Kaulla meint: „Seine (Klabunds) Scheu wird zur ersten starken Verwirrung, als er bald darauf in den großen Ferien auf Borkum mit seiner um zwei Jahre jüngeren Cousine Grete zusammentrifft.“
In allen Biographie taucht die „Cousine Grete“ auf, keiner der Autoren weiß etwas Genaues und auch in unserer Familie wird – wenn auch ein bisschen hinter vorgehaltener Hand – über eine tatsächliche oder nur angenommene Liebelei der beiden geredet. Klabund aber wird deutlicher er schreibt in einem Brief:
„… Crossen (O), 29. IX. 1912
(einen Tag vor der Silberhochzeit der Eltern) „… Morgen erhalten wir Besuch. Eine hübsche 20jähnge Kusine von mir, die ich als Obersekundaner in den Strandkörben Borkums heiß geliebt habe. Hoffentlich wird’s diesmal nicht so gefährlich.“
Sie hat eine 12 Jahre jüngere Schwester – Gertrud Dora Antonie – und deren Patin war … Klabunds Mutter.
Oma schreibt in einem Lebenslauf:
„ … Ich besuchte von Ostern 1899 bis Ostern 1902 die Volksschule der Cäcilienschule zu Oldenburg und von Ostern 1902 bis 1908 die höhere Mädchenschule in Birkenfeld/Nahe, wohin mein Vater als Direktor des Gymnasiums versetzt worden war. (…)
Nach seinem Tode (Gemeint ist ihr Vater) verzog ich mit meiner Mutter nach Marburg an der Lahn und wurde auf dem dortigen Lyzeum als Schülerin der I. Klasse angenommen.
Das Jahr 1909 führte mich auf das Oberlyzeum in Osnabrück, wo ich 1912 das erste und 1913 das zweite Examen als Lehrerin ablegte.“
In Marburg lebte sie bis zum Tode ihrer Mutter im Jahre 1912 zusammen mit ihrer Schwester Gertrud.
„ … Zunächst als Hauslehrerin für 4 Mädchen auf einem Gute in Westfalen beschäftigt, ging ich Ostern 1914 nach England, um mich in der englischen Sprache weiter zu bilden, kehrte infolge des Krieges Ende August von dort zurück und trat eine Lehrerinnenstelle an der Schillerschule in Oberstein/Nahe an.“
In wenigen Sätzen beschreibt sie ein sehr selbstständiges Leben, das wahrscheinlich begründet ist durch den frühen Tod der Eltern. Zu dieser Zeit war es keine Selbstverständlichkeit für eine junge Frau, einfach nach England zu gehen.
Am 17. September 1918 heiratet sie in Niederbrombach den damaligen Pfarrer von Niederbrombach, Paul Klos. Ihre Stelle als Lehrerin gab sie auf und 1919 kam die erste Tochter auf die Welt und das war meine so genannte „Mutter“.
Das Leben nach ihrer Hochzeit wäre eine andere Geschichte, eine traurige Geschichte. Und die möchte ich hier nicht erzählen, als ich sie Ende 2009 endlich erfuhr, habe ich sie an anderer Stelle aufgeschrieben.
Meine Oma war eine tapfere Frau und eine tolle Oma, die ich sehr bewundert und geliebt habe. Am 20. Juni 1959 verstarb sie im Krankenhaus in Koblenz-Moselweis und wurde im Familiengrab in Birkenfeld beerdigt und dieses gibt es nicht mehr, musste ich im Sommer 2016 feststellen.
Und einen Satz zu diesem Bild. Es entstand im Mai 1913 und auf der Rückseite schrieb meine Oma: „Meinem lieben Tönnchen“. Wer war damit gemeint?
Der Dichter! – Der Apotheker?
Die Chronisten geben unterschiedliche Daten an, wann Klabunds Lungenkrankheit tatsächlich festgestellt wurde und die Angaben schwanken zwischen 1906 und 1912. Matthias Wegner schreibt in seinem Buch „Klabund und Carola Neher“:
„… Beiläufig bemerkt er in einem Brief vom 23.März 1912, dass er nun endlich um die genaueren Ursachen seines ständigen Hustens weiß: „geschlossene Tuberkulose heißt der fachmännische Ausdruck“. Man darf annehmen, dass Vater und Sohn genau erkannt haben, was diese Diagnose mit all ihren Konsequenzen bedeutet. Aber Henschkes Briefe lassen keinen Zweifel daran, dass er die schreckliche Wahrheit nicht zu akzeptieren bereit ist.“
Und Matthias Wegner liefert die Begründung, warum diese Krankheit damals unheilbar war:
„… Was es noch bis in die Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg bedeutete, an Tuberkulose zu erkranken, vermögen wir uns heute nur noch schwer vorzustellen. Noch bis zur Mitte unseres Jahrhunderts kam die Tuberkulose-Diagnose beinahe einem Todesurteil gleich. Man kannte in der ersten Jahrhunderthälfte nur zwei Wege, die Krankheit zu bekämpfen, und beide waren nur selten erfolgreich. Zum einen versuchte man, durch lange Klimakuren in waldreichen Höhenlagen, durch eine „gesunde Ernährung“ und die Vermeidung von Anstrengungen die Abwehrkräfte des Patienten zu mobilisieren. Zum anderen bemühten sich die Arzte seit den Forschungen des Berliner Arztes Ferdinand Sauerbruch, die Tuberkulose chirurgisch zu besiegen: durch eine Rippenresektion. Vermittels des „Pneumothorax“, dessen geräuschvolles Wirken Thomas Mann in seinem „Zauberberg“ so spöttisch beschrieben hat, wurde ein Teil der Lunge stillgelegt. Für Alfred Henschke kam diese zweite Behandlungsmethode bereits nicht mehr in Frage, weil vermutlich schon bei jener ersten heftigen Erkrankung nach dem Bad im Crossener Weiher beide Lungenseiten befallen wurden. Heute lässt sich die Tuberkulose mit Chemotherapeutika und Antibiotika so nachhaltig bekämpfen, dass ihre Bedrohung weitgehend gewichen ist. Zwar wurde bei Henschke „nur“ eine geschlossene Tuberkulose diagnostiziert, und diese gilt als nicht ansteckend. Aber von nun an sind alle Träume von einem kraftvollen, gesunden Leben nach den Idealen eines Frank Wedekind ausgeträumt. Alfred Henschke wird für den Rest seines kurzen Lebens ein Kranker und ein Leidender sein, der jeden Tag mit einer dramatischen Verschlechterung seines Zustandes rechnen muss. In seiner Lebensführung und auch bei der Ausübung seiner schriftstellerischen Arbeit muss er sich äußerster Schonung unterwerfen. Alles andere fällt ihm leichter als das.“
Oder anders ausgedrückt, Fredi wird sich nicht daran hindern lassen, das zu tun, was er will, oder was seinen Vorstellungen entspricht, auf kleinen „Umwegen“ allerdings, denn er beugt sich dem Willen des Vaters und studiert in München zunächst Chemie und Pharmazie.
Studium
Großvater Apotheker, Vater Apotheker, was wird der Enkel und Sohn? Apotheker! Es klingt doch gut: „In dritter Generation“. Fredi aber hat andere Pläne. „Er wollte ja ausziehen, das Dichten zu lernen! So entschloss er sich zum Studium der Fächer Germanistik und Theaterwissenschaft. Sicherlich fiel es dem fantasievollen, etwas schüchternen Jungen nicht leicht, sich gegen den Willen seines despotischen Vaters durchzusetzen, aber seine Liebe zur Literatur muss ihm doch genug Kraft gegeben haben, sich gegen die Einkehr in eine gutbürgerliche Existenz zu wehren. Das Geschäft übernahm später sein Bruder Hans, und Alfred sah die Bahn frei, auf der er künftig wandern wollte“, schreibt Kurt Wafner.
Ludwig-Maximilians-Universität München, Wintersemester 1909, Dietrich Nummert schreibt in „Kunterbuntergang“ eines Dichters:
„… Für das Wintersemester 1909 schrieb er sich in die Matrikel der Ludwig-Maximilians-Universität München ein. Der Wunsch des Vaters war, er möge Chemie und Pharmazie belegen. Arzneimittelkunde und Apothekenkunst aber waren so wenig seine Sache wie die Wissenschaft von den Stoffen und stofflichen Umformungen. Zwar besuchte er anfangs Vorlesungen über anorganische Experimentalchemie, die überwiegende Zeit jedoch widmete er anderen, sehr unterschiedlichen Themen: Grundlehren der Astronomie, Geschichte der Malerei, Heidnische Mysterien und junges Christentum, Sozialhygiene, Englische Verfassungsgeschichte, Geschichte der Malerei, Deutsche Romantik, Probleme neuer Literaturwissenschaft – Germanistik wird sein Hauptfach.“
„Weit vor allen ehrwürdigen Professoren, deren langatmige Vorlesungen den Neuankömmling bald langweilen, zieht ihn ein junger Gelehrter in seinen Bann. Der zwölf Jahre ältere Arthur Kutscher ist ein Jahr zuvor als Privatdozent für neuere deutsche Literatur aus Hannover nach München gekommen“, lese ich. Fredi ist also ein „Kutscherschüler der ersten Stunde“.
Alfred Henschke wohnt in einem kleinen Zimmer in Schwabing und „sein Vater hofft noch, dass diese Entscheidung der Vorbereitung auf den rechtschaffenen Beruf eines Lehrers dienen möge. Alfred Henschke weiß aber, dass es für ihn nur ein einziges Ziel geben kann: den „Berufsschriftsteller“. Er verschweigt seinen Eltern diese Gewissheit wohlweislich, denn besonders der fürsorglichen, aber ängstlichen Mutter erscheint seine Fixierung auf die Literatur höchst bedenklich“. (Matthias Wegner)
Ein Dreivierteljahr München 1909, Fredi wechselt nach Berlin. Er möchte die Stadt kennen lernen und wieder näher an Crossen sein, seinem Elternhaus und den Freunden. Aber ihn zieht es weniger in die Hörsäle, als in die Nähe der „Künstlerwelt“, Tanzsäle, Kneipen, Varietés und Kabaretts.
Erstmals in Berlin und dorthin geht er zum Wintersemester 1910/11 und zum Sommersemester 1911. Fredi haust in Berlin in der völlig proletarischen Gegend zwischen Ackerstraße und Frankfurter Allee in dürftigen Buden. Vorlesungen und Seminare besucht er nicht allzu eifrig. Lieber schläft er lange aus und isst dann zu Mittag in der Friedrichstraße in „Kortwichs Weißbierstuben“.
Bereits im Herbst 1911 ist Alfred Henschke wieder in München, wo er sich erneut in den Kreis um Arthur Kutscher einreiht. „Ich atme auf – von Berlin“, schreibt er an Heinrich, „Sie schimpfen so auf München, damit meinen Sie das Biervolk – aber das andere, die Straßen, den Englischen Garten, die Menschen, sind sie nicht liebenswürdiger als in Berlin?“
Er lässt sich für mehrere Studienhalbjahre beurlauben und soll in dieser Zeit an der altehrwürdigen Lausanner Universität studiert haben. Im Wintersemester 1915/16 aber ist er wieder in München und einige Biographen meinen, er habe die Würde eines Doktors der Naturwissenschaften erlangt, dafür aber finden sich keine Belege. Und dieser „Dr.“ geistert bis heute durch die Literaturgeschichte. Wahrscheinlicher ist, dass er die Münchner Universität 1916 ohne akademischen Abschluss verlassen hat.
Diese Legende vom „Dr.“ hat einen Urheber: Otto Zarek, er wird sie 1924 im Vorwort zur „Bracke“ -Ausgabe der Deutschen Buchgemeinschaft in die Welt setzen. Dort heißt es, „es sei kein Zufall, dass „dieser innige Belauscher der Natur eigentlich so „nebenbei“ (…) mit einer naturwissenschaftlichen Arbeit doktorierte… einer Arbeit über die Gottesanbeterin, diese seltsame Heuschreckenart, die er im Tessin mit den Augen des Forschers und mit der Seele des Kindes beobachtete.“
Er kann sich auf den „Insektenfreund“ Alfred Hensche berufen, der schrieb einmal In einer Ferienreise-Bücherbesprechung:
„Besäße ich des Rösel vom Rosenhof unsagbar schönes Insektenbuch: so schön wie das des japanischen Meisters Utamaro, es wäre mir gerade recht, diesen Platz zwischen zwei Paar Stiefeln auf das Würdigste auszufüllen. Aber der glückliche Besitzer dieses alten Wunderbuches, eines der erstaunlichsten Dokumente der Wissenschaft, der Maler Alfred Kubin, will mir’s nicht leihen, was ich verständlich finde: ich tät’s auch nicht: und da mir seine Mappe „Wilde Tiere“, die ich am meisten von seinen Werken liebe, zu lang ist, nehme ich eine Auswahl aus des ehrwürdigen Holländers Jan Swammerdamm Bibel der Natur, erschienen in der sehr instruktiven Voigtländerschen Quellenbücherei. (…) Von sogenannten Tieren interessieren mich ausschließlich die Insekten!“
Etwas boshaft, auf jeden Fall aber genüsslich zerpflückt Guido von Kaulla diese Legende:
„… Zarek tischt am 15. 8. 28 im Nachruf noch folgendes auf: der Dichter habe den Erwerb des Dr.-Titels sogar vor seinen nächsten Freunden „keusch verhüllt“. Die Nachprüfung auch dieser zwar journalistisch sicher hingesetzten, aber von vorneherein unglaubwürdigen Behauptung ergab, dass Alfred Henschke bei keiner deutschsprachigen und auch bei keiner italienischen Universität promoviert hat.“
Lausanne
März 1912, Fredis Gesundheitszustand verschlechtert sich, die Symptome kennt er zur Genüge: starker Hustenreiz, Schmerzen auf der Brust, abendlicher Temperaturanstieg, dann Nachtschweiß. Und immer wieder die Notwendigkeit, sich niederlegen zu müssen.
Zusammen mit seinem Vater beschließt er, nach Gardone Riviera zu fahren. Die Gemeinde liegt am Westufer des Gardasees.
Eine ärztliche Untersuchung bestätigt die Diagnose: Tuberkulose in einem fort geschrittenen Stadium, d.h., sie hat schon beide Lungenseiten befallen. Fredi macht etwa zwei Monate lang in Gardone eine Liegekur.
Guido von Kaulla schreibt:
„… Das blasse Aussehen des Tuberkulösen weicht einer trügerischen Bräune. Der Erkrankungsprozess scheint aufgehalten: in Wirklichkeit wird er nur verlangsamt. Merkwürdigerweise unterschätzt Dr. Henschke die Gefahr und betreibt nicht energisch eine gründliche Kur – durch einen Jahresaufenthalt seines Sohnes entweder in einem Hochgebirgssanatorium oder im Klima Ägyptens – die lukrative Crossener Apotheke hätte das finanziell bestimmt ermöglicht. Mag sein, dass dem Vater für ein schnelles Handeln sein Denken in traditionellen Begriffen im Wege stand: die Vorstellung, dass ein Studium zum Abschluss gebracht werden müsse. Sein bürgerliches Leben in seiner üblichen Sicherheit lässt nicht den Gedanken aufkommen, dass das Leben seines Sohnes nicht bürgerlich normal verlaufen könnte. Der Sohn selbst? Ihm ist die Triebfeder seines Tuns das Wunschdenken: es möge mit Behelfen noch zu helfen sein. Und wohl auch der törichte Stolz, über den Monatswechsel hinaus möglichst kein Geld von der amusischen Familie anzunehmen. Der Arzt – über die Konsultation hinaus nicht interessiert – rät von einem Münchener Sommer ab.“
Der Kompromiss heißt Universität Lausanne und dort verbringt er das Sommersemester 1912 an einer Universität französischer Sprache. „was auch meiner Gesundheit, um die es nicht zum Besten bestellt ist, gut tun wird“ und um „Französisch zu lernen“, wie er dem Berliner Verleger Fritz Heyder am 7. April des Jahres schrieb, dem er sich nach einigen vergeblichen Versuchen erfolgreich als Autor anbot. „Auch dieser Aufenthalt sollte weitreichende Folgen für das literarische Werk haben. Zwar hatte Klabund schon 1909 in München eine Ausstellung „Japan und Ostasien in der Kunst“ gesehen und „gleichzeitig ein Büchlein über Die japanische Lyrik gelesen“. In französischen Übersetzungen machte der Dichter jedoch später genauere Bekanntschaft mit fernöstlicher Poesie und Philosophie. Seine freien Nachdichtungen sollten zu einem Markenzeichen seiner wachsenden Popularität werden, schreibt Matthias Wegner.
„Hier entstehen französische Verse: als die lyrischen Porträts „Le baladin“ und „Mignon“ zusammengefasst und vergeblich Verlagen angeboten.“ (G.v.K.).
Übrigens, bei der Ruhrbesetzung des Rheinlandes 1923 schreibt Fredi ein „französisches Soldatenlied von der Ruhr“.
Seine Eltern glauben nach wie vor, er studiere, um Lehrer oder Bibliothekar zu werden, Fredi verheimlicht ihnen aber immer noch sein wahres Ziel. Deren Drängen, doch zu promovieren, lässt den Sohn eine Doktorarbeit über den revolutionären Dramatiker Georg Büchner planen. Die Betonung liegt allerdings auf nur planen!
Noch einmal München und als „cand. phil.“ lernt er unter den Kutscherschülern Carl Christian Decke kennen. „Bry“ ist dessen Schriftsteller-Pseudonym. Dazu kommen noch Richard Huelsenbeck und Otto Zarek und wenigstens zeitweise komplettiert Johannes R. Becher (später einmal „Minister für Kultur“ in der „Deutschen Demokratischen Republik“) die Runde. Nicht zu vergessen, der spätere Präsident der „Reichsschrifttumskammer“ von 1935-1945 im „Dritten Reich“ Hanns Johst.
Guido von Kaulla schreibt über die beiden:
„… Henschke und Johst genießen die Ehre, auch einmal im Rahmen der von Kutscher eingeführten „Autoren-Abende“ eigene Verse vorlegen zu dürfen. Kutscher beschäftigt sich mit Fredis Zusammenstellung von 40 Gedichten – „Der Brunnen“. Er bejaht die meisten rückhaltlos und bestätigt diesen ungeheure Verlebendigung. Mit Bestimmtheit versichert er, dass er fest an Alfred Henschke glaube und ergänzt damit das Urteil von Unus, der Henschke bereits kollegial als einen Berufsschriftsteller ernstgenommen und anerkannt hat.“
Seine Verbundenheit mit der „Vaterstadt“ hat Klabund oft genug betont und so ist es sicher kein Zufall, dass zu seinen ersten Veröffentlichungen Beiträge für den „Crossener Kreiskalender“ gehören. Und sicher will er auch Bedenken im Elternhaus abbauen gegen die „Karriere“ als Autor und Dichter. Zu einem Jubiläum der Völkerschlacht bei Leipzig erscheint ein Beitrag, ferner eine Ballade „König Jerome und der Crossener Wein“ und ein 88zeiliges Poem „1813“. Dem Richard Zeidler Verlag – Herausgeber des Blattes – bietet er Alt-Crossener Geschichten“ an und diese werden Weihnachten 1912 veröffentlicht.
Im Nachwort von „Celestina“ – herausgegeben im Verlag Faber & Faber – heißt es:
„… Ein Verlagsprospekt vom September 1912 kündigte das Erscheinen des Buches für Weihnachten des Jahres an, wenn genügend Subskribenten zusammenkommen sollten. Das offensichtlich von Henschke verfasste Schreiben löste in der Familie eine lebhafte Diskussion aus. Der Vater, Apotheker und angesehener Bürger der Stadt, sah es nicht gern, dass sein Sohn unter seinem Familiennamen eine solche „literarische Wegelagerei“ betrieb. Der Sohn erinnerte ihn wiederum daran, dass er ebenfalls „Reklame betreffs selbstfabriziertem Mund- und Selterwasser“ in die Crossener Haushalte schicke.“
Und die Wirkung in der Stadt beschreibt die gleiche Quelle:
„Die Wirkung von Celestina hat die lokalen Grenzen wohl nicht überschritten. Immerhin löste das Buch in der Heimatstadt manche Irritation aus, konnten doch die Zeitgenossen einige im historischen Gewände auftretende Protagonisten identifizieren. Mehr vorahnend, als schon wissend, hatte Henschke dazu eine Glosse in der „Frankfurter Oder Zeitung“ (30. 12.1912) veröffentlicht. Darin bittet die Tochter eines Crossener Postboten den Dichter, nicht in eine seiner Novellen gezogen zu werden: „Ich wirde die Schande nicht außhalten und in die Oder gehen …“
Seinem Freund Heinrich schrieb er in dessen Exemplar: „Es ist natürlich alles Schwindel, Scherz und Satire“. Und dieser parodistische Ton, dessen er sich in der Ortschronik bedient, lässt mich vermuten, dass wenigstens bei einem großen Teil der „Geschichten“ nicht der Crossener Gelehrte der Barockzeit Johann Joachim Möller Pater stand, sondern eben ein Autor, der sich kurze Zeit später Klabund nannte. Außerdem arbeitete Fredi laut seinem Biographen Guido von Kaulla, seit 1909 an diesen Geschichten und er verwendete sie in späteren Gedichten und Erzählungen.
Guido von Kaulla schreibt übrigens:
„… Und dieser Brief (vom 30.12.1912 an Heinrich) wirft auch ein Licht auf seine eulenspiegelhafte Art, mit den Crossenern umzugehen: „Mein Vater schrieb mir, dass ich mich in Crossen schon wieder einmal missliebig gemacht hätte. In der „Frankfurter Oderzeitung“ ist nämlich eine kleine Geschichte erschienen. Und die Fr-O-Z wird in Crossen sehr viel gelesen. Und in dieser Geschichte haben sich verschiedene Crossener getroffen gefühlt: voran ein Gymnasial-Professor und eine Briefbotentochter …“
Fredi, oft genug ein „Lästermaul“? „Der brave, schüchterne Apothekersohn zeigte sich auch von der anderen Seite. So schrieb er einmal, die Crossener hätten neben den braven Normalbürgern auch „einen rechten Unruhestifter in die Welt geschickt.“ Unruhe verbreitete er in der Tat unter seinen ehemaligen Heimatgefährten. Sein Hang, Leute, die ihm nicht passten oder mit denen er gar zu gern einmal ein Hühnchen gerupft hätte, lächerlich zu machen, paarte sich mit dem Verlangen, Schriftsteller zu werden“, so Guido von Kaulla.
Aber Alfred Henschke ist ein fleißiger „Schreiber“, bis Ende 1909 hat er neben diesem eher bescheidenen Anfangserfolg schon Hunderte von Gedichten, Erzählungen, Dramenentwürfen vorzuweisen. Er selbst beschreibt es so:
„… Oft hat mir der Wind die Blätter verweht, auf denen ich schrieb. Ich habe bei meinen vielen Wanderschaften zwei ganze Dramenmanuskripte verloren. Wer sie gefunden hat, soll sie behalten, ob er nun sein Zimmer damit tapeziert oder ob er sie seiner Frau nach dem Nachtmahl vorliest.“
In Crossen lernt er den achtzehn Jahre älteren Gelegenheitsschriftsteller und Bankbeamten Walter Heinrich – der sich als Autor „Unus“ nennt – kennen. Und mit ihm führt er ab 1910 einen regen Briefwechsel. Der Crossener Kaufmann Max Doering verwies Alfred Henschke an seinen Vetter, eben Walter Heinrich, wusste er doch von Fredis künstlerischen Neigungen und Versuchen. Auf diese Weise begann eine Bekanntschaft und Freundschaft, die bis zum Tode Klabunds im Jahre 1928 andauerte.
Leider sind bis auf wenige Ausnahmen die Briefe Heinrichs verschollen, aber Fredis Briefe an ihn sind eine wahre Fundgrube, die nicht nur seine Entwicklung zeigen, sondern auch eine Menge Einblicke in sein Leben geben. “Unus“ war nicht nur in künstlerischer Hinsicht ein geduldiger und wichtiger Ratgeber, er half ihm auch mit manchem guten Ratschlag in den Weimarer Jahren in Bezug auf seine Finanzen und er war oft genug „Kummerkasten“.
„Gestatten Sie, dass ich mit der Tür in’s Haus falle“, schreibt Klabund 1912 an Heinrich „Erstens: ich halte mich für einen Dichter. Sie werden sagen, das tun andere auch. Zweitens: vielleicht bin ich auch einer. Sie werden sagen, wenn Sie das nicht einmal selbst wissen! Worauf ich eine ebenso wohlfeile wie wehrlose Phrase bei den Haaren herbeiziehe: Der Zweifel ist des Glaubens liebstes Kind.“
Und weiter „Um Ihnen ein wenig zu imponieren, folgt jetzt eine Reihe von Zahlen und Titeln. Ich habe 597 Gedichte, 29 Novellen, 13 Einakter, 1 Roman, eine Aphorismensammlung, dazu Fragmente und Materialsammlungen zu Dramen und Romanen größten Stils (Don Juan, Nau-sikaa, Adam und Eva usw.) Essays usw. geschrieben.“ Einschränkend schreibt er, er könne „Dinge, die mir im Grunde wirklich zart erscheinen, manchmal nur durch Plumpheiten ausdrücken … Ich bitte Sie um Rat, weil ich wirklich sonst niemand um Rat zu fragen hätte und ich nicht ewig alles in mich hineinfressen möchte.“
Klabund gewinnt in Walter Heinrich einen sachkundigen Gesprächspartner und besonnenen Ratgeber. „Ob ich nun“, schreibt er ihm einmal, „ein schlechter oder guter „Dichter“ bin, jedenfalls sind mir die Organe zu einer anderen Lebensart verkümmert.“ Und er bittet Heinrich um die Vermittlung zum „Simplicissimus“ dem satirischen Wochenblatt, es sei „beinahe der einzige Weg für mich, in die Literatur zu gelangen“.
Ab dem Frühjahr 1911 gelingt es ihm, sich mit literarischen Veröffentlichungen bei sehr angesehenen Zeitschriften durchzusetzen. Auch in der Zeitschrift „Pan„, die der weithin bekannte Berliner Theaterkritiker und Lyriker Alfred Kerr herausgibt.
Kurt Wafner schreibt über die wohl „bahnbrechende“ Veröffentlichung:
„… Als sich der Dichter einen Gerichtsprozess auf den Hals lud. Im Winter 1912 hatte er, angestachelt von seinem Vorbild Villon, an den Theaterkritiker Alfred Kerr ein paar Verse gesandt, die dieser in seiner Zeitschrift „Pan“ veröffentlichte. Diese Gedichte, in der derb-frechen Manier Villons verfasst, erregten Aufsehen in der Öffentlichkeit. Die kaiserliche Zensur sah einen Grund, Anklage zu erheben wegen „Verbreitung unzüchtiger Schriften.“ Zu Gutachtern zugelassen wurden Frank Wedekind, Max Halbe, Erich Mühsam und Richard Dehmel. Sie wetterten gegen die Anklage, die sich auch auf Alfred Kerr erstreckte, aber schließlich verdonnerte die Justiz den Dichter zu 50 RM. Ein Jahr später wurde das Urteil aufgehoben.“
Die Gedichte im Wortlaut:
Es hat ein Gott…
Es hat ein Gott mich ausgekotzt,
Nun lieg ich da, ein Haufen Dreck,
Und komm‘ und komme nicht vom Fleck.
Doch hat er es noch gut gemeint,
Er warf mich auf ein Wiesenland,
Mit Blumen selig bunt bespannt.
Ich bin ja noch so tatenjung.
Ihr Blumen sagt, ach, liebt ihr mich?
Gedeiht ihr nicht so reich durch mich?
Ich bin der Dung! Ich bin der Dung!
Sie hat an ihrem Liebesmunde…
(Verflucht ja!) eine offne Wunde. Zu Ende ist mit meiner Ruh‘ es.
Ist das nun Lues?
Sie sieht entsetzt mich zögernd zweifeln,
Wünscht das Geschwür zu allen Teufeln,
„Ich hab mich heute früh gerissen.“ (Wer kann es wissen?)
„Ich schwör’s!“ Sie hebt die beiden Hände.
Daß Amor alles glücklich wende!
Sie ist so hübsch. Man ist gefangen.
Es hat noch einmal gut gegangen.
Betrachtung
Wie schön, nach einer Liebeserfüllung im Bett
(wenn man eins hat) allein zu liegen,
Und müde zu träumen und zu denken, sie wird
Vielleicht Kinder kriegen.
Aber ich? Was kann denn mir passieren?
Ich werde höchstens morgen oder übermorgen
eine andre verführen.
Condoms? Sie mangeln mir. Alimente?
Wer aus mir einen roten Heller herausholen
könnte!!
Es gibt ein Mädchen, das heißt Grete. Ich soll
sie heiraten.
Aber da werden sie verdammt vorbeiraten.
Und ob die ganze Welt sich nur aus (unehelichen)
Kindern – vier hab ich schon – von
mir zusammenrotte:
Ich liebe sie alle, alle. Der Reihe nach. Augenblicklich
Constanza (Gouvernante), Emma
(Büglerin) und eine
verheiratete Spenglermeistersgattin:
Charlotte.
Kurt Wafner weiter:
„… Der Prozess zog sich in die Länge – vom September 1913 bis Januar 1915. Am 20. September 1913 schrieb Klabund an Heinrich: „… Am 23. ist nun der Prozess. Ich empfinde einige Beklemmung nicht über den Ausgang, der ist mir gleichgültig, aber ich weiß nicht wie mein Verteidiger seine Sache machen wird … Immerhin ist das Urteil Wedekinds über die zwei inkriminierten Gedichte sehenswert. Mir sind beim Lesen die Tränen herunter gelaufen vor Lachen (das war aber kein Lachen von oben herab, sondern aus der Sache heraus; ich bin Wedekind ja sicher sehr verwandt. Er ist übrigens einer der wenigen Menschen, die ich lieb habe). In dem einen Gedicht ,Wie schön, nach einer Liebeserfüllung im Bett allein zu sein‘ nennt er die Stimmung ,shakespearesch‘ und die Form ,meisterhaft‘. In dem andern Gedicht ,Zu Ende ist mit meiner Ruh‘ es. Ist das nun Lues?‘ vergleicht er Klabund mit Goethe und Wilhelm Busch (in einem Atemzug!).“
Das , Berliner Tageblatt‘ berichtete über die Verhandlung vor der 2. Strafkammer des Landgerichts III u. a.: „… Nach der Vernehmung der Angeklagten gab Richard Dehmel sein ausführliches Gutachten, in dem er zu dem Schluss kam, dass die Gedichte von künstlerischem Wert seien und nicht das Scham- und Sittlichkeitsgefühl verletzten.“
Das Reichsgericht legte Berufung ein und kam zu dem Schluss: „… Da die Strafkammer übersehen hat, dass Kerr dem Gesetz zuwider diesen Prüfungsgrundsatz verletzt und daher mindestens mit Eventualdolus gehandelt hat, musste das erstinstanzlerische Urteil wegen Rechtsirrtum der Aufhebung in vollem Umfang unterliegen.“
Das Reichsgericht gab den Fall an das Landesgericht zurück, und das befand schließlich, dass „diese Gedichte auch auf den Leserkreis grob unzüchtig wirken mussten“.
Und Matthias Wegner schreibt zu den Folgen des Prozesses:
„… Alfred Kerr, der als Mitangeklagter vor Gericht steht, hat nun an dem jungen – im Prozess wegen eines erneuten Sanatoriumsaufenthaltes nicht anwesenden – Autor nur noch mehr Gefallen gefunden. „Junge Menschen sind anständig, indem sie unanständig sind“, meint er souverän über den jungen Dichter. Er schiebt in seiner Zeitschrift gleich weitere Gedichte nach, an umfangreichen Vorräten mangelt es diesem nicht.“
Nach dem Erscheinen der kleinen Auflage von Celestina, aber natürlich nach den drei Gedichten im „Pan“ hing der „Haussegen“ in Crossen und im Hause Henschke ziemlich schief.
Wie schon geschrieben, einige Crossener glaubten sich in Personen der „Alt Crossener Geschichten“ zu erkennen und Vater Henschke fürchtete um den guten Ruf seines Namens. Nach dem Vorbild seines Mentors Heinrich, der sich „Unus“ nannte, Fredi suchte ein Pseudonym. Mehrere sind es wenigstens anfangs geworden.
Erste Dichtungen unterschreibt er in der Zeitschrift Jugend mit „Jucundus Fröhlich“ – angenehm fröhlich. Dann fand er den Namen „Samy Klabund“ geeignet. Schließlich nannte er sich „kurz und rund: Klabund“. Viel ist in diese Namenswahl hineininterpretiert worden, sie setze sich aus Klabautermann und Vagabund zusammen, und Fredi gibt vor, ein vagabundierender Poet zu sein.
An der Legendenbildung um seinen Namen arbeitet er kräftig mit, je nach Laune fügt er eigene Interpretationen dazu: Klabund sei eine Übersetzung des Wortes Wandel, aber es gibt keine Sprache, in der Klabund für Wandel steht. Die Chronisten lasen einen Satz aus Klabunds Irene-Dichtung falsch. Dort schrieb er nach seinem Gesinnungswandel: „Mein Name Klabund. Das heißt Wandel.“ Gemeint war aber wesentlich später sein Wandel vom Krieger zum Kriegsgegner.
Die Wahrheit ist simpel, Fredi wählte den bürgerlichen Namen eines Freundes seines Vaters, des Dr. Klabund, Besitzer der Wilhelms-Apotheke in Frankfurt (Oder). Der Name Klabund geht auf einen in Nord – und Nordostdeutschland geläufigen Familiennamen zurück.
So jedenfalls hat es Klabund dem Kollegen Walther Harich erzählt, und falls der diese Begründung nicht erfunden hat … An anderer Stelle stiftete er mit seiner Erklärung, was er denn nun wirklich wäre ebenfalls reichlich Verwirrung, er meint: „Ich bin ein Preuße. Und meine Farben, die ihr kennt, sind schwarz und weiß. Schwarz, das ist die Nacht, und weiß, das ist der Tag. Ich bin Tag und Nacht.“ Die Übergänge an Farben im Laufe der Tages hat er übergangen, denn für die „erotischen Gedichte“ Carmencita, Marianka und Mady-Foxtrott wählte er vorsichtshalber den Namen Pol Patt. Ahnte er etwas oder war diese Findung ein Zufall? Ich wenigstens hätte beinahe Pol Pott geschrieben.
Und eine weitere Erklärung ist zu finden, Fredi schreibt: „Den Namen Klabund schuf ich eines Tages in ernsthaft selbstparodischer Laune, gab ihm aber so viel von meinem Blute, dass er neben und über mir zu leben begann und ganz zum Spiegel meiner Kunst und Weltanschauung wurde… Klabund entstand aus Klabautermann – das ist jenes närrische Meergespenst, das den Schiffern in nebligen Nächten Unheil kündend erscheint – und aus Vagabund. Dieser Name deutet auf die vagabundenhaften Tage meiner ersten Studentenzeit…“
Weitere Gedichte folgten im März 1913 im „Pan, „Unartige Musenkinder“, frech und saftig und Kerr meinte, „die Strophen von Klabund haben so viel Widerspruch erweckt, dass abermals welche hier stehen sollen.“ Nach dem Gerichtsurteil wurde der Name Klabund erst recht bekannt. Und noch 1912 erscheint der erste Gedichtband: „Morgenrot“, Klabund! Die Tage dämmern!* Sein .Karussell“ schloss sich an.
Sein erster Roman trägt den Titel „Der Rubin – Roman eines jungen Mannes“. Klabund hatte das Manuskript im Mai 1914 fertiggestellt und aus Arosa seinem Mentor Walther Heinrich nach Berlin zugesandt. Der Roman sollte im Verlag von Erich Reiß erscheinen; der Beginn des Ersten Weltkriegs sowie Auseinandersetzungen zwischen Autor und Verlag verhinderten das Erscheinen. Der Roman eines jungen Mannes erschien posthum im Jahr 1929 bei Phaidon in Wien.
Egal, was nun stimmt oder auch nicht an der Entstehung des Pseudonyms, „ein Vagabund sollte er werden, einem Vagabunden gleich wechselte er häufig seinen Wohnsitz „und war immer irgendwie unterwegs – zwischen Crossen, München, Berlin, Locarno, und wenn ihn seine Krankheit fast zu Boden warf, suchte er im Schweizer Kurort Davos Heilung für seine Lunge.“ (Kurt Wafner)
Man soll in keiner Stadt
Man soll in keiner Stadt länger bleiben als ein
halbes Jahr.
Wenn man weiß, wie sie wurde und war,
Wenn man die Männer hat weinen sehen
Und die Frauen lachen,
Soll man von dannen gehen,
Neue Städte zu bewachen.
Lässt man Freunde und Geliebte zurück,
Wandert die Stadt mit einem als ein ewiges Glück.
Meine Lippen singen zuweilen
Lieder, die ich in ihr gelernt,
Meine Sohlen eilen
Unter einem Himmel, der auch sie besternt.
Außer dem Pseudonym Klabund publizierte Alfred Henschke unter Gerhart Berg, Bauz und Jakob Röder, eine große Rolle haben diese Namen nicht gespielt, wie sollten sie auch, Klabund war einfach zu dominant.
Nochmal zurück zur Wirkung der Gedichte im Elternhaus. In so tiefer Provinz wie Crossen hatten sie eine „verheerende“, oder vielleicht wurden sie von der Familie auch nur zu solcher gemacht.
Guido von Kaulla schreibt dazu:
„… In der öffentlichen Meinung einer Kleinstadt der Mark Brandenburg fällt nur ins Gewicht, was die weitverbreitete und den Sozialdemokraten feindliche „Berliner Tägl. Rundschau“ in einem Artikel „Klabund ist nicht Klabund?“ verkündete: dass sich unter diesem Decknamen ein „Männlein“ breitmache, das „zuweilen mit schwächlichem Talent, meist ohne“ sich und andere Nebensächlichkeiten bedichte. Dieser in Kerrs „Pan“ als Landstreicher sich Vorstellende sei identisch mit jenem Herrn, der unter dem Namen „Jukundus Fröhlich“ die Witzblätter Deutschlands, darunter die Münchener „Jugend“ mit lyrischen Ergüssen erfreue.
Hinter auch diesem Pseudonym verstecke sich ein „Alfred Henschke. Morgenrot, Klabund! Die Tage dämmern!“ heiße wohl sein neuester Band-: „Der Titel dürfte passen, wenn sich die Nachricht bewahrheitet.“ Was kann es gegenüber solch vernichtender Glosse den Eltern nützen, dass Fredi sich auf seinen Crossener Lehrer Moses Calvary beruft? Dass Fredi, als Protestant in jedem Sinne, seinen Brief mit den Worten endet, mit denen einstmals Luther vor seinen Richtern seine Verteidigungsrede schloss? Das alles kann weder den Presse-Angriff wegzaubern, noch die peinliche Tatsache, dass Fredi als Angeklagter vor die 2. Strafkammer des königlich-preußischen Landgerichtes III in Berlin-Charlottenburg vorgeladen ist wegen „Verbreitung unzüchtiger Schriften“. Nein — nach diesem Skandal können die Eltern nicht mehr annehmen, mit ihrem so begabten und anständigen Sohn in Crossen jemals Ehre einzulegen.“
Fredi versucht sich zu rechtfertigen und schreibt in einem Brief an die Eltern:
„… Liebe Eltern,
die Notiz in der „Tägl. Rundschau“ ist absoluter Literatentratsch und hat mit einer objektiven Würdigung der Gedichte gar nichts zu tun. Ich habe übrigens der „Tägl. Rundschau“ eine Berichtigung geschickt, die sie hoffentlich bringen wird.
Lieber Vater, das ist ein Irrtum von Dir: diese Kritik konnte in keinem linksstehenden Blatte stehen. Du siehst die Verkettungen nicht. Die „Tägl. Rundschau“ ist mit Alfred Kerr und Dr. Blei verfeindet und ergo überträgt sie diese (politische) Feindschaft auf mich. Ich habe es Dir schon früher prophezeit! –
Übrigens könnte ich Dir dreißig begeisterte Anmerkungen zur Einsicht geben. Weil Ihr gerade die „Tägl. Rundschau“ lest, glaubt Ihr die Stimme der Welt in ihr zu hören. Muttis treu gemeinten Zeilen kann ich mich leider nicht fügen. Lass Dich von Herrn Calvary (und von tausend anderen, wertvolleren Leuten als dieser Pamphletist) belehren, ob ich ein dichterisches Talent bin oder nicht. Dazu wird sich wohl oder übel auch die „Tägl. Rundschau“ einmal bekehren müssen (von den Witzblattreimen, die Ihr mit merkwürdiger Konsequenz im Auge habt, weil sie die einzigen sind, die Ihr von mir kennt, rede ich doch gar nicht).
Übrigens: ich werde nicht von meinen Freunden beeinflusst, sondern beeinflusse sie. Die Bewegung geht durchaus von mir aus. Man hat über Hauptmann, Holz, in ihren Anfängen genauso geschimpft. Liliencron sagte: Da lach ich dröver!
Meine liebe Mutti, nicht alle Welt soll meine Ansicht vom Leben haben; aber leider will alle Welt (und dazu gehört Ihr), dass ich ihre Ansicht vom Leben annehme. Und das passt mir nicht. Ich trage andere Kleider. Nach Maß. Nicht vom Ramsch (bitte ich meine hier nicht Euch) – Also: der Prozess ist am 27ten. Schickt mir alles, was in der Tgl. R. steht. Ich erfahre sonst gar nichts aus der „rechten“ Presse. Nur Ruhe! (Und wenn Ihr wollt, schreibe ich dem Crossener Tageblatt ein paar aufklärende Zeilen, damit Ihr wieder auf die Straße gehen könnt. Aber nur, wenn Ihr wollt). Warum sagt Ihr Euch nicht von mir los? Hier stehe ich, ich kann nicht anders, Gott helfe mir, Amen. Fredi.“
Tief getroffen ist Fredi, denn die Reaktionen der Eltern und sicher der restlichen Familie sind keine Ausnahme. Zumal die Mutter nie oder lange nicht einsehen kann warum z.B. derartige Gedichte einen Sinn haben sollen und „für was sie taugen“.
Guido von Kaulla drückt es folgendermaßen aus:
„… Merkwürdigerweise ist sein Vater ohne Empfängnisfähigkeit für das dichterische Wort, das dem Sohn (gleich seiner Romangestalt „Mohammed“) „die goldene Geißel und die rosane Entzückung seines Seins“ bedeutet – in einem (nach Freundeswort:) dauernden arioso con dolore. Das gibt der Vater im Gespräch mit dem Biographen auch freimütig zu, bewundert aber ohne Einschränkung Fleiß und Vielseitigkeit des Sohnes und dessen „niemals-Wesens-von-sich-machen“. Wie für alle Lebensereignisse Alfred Henschkes finden sich auch für diese Beziehungslosigkeit Parallelen im Werk, so etwa im Romanfragment über den Dichter J. Chr. Günther (1695 bis 1723), das im schlesischen Striegau zwischen Vater und Sohn spielt.
Im Leben jedoch mildert sich allmählich diese zermürbende Spannung. Beispielsweise: Ende Mai 1918 kommt im Garten der Villa Neugeboren in Locarno Hermann Hesse an dem Frühstückstisch vorbei, an dem Klabund sich mit Post von seinem Vater beschäftigt, dessen Briefe immer mit dem kameradschaftlichen „Alfred“ unterschrieben sind. Es handelt sich diesmal um Kritiken über „Irene oder die Gesinnung“, den neuesten Versband. Jedes deftige Schimpfwort darin hat der Vater bekräftigt durch Randbemerkungen wie „Sehr gut!“ oder „Ganz meine Meinung!“. Zu Hesses Entzücken liest Klabund das in strahlender Heiterkeit vor, mitsamt den Kritiken. Deren eine lautet: „Ironie oder die Entsinnung wäre der richtigere Titel. Denn wie eine Ironie auf die tollsten Tollheiten expressionistischer Neutöner mutet diese scheinbar wahllose Aneinanderreihung von Worten an, und jeglicher Sinn scheint diesen „Versen“ und Versfolgen zu mangeln.
Ernstnehmen kann wohl kaum ein vernünftiger Mensch diese Zusammenhäufung von Geschmacksverirrungen; aber leider gibt es Unvernünftige genug, die sie ernstnehmen, sie als Offenbarungen preisen oder gar religiöse Erhebung daraus schöpfen wollen.“
Und weiter:
„… Sohn Fredi antwortet im nächsten Gedichtband durch „Flachs“ und spielt auch darauf an, dass Vater Henschke in der Freimaurerloge in Crossen Stellvertretender Meister vom Stuhl ist – (eine Mitgliedschaft notabene, die ihm später eine SA-Boykott-Wache vor der Apotheke einbringen wird):
„Du kleine Stadt, der Eltern Wohn- und Hohnsitz, / begrüßest kniend meinen nächtlichen Besuch. / Durch die Allee taste ich mich, noch den Wald in / Händen, von Baum zu Baum. […] / Auf weinlaubumsponnenen Balkon steht mein / Vater silberbärtig im Schlafrock und er brüllt: Ruhe! Ich bin der Bürgermeister – / und Meister aller Bürger, Meister vom / Stuhl -vom Stuhlgang aller Bürger! / Wer stört die bürgerliche Nacht? Und / zerrt das Alter aus den Kissen, die Jungen / aus den Küssen hoch? / Meine Mutter in weißer Haube weint. / Sie legt den Kopf auf seine knochige Schulter: wie / ein Taubenweibchen. […] Durch die Allee taste ich mich, dem Wald entgegen / von Baum zu Baum zurück.“
Alfred Kerr setzt sich für Klabund ein, ebenso, wie Dr. Kutscher. Ersterer wird später schreiben: „Was aus ihm herausquoll, war nicht gekrampft, nicht zeitgierig, nicht programmatisch und nicht musiklos. Die Unterstützung der beiden bringen Unus und Henschke zu der Überlegung, nach einer Absage des S. Fischer Verlages, ob man nicht den Verleger Reiß auf die Möglichkeit einer Sami -Klabund-Gedicht-publikation aufmerksam machen solle. Der interessiert sich sofort dafür, zumal er keinerlei verlegerisches Risiko darin sieht, solange diese Band vor dem schon erwähnten Prozess herauskommt und dieser ist der schon erwähnte Band „Morgenrot“, Klabund! Die Tage dämmern!“.
Und Kerr legte sich noch einmal besonders ins Zeug für zahlreiche Vierzeiler-Gedichte eines gewissen Heinrich Muoth. In drei Nummern des „Pan“ stiftet er Verwirrung: „Der Verfasser dieser Strophen ist ein junger Vagant. Nachts schläft er im Asyl; tags haust er in Büchereien und Sammlungen. (…) Er wird noch ausführlicher in diesen Blättern reden.“ – „Andere Verse des jungen bayrischen Vaganten.“ – „Noch einige Verse des jungen Bayern“. Und dann schießt Muoth den Vogel ab: „Ich bin ein Namenloser, der nach oben drängt. Ich habe die inbrünstig gereckten Arme. Meine wahrste Gebärde… Ich liebe Bücher. Sie können streicheln…, dass es einen überkommt wie heiße Geschlechtsnot“.
Die Fröhlichs, Pol Patts, Gerhart Berg, Bauz und Jakob Röder und auch Muoth haben ausgedient und schwimmen ruhig, wie es sich gehört, Isar, Spree oder Elbe hinab. Übrig bleibt „Klabund“.
Über „Morgenrot“, Klabund! schrieb Heinrich einen Offenen Brief an eine Zeitung. Darin heißt es:
„Lieber Klabund, Gedichte? Ein lockeres Bündel Gedichte? Nein, Sie haben ein wunderschönes, leichtes, schimmerndes, buntes Buch geschrieben; ein Buch, ganz voll von Jugend, von Ihrer Jugend, in der die paar Wedekinder nur wie Nachbarskinder sind, die mit Ihnen spielen, – ein Buch, das nur ein recht von Herzen junger Mensch schreiben kann. Klabund, Sie haben einen schlechten Ruf. Ist es wahr, dass Sie tagsüber den Bauern am Ammersee die Wiesen verliegen und nur den tausendsten Teil aufschreiben, von dem, was Ihnen einfällt, und dass Sie die Nächte in den Scheunen und bei den Bauernmägden herumfaulenzen? Warum soll es denn nicht wahr sein? Haben die Schmetterlinge einen schlechten Ruf, weil sie aus Raupen kommen und wieder Raupen in die Welt setzen?
Es ist wahr, Klabund, unsere Jugend wacht ein bisschen früh auf: Wir bekommen alle die großen Städte vorzeitig zu schmecken und treiben uns in den Vorstädten herum, wo’s nicht immer ganz sicher ist für unsere Moral. Wie merkwürdig dieses Wort schon klingt: Wenn wir nur frisch bleiben und die Buntheit sehen, mit der die Stunden an uns vorüberstreichen wie Vögel, die sich nicht fangen lassen. Und derweilen trotten wir geduldig weiter über die Pflastersteine aller Banalitäten, – dieser schönen Banalitäten, die wir so lieben und die uns so sicher machen. Ja, Klabund, sicher und ursprünglich wie der Rhythmus Ihrer Verse. Ein bisschen Geklirr dazwischen wie von Feuerwerk, ein Feuerwerk am Tage, mit natürlichen Farben und einem bisschen Unsinn, arabeskenhaft überflüssig wie Ornamente an einem Sofa oder Cigarettenwolken. Ach, wie notwendig ist uns dieses bisschen Unsinn…“
Kritik an „Morgenrot“ übte der Schriftsteller Gustav Sack. In „Zynismus unserer Jüngsten“ schrieb er: „Die Gedichte „Morgenrot! Klabund! Die Tage dämmern!‘ sind … unausgearbeitet; es wird eine Stimmung, ein Gedanke hingeworfen, die Bilder überstürzen und widersprechen sich, der Dichter ist sich des Wirrwarrs selbst bewusst, er hat, man sieht es beim ersten Blättern in seinem Buch, die Kraft, Ordnung in sie zu bringen, aber er hat sich in seine Vergleiche verliebt, er entzieht sich der kleinen Mühseligkeit, er unterstreicht seinen Wirrwarr und stempelt ihn und macht ihn vollkommen durch ein dick hingepflanztes ,Ich bin Dung‘.“
Kritik ficht Klabund nicht an, im Gegenteil, sein „Schreibeifer“ wird angestachelt und auch Reiß will ihn als Autoren aufnehmen, denn der Band verkauft sich gut.
Zu dieser Zeit schreibt der Dichter auf einer Schreibmaschine und dafür hat er natürlich eine eigene Philosophie und die teilt er seinem Freund Heinrich mit:
„…Eben fällt mir ein gutes Thema für eine psychologische Untersuchung ein: es ist doch komisch, wie sich die Schreibmaschine bemüht, den Stil des Menschen, der auf ihr schreibt, zu modeln: sie hat wie alle Maschinen ihre Seele, und diese Seele bohrt sich in den Schreiber ein und zwingt ihn, in Tippschrift sozusagen zu denken. Ich z.B. bekomme beim Tippen eine perverse Vorliebe für Kommas und lange verzwickt zu schreibende Worte. Es ist ein ästhetischer Genuss, Gedichte auf der Schreibmaschine (O! Schon dieses Wort!) zu schreiben … Ich gedenke, mit einer neuen Lyrik auf den Markt zu treten; der Tipplyrik, die nur dazu da ist, getippt zu werden, (beileibe nicht etwa gelesen zu werden) – und alle „Gefühlswerte“ allein durch das Tippen zu vermitteln …“
Die Zeiten ändern sich, meint Guido von Kaulla:
„… Und doch: nur zwölf Jahre später wird in der Aula des Crossener Realgymnasiums die Lebendbüste eben dieses Bürgersohnes feierlich enthüllt. Drei Jahre danach erfolgt die Beisetzung seiner sterblichen Reste in einem Ehrengrab der Stadt. Gottfried Benn – Dichter, „märkischer Landsmann“ und Freund – wird am offenen Grabe bekennen: „Da habe ich zunächst das Bedürfnis, der Stadt Crossen einen Dank abzustatten. Es ist schön, dass sie es ermöglichte, dass Klabund auf diesem Friedhof ruht. In Norddeutschland, wo er hergekommen ist, in dieser Stadt, die er oft besungen hat, […] ich sage, ich möchte mir die Freiheit erlauben, der Stadt zu danken, dass sie es sich nicht hat nehmen lassen, ihren Sohn, diesen, unseren Kameraden, der nur ein Künstler war – nur Narr, nur Dichter, wie es im „Zarathustra“ heißt – mit allen Ehren des Lebens und der Öffentlichkeit zu sich zurückzuholen. Die Dichter sind die Tränen der Nation — es ist vielleicht für Deutschland nicht schlecht, wenn die anderen hören, dass eine Stadt die Zeit und die Innerlichkeit besaß, diesen Tränen der Nation ihre Aufmerksamkeit und ihre Ehrfurcht zu bezeugen.“
„… Ich habe überhaupt nichts: weder Papier noch Geld noch Beruf noch eine richtige Wohnung Als Glaubwürdigkeitsköder sind Reimereien nicht „heißer“ sondern heiterer „Geschlechts-not“ beigegeben, damit nicht drastisch Urwüchsiges fehle im gleichsam dyrischen Porträt des Samuel Klabund – von ihm selbst,“ resümiert Fredi.
Carl Christian Decke („Bry“) schreibt aus München, er sei aus finanziellen Gründen in die Buchhandlung Steinicke eingetreten sei, was er zur Nachahmung empfehle. Und so könnte aus dem „Vagabunden“ und „Klabautermann“ doch noch ein Mitglied dieser „ehrenwerten Gesellschaft“ werden, bzw. die Eltern in Crossen endlich beruhigen. So geht von Fredi aus München ein Schreiben an den Vater:
„… Ich hoffe, du billigst mein Vorhaben, da ich zum Oberlehrer und Bibliothekar undsoweiter kraft meiner phantastischen Veranlagung doch verloren bin, (…) so habe ich mich (…) für das Mittelding zwischen Kaufmann und Kunstkenner, den Kunsthändler, entschieden. Zeit zum Schriftstellern bleibt mir dabei, ebenso zum (etwaigen) Doktor. Wie sehr mir aber die von Dir so arg geschmähten sechs Semester „Nichts-tun“ zustattenkommen, habe ich bei der Unterredung mit Goltz gesehen (…), die Hauptsache: die Gesundheit.“
Guido von Kaulla, meint: „Aber nach 3 Tagen des Probemonats macht Fredi in der Buch- und Kunsthandlung von Hans Goltz Schluss. Die Arbeit langweilt ihn nicht nur – er verliert damit auch kostbare Arbeitszeit. Er braucht das Liegen am Vormittag. Das Eingespannt sein in feste Betriebszeiten wäre Gift für seinen Körper. Er muss freiberuflich bleiben – und dadurch freilich unentwegt produzieren und zum Kauf anbieten.“
Auch „Unus“ wird informiert:
„… München, 21.X. 12
Lieber Herr Heinrich,
es tat mir leid, dass Sie am Sonntag nicht da waren — der Zufall hat gewollt, dass der Abend sich dennoch anmutig rundete: ich traf am Potsdamer Platz ein Mädchen, das ich vor zwei Jahren einmal etwas mehr gern gehabt habe als die andern. Und wir fuhren spazieren.
Nun hat sich aber mein Schicksal erfüllt, ohne dass ich Sie hätte um Rat angehen können : ich trete am 1. November in eine hiesige Kunsthandlung ein. Goltz, der bekannte schöngeistige Buchhändler in der Briennerstraße, hat sie eben aufgemacht, und es wimmelt von Ex-Super-Intrapressionisten. Ort der Handlung ist der Odeonsplatz. Nach einem Probemonat will ich auf eineinhalb Jahr Kontrakt machen. Immatrikuliert bin ich nebenbei noch. Man kann nicht wissen (den Doktor* betreffend). Ich habe den Schritt getan, meine Eltern etc. zu beruhigen (ihnen für eine Zeit den Mund zu stopfen). Zweitens: ich will einen Ausgleich gegen meine phantastischen Kräfte.
Die Zwischenlandung im Kunst- und Buchhandel scheint das Gegebene. Und wie verlockend: die Perspektive meiner Stellung! „Student, Kunst“macher“. Kaufmann (wie gesund das sein wird für die „Seele“, gesetzt, der Körper bleibt intakt). Dichter, Recensent: und ganz so über allem zu schweben als ernster Abenteurer. (Fällt mir ein: vielleicht kann ich jetzt mal was für „Wolff“ tun!?) Bitte schreiben Sie mal bald.
Herzlich Ihr ergebener Alfred Henschke.
Nach 28 Tagen – Guido von Kaulla war wohl etwas zu schnell – kommt der nächste Brief an Heinrich und der Inhalt ist zu erahnen:
„München, Kaulbachstraße 56 part. 18. XI. 12
Lieber Herr Heinrich,
mir wäre wohl wie nie: nette Mädchen lieben einen in reicher Blüte, man ist tüchtig zur Arbeit aufgelegt, man hat seine Freiheit wieder (denn, wenn Sie es noch nicht geahnt haben sollten: ich bin nicht mehr bei Goltz. Ich habe es einfach nicht ausgehalten, zu Tode hab ich mich – gelangweilt. Das erste Mal in meinem Leben) – wenn der Husten nicht schon wieder ferne durch den gräulichen Münchner Nebel bellte.
Eine andre, wie mir zuerst schien, Unannehmlichkeit sehe ich jetzt sehr von oben und mit Gelassenheit an. Jemand in Genf behauptet, ein Kind von“‚ mir zu kriegen und bombardiert mich mit Briefen in fremdländischer Zunge. Man will es sich abtreiben lassen und wünscht von mir einige hundert Frank zu diesem Behufe. Ich weigere mich beharrlich durch Stillschweigen. Wenn ich schon ein Kind töten soll (was ich mir sehr überlegen würde) — muss es schon von mir sein. Obengenanntes Kind ist (aus nicht näher zu erläuternden hygienischen Gründen) keinesfalls von mir. Ich kann es beschwören. Und habe natürlich keine Lust mich mit Kindern fremder Väter irgendwie in Diskussion einzulassen. (Weiß aber nicht, wieweit das Recht mich unterstützt: denn auf die Entfernung die exceptio plurium des richtigen Vaters festzustellen ginge über meine Kräfte). Man muss abwarten. –
An dramatischen Arbeiten habe ich jetzt die Einakter „Vater und Fremdling“ sowie die drei Scenen „Alkestis* und die 3-aktige Komödie Die „Verlobten“ fertiggestellt. Die Alkestis ist in Versen und sehr stilisiert. Ich werde sie mir noch einmal überlegen (ich halte sie für Kammerspiele sehr geeignet) und sie dann direkt zu Reiß schicken. Darf ich Sie bitten, ihm, gelegentlich, die Ankunft des Stückes mitzuteilen. (Weiter nichts. Er ist doch hauptsächlich Theaterverlag, nicht wahr ?)
Ich verkehre, durch Herrn Henckells freundliche Vermittlung auf der „Halbeschen“ Kegelbahn und beim „Jungen Krokodil*. Ich stelle meine Ansicht darüber für einen späteren Brief zurück. Mit herzlichen Grüßen Ihr sehr ergebener Alfred Henschke.
Auch Fritz Heyder schreibt er über seine beruflichen Pläne:
„… Sehr geehrter Herr Heyder,
natürlich hab ich das Wichtigste wieder vergessen: ich bitte Sie folgendes vertraulich zu behandeln (Herr Merian kann es selbstverständlich wissen.) Nachdem man mir hier immer mehr zusetzt, mich endlich in einen sicheren Beruf zu schicken, dieser fromme Wunsch meiner Eltern mir auch insoweit entgegenkommt, als zum Ausgleich meiner sinnlichen Begabung mir eine praktische Tätigkeit mal ganz gut tut: hab ich mir überlegt, ob ich‘s nicht im Buchhandel versuchen sollte. Ich habe unzweifelhaft auch kaufmännisches Talent, das ich so doch in gesunde Bahnen lenken könnte. Bitte sagen Sie mir, wie ist der Gang? Wieviel Zeit als Lehrling? Da ich das Abiturium habe, wird mir doch wie in Berufen mit entsprechender Vorbildung ein Jahr erlassen? Ich möchte in München in eine kombinierte Buchhandlung (Sortiment und Kommission) eintreten, will aber, bevor ich den Schritt wage, erst den Fachmann, d. h. Sie um Rat fragen, denn zum Oberlehrer oder Bibliothekar oder gar Dozenten kriegt mich die Verwandten Meute doch nicht.
Vielen Dank zuvor! Ihr Alfred Henschke“
Ich bin und war und werde sein Klabund
Weiterhin immatrikuliert beginnt für Fredi die „Große Freiheit“, er taucht in die Schwabinger Boheme ein.
Mein Name Klabund
Das heißt: Wandlung.
Mein Vater hieß
Schemen.
Meine Mutter: Schau.
Schritt im Schatten
Lenkte mich löblich.
Birke im Winde
Deuchte verwandt.
Aus dem Tal
Stieg ich zu Berge.
Über Schroffen
Klimm ich zu dir.
An den Lippen
Silberner Quelle
Hing ich verdurstet,
Hing ich verdorrt.
Unter der Sonne
Stand ich erfroren.
In den Nächten
Starb ich den Schlaf.
Vogel Anmut
Blinkte bedeutend
Durch die Zweige,
Zeigte empor.
Vogel Wehmut
Donnerte dunkel
Zwischen den Felsen,
Zeigte empor.
Vogel Demut,
Scham und Schleier,
Schwebte unhörbar,
Zeigte empor.
Siehe, da neigte sich,
Gastlich mir winkend,
Abendlich schluchzend,
Schwärmender Stern.
Einsames Wesen!
Gossest mit Funken
Flüchtiger Ferne
Feuer in mich!
Ich erfasste
Lichtes Verlocken;
Griff nach der guten
Funkelnden Hand.
Ach mich ermatteten
Mutigen Wanderer
Zog sie zum Herde,
Wies sie zur Ruh.
In der ersehnten,
In der ertönten Eremitage
Schlug ich die Augen
Himmlisch empor.
Im Herbst 1913 soll die Zeitschrift „Revolution“ erscheinen, Herausgeber der Schriftsteller Hans (eigentlich Ernst) Leibold, mit dem Klabund eine enge Freundschaft pflegt. Kennen gelernt haben sie sich an der Münchner Universität. Fredi wird die „Revolution“ verschiedentlich nutzen, u.a. für eine Huldigung für Else Lasker-Schüler und für einen Artikel gegen die arbeiterfeindliche Einstellung der Regierung, die den Verkauf von Verhütungsmitteln erschweren will. Bei letzterem wird er wohl als „Betroffener“ geschrieben haben.
Unweit des Hofbräuhauses im Korpshaus Rhenopalatia wird im Jahre 1899 die „Torggelstube“ im Tiroler Stil eröffnet und diese wird die „Honoratioren-Ansammlung“ am „Platzl“ in München. In einem Artikel in der Vossischen Zeitung berichtet Erich Mühsam 1928 über seine anfänglichen Vorbehalte. Er habe es Frank Wedekind zu verdanken, dass er das Restaurant schließlich doch besuchte und wegen des hohen Niveaus seiner Gesprächskreise zu schätzen lernte. Am 8. Juli 1911 notierte er in seinem Tagebuch, bis zu seinem Besuch in der Torggelstube sei nicht viel „Vermerkenswertes“ geschehen. Dort wurde er dann mit den aktuellen Querelen des Kulturbetriebs konfrontiert, die zu aufgeregten Diskussionen führten. Einen Besucher schien das jedoch wenig zu beeindrucken: „Draußen saß Wedekind, kaute am Bleistift und dichtete.“
(Erich Mühsam: Tagebücher. Hg. von Chris Hirte und Conrad Piens. Bd. 1. Verbrecher Verlag, Berlin S. 183)
Lion Feuchtwanger setzte der Torggelstube in seinem München-Roman „Erfolg“ ein literarisches Denkmal. Er nennt sie Tiroler Weinstube und widmet ihr ein eigenes Kapitel mit dem Titel „Politiker der bayrischen Hochebene“, in dem es heißt:
„Obwohl der schöne Sonntag viele an die Seen und in die Berge führte, war die Tiroler Weinstube an diesem Junivormittag dicht gefüllt. Man hatte alle Fenster der Sonne geöffnet, aber es blieb angenehm dämmerig in dem großen Raum. Dick lag der Rauch der Zigarren über den massiven Holztischen. Man aß kleine, knusperig gebratene Schweinswürste oder lutschte an dicken, safttriefenden Weißwürsten, während man kräftige Urteile über Dinge der Kunst, der Weltanschauung, der Politik äußerte. Es kamen am Sonntagvormittag vornehmlich Politiker in die Tiroler Weinstube.“
(Lion Feuchtwanger: Erfolg. Drei Jahre Geschichte einer Provinz. Aufbau Verlag, Berlin 1993, S. 66)
Und in eben diesen Torggelstuben fanden sich allwöchentlich die Teilnehmer der so genannten „Kutscherkneipe“ ein. Klabund wird von Dr. Kutscher eingeladen – (Kutscher: „hochbegabt“) und dort lernt er Frank Wedekind kennen und empfindet ihn „bald als einen seiner Vorgänger – nicht: Lehrer.“
Ab 1912 kann Klabund immer häufiger Artikel und Gedichte in Zeitschriften unterbringen. So z.B. im „Simplicissimus“ und in der Münchener illustrierten Wochenschrift „Jugend“, wohin ihn Dr. Kutscher vermittelt hatte. Die „Jugend“ bringt neben literarischen Beiträgen auch Glossen zum politischen Tagesgeschehen. Unterbringen heißt natürlich auch, Honorare bekommen, denn ohne die Unterstützung aus dem Elternhaus geht es meistens nicht.
Die „Neue Rundschau“ wird die schon zu Schülerzeiten geschriebene „Helena“-Ode veröffentlichen, die Fredi vorsichtshalber auf 1912 vordatiert und die in Innsbruck erscheinende Zeitschrift „Der Brenner“ bringt gleich vier Gedichte. Und immer wieder Kerrrs „Pan“….
Auch Wedekind nimmt für „die von ihm mitherausgegebene Zeitschrift „Komet“ einige Verse und Prosaskizzen des Schützlings von Dr. Kutscher an und veröffentlicht den ersten Beitrag am 16. 3. 1911: das Gedicht „Die kleinen Füße der graziösen Frauen“. Die geachtete und beachtete Zeitschrift „Die Rheinlande“ wird im August vier Gedichte bringen.
Dann kann Alfred Henschke für sich den zehn Jahre älteren Verleger Fritz Heyder aus Berlin-Zehlendorf – weitläufige Verwandtschaft – interessieren. Guido von Kaulla; „ Unterm 22. 5. 11 schreibt er an Heyder: da man am Vortage von modernen Dichtern gesprochen habe – hier sei einer. Dass Viele (oder Alle) ihn nicht kennten, sei kein Beweis, dass er schlecht, nur: dass er jung sei. Und: Verse müssten ja nicht immer Ethik mit Keulenschlägen sein. Heyder gewinnt bald eine starke Verbindung zum Wesen dieses Besuchers: er gehört künftig zu dessen Vertrauten. Zunächst kann Heyder nur ein Gedicht für sein Verlagshauptobjekt, den Kalender „Kunst und Leben“, annehmen. Der Verlag ist noch zu jung, um schon ein Buch finanzieren zu können“.
Das eine Gedicht für diesen Kalender scheint eher eine „Gefälligkeit“, denn eine wachsende Zusammenarbeit zu sein, Klabund schreibt an Heyder im Mai 1911:
„…Sehr geehrter Herr Heyder,
es tut mir leid, dass Sie nichts für Ihren Kalender brauchen können. Aber wenn jede Redaktion mir das sagt: Sie machen zwar ganz nette Gedichte, aber Sie sind zu unbekannt, dann kann ich ja alt und grau werden, dann werde ich ja nie bekannt. Ich glaube, es hätte nicht gar so sehr viel Mut dazu gehört, ein anständiges Gedicht von mir in den Kalender zu bringen. Sie selbst werden mir sicher zugestehen, dass das, was die bekannten Namen Wille, Langheinrich, Sergel, Schmidtbonn, Ginzkey dem letzten Kalender beigesteuert haben, nichts als fröhliche Banalitäten sind. Es wäre immerhin was gewesen, hätte der Kalender einen Vers von mir gebracht. Der Name Alfred Henschke hätte eine Woche lang vielen vor den Augen gestanden, mancher wäre aufmerksam geworden, wer ist das? Alfred Henschke? Nun es geht Ihnen wohl contre cceur. Schwamm drüber. Unsere Freundschaft wird es nicht stören. Sie nehmen es bitte mir nicht übel, dass ich vor Ihnen hier meine Seele als wie ein Tuch aus‘ breite. Es geschieht selten genug (Motiv: meist: falsche Scham). Vor Ihnen brauch ich mich meiner „menschlichen Rührung“ hoffentlich nicht schämen.
Mit den besten Grüßen an Sie, Ihr verehrtes Frl. Schwester und Herrn Merian
Ihr Alfred Henschke
„Dann stockt der Absatz. Alfred Henschke gehört eben nicht – wie damals Gottfried Benn – zum Umkreis von „Cafe des Westens“, nicht, wie Heym, zum Kreis um Kurt Hiller, nicht, wie Werfel, zum Verlagskreis von Ernst Rowohlt und Kurt Wolff.“ –
Noch 1912 bricht er sein Studium ab und lebt er als freier Schriftsteller in Berlin und München.
Das Es der Dinge, dem ich mich verschrieben,
Es mildert sich zum Du der Träumerei.
Ich werde ewig meine Seele lieben
In ihrer Ruh, in ihrer Raserei.
Geliebte, Ewige an meinen Mund:
Ich bin und war und werde sein Klabund.
Torggelstube, Kabaretts, Theaterbesuche und die nächtlichen Ausflüge – es wird krankheitsbedingt für den immer anfälliger werdenden Körper zu viel – muss Fredi in ärztliche Behandlung, im Sommer kommt er nach Crossen, erschöpft durch einen bösartigen Husten zurück und der Hausarzt drängt zu einem Aufenthalt in Höhenluft Fredi geht für einige Wochen nach Bad Brückenberg ins schlesische Mittelgebirge, in der Hoffnung „dass sie sich „reinigend auf den Geist auswirke“. Er schreibt: „Ich atme tief, esse Eier, trinke Milch, friere und weide mich an den violetten Seidenstrümpfen und Lackschuhen der Ansichtskartendame auf der Schlingelbaude, die aber keine weiteren Reize aufzuweisen hat. Alle Frauen sehen hier entsetzlich aus…“
Und in einem anderen Brief: „Mein Zustand ist immer derselbe: laut, still, selbstbewusst, zerknirscht, begeistert, angeekelt – und alles zur selben Zeit und von der Sauce einer physischen Müdigkeit übergossen, die manchmal schon beinah im Gehirn zu sitzen scheint. Ich komme mir vor wie weiland Simplicissimus, da er zum Narren gemacht werden sollte – mit dem Unterschied, dass ich die Prozedur selbst an mir vornehme und vielleicht ein wirklicher Narr werde …“
Oder:
„Die Krankheit ist ein besonderes Kapitel. Ich führe in meinem Leben doppelte Buchrechnung. Auf der einen Seite nimmt zwar die Krankheit erheblichen Raum ein; aber sie ist nur notiert, zur Kenntnis genommen. Der Teufel soll mich frikassieren, wenn sie Einfluss auf die andere Seite, auf mein wirkliches Leben gewinnen sollte … Ich möchte doch noch leben, eine Weile wenigstens noch …“
Kurz darauf ist er wieder in München, Bad Brückenberg ist vergessen – viel genutzt hat es nicht – Fredi stürzt sich wieder in das kulturelle Leben der Stadt: „Vorgestern hat Wedekind sein neuestes Mysterium vorgelesen, „Franziska“. Ein wundervoller erster Akt, dann schwillt es ab, den vierten versteh ich überhaupt nicht“.
Aber der lästige Husten quält ihn erneut. So reist er wieder mit seinem Vater in das Tessin. „Das Essen ist gut, bloß mit meiner Gesundheit ist immer noch alles nicht so, wie es sein soll.“ Abwechslung bietet die örtliche Spielbank, „er wird künftig noch oft in Spielsälen verkehren und dem Kartenspiel frönen. Das spielerische Risiko fasziniert ihn.“ (Matthias Wegner).
Noch andere Sanatorien sucht Klabund auf, möglichst solche, in denen er nicht nur „faulenzen“, sondern auch arbeiten darf. Überliefert sind Aufenthalte in Bad Reichenhall, im Tessin, in Arosa und Davos. Immer wieder Davos!“ (Kurt Wafner)
Noch vor Weihnachten zurück in München, Matthias Wegner schreibt über Fredi: „„Hier verkehre ich jetzt in den „ersten literarischen Kreisen“. Das Weihnachtsfest habe ich mit Mühsam zusammen bei Halbe verbracht …“ Er verehrt den 25 Jahre älteren und schon renommierten Erzähler und Dramatiker Max Halbe. Aber im selben Brief beklagt er sich: „Ich verdiene jetzt rasende Gelder mit meinen Versen! Den November allein 79 Mark! Aber ich komm‘ doch nicht aus. Und kein Schwein will eine Novelle. Ich finde das sehr merkwürdig.“
Erneute Kur, Matthias Wegner schreibt: „Im Februar 1913 ist abermals eine Kur vonnöten, diesmal im bayrischen Bad Reichenhall. Die Briefe, die der Dichter von dort aus an Heinrich richtet, sprechen weiterhin in erster Linie vom Fortgang der literarischen Arbeit. Nur gelegentlich schieben sich einige dezente Hinweise auf die Umstände ihrer Entstehung zwischen die Zeilen: „Ich gehe hier eifrig meiner Kur nach (wenn nur die Mädchen nicht wären! Die verderben einem die ganze Diät: Inhalationen, Luft- und Solebäder, Massage, Trink-, Liegekur von früh sieben (es ist scheußlich früh) bis abends neun. Und das Wetter erst. Eine bessere Sintflut.“
Rückkehr nach München im Sommer, Matthias Wegner: …“und wieder zieht er durch die Lokale und Kleinkunst-Theater Schwabings. Dort lernt er auch eine neue Muse, die intelligente, aber umtriebige Brettl-Sängerin Marietta Kirndörfer – eine vormalige Sekretärin des Verlages „Die Lese“ – kennen, mit der er wieder die Nächte zum Tag macht und der er 1920 eine sehr kurze Erzählung gleichen Namens mit dem übertreibenden Untertitel „Ein Liebesroman aus Schwabing“ widmen wird. „Ich bin eine polnische Prinzessin, hübsch, aber schlampig. Ich schiele. Das ist meine Weltanschauung“, lässt er die Geliebte darin sagen und schlägt damit wieder den aufsässigen Grundton an, der sein gesamtes Werk durchzieht.
Im „Simplicissimus“ trägt er wiederholt eigene Verse vor. (…) Doch schon im August zwingt ihn sein Zustand erneut zu einem Sanatoriumsaufenthalt, diesmal in Arosa: „wie der Arzt sagt, muss ich wohl den Winter oben bleiben, dann ist Aussicht auf eine dauernde Heilung. „Arbeiten darf ich. Aber nicht zu viel.“ Hinter den letzten Satz setzt er ein vieldeutiges Fragezeichen. Wann immer Klabund das Bett hüten oder auf den Terrassen der Sanatorien Liegekuren machen muss, schreibt und arbeitet er, eingehüllt von Papierbergen und Büchern. Das Schreiben ist ihm längst zur Sucht geworden, die ihn seine Krankheit am leichtesten vergessen lässt.
Die Gefahr, die von dieser produktiven Unrast ausgeht, ist dem unbestechlichen Mentor Heinrich aber auch ein Anlass für ernsthafte Warnungen: „Ihre Produktionsfülle ist unheimlich!“ 1913 formuliert der sensible Literaturkenner Heinrich einen kritischen Einwand, der Henschke noch oft entgegengehalten wird und der bis heute seine Anerkennung als unumstrittener Dichter verhindert: „Die nervöse Unruhe, die in Ihren Arbeiten bisher liegt (und natürlich nie ganz verschwinden wird, denn sie trägt einen großen Teil Ihrer poetischen Schönheiten) hat doch einen Nachteil: Die Dinge sind alle ein bisschen dünne, das, was man erfährt, ist höchst interessant und reizend, am Schluss ist man aber doch ein bisschen enttäuscht, dass man nicht mehr erfahren hat.“
Heinrich weist den angehenden Dichter mit väterlicher Strenge daraufhin, dass der „Rest vom Schemenhaften“ in all den hundert Skizzen, die Reiß bei sich liegen hat, der einzige Grund dafür sei, dass sich der Verleger nicht zum Druck entscheiden könne. Daneben ist es sein leidenschaftliches Interesse für Frauen, das ihn zwar selig, aber flüchtig macht: „Ich bin“, beichtet er einmal seinem fernen Mentor, „seit zehn Tagen (Sie sehen es gewiss an der Schrift!) toll verliebt… Es ist ein Mädchen aus Uruguay, aber schon lange in Deutschland. Ganz braun.“
Endgültig übernommen hat er sich dann im August, er sucht einen Lungenfacharzt auf und der rät ihm ins Hochgebirge zu reisen. Er schreibt an die Eltern – und dieser Brief ist sicher nicht leicht gefallen:
„Lieber Vater, ich bitte Dich, diesen Brief nicht Mutti zu zeigen, sie würde sich zu sehr ängstigen. Es tut mir so leid, Euch wieder Sorgen bereiten zu müssen. (…) Ihr wisst nicht, wie peinlich mir der Gedanke ist, Euch wiederum um größere Beträge behelligen zu müssen (eventuell) ich bin ja nun sozusagen Euere enttäuschte Hoffnung. Ihr werdet mich nie als Oberlehrer oder Doktor sehen, und was ich etwa sonst mehr als andere geleistet habe: Ihr werdet es nie begreifen, und ich nehme es Euch auch nicht im fernsten Bezirk meiner Seele übel. Ich gedenke zu fahren, sobald ich Geld habe. (…). Mit den herzlichsten Grüßen an Euch alle, auf hoffentlich frohes Wiedersehen im Frühjahr Dein getreuer Fredi“
Er kratzt erhebliche Vorschüsse zusammen und fährt am 13. 8.13 nach – Arosa. Und die Vorschüsse werden langsam aber sicher mehr – das Publikum beginnt ihn zu lieben, die Kritiken sind günstig. „Tante Voss“ (Vossische Zeitung, Berlin) schreibt: „Als Ahnen dieser Klabundlyrik möchte man Christian Günther anrufen.“
Fredi hat gelernt, mit der Presse umzugehen, in einem Artikel „Der neue Dichter“ (mit Erwähnung des Schriftstellers Holitscher, geb. 1869) schreibt er:
„… Artur Holitscher, glaube ich, war es, der vor nicht langer Zeit allerlei Mahn- und Klagerufe an die heutige zwanzigjährige Jugend erließ. Sie sind ihm zu reif, zu abgeklärt, die heutigen Zwanzigjährigen. Zu selbstsicher. (Etwa: weil er vor ihnen verlegen wird?) Sie leiden ihm zu wenig. Sie wissen zu viel. Sie sind zu alt. Ich möchte meine Generation gegen Herrn Holitscher verteidigen. Ich billige ihm mildernde Umstände zu: er ist zwanzig Jahre älter als ich (denke ich mir). (…) Was heißt das: wir leiden zu wenig um unsere Ideale? Ich für meinen Teil vermag nicht einzusehen, dass (beispielsweise) eine törichte Idee dadurch besser wird, dass man für sie leidet. Der Schmerz als Wertprinzip… (auf der Basis des Christentums fundiert) – wo kommen wir hin? Wir Jungen sind eher (griechisch) geneigt, nicht den Schmerz, sondern das Glück als höchste Blüte der menschlichen Kultur anzusprechen. Wenn du den Baum betrachtest, sagt Plato irgendwo, fühlst du, dass er sich genießt? Wer glücklich ist, ist gut. Die jüngste Generation hat wieder den Willen zum Glück. (…) Dasein! Da-sein wollen wir. (…) Die Lust am Abenteuer blüht wieder auf (als Reaktion gegen ein bürokratisches Regime und gegen ein maschinelles Zeitalter verstanden). (…) Wir kennen keinen Zwiespalt mehr zwischen Vernunft und Gefühl, zwischen Tat und Gedanke, zwischen Diesseits und Jenseits. – (…) Wir haben nichts getan, als die ästhetische Binsenweisheit: das Wie bestimmt, nicht das Was – auf das Leben, auf die Ethik übertragen. Auch der Dichter ist ein Mensch.“
Auf eine Entgegnung zu diesem Artikel antwortet er:
„… Er verwechselt Zynismus mit Sachlichkeit, Naturalismus mit Realismus. – Ich bin Realist, indem ich die Kunst für eine zweite Wirklichkeit halte, in der nicht die Dinge, wohl aber (siehe Plato) die Ideen dieser Dinge leben. Ich lebe nun in den Ideen, in den Abenteuern dieser Dinge, die ich „forme“ – und Herr Dr. Martin Marx nennt mich einen krassen Naturalisten. Der krasse Naturalist ist er, wenn er die vom Leben abstrahierten Begriffe schön und hässlich einfach auf die Kunst überträgt: weil ein schlechtgelüftetes Zimmer schlecht riecht – hält er sich auch bei der künstlerischen Darstellung dieses schlecht gelüfteten Zimmers die Nase zu. Das ist sein gutes Recht, aber er darf mir nicht schwarz auf weiß machen, dass diese seine Nase ein besonders empfängliches Organ für neue Kunst und neue Dichtung sei.“
Und an anderer Stelle:
„… Es gibt Leute, die zwischen Zynismus und Sachlichkeit, zwischen Ironie und Humor nicht unterscheiden können. Die jüngste Dichtung hatte unter dieser Missdeutung ihrer Motive schwer zu leiden. Zynismus und Ironie sind immer Gesten einer Überheblichkeit: eines herrischen Über-den-Dingen-sein-Wollens. Aber auch Diener haben zuweilen herrische Manieren (und sind doch keine Herren). Da man als Ding (an sich) gar nicht über den Dingen sein kann: bleiben solche Gefühle immer Ansätze, Stümpfe, Fragmente einer gewissen Verzweiflung. Humor hingegen und Sachlichkeit… sind in den Dingen. Man will nicht mehr sein als man ist. Nicht aus Bescheidenheit, sondern aus Konzentration (auf den Punkt, auf den es ankommt, nämlich: als Ich zu leben und als Ich zu leben).“
Im Vorkriegssommer erinnert sich Klabund:
„… Wir waren alle noch jung, so jung, schritten aufrecht, lachten leicht, dachten schwer… Wir schwelten nicht, wir brannten, wir liefen nicht, wir rannten.“
Guido von Kaulla schreibt über diese Monate:
„… Und er ist unermüdlich im Tanzen, Trinken, Wandern, Lieben und – Arbeiten. Er hat keine anderen Reizmittel nötig als das Leben selbst; und natürlich das erotische Leben und dieses im weitesten Sinne als die force creatrice jeden Künstlers, nicht nur im eigentlich sexuellen. Klabund trinkt zwar gern guten Wein und auch Kaffee, hat aber Beides nicht nötig zum Arbeiten. Er raucht auch nur mäßig. Er ist gesellig. Meistens sitzt er ruhig bei den anderen – nie führt er das große Wort, ist aber bei alledem ein blendender Erzähler und ein Liebhaber der witzigen Rede. Sein Tagesablauf damals: schonungsbedürftig und – im Tiefland nur – leicht zu erhöhter Temperatur neigend, pflegt er, um seine Lungen nicht zu gefährden, bis weit über Mittag im Bett zu arbeiten. Seinen ihn besuchenden Freunden zeigt sich das typische Bild: Liegestatt, Tisch, Stühle sind mit einseitig beschriebenen Papieren bedeckt. Mit Tinte schreibt er nur mehr selten, meist mit Bleistift oder Kopierstift. Man sieht dem Duktus an, ob er auf das im Liegen hochgehaltene Papier schrieb oder ob er eine Unterlage hatte. Erst nach Stunden sammelt er die Blätter auf. Und er schreibt, wo er geht und steht, überall, beim Essen, nach dem Essen, immer, wenn der Einfall kommt. Meist, wenn man ihn im „Cafe Luitpold“ oder im Hofgarten – „Cafe Klabund“ genannt – trifft, hat er ein Stück Papier vor sich, einen Brief, einen Theaterzettel oder eines seiner kleinen Notizbücher. Mittels stets bereitgehaltener Couverts schickt er die Produktion sofort an die verschiedenen Redaktionen.“
Zarek im Rückblick: „Er schluderte seine Gedichte nicht, aber er schleuderte sie in die Welt hinaus.“ Worauf warten? Vers auf Vers entsteht.
Blanke Pfützen überhüpfend,
Tauwind schmolz den Schnee zur Nacht,
Tanzt, den Blick ins Blau getaucht
Erster Lenztag durch die Gassen.
Guido von Kaulla:
„… Nachmittags zieht er los: ins Ungererbad oder hinaus ins Isartal. Man fährt nach Dachau oder zum Ammersee. Dabei ist eine alte henschkesche Gedichtzeile geflügeltes Wort: „O Glück, so in den Tag hineinzusprühn…“ Auf den Spaziergängen und in den Sommerrestaurants ist er meist schweigsam, in sich versunken – er schaut und lauscht. Öfter nennt er sich beim Freund Mueller- Jürgens einen visuellen Typ. In der Skizze „Das Schreib-maschinenbureau“ (1916) steht: „Ich bin noch jung. Ich stehe fiebernd in allen Flammen. Selbst meine Ruhe rast. Sehen Sie meine Augen! Sie prüfen die Dinge tausendstrahlig, wie mit den Armen eines Polypen.“
Über seine damaligen Erfolge im Kabarett schreibt Kaulla:
„…Eine kurzfristige Gründung – das Kabarett „Zum roten Strich“ im Lokal „Bunter Vogel“ – führt sogar zu einer Kollegenschaft auf dem Podium: Fredi zeichnet sich durch prächtig einen balkanischen Prinzen charakterisierende Stegreifverse bei einem Puppenspiel aus. Diese Arbeit bringt ihn auch wieder intensiver an Kabarettdinge heran. Im Juni entsteht in unzähligen Sitzungen mit dem Kapellmeister und Komponisten Dr. Ralph Benatzky in dessen Gräfelfinger Wohnung in gemeinsamer Arbeit die Versposse „Der rote Fadem – ohne Musik“ -! Und Benatzky komponiert eine Reihe von Fredis deutschen und französischen Chansons.“
Den Abschluss dieses Kapitels sollte eigentlich eine Zusammenfassung des bisherigen Lebens als Autor und Dichter bilden, dann aber fand ich die Geschichte vom Journalisten und ein Gedicht. Fredi kann es also besser und so hat er das „letzte Wort“, wenigstens jetzt.
Der Journalist
Nichts ist leichter als dies, dachte ein brünetter, aber unsympathischer Jüngling und schickte ein Schreiben folgenden Inhalts an die Chefredaktion des „Generalanzeigers“: Gestern kam in der Mittagstunde auf der wenig belebten Schwanthaler Straße infolge des Glatteises ein lahmer Greis zu Fall; Er ritzte sich seine Wange, so dass in Kürze der Schnee sich im Umfang von 1 cm blutrot färbte, konnte aber ohne ärztliche Hilfe, infolge Eingreifens eines Passanten, seinen Weg fortsetzen. -Diese Notiz erschien am nächsten Tage unter der Rubrik „Innerpolitisches“ im „Generalanzeiger“, und der Jüngling, welcher sie entworfen hatte, empfing nach einem halben Jahr 60 Pfennig per Postanweisung.. Dieser unerwartete Erfolg ließ seinen Stolz und seine magere Hühnerbrust beträchtlich schwellen. Er setzte sich in eine Gartenwirtschaft und bestellte sich ein paar Würstchen mit Salat nebst einem halben Hellen. Darauf schrieb er: Die Terrainspekulation des Kommerzienrates Z. haben sich im weitesten Umfang als unlauter und verfehlt herausgestellt. Die unsauberen Machenschaften sind enthüllt. Der Übeltäter sieht seiner Bestrafung entgegen. So soll es allen er gehen, welche am Mark des Volkes saugen.
Dieses Scriptum, ordentlich kuvertiert, sandte der strebsame junge Mann an das „Schreiende Unrecht“, ein Druckblatt zweifelhafter Opservanz, in dem es am übernächsten Tage auf der ersten Seite in Fett und Sperrdruck erschien unter der Mare: Enthüllung aus der Finanzwelt.
Großstadtkavaliere. -,- Nach knapp drei Monaten empfing unser junger Mann ein Honorar von 1,30 M in Briefmarken. Er hatte wieder ein halbes Jahr zu leben. Nachdem diese Summe aufgebraucht war, beschloss er, an eine Aktion großen Stils zu gehen. Er sandte ein Telegramm an die „Tägliche Berliner Kohlrübe“: Glänzend verlaufenes Gastspiel des Berliner Intimen Theaters in unserer Stadt. Applaus über Applaus. Kränze über Kränze. Direktor GummibaIon siebenunddreissigmal gerufen. Einige unverbesserliche Enthusiasten wurden am nächsten Morgen noch unter den Kleidern der Schauspielerinnen gefunden. Der Eindruck des Gastspiels ist ein unvergesslicher.- Umgehend erhielt unser junger Mann eine telegrafische Postanweisung von 100 M von der Direktion des Intimen Theaters. Er legte sie in Munitionsakten an und setzte sich zur Ruhe. Aus seiner Hühnerbrust wurde ein Fettbauch. Er lässt sich nur noch Herr Doktor nennen. Seiner geschätzten Feder begegnet man nur noch selten in den Spalten unserer führenden Blätter. Er hat es nicht mehr, nötig zu schreiben. Er hat sich auf indische Philosophie geworfen. An Stelle des Nabels betrachtet er seine dicke goldene Uhrkette.
Im Spiegel
Ich sehe in den Spiegel.
Was für ein unverschämter Blick mustert mich?
Jetzt zieht er sich schon in sich selbst zurück –
Pardon: ich habe mich fixiert.
Ich will mir nicht zu nahe treten.
Meine Freunde kann ich mir an den Fingern einer Hand abzählen.
Für meine Feinde brauche ich schon eine Rechenmaschine.
Was bedeuten diese tiefen Furchen auf meiner Stirn?
Ich werde Kresse und Vergißmeinnicht drein säen.
Im Berliner botanischen Garten sah ich einen Negerschädel,
Aus dem eine Orchidee sproß.
So vornehm wollen wir’s gar nicht machen.
Bei uns genügt auch ein schlichtes deutsches Feldgewächs.
Wir wollen durch die Blume zu den Ueberlebenden sprechen,
Wie wir so oft zu den nunmehr verwesten sprachen.
Also, meine liebe Leibfüchsin:
Du kommst mir deine Blume – Prost! Blume!
Ich stehe nicht mehr ganz fest auf den Füßen.
Der Spiegel zittert.
Seine Oberfläche kräuselt sich, weil ich lache.
Da ist der Mond – er tritt aus dem Spiegel in feuriger Rüstung
Und legt seine weiße kühle Hand auf meine fieberheiße Stirn.
ZWEITER TEIL
Irene – „weil das Frieden bedeutet“.
Der Chefredakteur Thomas Kaiser schreibt im Gästebuch:
„… Die Davoser Revue freut sich sehr über die neue Website, zumal Klabund oft Kurgast war in Davos und die wunderbare Erzählung „Die Krankheit“ in und über Davos verfasst hat.“
Da hat er Recht, aber Davos war nicht nur krankheitsbedingt eine „zweite Heimat“ für ihn, sondern dort lernte er auch seine erste Frau kennen.
Im August 1913 beschließt Klabund das erste Mal, nach Davos zu fahren, zuvor schreibt er aus München an Walter Heinrich am 31. Juli:
„… Ich habe wieder einen Anfall und Husten und spucke den lieben langen Tag. Ich möchte wieder auf ein paar Wochen weg… Ich möchte doch noch leben, eine Weile wenigstens noch.“
Aus Davos wird in diesem Jahr nichts – Fredi verbringt den Winter 1913/14 stattdessen im Sanatorium Beau-Rivage in Arosa. Und von dort schickt er diese Zeilen am Neujahrstag an Heinrich:
„…Ich war glücklich und nach meinem Teil zufrieden“
Im Februar 1916 reist Klabund erneut in die Schweiz und diesmal wählt er Davos als Aufenthaltsort, eine gute Entscheidung, wie sich heraus stellen sollte.
Zitiert aus dem Buch: „Klabund in Davos“ von Paul Raabe:
„… In Davos fand er zunächst im Waldsanatorium Aufnahme, in dem Thomas Mann, wie schon erwähnt, vier Jahre zuvor zu Gast gewesen war. Aber da Klabund nicht bereit war, sich den strengen ärztlichen Anordnungen Dr. Jessens zu unterwerfen, wurde er bereits nach wenigen Tagen entlassen. So bezog er die Pension Stolzenfels, die mit dem Namen Klabunds bis zu seinem Tode verbunden bleiben sollte. Das sechsstöckige, Ende 1913 fertiggestellte Haus stand damals am Ende von Davos-Dorf, am Höhenweg, dem Promenadenweg zu, noch ganz für sich. Die Pension Stolzenfels wurde für den kranken Dichter zur zweiten Heimat.
Dass sich Klabund dort so wohlfühlen konnte, hing wesentlich mit dem freundlichen Ehepaar Poeschel zusammen, das das Haus Stolzenfels erworben hatte und als Pension führte. Erwin Poeschel (1884-1965), sechs Jahre älter als Klabund, stammte aus Kempten im Allgäu, hatte in München Jura studiert und war Rechtsanwalt. Doch da er an Lungen-Tbc erkrankte, konnte er seinen Beruf nicht ausüben. In Davos-Wolfgang lernte er in der dortigen Deutschen Heilstätte eine Mitpatientin kennen, Frieda Ernst. Im Juli 1915 heirateten die beiden in München und zogen wegen ihres Lungenleidens nach Davos. Klabund fand in Erwin Poeschel einen gebildeten, kritischen Gesprächspartner.“
An W. Heinrich vermeldet er in einem Brief am 12. Dezember 1916:
„… Ich scheine es mit der Pension sehr gut getroffen zu haben. Südzimmer mit eigener Liegehalle. Ganze Pension (5! Mahlzeiten: Mittag und Abend große Dinge) nur 8,50 den Tag. Und das Essen vortrefflich. Über die Menschen wage ich noch nichts zu sagen. Sonst ist bedeutender Betrieb hier. Viel „Welt“. Engländer, Griechen, Franzosen, Italiener, Deutsche, Amerikaner, Russen, alles durch- und übereinander. Dazu Fleisch jeden Tag. Sonntag Schlagrahm. Kurz: der zurzeit nur irgend lieferbare „Friede“.
Und in der Pension „Stolzenfels“ gibt es eine Patientin, die Matthias Wegner in seinem Buch „Klabund und Carola Neher“ so beschreibt:
„…Zu den tuberkulösen Patientinnen der Pension Stolzenfels gehört auch ein zartes zwanzigjähriges Mädchen aus Passau. Sie ist eine leidenschaftliche Pianistin, die meisterlich die Musik des ebenfalls lungenkranken Frederic Chopin spielt. Die äußerst anmutige junge Dame wirkt wie ein blondes Gretchen, ist von zurückhaltender Liebenswürdigkeit und sinnlicher Anmut. Auch ihre beiden Lungen sind erheblich angegriffen. Eine zusätzliche Kehlkopftuberkulose bringt ihre Stimme manchmal beinahe zum Verstummen, aber mit ihrem Mit-Patienten Henschke teilt sie die unbändige Lust am Leben, das entschlossene Bedürfnis, der Krankheit keinen Raum zu lassen. Obgleich Alfred Henschke sie sogar noch im Zustand taumelnder Zuneigung — während sie zu einem kurzen Urlaub zu Hause bei ihren Eltern weilt — mit einer anderen betrügt, weiß er, dass es ihn diesmal tiefer erwischt hat. Seine Gedichte auf die zarte Passauerin gehören zu seinen glühendsten Liebesgesängen. Brunhild Heberle heißt die Angebetete, aber er nennt sie in seinen Gedichten „Irene“, weil das „Frieden“ bedeutet.“
Fräulein Brunhild Heberle
Brunhilde (zweiter Vorname Irene) wird am 18. Oktober 1896 in Passau geboren. Ihre Eltern sind der Passauer Rechtsanwalt, Justizrat + Kommunalpolitiker Max Heberle, geboren in Langenwang b. Sonthofen am 4. Mai 1864 und seine Ehefrau Irene Ade, geboren in Sarbogad/Ungarn am 13. November 1878. Ihre Tante ist die Grafikerin Mathilde Ade, geboren ebenfalls in Sarbogard am Plattensee 08.09.1877. und über diese „Fräulein“ Heberle lese ich bei Guido von Kaulla:
„… Einige Tage vor ihm ist im „Haus Stolzenfels“ schon eine junge Passauerin eingezogen, Brunhild Heberle, Tochter des Justizrates Dr. Heberle und dessen Ehefrau Irene Brunhilde Emilie geb. Ade. Dies ihr einziges Kind – das erst Klabund bei ihrem zweiten Vornamen Irene („Friede“) nennen wird – ist sehr musikalisch und spielt besonders Schumann und Chopin meisterhaft.
In Passau galt sie als eine Art Schönheitskönigin; sie malte viele Hinterglasfenster, deren Motive meist Blumen waren; sie hatte Aquarien und Terrarien, und es fehlten auch Hunde nicht. Dem Franziskanischen im Lebensgefühl von „Fred“ – wie Irene ihn bald nennt – kommt allein schon diese Tierliebe entgegen. Bei Irene hatte sich aus einem Lungenspitzenkatarrh eine tuberkulöse Infektion der Lungen und später Kehlkopftuberkulose entwickelt. Nach vergeblicher Behandlung im Tiefland geht sie nach Davos zu dem Spezialarzt Dr. Rüedi. Sie ist jetzt so gut wie stumm. Durch Ausbrennen der von der Tuberkulose befallenen Kehlkopfstellen kann sie geheilt werden. Die Stimme kommt wieder, doch bleibt sie klanglos, heiser und merkwürdig tief. Manchmal kann Brunhild Heberle nur so leise flüstern, dass es schwer ist, sie zu verstehen. Äußerlich von leuchtender Blondheit, besitzt dieses Mädchen (geboren am 18. 10. 96 in Passau) eine natürliche, unbewusste Einfachheit und ungewöhnliche Anmut des Wesens.“
Matthias Wegner schrieb über Klabund und seine Wirkung auf seine Umwelt – und damit meinte er im Besonderen die weibliche Umwelt – einmal:
„… Der äußere Eindruck, den der Dichter Alfred Henschke auf seine Mitmenschen machte, war nicht gerade schön zu nennen. Auch wenn das Ideal attraktiver Männlichkeit zu seiner Zeit noch nicht jene kraftstrotzende Austrainiertheit und „Coolness“ verlangte, die sich bei den Medien-Heroen von heute so hoher Wertschätzung erfreuen – das Bild, das Alfred Henschke alias Klabund abgab, war nicht von vorneherein dazu angetan, die Frauenherzen im Sturm zu erobern. Dass ihm ebendies trotzdem schon seit seinen jünglingshaften Anfängen als Dichter auf eine verblüffend leichte, Freund und Feind gleichermaßen erstaunende Weise gelingt, muss daran liegen, dass Henschke geradezu den Antitypus des Frauenhelden verkörpert. Bei Betrachtung seiner Fotografien denkt man unwillkürlich an den mit schlapp-klagender Stimme vorgetragenen Werner Richard Heymann-Song, den Heinz Rühmann berühmt gemacht hat: „Ich brech‘ die Herzen der stolzesten Frauen“. Wie dieses Lied auf ironische und demonstrative Weise gerade die Labilität und Unscheinbarkeit eines Herzensbrechers zur erotischen Metapher erhebt, so fasziniert Henschke das weibliche Geschlecht gerade mit seiner melancholisch-zarten, fast rührenden Erscheinung.
Er hat, wie Hans Sahl in seinen „Memoiren eines Moralisten“ meinte, „das Aussehen eines schüchternen Studenten, der mehr wusste, als er von sich gab“. Bert Brecht – der seine nicht minder wirksame Ausstrahlung aus absichtsvoll unterstützter Nachlässigkeit bezog – beobachtet einmal grimmig, dass Henschke die Frauenblicke auf sich zieht, wo immer er auftritt. In Berliner Kneipen der frühen zwanziger Jahre, in denen die beiden – weniger Freunde als einander schätzende Kollegen – ihre nächtlichen Streifzüge unternehmen, sieht Brecht, einem Eintrag in sein Tagebuch zufolge, den um acht Jahre Älteren einmal so: „Klabund singt, am Klavier, Soldaten- und Hurenlieder, tanzt, erwehrt sich mühsam der Weiber, die verschossen in ihn sind, die schwarze Pelzgarnitur darunter.“
Der letztere Hinweis ist ein deutlicher, um nicht zu sagen: zynischer Fingerzeig auf Henschkes Schutz vor lebensbedrohender Kälte. Henschke ist, ganz im Gegensatz zu Brecht, der raffiniert einem stilisierten Proletarier-Mythos huldigt, stets gepflegt gekleidet. Seine große, dunkle Hornbrille, sein kurzgeschorener Schädel, seine großen, traurigen Augen und die matte Stimme verleihen ihm den bezwingenden Charme des verlorenen, aber äußerst leidenschaftlichen Einzelgängers. Dabei ist der Dichter alles andere als ein Kostverächter derben, ausschweifenden und sinnlichen Lebens. Seine aus Anmut, Eleganz und Zartheit gespeiste Ungezwungenheit kontrastiert deutlich zur zupackenden Brutalität eines Frank Wedekind oder zum Zynismus eines Bert Brecht. All die Tänzerinnen, Sängerinnen, Künstler-„groupies“, nicht zuletzt auch die leichten Mädchen, zu denen Henschke ein verlangendes, aber stets ritterliches Verhältnis an den Tag legt, viele junge Patientinnen in den Sanatorien, denen er sich mit einer geradezu unheimlichen Hemmungslosigkeit anvertraut, erliegen seinem Charme. Der Schauspieler Ernst Kiefer hat über Alfred Henschke gesagt: Henschke sei „wahrlich kein schöner Mann gewesen, aber von einer unerhört sympathischen Ausstrahlung. Mehr noch – und ich übertreibe nicht — umgeben von einer Aura von Liebenswürdigkeit.“
Im Februar 1916 muss ihn die Kuratmosphäre in Davos unter den Lungenkranken aus aller Welt auf ähnliche Weise angeregt haben wie Thomas Mann bei dessen kurzer Davoser Visite. Nur gehört Henschke zu den leidenden Patienten und erst in zweiter Linie zu den literarischen Beobachtern. Er teilt das Schicksal der Davoser Patienten mit großen Vorgängern wie Robert Louis Stevenson oder Christian Morgenstern. Die ebenso frivole wie beklemmende Atmosphäre wird oft in seiner Lyrik und Prosa wiederkehren.“
Und nach diesem kleinen Umweg ist klar, es hatte gefunkt zwischen dem Fräulein Brunhild Heberle und Alfred Henschke. Die beiden wohnen in verschiedenen Stockwerken und ihre „Verbindung“ besteht zuweilen aus hin- und herwandernde Zetteln, z.B.:
Es war November. Draußen stob der Föhn.
Das Lob der Heimat schien dich zu beglücken.
Wir mußten näher aneinanderrücken,
Um Donau, Inn und Oberhaus zu sehn.
Und unsre Wangen streifen sich und wehn.
Blut klopft an Blut. Wir sehn in unsren Blicken
Erfüllung glänzen, lächeln, jubeln, nicken.
Und Lippe sank auf Lippe engelschön.
Nicht suchte Hand nach Hand. Es klang kein Wort.
Die Uhr im Zimmer tickte unverdrossen.
Und unsre Herzen schlugen fort und fort
Wie Wellen, die ins große Meer geflossen.
Du standest auf. Das Buch lag noch am Ort.
Leis hast du hinter dir die Tür geschlossen.
Und im „Dreiklang“: „Ich legte Sinn in sie – sie schenkte mir Gesinnung“.
Wandlung – I. Weltkrieg
Bei Kriegsausbruch am 28. Juli 1914 ist Klabund wie viele Künstler und Intellektuelle nicht nur davon überzeugt, Deutschland sei von seinen Feinden überfallen worden, sondern er meldet sich sofort freiwillig, um das „Vaterland“ zu verteidigen.
Es wird fast drei Jahre dauern, bis Fredi die Unsinnigkeit dieses Krieges erkennt und am 3. Juni 1917 in der „Neuen Züricher Zeitung einen offenen Brief an Kaiser Wilhelm II. veröffentlicht – der Kaiser möge abdanken.
Und erst nach einem weiteren Jahr – 1918 – bekennt er sich in der Zeitschrift „Weiße Blätter“ öffentlich zu seiner Hinwendung zum Pazifismus.
Die Chronisten sind sich einig, Einfluss auf diesen „Wandel“ hat seine zukünftige Frau gehabt. Im vorherigen Kapitel habe ich im Zusammenhang mit der Entstehung seines Pseudonym „Klabund“ geschrieben: „An der Legendenbildung um seinen Namen arbeitet er kräftig mit, je nach Laune fügt er eigene Interpretationen dazu: Klabund sei eine Übersetzung des Wortes Wandel, aber es gibt keine Sprache, in der Klabund für Wandel steht. Die Chronisten lasen einen Satz aus Klabunds Irene-Dichtung falsch. Dort schrieb er nach seinem Gesinnungswandel: „Mein Name Klabund. Das heißt Wandel.“ Gemeint war aber wesentlich später sein Wandel vom Krieger zum Kriegsgegner.
Guido von Kaulla meint, hier sei endlich Klabunds „Wandel“ richtig zu verstehen:
„… Es entsteht der „Gesang“: „Irene oder die Gesinnung“ — ein Bekenntnis der Wandlung gleichsam vom Saulus zum Paulus, d. h. vom kriegerisch gestimmten Militärfrommen zum Friedliebenden. Dies – und nichts anderes – und nicht mehr – und nicht weniger – bedeutet die darin erscheinende Textstelle 1916): „Mein Name Klabund. / Das heißt: Wandlung. / mein Vater hieß Schemen. / Meine Mutter: Schau.“ Die ersten beiden Verszeilen werden mit Vorliebe zur Legendenbildung gegen Klabund benutzt. Klabund hat diese Zeilen niemals mehr wiederholt, in keinem Brief, in keinem Werk, in keiner Vers-Sammlung, in keinem Gespräch. Er hat diese Worte in dem „Irene“-Gedichtzyklus als zeitlich seiner Lebenslage im Übergang auf das Jahr 1917 entsprechend einmalig ausgesprochen. Um auszudrücken: er schäme sich, das wahre Wesen des Kriegs nicht früher erkannt zu haben – und in dieser Hinsicht habe sich, hier und heute, gewandelt. Keineswegs trifft zu: dieser Passus sei das Eingeständnis eines ewigen Wechsels, das Eingeständnis eines Sehnsüchtigen, dessen Sehnsuchtsinhalt nie der gleiche sei – sein Wesen sei von ihm selbst als wandelbar bezeichnet worden – er fliehe in die ewige Wandlung – er gebe seinem Taumel zwischen Zufallslosungen und Zerrissenheit den großen Namen Wandlung – er suche aus innerer Haltlosigkeit stetig nach der Wandlung seines Wesens. Behauptet wurde aber auch schon: das Wort „Wandlung“ sei die sinngemäße Übersetzung des aus einer Fremdsprache stammenden Wortes „Klabund“ -.
In den Jahren des Weltkrieges entstehen eine ganze Reihe seiner Werke auch unter dem Einfluss von „Irene“. Ab 1914 neben Lyrik auch Novellen („Das kleine Klabundbuch“), Erzählungen („Klabunds Karussell“, „Der letzte Kaiser“), Legenden („Heiligenlegenden“) und Grotesken („Kunterbuntergang des Abendlandes“).
1915 Moreau (Roman)
1916: „Die Himmelsleiter“. Neue Gedichte. Reiß, Berlin.
1917 „Die Krankheit“ (Roman)
1917 „Mohammed“ (Roman)
1917 Herausgabe der expressionistischen Gedichtbände „Irene oder Die Gesinnung“ und „Dreiklang“, in denen er den Krieg beklagt sowie auf Umsturz der bestehenden Verhältnisse drängt.
1918 Der himmlische Vagant (Lyrik)
1918 Bracke (Roman)
Und ab 1918 Übertragung chinesischer, japanischer und persischer Dichtungen ins Deutsche.
Februar 1917 Reise nach Locarno, Guido von Kaulla schreibt:
„… Im Februar 1917 reist Klabund nach Locarno-Monti – mit Irene, die ihn schon zu der pantheistischen Erzählung „Franziskus“ inspirierte. Hier, an den „vom Herbstlaub des vergangenen Jahres noch verschütteten Hängen Montis“, ist er in dem für ihn idealen Klima. Darum ist sein körperlicher Zustand jetzt trotz dem sehr ausgedehnten Befund stationär. Der nun Sechsundzwanzigjährige hat nicht mehr erhöhte Temperaturen, und während seines Aufenthaltes in der Schweiz – bis zum Frühjahr 1919 – bleibt sein körperlicher Zustand ausgewogen. Sorgen macht ihm, je länger der Krieg dauert, der sehr ungünstig werdende Umrechnungskurs Mark zu Schweizer Franken. Die Kaufkraft der „Renten“ (Vorschüsse) von Reiss und von Mündt sinkt.
Der Verlockung des Glückspieles um Geld gibt er nicht mehr nach: Irene lässt es sich unterm 8. 4. 17 in Locarno von ihrem Fred schriftlich geben, dass er vom 9. April ab – geltend für das ganze Jahr 1917 – weder in Locarno noch in Lugano oder irgendeinem sonstigen Ort der Schweiz dem sogenannten Bank-, auch Petit-Coureur-Spiel, huldigen werde…!“
Übrigens wohnen die beiden in diesem Februar 1917 in Locarno-Monti in einer Villa, die den prophetischen Namen „Villa Neugeboren“ trägt. Eigentümerin dieser Pension ist Hilde Jung – ihr Geburtsname Neugeboren. Im Mai kehrt Brunhilde nach Passau zurück, Klabund soll folgen, denn die leidenschaftlich ineinander Verliebten wollen heiraten. Aber es gibt noch einen anderen Grund für die Reise nach Passau: Klabunds Brief an den deutschen Kaiser und seine Forderung, dieser möge abdanken. Der Brief hat nicht nur im gesamten Reich, sondern auch in Crossen und zu allem Übel auch in Passau gewaltigen Wirbel ausgelöst.
Die dortige „Donau-Zeitung“ beteiligt sich wider besseres Wissen an der Kritik dieses „Briefeschreibers“ – man schreibt vom „Deutschen Drückeberger in der Schweiz“ und „vom Treiben eines Deserteurs (Fahnenflüchtigen), der verwandtschaftliche Beziehungen in unsere Stadt hinein hat“.
Wie üblich rechtfertigt sich Fredi auch gegenüber den Eltern.
Im August 1917 – Fredi hat „Irene oder die Gesinnung“ gerade beendet – soll er die im Manuskript stehende Widmung „An Irene“, streichen. Als er aber auch noch den Titel ändern soll, wehrt er sich: er könne seinen Gesinnungsruf ja nicht mit „Josefine“ oder „Paula“ benennen. Und er betont: „dass er nicht mit sich schachern lasse. Und: es wäre ihm albern erschienen, den Namen auch im Buche selbst zu ändern.“ (Guido von Kaulla)
Hätte er verzichtet, diesen Brief zu schreiben, wenn er erahnt hätte, wie sehr man ihn auch in seiner eigenen Familie angreifen würde? Nein, sicher nicht, denn dieser entsprach seiner Einstellung und die konnte er nicht aufgeben.
Irene ist die meiste Zeit in Davos, Fredi teilweise in Locarno, Zürich, Basel und Arosa. Briefe gehen hin und her und er versucht zu „kitten“. Aus Locarno schreibt er:
„…ich sollte keine Minute von Dir gehen, Engel, ich habe Dich so lieb wie ich vielleicht noch keine Frau vor Dir lieb hatte – und ich beraube mich Deiner, um in Gesellschaft einer albernen Ente, eines peinlichen Portugiesen, eines deutschen Falschspielers, dem man es auch nicht ansehen würde, mir die ganze Nacht um die Ohren zu schlagen. Ich bin um 6 Uhr früh nach Hause gekommen und habe noch gar nicht geschlafen vor aller Aufregung des Rauchens und Spielens. Es soll mich nicht mehr trösten, dass auch Dostojewski spielte (und Casanova, der aber einfacher stahl, wenn ich nicht irre), ich gebe Dir mein Ehrenwort, ein halbes Jahr vom heutigen Tage ab nicht mehr Poker zu spielen. Mir ist das Spiel so über und übel, ich kann es Dir nicht sagen.
Übrigens musst Du „gerächt“ sein. Nach Verdienst u. Würde. Ich habe circa 500 Francs, fast alles, was ich bei mir hatte, verloren. Und habe heute schon in aller Frühe nach Hause meinen Eltern telegraphiert um Geld, was ich noch nie getan habe. Aber sonst ist es mir unmöglich, Poeschels auch nur einen Centime zu zahlen. Mein armer, aber ehrlicher Vater!“
Im Juni einen Brief aus Zürich:
„.. es geht ein großer Wind. Sonne und Schatten fällt abwechselnd über den Brief, den ich im Garten unter den Bäumen schreibe. Ich fühle mich nicht wohl, die große Hitze vertrage ich so schlecht. Ich werde vielleicht in den nächsten Tagen auf zwei Wochen ins Hochgebirge gehn, denn wenn ich zu Dir komme, muss ich doch gesund sein. Vielleicht hab ich mich auch überarbeitet. Ich schlafe die Nächte wenig und früh bin ich halbtot. Ich hab so viel jetzt zu tun: Dichtung und Politik: ich bin recht kaputt. Eine lange Novelle (so lang wie der „Mohammed“ – Ein Theaterstück. (…)
Dabei habe ich diesen Brief begonnen, um Dich zu umarmen, zu streicheln und zu küssen. Komm mit in meinen Schlaf herüber, liebstes Mädchen!“
Auch in Davos – in der Pension Stolzenfels zeigt dieser Kaiser-Brief Wirkung, Fredi schreibt aus Zürich:
„… Wie sehr man mich aber in Davos verkennt: ein maßloser Ekel und eine unerschütterliche Verachtung der Menschen hat sich immer mehr in mir eingefressen. Dass sie es fertig gebracht haben – unwissend ja auch Deine Eltern, die ich sehr verehre – uns zu trennen, so zu trennen, dass Herzblut zwischen uns fließt wie zwischen zwei Kämpfern, die wir doch Liebende waren – das verzeihe ich der Welt nie und nimmer. Dass Leute wie Poeschels ich unter meinen Feinden sehe, die ich einmal für mutig genug hielt, für mich einzustehen. Ach, pfui Teufel. Und dass man mit einem gebrochenen Eheversprechen hausieren geht – Irene, Du weißt den ersten Abend unserer Liebe noch – wir siezten uns noch und ich sprach: Ich habe Sie lieb. Aber ich will Sie nicht verführen. Ich mache Ihnen kein Eheversprechen. Ich frage Sie, frank und frei, und bitte Sie, frank und frei zu antworten: wollen Sie mein werden? – So sprach ich. Und Du hobst den schönen Kopf und sagtest einfach: Ja. Das hat mich damals erschüttert. – Soll uns alles verdreckt werden? – Wären nicht so sonderbare Zustände in Basel geschaffen bei der Familie Romang, die ebenfalls zu Konflikten kamen: ich würde Dir jetzt anbieten: vieles und alles. So kann ich es nicht und bitte, flehe Dich an: heraus aus Stolzenfels in eine ruhige Pension.“
Es kommt zur Versöhnung, denn beide sind leidenschaftlich ineinander verliebt.
Guido von Kaulla schreibt:
„… Zur Aussöhnung trifft man sich in Lugano; sie fahren dann zusammen nach Davos. Aus dem „Sanatorium Davos-Dorf“ – mit dem Haus Stolzenfels hat er es durch die Anny-Eskapade noch verdorben… – geht ein Verlobungsgeschenk an Irene: der Privatdruck „Die kleinen Verse für Irene“.
Ab März 1918 mieten sich die nun Verlobten wieder im hochgelegenen Locarno-Monti in der Villa „Neugeboren“ ein. Hermann Hesse trifft hier auf Irene, die auf der Terrasse der Villa sitzt und ihr Brautkleid näht. Sie hat es nicht immer leicht mit dem unruhigen Gefährten, aber sie erlebt auch – und es beglückt sie — wie sehr er durchdrungen ist von ihrer Nähe.“
Hermann Hesse hat sich mit dem Paar immer wieder getroffen und erwies sich oft als großzügiger Freund und Helfer.
Am 8. Juni 1918 heiraten Brunhilde Heberle und Alfred Henschke in Locarno-Monti:
„Es zeigen Alfred „Klabund“, „Schriftsteller“ und „Irene Brunhild Klabund geb. Heberle ihre Vermählung an. Im Standesamtsregister steht: „Municipio di Muralto (Confederazione Svizzera, Cantone icino): II matrimonio fra Henschke, Georg Hermann Alfred, nato a Crossen a. d. Oder il 4. XI. 1890, con Heberle, Irene Brunhilde, nata a Passau il 18. X. 1896, e stato celebrato a Muralto, 8 giugno 1918. Testimoni risultano: Dott. Alfred Henschke, farmacista e Karl Soffel, naturalista.“
Nach der Hochzeit schreibt Klabund an Walter Heinrich in einem Brief vom 30. Juni 1918:
„… „Ich habe mich verheiratet: mit einer Frau, die ganz Tier, ganz Kind, ganz Schmetterling ist, wie jene Wesen, die uns umgeben …“
Der sehnlichste Wunsch von Irene, sie möchte ein Kind. Aufgrund ihrer Erkrankung und ihrer „Zartheit“ spricht alles dafür, den Wunsch nach einem Kinde erst in einigen Jahren zu verwirklichen. Aber sie ist schwanger. Fredi muss erwägen, ob sie es zu einer Austragung kommen lassen dürfen. Doch zunächst verläuft alles normal.
Aus „Die Oden auf Irene“:
Du wandelst unter den Palmen, Silberkind.
Bananenstrauch begrenzte den Blütenweg.
Schon spannt Magnolienbaum den Himmel seiner
Rötlichen Sterne.
Schlingt nicht der See als silberner Gürtel sich
Um deine Kinderschlankheit? Sind Zypressen,
Die dunklen Schwestern, dir nicht zugetan im
Hain von Brissago?
Aber es schwillt der See. Die Blüten stäuben.
Sommer schweift. Die silbernen Reben reifen,
Und an deinen Brüsten saugt ein
Lispelndes Kindlein.
Irene und Fred verbringen den Sommer 1918 in Locarno und am 17. Oktober telegraphiert Fred nach Passau: „Irene plötzlich operiert und mit gesunder kleiner Irene erwacht befinden ausgezeichnet“.
Tochter Irene Fiete Anny ist ein Siebenmonatskind.
Aber Komplikationen treten ein, am 19. Oktober folgte eine genauere Erklärung an Irenes Vater:
„… ich möchte Dir über Irenens Krankheit, an der wir alle so schmerzlich leiden, einen getreulichen Bericht geben. (…)
Nach meiner Rückkehr aus Davos fand ich Irene schon fiebrig vor. Ich konsultierte sofort vier Arzte, einen Lungenspezialisten, einen Frauenspezialisten, zwei Chirurgen, die übereinstimmend der Ansicht waren, dass Irene eine normale Geburt in ihrem Zustand nicht überstehen würde. Wir entschlossen uns zu einer Operation, die eine Kapazität, Dr. Hermann in Lugano in seiner Privatklinik, übernehmen sollte. Leider verschlimmerte sich Irenes Befinden derart, dass ich es nicht mehr verantworten konnte, vor Euch und vor mir nicht, sie bei uns in unsrer Einsiedelei zu behalten. Ich brachte sie Sonntag im Auto ins Hospital.
Hier bekam sie wider alles Vermuten vorgestern Nacht (im siebenten Monat) die Wehen. Sie musste sofort operiert werden, nachts um 1/2 3, und ein gesundes kleines Mädchen, das wir Irene Fiete Anny Tony nennen wollen, kam zur Welt. (…)
Ich habe in der Nähe des Hospitals in einem kleinen Hotel ein Zimmer gemietet und bin immer bei ihr. Du musst überzeugt sein, dass ich alles tue, um ihre Lage zu erleichtern und ihr Herz zu erhellen. Ich halte es aber unbedingt für geboten, wenn ihre gute Mutter sofort herkommt: schon des Kindes wegen.
Ich will über meinen Zustand keine leeren Worte verlieren. Du wirst selber fühlen, wie es Dir ums Herz ist; und so auch mir. Gegen das Schicksal sind wir machtlos. Möge es uns gnädigst gesinnt sein!“
Tage des Hoffens und Bangens beginnen. Hoffen, dass Irene die Operation überlebt und das Kind gesund ist. Die Mutter reist an um sich zu kümmern und Tochter Irene Fiete Anny soll getauft werden; „achtet nur darauf, dass das Kind sich nicht bei der Taufe erkältet! Alles andere ist mir gleichgültig: ob ein brauner oder ein schwarzer oder ein karierter Pfaffe seinen Segen darüber spricht. Es wird später schon selber wissen, wohin es gehört.“
Fredi hat sich eine Grippe eingehandelt und er schreibt an seinen Schwiegervater, er läge seit drei Tagen im Bett, könne wegen möglicher Ansteckung Irene nicht sehen und mit der Mutter spreche er nur auf dem Balkon. Die „Kleine“ gedeihe prächtig und sie hätten Mutter und Kind getrennt, da Irene Ruhe brauche, aber es gehe ihr etwas besser, obwohl sie sehr matt und abgespannt sei.
Und an seine „Liebste Irene“ schreibt er „immer denke ich an Dich! Wie weh tut es mir, dass ich Dich nicht sehen und sprechen kann, und Deine Hand und Deine Stirn nicht halten kann“
In den letzten Zeilen an Irene heißt es: „Möchten wir doch bald wieder zusammen kommen, und möchtest Du doch jetzt recht schnelle Fortschritte machen. Wolle Gott es doch geben. Ich bin immer so betrübt um Dich.“
Brunhilde Irene Heberle stirbt am 30. Oktober 1918 in Locarno. Die folgenden Wochen sind durch seine Briefe an Walter Heinrich und seine Schwiegereltern am besten nachvollziehbar.
Telegramm an Walter Heinrich:
Locarno 30/10 4h40
Lieber freund heute nacht ist meine ueber alles geliebte frau sanft entschlafen bitte Reiß benachrichtigen Ihr unglücklichster -Klabund –
Einige Tage nach diesem Telegramm der folgende Brief an Heinrich:
„… Sie haben sich vielleicht ein wenig gewundert über das Telegramm: aber ich war so bestürzt und so verzweifelt, ich musste es den paar Leuten, von denen ich glaube, dass sie hin und wieder an mich denken, in die Welt hinaus schreien.
Irene war mir das, was ihr Name besagt: der Friede meiner Seele. Der ist nun dahin. Ich war an ihr reines Herz wahrhaft geflüchtet aus einer unbeschreiblich schmutzigen Welt. Wir lebten in Monti wie in einer Eremitage nur mit Sternen, Wolken und Tieren. Die Harmonie ihres Wesens war vollkommen. Sie war ganz eins mit Erde und Gestirn. Gütig, schön, sanft, treu, tapfer — welche Tugenden besaß sie nicht, ganz ohne Kampf als göttliches Geschenk?
Dass sie ewig neben mir im Lichte stehen würde, ich hatte es kaum zu hoffen gewagt. Dazu war sie zu engelhaft, zu schwebend. Aber einige Jahre, so malte ich es mir, würden wir doch miteinander selig sein können. Nun wurden es einige Monate. Und bitter bereue ich es, dass ich ihr, wie ich’s zuerst wollte, das Kind nicht im ersten Monat nehmen ließ. Aber sie hatte solche himmlische Freude an dem Kind, dass ich’s nicht über mich brachte. Und als sie operiert worden war und man ihr das lebende Kind auf den Arm gab, da lächelte sie paradiesisch. Das Kind ist nun im Säuglingsheim untergebracht. Es wird Irene heißen wie sie.
Ich neide sie um ihren Tod. Zu beweinen sind wir, die Überlebenden. Scheint Ihnen diese Zeit nicht immer fürchterlicher zu vereitern? Mich schüttelt der Ekel, wenn ich die Zeitungen aus beiden Lagern, das nur ein Lager der Lüge ist, lesen muss. (…)
Wie der Mann im Märchen, der auszog einen goldnen Schatz zu heben, ihn auch gewann, bis ihm ein böser Zauberer alles nahm, so kehr‘ ich nach Deutschland zurück, müde und elend, ein rechter Landstreicher, der nicht weiß wohin, mit leeren Händen und übervollem Herzen.
Ich liege heute auch schon den achtzehnten Tag in der Klinik (ich habe Irene die letzten Tage vor ihrem Tode nicht mehr sehn dürfen), Montag will ich nach meiner Wohnung, Monti-Locarno, Villa Neugeboren, zurück. Neugeboren . . . ein bitteres Wort. ..“
Und am 17. November ein weiterer „Brief“ an ihn:
„… ich sende Ihnen (die postalischen Zustände in Deutschland erlauben doch die Verschickung wertvoller Manuskripte?) in nächster Zeit die beiden letzten Teile meines lyrischen Hauptwerkes, der „Trilogie“: „Irene oder die Gesinnung“ war der erste), „Silvia oder die Verheißung“ und „Coelia oder die Erfüllung“. Ich schicke sie Ihnen, damit Sie sie lesen; geben Sie sie dann bitte an Reiß weiter. Ich will Ihnen einiges wenige darüber sagen, ich schrieb es eben an die Eltern von Irene, und so schreib ich es Ihnen ab, denn ich bin zu müde, es noch einmal neu zu sagen:
„Ihr, die Ihr mich ein wenig kennt (wie wenige kennen mich, und außer Irene kannte mich so recht wohl niemand), wisst, wie selbst das scheinbar Typischste, das Stilisierteste bei mir auf dem persönlichsten Erlebnis fußt. So ist denn die Triologie nichts anderes als mein Leben mit Irene: vom Anfang, da sie zu mir trat, bis zu jenem bitteren Ende, da sie von mir ging. Coelia oder die Erfüllung: das ist die Totenklage, die ich schrieb nach ihrem Tode. Coelia, das heißt Die Himmlische (wie Silvia die Waldfrau: Silvia symbolisiert unsere Idylle in Monti, unsren Sommer) — aber wie so anders hatte ich mir die Erfüllung gedacht! Ich hatte gemeint, den Himmel auf die Erde herabzurufen, nun hat der Himmel die Erde von mir genommen. Im Kinde wollten wir erfüllt sein und seine Zukunft wollt‘ ich, getragen von der unsern, darin singen. Nun hat das Kind uns aus dem Paradies gestoßen, und was ich singe, das sind die Klagelieder Jeremiä, die Qualen des Prometheus, dem ein Geier die Brust zerreißt, die Schreie Hiobs. —
Wer von meinen vielen Gegnern, die mich so gern als herzlosen Faiseur und gar Schurken an die Wand malten, würde glauben, dass sich in mir ein Leander, ein Romeoschicksal erfüllt? Die Revolution in Deutschland erscheint mir nur wie eine Fackel zu ihrer Totenfeier entzündet. Ihr Klabund.“
Am 7. Januar ein weiterer Brief:
„… Dank für Ihre guten Wünsche! Wenn Wünsche helfen könnten … Ich bin über Irenens Tod noch nicht hinweggekommen. Und ich werde ihn erst dann überwunden haben, wenn ich mich selber, d.h. meinen Tod — überwunden habe. Was für ein lebendiger Mensch war ich doch! Mit welcher Leidenschaft zum Leben! Nun bin ich wie mitten durchgebrochen, und weder dort noch hier. Weder tot noch lebendig.
Wer mir einmal gesagt hätte, vor einem Jahr, vor einem halben Jahr, mein Lebensinhalt würde einmal der Tod sein, den hätte ich ungläubig verlacht. Woran denke ich? Worauf hoffe ich? Wem gilt meine Leidenschaft? Meine Freundschaft? Dem Tod, der mir in Gestalt der geliebten Frau immer verführerischer erscheint.
Unsere Liebe war im Sommer zu einen solchen Glut emporgeflammt, dass ich am eigenen Leibe, an eigener Seele erfuhr was es heißt: ein Romeo, ein Leander zu sein. Ich war durch hundert Frauen gegangen und weil ich hundert Frauen kannte: umso einziger erschien mir dieses Wunder an Frau und nie nie wieder werde ich ihr begegnen. Ich habe die Vollkommenheit umarmt. Aber: wer die Schönheit angeschaut mit Augen, ist dem Tode schon anheimgegeben …(Platen). Sie vereinigte die Reinheit „Beatricens“, die Schönheit „Lauras“ mit der Güte der heiligen „Katharina“ und der Kindlichkeit der Braut des Novalis: „Sophie“.
Sie galt der kleinen bayrischen Stadt, der sie entstammte, wie eine Heilige: die ganze Stadt hat geweint bei ihrem Tode. Nun hasst man mich. Gewiss mit Recht. Denn mit dem Kinde hab‘ ich sie getötet. Meine höchste Seligkeit wurde meine tiefste Schuld. In welchem Labyrinth wandeln wir armen Menschen! Wie hilflos zappelt unsre Erde, die schwarze Fliege, im großen, goldenen Spinngewebe! Ich will alle meine Verse, die ich ihr geschrieben habe, vereinigen in einem Band „Der Cherubim*: die Elegie, die Sonette, die Oden, Distichen und Kleinen Lieder. Und als Anhang: den kleinen Einakter: „Der Totengräber* samt einem kleinen Buch „Balladen“.“
Am 17. Februar 1919 erhält Walter Heinrich ein Telegramm: „Lieber Herr Heinrich, Irene hat heute ihr Kind zu sich gerufen.“
Und damit endet der Briefwechsel zwischen Klabund und Walter Heinrich, ihre Freundschaft aber bleibt bestehen bis zum Tode von Fredi.
In allen Biographien über die Zeit nach dem Tod seiner Frau und nach dem der Tochter ist kein Hinweis zu finden, wie die Familie in Crossen reagiert hat. Bruder Hans war an der Front, zeitweise verwundet im Lazarett. Aber wir reagierten die Eltern? Erhalten sind nur Briefe nach Passau, in denen Fredi schreibt: „nun weiß ich nicht mehr wo ich hin soll in der Welt. Ich habe keine Heimat mehr. Das Herz, darin sie war, schlägt nicht mehr. (…) Und auch die Himmlischen lieben es nicht, wenn Menschen den Himmel auf die Erde herab tragen. So rissen sie uns auseinander (…) Dieser Sommer war die reinste und reichste Erfüllung meines Herzens. Was mir Irene war: wusstest Du. Heute, da dieses Wesen nicht mehr lebt; da muss meine Liebe überfließen, sie wogt uferlos hin und her, und sucht ein Bett, dass sie zur Ruhe komme. Irene war mir Frau, Geliebte, Mutter, Kind, alles, aber sie war mir mehr. Sie war die Göttin meiner besten Verse.
Am Tag ihrer Beerdigung diese Zeilen: „Gleich werden die Glocken sie zu Grabe läuten. Ich werde nicht an ihrem Grabe stehn, denn ich liege noch immer krank und elend zu Bett. Aber selbst wenn ich gesund wäre, ich könnte nicht ihr jene drei Handvoll Erde nachwerfen – denn diese Erde ist zu schmutzig für sie. Gott wird ihr eine Handvoll Sterne nachwerfen und die Sonne wird sich verdunkeln.
Behaltet mich lieb als Euren Sohn. Und wenn ich nicht weiß wohin – darf ich zu Euch kommen?“
Nach Passau gehen die Briefe, die von seiner Trauer und Einsamkeit erzählen, nicht aber nach Crossen, wenn er schreibt: „Tag und Nacht ist Irene mein Gedanke, und Gott weiß, wie gern ich sterben würde. Ihr letztes und schönstes Bild ist immer bei mir: sie hat eine Blume in der Hand und lächelt. Und dieses Lächeln (sie konnte so himmlisch lächeln) wird mich immer zu Tränen beglücken.
Tage später: „heute bin ich eine Stunde aufgestanden. Ich sitze am Fenster, es regnet. Die Berge sind in Nebeln. So ganz in Grau, ich auch. Im Angesicht ihrer hab ich die „Totenklage“ geschrieben, die ich Dir schicke, sobald sie fertig ist. Die schönste, strengste, schwerste Form des Verses soll ihr huldigen: das Sonett.“
Seine Hoffnung in diesen Tagen ist die Tochter, das kleinste Zeichen einer Veränderung – an einigen Tagen eine Verbesserung – wird wiederum nach Passau geschrieben: „bist Du nicht froh, wie gut es unserem Kindlein geht? Seit acht Tagen kann es kaum genug kriegen; man hat die Nahrung gewechselt, und seitdem (ich konnte mich durch Augenschein überzeugen) blüht und leuchtet es förmlich auf. Was der gestrige Gang auch für mich bedeutete: Du wirst es ahnen. Die Vorstellung, dass Irenes Opfer, ihre Hingabe an den Tod, vergeblich gewesen sein sollte, hätte mich von neuem an den Rand der Verzweiflung geführt.“
An Selbstmord denkt er, „gestern Abend hatte ich alles gerichtet, ich dachte, nun ist es gut, nun will ich es tun. Der Revolver lag auf dem Nachttisch, daneben ein Glas, gefüllt mit … Wasser. Auf den Kissen im Bett vor mir lag ihr Bild, ihre Briefe hielt ich in der Hand und das kleine Bündel blonder Haare. Dann weinte ich. Und dann war mein Mut dahin.“
Die Hoffnungen erfüllen sich nicht, am 15. Januar schreibt er, er war „beim Kindlein“ und es gehe diesem gar nicht gut, „Der Arzt war mehrmals da. Er ist der Meinung, dass ihm an Lunge, Herz usw. nichts fehlt: die Temperatur hat sich auf die Verdauungsorgane geschlagen. Es verdaut schlecht und nimmt nur ungern, was man ihm gibt: Milch, Tee, Haferbrei.“
Und in einem letzten Brief schreibt Fredi, nachdem Irene Fiete Anny am 17. Februar 1919 gestorben ist: „heut ist der erste Frühlingstag, und heute muss ich das Kind begraben. Ich werde in Eurem Namen einen kleinen Kranz, Maiglocken und Nelken auf den kleinen Sarg legen, und auf Irenes Grab einen Blumenstrauß. Das Kindlein wird neben seiner Mutter zu liegen kommen; in jenem Grab, das ich eigentlich mir zugedacht hatte.
Klabund gibt sich in der folgenden Zeit die Schuld am Tode von Irene, in der Totenklage verarbeitet er dieses Trauma.
Ich war dein Tod. Ich habe dich gemordet.
Schuld bin ich, daß das Chaos wie ein Krater
Aufbricht und Feuer speit. Ich bin der Vater
Der Anarchie, die rot uns überbordet.
Ich war dein Tod. Ich habe dich gemordet.
Vergebens warnte mich der brave Pater,
Ich schändete dich, dolorosa mater…
Ich habe dich mit meinem Kind gemordet.
Die Herrschaft, die du mit der Lilie übtest,
Ich stürzte sie im Fieber meiner Kaste.
Du lächeltest. Du segnetest. Du liebtest.
Ich blickte finster. Drohte. Fluchte. Haßte.
Und während du das Gold vom Staube siebtest,
Lief ich zur Wollust, grölte, soff und praßte.
XXX
Der erste Monat, seit du starbst ist um.
Ich schrieb an jedem Tag dir ein Sonett,
Und bracht es abends an dein Himmelbett.
Du lauschtest ihm, die Augen zu und stumm.
Und glaubt ich, daß es dich ermüdet hätt,
Verscheuchte ich des Bienenvolks Gesumm.
Du schliefst. Dein Schlaf war mein Martyrium.
Und dein Erwachen wird mein Amulett.
Und wen sein Mensch verließ am Wanderstab,
Dem reich ich ein Sonett zum kargen Trost.
Den tausend Tränen, die er weinte, gab
Die Schale ich. Die Gottheit wägt uns lost.
Das höchste Glück sinkt in das tiefste Grab.
Der Strom der Ewigkeiten stürmt und tost.
„… Die Selbstanklage, Frau und Kind fahrlässig getötet zu haben, durchzieht auch die letzten der erhaltenen Briefe an den Mentor Heinrich: „Ich glaube, dass in den nächsten Jahren keine Mutter auf der ganzen Welt mehr gern guter Hoffnung wird. Ich sehe ganz schwarz.“ (Matthias Wegner)
Locarno
Nun bist der Heimat du verwaist –
Doch wird sich auf den fremden Wellen
Ein zweites Boot dir zugesellen,
Die Hand führt golden, wenn es dunkelt,
Durch Sturm und Schatten hin der Kiel
Im Mondstrahl, der wie Heimat funkelt,
Zu einem neuen Sterneziel.
von Irene Heberle – gewidmet ihrer Tochter
Und nochmal Matthias Wegner über Klabunds Verhältnis zu den Schwiegereltern:
„… Weit umfangreicher ist der Bestand seiner Briefe an deren Eltern, denen er herzlich zugetan war, zumal sich die Mutter selbst als Lyrikerin versuchte und Klabund sie dabei ermunterte. Er empfahl sie an Verlage und riet ihr: „Vielleicht probieren Sie’s auch mal mit kleiner Prosa.“ Hilfsbereitschaft war ein unerschütterlicher, oft unter Beweis gestellter Wesenszug des Dichters.
Davon, dass die schrecklichen Ereignisse die Beziehungen Klabunds zu Irenes Eltern – die er „Vater“ und „Mutter“, auch „Mama“ nannte – nur noch enger werden ließen, legt die bis an sein Lebensende intensive Korrespondenz mit ihnen Zeugnis ab. Deutlicher als zuvor schoben sich während der lang anhaltenden Verzweiflung Äußerungen zu seiner von Irene geförderten, wenn nicht sogar ausgelösten, politischen Wandlung in den Vordergrund. Klabunds Einstellung gegenüber den revolutionären Zuständen im Nachkriegsdeutschland blieb zwiespältig.“
Bis August 1919 ist Klabund immer wieder in Monti. Und einmal fand ich noch einen Brief, den er im Mai 1924 aus Locarno schrieb, ob er aber auch oben in Monti war, ist zweifelhaft.
Stahlgewitter – Der I. Weltkrieg
Kaiser Wilhelm II. verkündet in einer Rede – verfasst vom Reichskanzler Bethmann Hollweg – „In dem jetzt bevorstehenden Kampfe kenne ich in meinem Volke keine Parteien mehr. Es gibt unter uns nur noch Deutsche, und welche von den Parteien auch im Laufe des Meinungskampfes sich gegen mich gewendet haben sollte, ich verzeihe ihnen allen.“
Durcheinander hatte er gebracht, dass er noch kurz vor dieser Rede die gesamte Sozialdemokratie als „vaterlandslose Gesellen“ bezeichnet hatte. Es wurde ihm nicht übel genommen und mit den Stimmen der SPD genehmigte der Reichstag die erforderlichen Kriegskredite.
Wilhelm II. verordnete am 31. Juli 1914 den Kriegszustand nach Art. 68 der Reichsverfassung. Am 1. August befand sich das Deutsche Reich im „Kriegszustand“. Der sozialdemokratische Fraktionsvorsitzende Hugo Haase betonte, seine Partei lasse „in der Stunde der Gefahr das eigene Vaterland nicht im Stich“, der Reichskanzler Bethmann Hollweg feierte die Einigkeit mit den Worten: „Was uns auch beschieden sein mag, der 4. August 1914 wird bis in alle Ewigkeit herein einer der größten Tage Deutschlands sein“, und der Parlamentspräsident Johannes Kaempf beteuerte in seinem Schlusswort, „dass das deutsche Volk einig ist bis auf den letzten Mann, zu siegen oder zu sterben auf dem Schlachtfelde für die deutsche Ehre und die deutsche Einheit“.
Brüder, laßt uns Arm in Arm
In den Kampf marschieren!
Schlägt der Trommler schon Alarm
Fremdesten Quartieren.
West- und östlich glüht der Brand,
Sternenschrift im Dunkeln
Läßt die Worte funkeln:
Freies deutsches Land!
Hebt die Hand empor:
Kriegsfreiwillige vor!“
„Lied der Kriegsfreiwilligen“ von Klabund, gewidmet seinem Bruder Hans und es sollte über zwei Jahre dauern, bis er dieses Gedicht schrieb:
Der Kinder Augen sind wie goldner Regen,
in ihren Händen glüht die Schale Wein.
Ich will mich unter Bäumen schlafen legen
Und kein Soldat mehr sein.
Die drei Klabund-Chronisten Matthias Wegner, Guido von Kaulla und Kurt Wafner beginnen dieses Kapitel mit der gleichen Eröffnung, nämlich der allgemeinen Meinung, man gehe in einen aufgezwungenen Krieg und das Vaterland müsse gegen diesen „Überfall“ verteidigt werden.
Matthias Wegner:
„…Inzwischen hatte Deutschland den Ersten Weltkrieg ausgelöst. Die Obsession der Gewalt verwirrte auch Klabund wie so vielen anderen seiner Künstlerkollegen gründlich den Kopf. Er wollte nun unbedingt Soldat werden.“
Guido von Kaulla:
„…Der Ausbruch des Krieges trifft 1914 die Bevölkerung unerwartet. Man glaubt an die gerechte Sache eines Verteidigungskrieges und ist überzeugt, dass er bis zum Jahresende vorbeisein werde.“
Kurt Wafner:
„Als der erste Weltkrieg begann, war Klabund dreiundzwanzig Jahre. Eine patriotische Welle ging über das Land, und viele aus dem Kreis namhafter Dichter und Denker scheuten sich nicht, das chauvinistische Streitross zu zäumen.“
Auch Klabund wie so viele aus diesen Kreisen schloss sich diesem Patriotismus an und meldete sich wie diese als Kriegsfreiwilliger. „Darunter befanden sich auch einige, die bisher aus ihrer antiautoritären und pazifistischen Gesinnung keinen Hehl gemacht hatten. Zu ihnen gehörten zum Beispiel Johannes R. Becher, Hugo Ball, George Grosz, Erich Mühsam, Ernst Toller. Es zählten dazu Hermann Hesse, Richard Dehmel – und Klabund“, schreibt Kurt Wafner.
Die Liste ließe sich beliebig fortsetzen – auch Gottfried Benn gehörte dazu – aber eine Entschuldigung ist sie natürlich für Fredi nicht. Erklären lässt sie sich vielleicht am besten aus dem Zeitgeist und den so genannten „preußischen Tugenden“, die zu der Zeit längst zu „Tugenden“ einer obrigkeitshörigen und militärisch geprägten Monarchie verkommen waren.
Guido von Kaulla nennt das: „Auch Fredi, jung, erlebnishungrig, in der Tradition vaterländischer Gedankengänge aufgewachsen, wird von der Woge der allgemeinen patriotischen Hochstimmung begeisternd mitgerissen. Der Krieg erscheint ihm, teilt der Eigenbericht später mit, vor allem 1914 als eine Steigerung des Lebens.“
Bei vielen hielt die „Begeisterung“ nicht lange an, so schreibt Kurt Wafner:
„… Sie waren umnebelt von der Sucht, das Vaterland verteidigen zu müssen und meldeten sich als Kriegsfreiwillige. Bei den meisten dauerte der Rausch nur ein paar Wochen; dann kam die große Ernüchterung. Wenn, wie Grosz berichtete, das Heldentum einiger Idealisten gedämpft wurde „durch Dreck und Läuse, Stumpfsinn, Krankheit und Verkrüppelung“.
George Grosz, geboren am 26. Juli 1893 in Berlin als Georg Ehrenfried Groß war ein deutsch-amerikanischer Maler, Grafiker und Karikaturist.
Am Ersten Weltkrieg nahm er als Kriegsfreiwilliger Infanterist teil, wurde aber schon im Mai 1915 als dienstuntauglich entlassen. „Krieg war für mich Grauen, Verstümmelung und Vernichtung.“ Gewandelt zum Kriegsgegner wollte er keinen deutschen Namen mehr tragen und nannte sich ab 1916 George Grosz.
„Ich zeichnete Soldaten ohne Nase, Kriegskrüppel mit krebsartigen Stahlarmen […] Einen Obersten, der mit aufgeknöpfter Hose eine dicke Krankenschwester umarmt. Einen Lazarettgehilfen, der aus einem Eimer allerlei menschliche Körperteile in eine Grube schüttet. Ein Skelett in Rekrutenmontur, das auf Militärtauglichkeit untersucht wird.“
Wikipedia schreibt:
„… 1917 wurde er erneut eingezogen. Nach eigener Angabe sollte er als Deserteur erschossen werden und sei nur durch die Intervention von Harry Graf Kessler gerettet worden. Er wurde in eine Nervenheilanstalt überwiesen und am 20. Mai als „dienstunbrauchbar“ entlassen.“
George Grosz starb am 6. Juli 1959 in Berlin.
Aus den Briefen an Walter Heinrich ist zu lesen, wie sich Klabund bemühte, Soldat zu werden und mit welch teilweise „romantischen Vorstellungen“ er diesen Krieg verband.
München. 3. 8. 1914
Lieber Herr Heinrich,
ich melde mich als Kriegsfreiwilliger bei den bairischen leichten Reitern. Hoffentlich nehmen sie mich. Ich meine, untätig hinter der Front zu liegen, lässt einen verfaulen und reibt mehr auf als noch so strapaziöser Dienst. Zum mindesten werden sie mir doch eine Waffe in die Hand drücken. Man kriegt gar keine Berliner Zeitungen mehr (sehr verspätet). Österreich schweigt überhaupt. Hier ist man bei der Arbeit: gestern wurden sieben Russen wegen Umtriebe erschossen.
Herzlichen Gruß H.
Nachts, wenn die Rekrutierungsbüros geschlossen sind, zieht Fredi mit anderen jungen Leuten durch die Cafes und Lokale der Stadt – auf Tischen stehend hält er Ansprachen – der Inhalt ist zu erahnen.
Walter Heinrich bekommt den nächsten Brief und auch der klingt wenig optimistisch:
„… München, 24. VIII. 1914
Lieber Herr Heinrich,
ich werde wohl nun die Hoffnung aufgeben müssen, irgendwie an die Front zu kommen. Ich werde mich auf mein Militärpapier: Landsturm ohne Waffe und ins Gebirge zurückziehen müssen. Damit man wenigstens nichts von den verfluchten Extrablättern zu Gesicht bekommt. Ich habe mich inzwischen über Reiß, dem ich ein lyrisches Flugblatt Kriegslieder von mir (einen Bogen, hübsche bunte Titelzeichnung, 50 Pfg) angeboten hatte, heftig geärgert. Er hat abgelehnt. Leichten Herzens! Ich ärgere mich umso mehr, als er die moralischen Forderungen, die er an mich anlässlich unserer Korrespondenz über Georg Müller (Sie erinnern sich) richtete, auf sich selber nicht anzuwenden gesonnen ist. Wenn ich das Flugblatt jetzt bei einem andern Verlag herausbringe, ist es für die Propaganda meiner bei Reiß erschienenen Werke glatt verloren. Und was könnte es für Propaganda machen, wenn es beispielsweise in 10 000 Exemplaren verkauft würde. — (Was gar nicht unmöglich ist.) Es tritt aber ein, was Reiß mir damals so heftig zum Vorwurf gemacht hat, ich wolle meine Produktion in alle Winde verstreuen. Wer bürgt mir dafür, dass Reiß mein nächstes Gedichtbuch druckt? Dass er sich nur die Rosinen, Novellen und Romane aus dem Kuchen sucht? Wer soll mir dafür bürgen, wenn nicht sein „moralisches“ Verantwortlichkeitsgefühl? — Können Sie nicht – mal gelegentlich mit Reiß sprechen? Viele herzliche Grüße stets Ihr ergebener Alfred Henschke.“
Eine weitere Musterung folgt, aber mit dem Fronteinsatz wird es wieder nichts, „die Leiden des jungen Henschkes“:
„… München, 6. 9. 1914
Lieber Herr Heinrich,
ich werde nun noch einmal beim Landsturm ausgemustert. Wahrscheinlich: tauglich zu Kanzleidiensten. Wenn man mich doch wenigstens in Brüssel verwenden könnte. Ich werde an Goltz schreiben. Es ist schlimm, in München und im Cafe herumzusitzen und auf die Depeschen zu warten. Ich wollte mich schon ganz absorbieren und ins Gebirge fahren nach Murnau (weil ich es auch eigentlich mal wieder nötig hätte: gestern Abend und heute Nacht wackelte mein Kopf wie auf einer Stange und die Glieder zerrissen sich und schienen alle für sich zu existieren. Und das Ausatmen tat mir rasend weh. Das ging noch bis heute früh sieben. Jetzt ist’s 1, und alles wie weggeblasen.) -aber man kann es ja nicht.
Der Not gehorchend hab‘ ich eine kleine dramatische Szene geschrieben: „Russland marschiert“. Personen: Ein Polizist, ein Jude, ein Wirt, ein Soldat, ein Mädchen, ein Balte, zwei Russen. Ort: Petersburg, August 1914. Das Stück wird in einer privaten Aufführung der Kammerspiele hier (zum Besten der Notleidenden in Ostpreußen) wahrscheinlich übernächste Woche aufgeführt werden. Ich habe es an Reiß geschickt. Jetzt bin ich es ganz zufrieden, dass er das Flugblatt nicht genommen hat. Es wird im „Gelben Verlag“ erscheinen. (Ein Verlag, der durch seine Verlagsrichtung zur Zeit die beste Propaganda dafür machen kann.
Freilich begreif ich Reiß trotzdem nicht. Wer a sagt, muss auch b sagen. Er wird mir auch Dispens für ein zweites Flugblatt erteilen müssen. Ich höre, dass nur Erich Reiß in Berlin ist. Walther Reiß hätte es nach seiner Korrespondenz mit mir: … ich werde nicht die Hand dazu geben, dass auch nur das Geringste bei einem andern Verlag erscheint. . .“ nicht über sich gebracht.) — Was treiben Sie sonst? In Berliner Zeitungen steht, dass ich bei der bairischen Kavallerie ein- und ausgerückt wäre. Ach, leider nicht. Leider nicht. Ich fühle mich aber nun beinah‘ verpflichtet, wenigstens reiten zu lernen.
Herzliche Grüße der Ihre Alfred Henschke.“
Kein Kriegseinsatz und Verleger Reiß ist von seinen „Propagandaeinsätzen“ auch nicht so richtig begeistert – Kurt Wafner schreibt:
„… Doch welche Enttäuschung für den ewig Kränkelnden: Er ist zu krank, zu schmächtig für den Felddienst. Er wird ausgemustert. Aber er will doch irgendwie dabei sein – wenn nicht als Soldat, dann eben als Dichter. So veröffentlicht er zum Beispiel eine Anthologie mit Soldatenliedern, die den Krieg verherrlichen. Darin heißt es: „Möge das Soldatenlied an seinem Anteil auch des gegenwärtigen Krieges recht begriffen werden: als ein Kämpfer für deutsche Freiheit, Menschlichkeit, Innerlichkeit, für deutschen Humor und deutsche Melancholie …“
Matthias Wegner ergänzt:
„… Er wollte nun unbedingt Soldat werden – wegen seiner Krankheit ein aussichtsloses Unterfangen. Statt auf dem Schlachtfeld landete er in einem Davoser Sanatorium. Ersatzweise publizierte er „Soldatenlieder“, von denen einige sogar auf Postkarten gedruckt wurden.“
Guido von Kaulla fasst die Bemühungen – einerseits Fronteinsatz – andererseits die „Propaganda eines Dichters“ so zusammen:
„… Am 25. 10. 14: er zermartere sich den Kopf, wie er noch in den Krieg kommen könne. Wenn er schießen lernte, fliegen lernte? Reiten könne er. Er reite beinahe täglich und tue alles, was er nicht dürfe, rauche auch Zigaretten – und sein Arzt müsse zugeben, dass er munterer sei denn zuvor. Am 31. 10. 14: vielleicht käme er (irgendwie) an die Front. Das sei eine schwache Hoffnung. Er reite. Und er lerne schießen. Trotz aller Anstrengungen: er wird nicht als diensttauglich eingezogen, so oft er auch noch wieder gemustert wird. Am 9. 11. 14 schreibt Klabund, der jetzt nicht „als lyrisch feige Wanze“ zurückstehen will, an den Verleger A. R. Meyer nach Berlin u. a.: Er werde wohl wieder in die Schweiz gehen. Nächstens. Er könne beim besten Willen nicht mittun – merke er mal wieder.
Gleich Ernst Toller und Johannes R. Becher, gleich Rene Schickele und Rainer Maria Rilke beteiligt er sich am Geschehen durch „Kriegsgedichte“. Eine Postkarte mit seinem Gedicht „Kriegsfreiwillige vor!“ erlebt eine sehr hohe Auflage. Der Verleger Dr. Albert Mündt bringt „Klabunds Soldatenlieder“ – der Verleger Goltz ein „kleines Bilderbuch vom Kriege“ mit handkolorierten Holzschnitten von Richard Seewald. Wieder werden – kein Problem für einen gelernten Lyrikarbeiter – Vorräte zum Teil entsprechend geändert. Aus „Der Ermordete“ wird „Der Verwundete mit Kopfschuss“. Aus einem „Abschied“ zur Friedenszeit wird der eines ins Feld ziehenden Soldaten. Dazu dann auch noch das „Landknechtslied“ aus * dem „Faust“ von anno 1910: „Maria himmelobem.“
Erste Theaterstücke, die natürlich auch den Krieg verherrlichen werden aufgeführt. Guido von Kaulla schreibt:
„… Erst die Kriegsumstände eröffnen die Möglichkeit, aufgeführt zu werden. Am 18. 9. 14 trägt Klabund im Rahmen eines „Vaterländischen Abends“ Kriegsgedichte vor. Dann folgt mit dem Einakter „Russland marschiert“ die Feuertaufe als Bühnenautor. Im Abendspielplan der Münchener Kammerspiele (damals noch in der Augustenstraße) erscheint diese rasch entstandene Arbeit ab 10. 10. 14 zusammen mit zwei anderen „Kriegskomödien“ von Klabund: mit der grotesken Londoner Rekrutierungsszene „Tommy Atkins“ und einem Schwank-Potpourri ausländischer Presseberichte: „Der feiste Kapaun“ unter dem Sammeltitel „Kleines Kaliber“.
Fredi an Walter Heinrich:
„…Lieber Herr Heinrich,
„Russland marschiert“ und „Der feiste Kapaun“ sowie „Tommy Atkins“ sind selbstverständlich nur Mittel, um über diese Zeit hinwegzukommen. Und wie ich meine recht anständige Mittel. Die ganze Trilogie soll in den Münchner Kammerspielen und der Societät Berlin zur Aufführung kommen. Wissen Sie keinen netten Gesamttitel? Es sind alles drei Komödien, zwei spielt in Bordeaux, drei in einem Rekrutierungsbüro in London. Zwei ist ein Sammelsurium wahnwitziger ausländischer Presseberichte. (Ich lese das Echo de Paris im Original.)
— Es ist ein Spiel, aber ich war unglücklich, ehe ich es nicht hatte. Die ersten Kriegswochen waren eine Tortur. Ich bitte doch Reiß ans Herz zu legen, dass er sie alle drei in einem hübschen kleinen Bande mit einer Zeichnung von Szafranski druckt, sobald die Semmeln noch warm sind. Ich hoffe, dass er mich nicht im Stich lässt jetzt. (Und etwa alle meine Kriegssachen andern Verlegern in die Hände spielt), es würde mich nach dem guten Anfang bei Reiß schmerzen.
Sie werden mir glauben, dass ich nicht renommiere, wenn ich schreibe, dass mir andere Verleger genug zu Gebote stehen. Ich will nicht. Und hoffe, dass auch Reiß meine Sachen nicht bei andern sehen will und die Vereinbarungen, die sein Bruder getroffen hat, umstößt. (Sein Bruder hat den Roman angenommen. Es könnte sein, dass ich das Honorar einmal brauchte.) Entschuldigen Sie, wenn ich immerzu von Reiß rede, aber es geht mir durch den Kopf, weil ich von ihm überhaupt nichts höre. Und dann hab‘ ich die letzte Zeit rasend gearbeitet, wie ein Pferd, manchmal von 10 Uhr früh bis 3 Uhr nachts. Ich bin ein wenig überreizt, trotzdem ich gestern und vorgestern im Gebirge war, was mich wundervoll beruhigte. Kennen Sie Mittenwald? Die architektonisch schönste Stadt Bayerns. Ein Bauerngesang. Mit dem Karwendel als Notenblatt. — Wissen Sie, dass ich eine Soldatenliedersammlung habe? Wohl die beste, die es zur Zeit gibt? Hunderte? Richtige Soldatenlieder‘! Ich will sie jetzt herausgeben. Reiß wird sie schwerlich wollen. Er hat ja sein Wenn‘s die Soldaten . . .* das sehr hübsch ist, auf Vollständigkeit (Bayern und Österreich fehlt ganz) ja aber auch keinen Anspruch macht.
Der Ihre Alfred Henschke.
Und auch sein Bruder Hans will unbedingt „in’s Feld“:
München, 25. 10. 1914
Lieber Herr Heinrich,
„Mein Bruder Hans wird morgen oder übermorgen ausrücken. Er schrieb mir eine Karte wie: „Wir werden uns nur als freie Deutsche wiedersehen“, aber leider erhielt ich gleichzeitig einen Brief meines Vaters, der den patriotischen Eindruck der Karte beträchtlich zu mildern wusste. Er hat nämlich, abgesehen von seinem gewiss reichlichen Wechsel, Schulden wie ein Major gemacht und kann das Geld, da er dem Alkohol nicht sehr zugeneigt ist, nur in Gemeinschaft freundlicher Damen um die Ecke gebracht haben. Was das für freundliche Damen sind, kann man sich denken, wenn man Kottbus nur einen Blick geschenkt hat. Es gibt unendlich viele Soldatenkneipen mit roten Lichtern in Kottbus. Dass auch der Patriotismus sich schließlich nicht anders als erotisch zu entladen weiß, ist eine Hypothese, die mir nie geglaubt wurde, obgleich ich sie statistisch (Sänger-, Turn-, Kriegervereinsfeste) zu belegen versuchte. Bei den Kriegsfreiwilligen haben wir den unumstößlichen Beweis. Ich erinnere mich bei der Kriegserklärung Österreichs an Serbien: ich war in Leipzig, Tausende marschierten (ich auch) unter Führung eines besoffenen Bäckergesellen nach dem österreichischen Konsulat. Ehrbare Leute alles. (Der Bäckergeselle musste schließlich in einer requirierten Droschke gefahren werden, er wollte von seiner Fahne nicht lassen.) Als man auseinanderging, wusste man nicht wohin. Man war noch immer nicht entspannt, noch immer geladen. Keiner sagte zum andern was: aber alle trafen sich … in den Bordellgassen wieder. Ich habe das zuvor nie erlebt, dass in solchen Häusern auch nicht ein Mädchen frei war. * In Leipzig erlebte ich‘s. Die Gassen dröhnten vom Schritt der Kolonnen. Jeder war ein „Krieger“ und zog, von den Huren bewundert und mit Blumen geschmückt, zum Tore hinaus.
Entschuldigen Sie die Schrift, ich habe meine Feder nicht. Ich zermartre mir den Kopf, wie ich noch in den Krieg kommen könnte. Wenn ich schießen lernte, fliegen lernte? Reiten kann ich. Ich reite beinahe täglich und tue alles, was ich nicht darf, rauche Zigaretten, – und mein Arzt muss zugeben, dass ich munterer bin denn zuvor. (Unberufen unbeschlappert, dreimal untern Tisch geklappert.) Herzliche Grüße, grüßen Sie bitte Reiß.“
Die Einschläge lassen nicht lange auf sich warten. „Die Ferne verliert sich, als der Tod in seiner Nähe zuschlägt. Leybold – bei Kriegsbeginn eingerückt und bei Maubeuge auf den Tod erkrankt – stirbt am 8. 9. 14 beim Ersatztruppenteil in Itzehoe“, so Guido von Kaulla.
Wikipedia:
„… Hans Leibold, geboren am 2. April 1982 in Frankfurt am Main war ein deutscher expressionistischer Dichter. Das schmale Werk des gefallenen Dichters wurde zu einer Inspirationsquelle des literarischen Dadaismus. Seine absurden Texte und Gedichte bedeuteten einen wichtigen Schritt in der Entwicklung des Frühexpressionismus.
Er wird bei Ausbruch des Ersten Weltkrieges im Sommer 1914 eingezogen und schon bald vor Namur schwer verwundet. Drei Tage nach seiner Rückkehr zum Regiment erschoss er sich in der Nacht vom 7. zum 8. September. Für Gründe ist man auf Vermutungen angewiesen, aber eine (eingebildete?) Syphilis-Erkrankung könnte der Auslöser für die Tat gewesen sein.“
Ihm gewidmet ist das am 1. Dezember 1914 im „ Prager Tageblatt“ erscheinende Gedicht „An einen gefallenen Freund“:
Arm in Arm sind wir gegangen
Durch das Himmelreich der Welt.
Mit dem Lasso haben wir gefangen
Schöne Frauen, die wie Rehe sprangen
Und wir wehten segelnd auf dem Belt.
Und in Stunden, die wie Schleier glitten,
Sind wir durch den hellen Park geritten,
Sonne regnete auf Rain und Ruf.
Deine Lippen sprachen leichte, schwere
Verse, und die goldne Ähre
Rauschte an der Rappen Huf.
Grosse Stadt war unsre Mutter,
Nahm uns gern im dunklen Abend auf.
O nach Wolkenfahrten banden wir den Kutter
Schwingend an des Kirchturms Knauf.
Grosse Stadt ist unsre Mutter,
In den niedern Strassen funkelt unser Lauf.
Stehn noch immer jener Kirche Türme?
Sind noch immer Frauen einem lieb,
Seit es dich in namenlose Stürme
In entbrannte Ozeane trieb?
Deine Lippen schweigen leicht und schwer,
Deine Stirn steht abendrotumwettert.
Ein entseelter Franktireur
Hat dein Herz, mein Herz zerschmettert.
Fredi tanzt auf allen Hochzeiten, sie müssen nur patriotisch sein und einen Beitrag zu diesem „großartigen Krieg“ leisten. Mal wieder in Crossen schreibt er:
„… Crossen, 23. 12. 14
Lieber Herr Heinrich,
alles Gute zu Weihnachten und zu 1915!
Hier spürt man in zwei Stunden mehr vom Krieg als in München in einem halben Jahr. Das machen die vielen gefangenen Russen, die man sieht. Sechstausend sind’s. Die meisten hervorragend gut mit hellbraunen festen Mänteln und großen Schuhen ausgerüstet. Einzelne allerdings: zum Jammern: nur mit schmutzigen Tüchern umwickelt. Einzelne kleine greisenhafte Kerle. Mongolen. Bärtige Juden. Balten mit Fransen.
Herzlich Alfred Henschke.“
Und über „die vielen gefangenen Russen“ gibt er einen Artikel, der in den Crossener Heimatgrüßen abgedruckt wurde, aber am 4. Januar 1915 im Berliner Tageblatt erschien.
6000 Gefangene Russen im Lager bei Kähmen
Sieben Tote bei einer Revolte – Eine 1915 im „Berliner Tagblatt“ erschienene Reportage von Klabund
Heimatgrüße 1994/1
Der Redakteur der „Heimatgrüße“ bekam vor kurzem ein wertvolles Bildgeschenk für sein Archiv vom Landsmann Hans-Jürgen Kiesel (…) Dazu gehörte eine Serie von heute wohl einmaligen und interessanten Fotos. Sie veranschaulicht das Leben der russischen Kriegsgefangenen während des I. Weltkrieges in Crossen. Ein passender Text dazu war schnell gefunden. Es ist die folgende Reportage von Klabund, die Landsmann Herbert Boretius vor einigen Jahren bei Archivstudien wiederentdeckte. Sie erschien am 4. Januar 1915 im Berliner Tageblatt. Der Stil des Dichters ist unverkennbar. Doch auffällt, dass sich Alfred Henschke hier Im Alter von 24 Jahren als ein durchaus national gesonnener Berichterstatter entpuppt.
Kaum war ich in Krossen eingetroffen, sah ich schon einen Zug von etwa 300 gefangenen Russen, die in einem langsam schläfrigen Marsch, von Landsturmleuten mit aufgepflanzten (erbeuteten französischen) Bajonetten eskortiert, durch die Straßen zu ihrer Arbeitsstätte zogen.
Sie waren zum größten Teil vorzüglich mit hohen schwarzen Juchtenstiefeln und dicken lehmfarbenen Mänteln ausgerüstet. Einige wenige gingen in Holzpatinen und hatten sich aus umgeworfenen Tüchern phantastische Uniformen hergestellt. Einige sahen wie Mönche oder fromme Pilger aus, die mit leidenden Gesichtern wie zur Melodie eines unhörbaren Trauermarsches marschierten. Einer in dottergelbem Umhang leuchtete, gleichsam ihr Götze und wie die Inkarnation ihrer gefangenen Sehnsucht, der braunen Kolonne weit voraus. Am Schluss krochen kleine greisenhafte Kerle mit gelben zerknitterten Masken: Kirgisen und Mongolen aus den sibirischen Regimentern. Kosaken sah ich keine. Auch später bei meinem Besuch im Lager nicht. Es sind sicher welche darunter, aber sie haben sich unkenntlich gemacht. Wenn man nach Kosaken fragt, glauben sie, man wolle sie für die Kosakengreuel in Ostpreußen verantwortlich machen und spießen oder hängen.
Durch das Entgegenkommen des Lagerkommandanten Oberstleutnant H. und des Lagerinspektors Hö. war es mir vergönnt, dem Russenlager einen Besuch abzustatten. Herr Hö. hatte die Freundlichkeit, mich zu führen.
Das Lager ist eine halbe Stunde von dem reizvoll an der mittleren Oder gelegenen Städtchen Krossen entfernt, auf hügeligem Gelände jenseits des Flusses. Das Landsturmbataillon, dem die Russenwache übertragen ist, besteht zum größten Teil aus Berlinern.
Am Eingang des mit mehrfachem Stacheldrahtzaun umgebenen und von den Russen selbst erbauten Lagers steht die massive Kaserne des Wachtkommandos. Dann beginnt die Gottbergstraße (so benannt nach dem hiesigen Landrat), die links und rechts von der Tischlerei, der Bäckerei, der Küche, dem russischen Dampfbad, den Bureauräumen der Lagerinspektion, der kleinen mit einem himmelblau-himbeerroten Turm verzierten Kirche umsäumt wird und zur „Renaten schanze“ und zum „Barbaraturm“ fuhrt.
Die „Renaten schanze“ und der „Barbaraturm“ stellen eine Festung innerhalb des Lagers dar, sie sind mit Maschinengewehren und Kanonen besetzt, deren jede einen der Höfe des Lagers beherrscht. Die Kanonen werden von einer Abteilung Landsturm Artillerie bedient. Leider ist es in einer stürmischen Herbstnacht, die eine der eben erbauten Baracken fortzufegen drohte, zu einer Revolte gekommen, die wohl auf ein Missverständnis zurückzuführen ist. Sieben Russen wurden erschossen; sie liegen mit ihren an Krankheit oder Verwundung verschiedenen Kameraden auf dem russischen Friedhof. Die Sterblichkeitsziffer ist sehr gering. Von den 6000 Gefangenen sind bisher 30 gestorben.
Die Lazarette befinden sich auf einem besonderen Hof. Sie zählen von L 1 bis L 7. L 1 ist das chirurgische Lazarett, L 5 das für Hautkrankheiten, zu denen in erster Linie die Läusekrankheit zu rechnen ist, die im Osten, leider nicht nur unter den Russen, grassiert. Für ansteckende Krankheiten (das Lager wurde bisher vom Flecktyphus verschont) werden zurzeit außerhalb des Lagers wohnliche Erdbaracken errichtet. In den Lazaretten und der Lazarettapotheke arbeiten gefangene russische Ärzte und Apotheker unter der Leitung deutscher Stabsärzte und Militärapotheker
Die Holzbaracken, in denen die Russen wohnen, sind hoch und luftig und sehr gut ventiliert. Einige Baracken gehen halb in den Erdboden. Sie haben nach meinem Gefühl vor den freistehenden Baracken, besonders im Winter, viel voraus, sind wärmer und machen überhaupt einen gemütlichen Eindruck. Die Lagerstätten oder Betten sind dreifach übereinander gestaffelt. Die Gefangenen schlafen auf Holzwollsäcken und erhalten als Oberbett feste Wolldecken. Jede Baracke wird von einem großen Ofen geheizt. In einigen Baracken sind noch einige kleine Kochöfen vorhanden, wo sich die Leute ihr Essen aufwärmen oder Tee kochen können. Die hölzernen Tische, auf denen sie essen und arbeiten, lassen sich durch sinnreiche Vorrichtung (Umklappen der Plätte) in große, mit Zinn ausgeschlagene Waschschüsseln verwandeln.
Eine Lagerfeuerwehr exerziert unter Führung eines Landsturmmannes, der im Privatberuf Brandmeister der Berliner Feuerwehr ist, an einer von der Freiwilligen Feuerwehr Krossen überlassenen Spritze. Nach deutschem Kommando.
in der Küche kam ich gerade dazu, wie das Mittagessen ausgeteilt wurde. Ein Koch eines großen Berliner Hotels ist Oberkoch; ihm unterstehen zwei Dutzend russische Köche. Es gab Reisfleisch, das heißt Rindfleisch in einer dicken Reissuppe. Zehn Zentner Fleisch waren dazu verarbeitet. Ich konnte mich durch Kostprobe davon überzeugen, wie schmackhaft das Essen hergestellt war. Jeder Mann empfängt einen Liter, Leute, die am Vormittag angestrengt gearbeitet haben, anderthalb Liter. Dazu erhält jeder jeden Tag ein Pfund (in der Stadt gebackenes und auch von den Einwohnern gern gegessenes) „Russenbrot’* – mit Kartoffelmehl durchsetztes Roggenbrot.
In der Hauptbaracke sang uns der russische Gesangverein, der unter Leitung eines gefangenen Petersburger Musikdirektors steht, einige slawische Lieder vor. Zuletzt sangen sie das schwermütige Lied ihrer Erinnerung an die Heimat: „Sag, wo bist du nur, geliebte Heimat?“
In jeder Baracke kommandiert ein russischer Feldwebel. Es sind auffallend viel Polen, Juden und Russen aus den Ostseeprovinzen hier, die recht gut Deutsch sprechen. Von der Erlaubnis, Briefe zu schreiben, machen sie ausgiebigen Gebrauch. Dem Zensor wurden an einem Tag 1500 Briefe zur Prüfung abgeliefert. Sie empfangen auch Post und dürfen sich durch ihre Abgesandten in der Stadt Waren und Bedarfsartikel besorgen lassen. Aus Gründen der Feuersgefahr ist es ihnen verboten, Zigaretten zu rauchen. Wer arbeiten will, findet auch jetzt noch reichlich Gelegenheit. Er erhält außer besonderer Brot- und Essenration einen täglichen Sold von 15 bis 30 Pfennig.
Man möchte von Herzen wünschen, dass die gefangenen Deutschen in Russland ebenso human behandelt werden wie die Russen im Gefangenenlager Krossen, das nach meinem vorurteilslosen Eindruck ein wahres Musterlager ist. Es legt ein erfreuliches und erhebendes Zeugnis ab von deutscher Ordnung, deutscher Menschlichkeit: deutscher Kultur.“
Der Krieg ist nicht wie vorhergesagt Weihnachten 1914 zu Ende und die Verluste werden immer höher. Auch Walter Heinrich schreibt an Klabund, dass sein Neffe gefallen ist und dieser Brief erschüttert ihn:
„… München, 28. 10. 15
Lieber Herr Heinrich,
ich fühle, was Ihr kleiner Neffe Ihnen bedeutete: wohl das, was mein Bruder mir ist. Das Schlimmste ist doch der Tod. Die Vernichtung eines jungen Herzens zerstört mehr, als die Erbauung eines Straßburger Domes je wieder errichten könnte. Auch ich bin auf die Organisation des Todes, wie sie der Krieg erzeugt, immer wieder in Resignation und Tränen gestürzt. Ich bin müde von dem vielen Tod. Als neulich eine Maschinengewehrkompagnie verladen wurde, hab‘ ich geheult wie ein Schloßhund. — Ich liege seit einigen Tagen im Bett. Ein mixtum compositum von Magen- Darm- Lungen- und Nierenkrankheit, hoffentlich brauch‘ ich nicht operiert zu werden. Ich habe wie eine schwangere Frau immer heiße Flaschen auf dem Bauch liegen (und weiter unten eiskalte). Es gibt keinen vernünftigen Menschen mehr in Europa. Wir sind alle „verrückt“
Herzlichst drückt Ihnen die Hand Ihr Alfred Henschke.
Auch Bruder Hans wird verwundet, aber überlebt. In einem Brief vom 11. Oktober 1915 an Heinrich schreibt er:
„…Ich selber werde auch immer jünger. Immer jünger. Das ist eigentlich verdächtig. Schmeckt so nach Auflösung nach der andern Seite hin. Ich sehe jetzt so jung aus, als ob ich mein Bruder wäre. Und mein Bruder sieht so alt aus, als ob er ich wäre. (…) Meinem Bruder geht es besser. Er ist aus dem Lazarett entlassen. Hat Urlaub und kommt dann nach Jüterbog zum Offizierskursus. Möchten Sie ihn kennenlernen? Sie wissen, dass ich viel von ihm halte. Seit er aus dem Feld zurück, habe ich ihn aber leider noch nicht gesehen.“
Und in einem Brief aus Davos der Satz: „Kurz: der zur Zeit nur irgend lieferbare „Friede“,
Und bereits am 1. September 1915 ist im „Berliner Tageblatt“ zu lesen:
„… Man liegt in Decken eingehüllt auf der Veranda. Der Karwendel schwimmt wie ein großer Dampfer im Dunkel. (…) Neun Monate bist Du schon im Krieg, mein Bruder (…) Siebzehn Jahre bist du alt. (…) Von der Sekunda in den Krieg. (…) Lieber Bruder – wen hab‘ ich wohl lieber als Dich! Du weißt es nicht, denn Du bist zu jung, es zu wissen. Nun hast Du den Sturm auf Warschau mitgemacht und liegst verwundet in einem Warschauer Lazarett, „Leicht verwundet an Kopf und Auge durch Schrappnellschuß“.
Ganz langsam setzten wohl die Zweifel ein, aber Matthias Wegner fasst Fredis Einstellung so zusammen:
„… Auch sein „Kleines Bilderbuch vom Krieg“ (1914) markierte, trotz gelegentlich auftauchender, leiser Zweifel, einen Tiefpunkt der Verirrung. Guido von Kaulla datierte die „Wende“ anhand der Briefe Klabunds an Walther Heinrich und der im März und April 1915 verfassten Nachdichtungen chinesischer Kriegslyrik, doch spricht, worauf von Kaulla selbst hinweist, ein Artikel Klabunds im „Berliner Tageblatt“ vom 16. Oktober 1916 noch eine andere Sprache:
„Frankreich ist seit der Marne Schlacht vollkommen verrückt: Vom geringsten Schuhputzer bis hinauf zu Anatole France ist jeder Franzose Chauvinist. Chauvinist schlimmster Sorte. […] Sie hassen nicht nur den deutschen Geist, sondern auch jeden einzelnen Deutschen.“
So ganz war der Fanatismus noch nicht erloschen, 1917 aber war die Wandlung vollzogen. Am 3. Juni dieses Jahres veröffentlichte die „Neue Zürcher Zeitung“ einen Offenen Brief Klabunds an den deutschen Kaiser, in dem er diesen zum sofortigen Rücktritt aufforderte.
(…) Der Brief erregte weithin Aufsehen, die Rechte in Deutschland schäumte und es kann nicht verwundern, dass sie von nun an und noch über seinen Tod hinaus in Klabund einen ihrer vehementesten Gegner sah. Für Klabund bedeutete dieser Brief eine radikale Zäsur. Er machte sich Vorwürfe, nicht schon längst anderen Sinnes geworden zu sein. Die gründliche politische Analyse gehörte nicht zu seinen Stärken, dafür aber die schonungslose Selbstkritik.“
Die Kritik am andauernden und immer sinnloseren Krieg – wenn er denn jemals einen Sinn gehabt hatte – wird lauter, aber auch die Verfechter und damit auch Klabund bekommen diese zu spüren. In einer Buchkritik schreibt Julius Bab (geb. am 11. Dezember 1880 in Berlin, gestorben am 12. Februar 1955 in Roslyn Heights, New York) ein Dramatiker, Theaterkritiker und Mitbegründer des Kulturbunds Deutscher Juden:
„…Und nicht viel besser scheint es mir, wenn ein in letzter Zeit viel genannter junger Poet von dem bekannten Maienliedchen „Frühling, Frühling wird’s überall“ sich zu dem Refrain eines angeblichen Schlachtgedichtes inspirieren lässt: „Tiger, Tiger, brüllt übers Feld!“ […} Autor dieser ästhetischen Taktlosigkeit ist der sogenannte Klabund.“
Seine Münchner Freundin Marietta tut seine „Erzeugnisse“ ab mit den Worten: „Kleines Kaliber -!“ und Kurt Eisner, der Kritiker der sozialdemokratischen Tageszeitung „Münchener Post“ u. a. schreibt:
„… Auch Klabund hat sich von dem bisher gepflegten Gebiet auf das militärischer Zusammenstöße begeben. Er dichtet mit dem maschinellen Datumstempel. […] Nach diesen Vorbildern verhöhnt er, während sich die Erde mit dem Blut auch ihrer Söhne bedeckt, in drei Szenen Russen, Franzosen und Engländer. […] skandalöse Dummheit ohne Hülle“
Guido von Kaulla meint:
„… Hier wollen nicht Kerr-Feinde ihr Mütchen kühlen, hier gilt allein Klabund der Beschuss. Die Ernüchterung und das Nachdenken setzen ein. Noch tönt er im Heftchen „Dragoner und Husaren“ (1915) über seine zum Teil schon vor dem Kriege entstandenen Soldatenlieder ölig wie ein Rauschebartprofessor: „Es ist mir eine Freude, dass viele der Lieder bereits in den Reihen der Soldaten umgehen und von ihnen gesagt und gesungen werden!“ (Klabund) Und ebenda verkündet er, dass die chinesische Kriegslyrik (die er im Frühjahr 1915 übertragen hat) vieles von dem enthalte, was er „zum Krieg als Krieg lyrisch zu sagen wüsste.“
Und weiter:
„… Aber im Nachwort zur großen wissenschaftlich genauen Soldatenlieder-Anthologie, die er Mitte 1915 herausgibt, hat dann plötzlich alles schnöselige Geschreibe ein Ende und man spürt, dass er endlich für das Erkennen der Bitterkeit des Kriegsgeschehens reif geworden ist. (…)
Im Frühjahr 1916, als unzählige Menschen vor Verdun sterben, zeigt seine Kurzgeschichte „Die Schlachtreihe“ achtungsvolles Begreifen der Tragik eines Soldaten vor ausweglosem, nicht von ihm herbeigerufenem und mit anderen Soldaten zu teilendem Todesgeschick. Es ist Fredis Mitschüler Cuno von Falkenhayn, den er da seinem alten Lateinprofessor (der als Feind aller hochstrebenden Phrasen „acies“ mit „Heer“ übersetzt) schreiben lässt: „Acies heißt doch die Schlachtreihe“ -und dann: „Falkenstein fiel vor Verdun“.
Die Schlachtreihe
Unser Lateinlehrer, der alte Professor Hiltmann, war wie Fontane ein geschworner Feind aller feierlichen und hochtrabenden Phrasen. So konnte er es in den Tod nicht leiden, wenn man nach dem Lexikon acies mit „die Schlachtreihe“ statt einfach und simpel mit „das Heer“ übersetzte.
Der Ultimus unserer KIasse war einer derer von Falkenstein, ein herzensguter, aber dummer Junge.
Jahre gingen ins Land.
Der Weltkrieg brach aus.
Hiltmann, als geschworner Feind aller feierlichen und hochtrabenden Phrasen, konnte sich mit ihm nicht befreunden.
Es tobten die männermordenden Kämpfe vor Verdun. Da erhielt Hiltmann eines Tages eine Feldpostkarte von Falkenstein, der vor Verdun lag. Auf der stand nichts als:
„Sehr geehrter Herr Professor!
Acies heißt doch die Schlachtreihe…
Ergebenster Gruß
Ihres Falkenstein.“
Da stützte der alte Hiltmann den weißen Kopf auf sein Stehpult und die Tränen rannen über seine runzeligen Wangen und tropften auf die Korrekturen des lateinischen Extemporale. Falkenstein fiel vor Verdun.
Auch Kurt Wafner beschreibt Klabunds Wandlung:
„… Aber schon im zweiten Kriegsjahr wandelt sich Klabund von einem emsigen Schwadroneur deutscher Tugenden zurück zu einem streitbaren Verfechter humanistischer Ideale. Berichte über die Kriegsgräuel waren offenbar bis nach Davos gedrungen, wo er sich aufhielt und hatten den patriotischen Dunst vertrieben.“
Wafner führt dazu den folgenden Brief von Fredi auf.
„… Dem Rauschzustand 1914 habe ich längst abgeschworen, so gut wie Hugo Ball oder Johannes R. Becher, die alle stramme Kriegsfreiwillige und Anbeter der großen Sensation waren. Glaubten wir damals nicht an ein überfallenes Deutschland? Ich halte es für ehrenvoller, einen als falsch erkannten Standpunkt aufzugeben, als konsequent im Irrtum zu verharren. Schon im Frühling 1915 hat sich der Umschwung in mir vorbereitet, als ich die chinesische Kriegslyrik schrieb.“ Da heißt es zum Beispiel in einer Übersetzung: „Ich bin gespickt mit tausend Messern und müde von dem vielen Tod. Ich will mich unter Bäumen schlafen legen und kein Soldat mehr sein…“
Kurt Wafner weiter:
„… Es genügte Klabund nicht, das chauvinistische Schlachtross zu verlassen; er wollte sich als Pazifist zu erkennen geben. Und wo, so dachte er, könnte das wohl wirksamer geschehen, als sich direkt an das Oberhaupt der Deutschen und einen Verantwortlichen des Völkermordens zu wenden. Am 3. Juni 1917 brachte die „Neue Zürcher Zeitung‘ einen Offenen Brief an Kaiser Wilhelm II.
Es gehörte schon eine Portion Mut dazu, in der Zeit der Völkerverhetzung zum Frieden, zur Menschheitsverbrüderung aufzurufen, selbst wenn diese Töne ihr Ziel verfehlten. Klabunds Glaube an das Gute im Menschen musste hier vor der bitteren Realität kapitulieren.
Immerhin, diese provokante Herausforderung hätten die Crossener ihrem „verlorenen Sohn“ nun doch nicht zugetraut – und so spien sie Gift und Galle. Und der Gang Vater Henschkes durch die Gassen der Stadt glich wohl oft einem Spießrutenlauf.“
Der „Beschuss“ ist heftig und zieht sich über Monate hin, so geht am 11. 10. 17 geht ein Brief nach Crossen:
„…Lieber Vater, perfide Denunziationen (…) hatten mir ein schlimmes Schicksal zugedacht. Man hatte mich beim Armeekommando verdächtigt, der Autor der an der Front von der Schweiz aus verbreiteten revolutionären Flugblätter zu sein, die die Soldaten auffordern, bis an den Rhein zu gehen und was dergleichen läppisches Zeug ist, was mir nie auch nur in den Sinn kommen könnte. Eine halbe Stunde, nachdem ich von Lindau die Grenze passiert habe, traf dort der Befehl ein, mir die Ausreise zu verweigern, und mich unter militärischer Bedeckung in die Festung Küstrin zu verbringen. (…) Auf absehbare Zeit, ehe die Verhältnisse geklärt sind, ist mir also die Rückkehr nach Deutschland unterbunden.“
Kurt Wafner:
„… Unwillen befiel Klabund, weil er sich hat vom Kriegsgeschrei betören lassen. Und Scham. Davon zeugt die im Juni 1917 verfasste „Bußpredigt‘. Sie macht seine Wandlung besonders augenfällig. Darin heißt es:
„Wir schwiegen vor den Krieglingen aller Länder, die es heute noch gibt; ihnen kann man nicht ins Gewissen reden, denn sie haben keines. Aber ihr, die ihr, wie ich, längst erweckt seid – erwacht von einem üblen Traum, der wie ein Alp euch drückte – bekennt, aus falscher Scham bisher nur schweigend, dass dieser Traum ein Trugbild war … Schwört ab dem Taumel 1914! … Ein rasender Protest gegen den kriegerischen Gedanken und das kriegerische System in der ganzen Welt tut Not.“
Der Brief an Kaiser Wilhelm II, – darin enthalten die Aufforderung, zurückzutreten – markiert laut allen Biographien den Wandel Klabunds vom Kriegsbefürworter zum Kriegsgegner. Und diesen Wandel habe seine erste Frau, Brunhilde Heberle maßgeblich beeinflusst. Aber stimmt das so?
Als kurze Wiederholung, 1916 lernt er Brunhilde kennen und bereits im Februar 1917 ist klar, die beiden werden heiraten. Im vorigen Kapitel habe ich geschrieben:
„…Februar 1917 Reise nach Locarno, Guido von Kaulla schreibt: „… Im Februar 1917 reist Klabund nach Locarno-Monti – mit Irene, die ihn schon zu der pantheistischen Erzählung „Franziskus“ inspirierte.“
Übrigens wohnen die beiden in diesem Februar 1917 in Locarno-Monti in einer Villa, die den prophetischen Namen „Villa Neugeboren“ trägt. Eigentümerin dieser Pension ist Hilde Jung – ihr Geburtsname Neugeboren.
Zurück zum „Kaiserbrief“ und der hat natürlich auch in der Familie Heberle und in Passau gewaltigen Wirbel ausgelöst. Aber nicht nur dort wird Klabund wegen ihm angegriffen und wider besseres Wissen wird er auch dort – und nicht nur dort – als Drückeberger bezeichnet. Im Mai 1918 nach Erscheinen dieses Briefes reiht sich die Passauer „Donau-Zeitung“ in die Schar der Kritiker ein. In einem Artikel (Henschke mit „K“) heißt es:
„…Vielleicht befassen wir uns einmal mit dem Treiben eines Deserteurs (Fahnenflüchtigen), der verwandtschaftliche Beziehungen in unsere Stadt hinein hat“.
Und zum Titel: „Deutsche Drückeberger in der Schweiz“ im gleichen Blatt:
„… Hier gehört auch der Novellist und Dichter Alfred Hentschke erwähnt. (…). Er hat aber nur von seinem kugelsicheren Schweizer Aufenthalt einen frechen anmaßenden „Offenen Brief“ an den deutschen Kaiser gerichtet. Hentschke scheut sich wohlweislich, deutschen Boden zu betreten. Er ist Refraktär (d.h. einer, der sich seiner militärischen Gestellungspflicht durch den Aufenthalt im neutralen Ausland entzogen hat.“
Und Markus Pöhlmann schreibt in seinem Artikel „Der Dichter Klabund als Propagandist und V-Mann im Ersten Weltkrieg:
Gleichwohl galt er nach seinem Offenen Brief in nationalen und Sicherheitskreisen in Deutschland als Defätist. So wurde er im September 1917 anlässlich eines Besuchs in Passau persönlich angegangen, wie sich aus der Denunziation des Chefredakteurs der „Passauer Zeitung“ erschließt. Dieser „meldete“ dem Stellvertretenden Generalkommando in München seine Begegnung mit dem Schriftsteller, nachdem er kurz zuvor im Rahmen einer regionalen Presseeinweisung der Behörde über Klabunds Wilhelm-Brief instruiert worden war:
„Am Sonntag hatte ich das zweifelhafte Vergnügen, Herrn Klabund hier begrüßen zu müssen. Er ist militärfrei, anscheinend aber gesund genug, in Deutschland militärische Schreiberdienste zu tun. Er protzt mit seinem Wohlbefinden! Ob er sich die goldenen Armbänder und Ringe, die er auffallend zu tragen beliebt, in der Schweiz erschrieben hat, während seine Stammesgenossen das Gold zur Reichsbank bringen, weiß ich ebenso wenig, als ob die manikürten [sie] Finger nicht besser in Deutschland als in der Schweiz beaufsichtigt werden könnten. Daß die Münchner bzw. Passauer Begleiterinnen [sie] des Herrn Klabund noch behaupten, es geschähe ihm bei uns nur nichts, sondern .die Polizei und Behörden kriechen vor ihm‘ macht den Fall Klabund […] noch wunderlicher! Ja, der deutsche Michel! Von hier aus geht Herr Klabund für kurze Zeit in seinen Münchner Anbeterkreis.“
Die Villa Neugeboren
Die in diesem Kapitel verwendeten Zitate stammen aus der Seite:
http://www.gusto-graeser.info/Monteverita/Personen/NeugeborenHilde.html
die von Hermann Müller betreut wird.
Besitzerin der Villa war die „Gräser-Jüngerin“ Albine Neugeboren. geb. Capesius, Sie war – Jahrgang 1861 – Gattin eines sächsischen Unternehmers und lebte einen großen Teil des Jahres im Tessin.
Hermann Müller schreibt:
„… Albine Neugeboren war die erste (und vielleicht die einzige) Jüngerin von Gusto Gräser. Sie soll als Krebskranke von den Ärzten aufgegeben und dann durch eine von Gusto verordnete Diät gerettet worden sein. (…) Überzeugt von seinen Ideen und seiner Lebensweise begleitete sie ihn wochenlang auf seinen Wanderungen durch die Alpen, sie, die barfüßige Millionärsgattin, bei den Bauern um ein Nachtquartier im Heu bittend.
(…) Gab ihre etwa zwölfjährige Tochter Hildegard zu Karl Gräser in die Lehre, wo das Kind, wie die Achtzigjährige erzählte, „Schreckliches“ erlebte. „Hatte immer Hunger“. Ging nachts auf die Felder, um Kraut zu stehlen. Hasste deshalb die Gräsers. 1909 brachte Gusto seine siebenköpfige Familie ins Haus der Neugeborens. Hildegard musste für die Kinder Kleidchen nähen, wiederum nicht zu ihrer Freude. Dennoch war ihr ganzer Lebensstil von den Gräsers geprägt. Sie war es, die Hermann Hesse 1915 zu sich einlud, worauf er 1916 tatsächlich ihr Gartenhäuschen bezog. In ihrem Hause in Monti (d. h. dem ihrer Mutter Albine) trafen sich Hesse und Gräser am 7. September 1916 erstmals wieder nach jahrelanger Entfremdung. Landmann berichtet, dass nach dem Rauswurf Gustos durch Oedenkoven (November 1900) sich in Monti um ihn eine Gruppe Geistesverwandter versammelt habe. Ihr Standort und Stützpunkt dürfte das Haus von Albine gewesen sein. Dort fanden später auch Ernst Bloch, Klabund, Jakob Flach und angeblich auch Lenin einen Unterschlupf. Ohne die gräserische Gesinnung von Frau Albine hätte sich diese Freistatt rebellischer Geister nicht bilden können.“
Und weiter:
„… Die Villa Neugeboren war zur Zeit des ersten Weltkriegs noch keine Pension. Vielmehr lud Albines Tochter Hildegard, die das große Anwesen von mehreren Häusern allein bewohnte, ihr sympathische pazifistische Künstler zu sich ein, so auch Hermann Hesse, Ernst Bloch und Klabund. Erst ab 1922 wurde das Haus offiziell Pension, später dann ein vegetarisches Erholungsheim für Naturfreunde. Der religöse Sozialist und Theologe Leonhard Ragaz, der sich auch für Gräser einsetzte, hielt dort um 1930 Tagungen ab.
Hier schrieb Bloch „Geist der Utopie zu Ende“, es entstand seine Betrachtung über den „sittlichen Führer“. Von hier aus ging Klabunds Offener Brief von 1917 in die Welt, in dem er Kaiser Wilhelm zum Rücktritt aufforderte. Klabund arbeitete an einer Nachdichtung des „Tao Te King“ von Laotse, wie zur selben Zeit auch Gusto Gräser. Im Geist dieses Hauses entstanden Hesses Schriften gegen den Krieg und sein Roman „Demian“. Die Tochter Hilde von Albine Neugeboren wurde seine „Beatrice“.
Besuchende Gäste waren u. a. Emmy Ball-Hennings, Else Lasker-Schüler und Franziska zu Reventlow, der Komponist Othmar Schoeck, der Maler Gustav Gamper, der Puppenspieler Jakob Flach, die Rilkefreundin Lou Albert-Lasard und der Dramatiker Reinhard Goering. Von dieser alternativen Zelle eines anderen Deutschland im Exil gingen politische, künstlerische und spirituelle Strahlungen aus in die Dada-Szene, in die deutsche Revolution, in den Expressionismus. In noch zu erforschendem Maße auch in die Jugendbewegung“
Das Anwesen der Neugeborens bestand aus mehreren Häusern. In einem wohnte Ernst Bloch mit seiner Frau, vermutlich im Haupthaus. „Die anderen Häuser und namentlich das zeitweise von Hesse bewohnte Gartenhäuschen bezeugen durch ihren Stil die lebensreformerischen Neigungen der Besitzerin Albine Neugeboren.“
Albine Neugeboren kehrt 1914 zu Kriegsbeginn nach Deutschland zurück, ihre Tochter bleibt in Monti. Am 25. April 1940 stirbt Albine Neugeboren.
Hildegard Jung-Neugeboren (1891-1979)
„Hildegard Neugeboren war die Tochter der Gräserfreundin Alwine Neugeboren. Sie wuchs in Jena auf, schloss sich mit Begeisterung den „Wandervögeln“ an, lernte rhythmische Gymnastik bei Dalcroze in Hellerau, unterrichtete zwei Jahre in Naumburg. Sie kam dann mit Kriegsbeginn nach Monti (…) und verwaltete das elterliche Anwesen, die Villa Neugeboren.
Von ihrer Mutter war sie als junges Mädchen zu Karl Gräser in die Lehre gegeben worden (…) Sie hasste seither die Gräsers, war aber durch und durch in ihrem Geist geprägt. Als Mitglied der abstinenten Wandervögel und überzeugte Pazifistin machte sie ihr Haus während des Krieges zu einem Heim für Kriegsgegner, namentlich für Künstler. Neben Gusto Gräser, dessen große Familie ihre Mutter schon 1909 beherbergt hatte, gehörten Hermann Hesse, Karl Soffel, Ernst Bloch, Jakob Flach und Klabund zu ihren Gästen.“
Zu Kriegsbeginn befindet sie sich allein in dem weitläufigen Anwesen in Locarno-Monti; ihre Mutter war nach Deutschland zurückgekehrt. Jungenhaft keck und schwärmerischer Sehnsucht voll, lädt sie kurzerhand den ihr nur von seinen Büchern her bekannten Schriftsteller Hesse ein, bei ihr zu wohnen. Ein romantisches Gartenhäuschen stehe ihm zu freier Verfügung.
Seit 1917 war sie mit dem Neurologen und Psychiater Dr. Felix Jung verheiratet.
Hilde, in Deutschland aufgewachsen, kehrte nach dem Krieg dorthin zurück. Mit Hermann Hesse blieb sie, wie ihre Mutter, lebenslang freundschaftlich verbunden.
Gusto Gräser
Gräser wurde am 16. Februar 1879 zu Kronstadt in Siebenbürgen geboren, er starb am 27. Oktober 1958 in Freimann bei München.
Sein Wirken kann man unter dem Begriffen Naturkult, Vegetarismus, Abstinenz, Pazifismus, Zivilisationskritik zusammenfassen.
„Führende Geister seiner Zeit sahen in ihm die Verkörperung des „neuen Menschen“, die Verwirklichung der Ideale von Nietzsche und Walt Whitman und zugleich einen neuen Franziskus. Sein Leben außerhalb der Regeln der Zivilisation war den Meisten unbegreiflich, erregte Anstoß und Hass. Für andere aber wurde er zum Vorbild; Dichter wie Hermann Hesse und Gerhart Hauptmann erhoben ihn in mythischen Rang. Seine eigene Dichtung blieb zu seinen Lebzeiten weitgehend ungedruckt. In Sprüchen und Gedichten, die er auf Postkarten und Flugblättern verbreitete, rief er seine Mitwelt zur Umkehr auf.“
Die „Anti-Wilhelm-Deutschen“ (Bloch)
Klabund lernte Hilde Jung durch Hermann Hesse kennen. Und er passte sicher in diesen Kreis nach seiner „Wandlung“– wie er sie selber nannte – zum Kriegsgegner. Und damit komme ich nochmal zu der Frage, wie sehr ihn seine Ehefrau bei dieser beeinflusst hatte.
Zur Erinnerung, in allen bekannten Biographien wird der Einfluss von Brunhilde Heberle erwähnt. Dem widerspricht aber die Reaktion auf seinen „Wilhelm-Brief“ im Hause Heberle, der unter anderem auch dort nicht sehr „positiv“ aufgenommen wurde. Dr. Max Heberle war sicher nicht der Kriegsgegner, sondern ein „Kind“ der Kaiserzeit und warum sollte dann seine gerade 20jährige Tochter eine völlig andere Meinung haben, als die in ihrem Elternhaus herrschende?
Angelehnt an Asterix kommt mir diese Villa Neugeboren wie ein „pazifistisches Dorf“ vor. Hermann Hesse und Ernst Bloch als ehemalige „Kriegsbegeisterte“ haben eine Wandlung vollzogen und Alwine und Hilde Neugeboren sind – beeinflusst durch die Brüder Gräser – gegen jeglichen Krieg.
Wäre es da nicht logischer, wenn Klabund und Irene Heberle mit diesem Kreis in Monti zeitweise lebend, ihre Einstellung dort geändert haben?
Sicher ist, dass die beiden nicht nur mit Hermann Hesse immer wieder zusammentrafen, sondern auch Ernst Bloch und vor allem Gusto Gräser dort trafen. Hermann Müller hat Besuche von ihnen beschrieben:
„… Mitte März im Kriegsjahr 1917 fährt Bloch nach Locarno, genauer: nach Monti della Trinità oberhalb von Locarno, wie aus einer späteren Karte an Georg Lukács hervorgeht. Er wohnte, wie vor ihm schon Hermann Hesse, im Hause der mit Gräser befreundeten Familie.“
„Hesse hat dann wieder vom 23. März bis Mitte Mai 1918 im Gartenhäuschen der Villa Neugeboren gewohnt, zeitweise zusammen mit Flach.“
„Hesse war von 5. bis 29. September 1916 in Monti. Dann war er von Ende März bis Mitte Mai 1917 in Locarno und hat von dort aus Hilde immer wieder besucht. Vom 23. März bis 19. Mai 1918 wohnte er wieder in Monti zusammen mit seinem Sohn Bruno. Hatte dort Besuch von Freunden wie Gustav Gamper, Jakob Flach und anderen. Ja, das Buch von flach über Ascona ist auch eine Quelle.“
„In Locarno trifft Hesse 1916 … Johannes Nohl und den unter dem Pseudonym Klabund lebenden deutschen Schriftsteller Alfred Henschke. … Die Besuche wiederholen sich im März/April 1917 sowie von März bis Juni 1918, zuletzt auch mit seinem Sohn Bruno im Gartenhaus der Neugeboren. Mit Nohl finden analytische Sitzungen statt sowie wieder Treffen mit Klabund.“
„Also zeitgleich verkehrt Hesse zwischen September 1916 und Juni 1918 sowohl mit Gräser wie mit Klabund und Nohl.“
Ab 1918 beginnt Klabund mit der Übertragung chinesischer, japanischer und persischer Dichtungen ins Deutsche. Auch hier ist der Einfluss von Monti zu spüren.
Hermann Müller schreibt dazu:
„… Der Dichter Klabund, der 1917-1919 im Hause der Gräserfreundin Albine Neugeboren wohnt, in Monti sopra Locarno, zeitweise zusammen mit Hermann Hesse, Ernst Bloch und Carl Soffel (und sicher gelegentlich Gusto Gräser begegnend) – Klabund also benennt in einem Gedicht drei Gottmenschen oder Menschgötter: Jesus, Buddha und Laotse. „Laotse aber ist der Größte unter ihnen“. Er schafft – parallel zu Gusto Gräser – eine Nachdichtung von 24 Sprüchen des chinesischen Weisen. Sie erscheinen 1919, gleichzeitig mit Hesses anonymer Flugschrift „Zarathustras Wiederkehr“.
Nicht nur Klabund, der ehemals Kriegsbegeisterte, ist zu einem Jünger des Laotse geworden. Die Weisheit des alten Langohrs beschäftigt auch den Bildhauer-Dichter Hans Arp und den jungen Philosophen Ernst Bloch. Um und durch Gusto Gräser ist Ascona mitten im Weltkrieg eine kleine Insel des Tao geworden.
Jesus, Franziskus, Tolstoi und Laotse sind die „Gottmenschen“, die aufleuchten in der Finsternis dieser „Weltmitternachts-stunde“ (Bloch). Der Tolstoifreund und – Biograph Pavel Birijukoff hält in Ascona (vermutlich auf dem Monte Verità) 1916 eine „Vegetarische Konferenz“ ab, eine Manifestation gegen den Krieg, zusammen mit dem einstigen Diefenbachjünger Magnus Schwantje.
Klabund schreibt 1917 von Monti aus seinen offenen Brief an Kaiser Wilhelm II, in dem er ihn zum Rücktritt auffordert. Zur selben Zeit lässt Hesse seine Antikriegs-Artikel unter dem Pseudonym „Emil Sinclair“ erscheinen, unter dem Namen jenes Mannes, der dem angeklagten Hölderlin hilfreich und treu zur Seite stand.
Ernst Bloch dagegen, ebenfalls ein Mitglied der geistigen Kommune von Monti, wehrt sich gegen „das Amulett des nackten Herzens … weil die bösen Mächte nicht das Tao, nicht die Idee, sondern bloß wieder die Kanonen begreifen“. Es sei nötig, so schreibt er in „Geist der Utopie“, seiner Erstschrift, die er in Monti vollendet, es sei nötig, der Macht „ebenfalls machtgemäß entgegenzutreten, als kategorischer Imperativ mit dem Revolver in der Hand“. Damit sperrt sich Bloch, der sich damals einen „radikalen Pazifisten“ nennt, gegen das Ansinnen seiner pazifistischen Hausgenossen und namentlich Gusto Gräsers. Und dies, obwohl er zu dieser Zeit sich zu franziskanischen Idealen bekennt, zum „Evangelium der Nicht-Gewalt“, und der Meinung ist, es gelte „asiatisch zu werden, in die östliche Welt, in die Welt Tolstois und Buddhas zu ziehen.
Dies eben war das Wollen und Meinen jener kleinen taoistisch-pazifistischen Gemeinde in Monti sopra Locarno. Zu ihr gehörte auch der Biologe Karl Soffel, der mit Klabund und Hildegard Jung zusammen Bücher publizierte.“
Soffel erwarb einige Jahre später das Haus der Gebrüder Gräser auf dem Monte Verità und taufte es auf den Namen seines Lieblingsheiligen: „Casa Francesco“. Im Innern und an der Außenwand des Hauses ließ er Fresken jenes Mannes anbringen, in dem sich der Geist der drei Gottmenschen Jesus, Budhha und Laotse (und der Gusto Gräsers!) in einer traditionellen Weise verbildlichen ließ: Franziskus.
Heute steht dieses Haus vor dem Abriss. Ob damit der letzte sichtbare Rest des „Menschenbunds“ von Monti verschwindet, der „den frommen Progreß der Armut, der Liebe und der Erwartung“ entzünden wollte?
Noch aber gibt es die Tao-Dichtungen von Klabund und Gusto Gräser und die Siddharta-Erzählung von Hermann Hesse. Sie spielt scheinbar in Indien, in Wirklichkeit aber in China und eher noch auf den Bergen über Locarno und Ascona.“
In einem Brief an Romain Rolland am 8. November 1921 schreibt Hermann Hesse:
„… „Und nun zu Lao Tse. Er ist für mich seit vielen Jahren das Weiseste und Tröstlichste, was ich kenne, das Wort Tao bedeutet für mich den Inbegriff jeder Weisheit. Es gibt von seinem kleinen Buch mehrere deutsche Übersetzungen, eine poetisch-freie von Ular, eine noch poetischere, aber völlig freie, vom Original unendlich weit entfernte von Klabund, und manche andere.“
Im Fritz Heyder Verlag erscheint „Mensch, werde wesentlich! LAOTSE – Sprüche, deutsch von Klabund. Im Nachwort heißt es:
„… „Laotse stand auf der Grenzscheide, sah nach vorn, sah zurück, und schrieb das Buch vom Sinn und Sein, von Welt und Wesen in zwei Teilen, genannt das Taoteking, daraus hier einige Sprüche genannt wurden: zum Nachdenken und Nach-leben. Der Mensch soll nicht nach außen, sondern von innen leben.
Wenngleich das Klimatische bei der Entstehung des taoistischen Menschen eine Rolle gespielt haben mag, so scheint mir der Trennungsstrich zwischen östlichem und westlichem Menschen quer durch die Seele der Menschheit zu gehn, die nur durch das himmlische Gesetz der Wage, der Polaritäten, des Gegensatzes zwischen Tag und Nacht, Mann und Weib, Gut und Böse sich in der Schwebe hält.
Der Typ des östlichen und des westlichen Menschen: man kann ihn auch den Menschen des (Sonnen-)Aufgangs und den Menschen des (Sonnen-)Untergangs bezeichnen, ereignet sich überall: in allen Zeiten und Völkern und Klimaten. Der faustische und der apollinische, der sentimentalische und der naive Mensch sind parallele Polaritäten. Das östliche Denken, wie Laotse es denkt, ist ein mythisches, ein magisches Denken, ein Denken an sich: das westliche Denken ist ein rationalistisches, empiristisches Denken, ein Denken um sich, ein Denken zum Zweck.
Der östliche Mensch beruht in sich und hat seinen Sinn nur in sich. Seine Welt ist eine Innenwelt.
Der westliche Mensch ist „außer sich“. Seine Welt ist die Außenwelt. Der östliche Mensch schafft die Welt, der westliche definiert sie. Der westliche ist der Wissenschaftler. Der östliche Mensch ist der Weise, der Helle, der Heilige, der Wesentliche. Zu werden wie er, zu sein wie er: ruft er uns zu; denn wir sind müde des funktionellen, des mechanischen, des rationellen Da-seins und Dort-denkens. Der Relativismen des Wissens und der Wissenschaft. Der unfruchtbaren Dialektik. Des geistigen Krieges aller gegen alle. Die Sehnsucht nach einem wahren Frieden der Seele, dem absoluten Sinn in sich und an sich ist deine tiefste Sehnsucht, Mensch! Drum: werde wesentlich!“
Hermann Müller meint: „wiederum Äußerungen von Klabund, die so ganz der Denkweise von Gräser, Hesse und ihrer Freunde in Monti entsprechen. Er hatte nicht nur taoistische, hatte auch franziskanische Regungen – vielleicht beides in seiner Montizeit?
Augen
hinter dem Wagen stand ein kleiner Käfig
mit zwei halb verhungerten Wölfen.
sie kamen, als sie Franziskus sahen, an das Gitter
und betrachteten ihn mit großen grünen Augen.
Franziskus traten Tränen in die Augen:
meine Brüder, meine wilden Brüder,
und gefangen hinter Stäben!
und der eine Wolf erhob seine Stimme:
Bruder, der du wider Willen oder Wissen
freundlich uns besuchst,
denke oft an uns Gefangene!
auch wir wandelten durch Wald und Weite,
Feld und Freiheit, einst wie du!
hatten Liebe, hatten Leben.
unsere stählern festen Sehnen
trugen flink uns über Moos und Stein.
keinem Feind gelang mit uns der Kampf.
unsere Kinder jubelten,
wenn wir das Futter brachten.
Sonne war in unseren Augen.
unsere Augen waren Sonnen in der Nacht.
aber uns bezwang das Schicksal,
mächtig aus des Menschen Hand gemacht.
viel erbärmliches ist,
doch nichts erbärmlicheres als der Mensch.
unser Hunger ist ihre Sättigung.
unsere Qual ihre Lust.
unser Tod ist ihr Leben.
unsere Liebe ihr Hohn.
1917 erscheint „Dreiklang“, in denen er den Krieg beklagt sowie auf Umsturz der bestehenden Verhältnisse drängt. Darin enthalten „Der Waldmensch“. Und auch hier ist der Einfluss von Monti zu spüren. Fast mythisch – oder schon etwas esoterisch empfinde ich sein Naturverständnis.
In einem Brief schreibt Hermann Müller – und darin beschäftigt ebenfalls das Thema der Natur den Absender:
„… ich muss Ihnen noch besonders danken für den Hinweis auf Hesses „Wanderung“ – dass dieses Buch in Monti entstanden ist. Das war mir seither nicht bewusst. Kein Wunder, dass sich dort – genau wie bei Klabund – sein Lob der Bäume findet. Eine Heiligung geradezu und Feier, wie sonst nirgends vorher oder nachher in seinem Werk. Da schlägt die Baumverehrung Gusto Gräsers durch! Nicht umsonst schreibt dieser ihm Ende 1918 von „Bum des Lebens“. Großgeschrieben! Sicher haben sie sich mehr als einmal über Bäume unterhalten oder vielmehr über den „Weltenbaum“ als kosmisches Symbol, das Urthema Gusto Gräsers.
In der Hesse-Biographie von Gunnar Decker, S.360f.:
Das Bild vom Baum des Lebens bestimmt den Geist der „Wanderung“. Denn hier spricht sich sein religiöses Bekenntnis aus. Es ist das eines Mystikers, der nach Gott auf dem Grund seiner Seele lauscht, der das Jenseits im Diesseits nicht für eine Lüge hält. Es ist ein paradoxes Sprechen, das den Mystiker zeigt – dieses Wissen, dass Gott sich in der Welt zeigt, indem er sich verbirgt. Das Größte offenbart sich immer im Kleinsten – wie umgekehrt. Es ist ein Gott des Wachsens und Vergehens.
Der Mystiker ist auch ein Pantheist. Gott wohnt nicht in der Kirche, nicht in den Dogmen – er ist in allem, was lebt. Er ist die Kraft zur Verwandlung. …
Das Kapitel „Bäume“ in „Wanderung“ gilt darum – zu – Recht als Hesses Glaubensbekenntnis: „Bäume sind für mich immer die eindringlichsten Prediger gewesen. Ich verehre sie, wenn sie in Völkern und Familien leben, in Wäldern und Hainen. Und noch mehr verehre ich sie, wenn sie einzeln stehen. … In ihren Wipfeln rauscht die Welt, ihre Wurzeln ruhen im Unendlichen … Nichts ist heiliger, nichts ist vorbildlicher als ein schöner, starker Baum.“
Offensichtlich malt Hesse hier das Bild vom Baum des Lebens aus, vom „Weltenbaum“, wie Gräser ihn in seiner Dichtung vorgezeichnet hat. Weder Hesse noch Klabund noch Bloch waren Waldmenschen; sie waren Stadtmenschen, Literaten, Büchermenschen. Aber alle drei sprechen in dieser Zeit, ihrer Montizeit, vom Baum, sie heiligen und feiern ihn.“
Ein langer Ausflug hinauf nach Monti in eine völlig andere Welt und in dieser wurde die „Wandlung“ vollzogen – die Wandlung von Klabund und Brunhilde Heberle. Und dann lässt sich auch der Titel des vorherigen Kapitels erklären: Irene – „weil das Frieden bedeutet“.
Matthias Wegner schreibt über diese „Wandlung:
„… Das Bekenntnis zur politischen Wende kommt spät, aber nicht zu spät. Die Radikalität, mit der der vom Kriege ausgesperrte Beobachter in Davos seinen aufgeheizten Chauvinismus hinter sich lässt, bringt wieder den liebevollen und bescheidenen Menschenfreund aus Crossen zum Vorschein, der seine Umgebung durch seine Höflichkeit und seine Sanftmut verzaubert. „Ich bin gespickt mit tausend Messern und müde von dem vielen Tod“, heißt es in einer seiner schönen Übertragungen aus dem chinesischen Schi-King, „Ich will mich unter Bäumen schlafen legen und kein Soldat mehr sein.“
(…) Die Zeilen spiegeln die eigene Transformation zum gereiften Pazifisten. Immer heftiger äußert sich die Verachtung alles Kriegerischen in seinen Texten und Briefen. Zur schärfsten Abrechnung mit deutscher Hybris wird ein offener Brief an den Kaiser, den er am 3. Juni 1917 in der „Neuen Zürcher Zeitung“ veröffentlicht. Der flammende Appell steigert seinen Bekanntheitsgrad in Deutschland erheblich und wird ihn in der Weimarer Republik dem Argwohn der Konservativen, bald auch der Wut der Nationalsozialisten aussetzen. Bei der Linken wird sie ihn eher als Naivling abstempeln.“
Klaus Mann bezeichnet diesen Brief als: „geschrieben „im Fieber … seines weltumspannenden Enthusiasmus“.
Matthias Wegner weiter:
„… Es braucht keine Bevormundung mehr. Es hat sie satt.“ Fast gleichzeitig formuliert er in Rene Schickeles Zeitschrift „Die weißen Blätter“ die Quintessenz seiner tiefen Reue: „Die Desorganisation der Geistigen ist mit an diesem Krieg schuld. Wir alle sind an diesem Krieg schuld, weil wir ihn kommen sahen und nichts dagegen taten und, als er ausbrach, uns über seine wahren Wege täuschen ließen.“
Endlich weichen die kriegerische Schwärmerei und der blinde Patriotismus aus seiner Dichtung, um wieder ganz dem Individuellen, oft geradezu Privaten, Platz zu machen. Alfred Henschke-Klabund wird fortan in Deutschland ein Einzelgänger zwischen den politischen und ästhetischen Fronten sein und alle Ideologien von links bis rechts verspotten. Aus dem virtuos, aber unbedenklich drauflosschreibenden Jüngling ist ein junger Mann mit festen ethischen und humanen Grundsätzen geworden. Nicht zuletzt seine Begegnung mit der Zürcher Dada-Szene, die er von Davos aus für einige Tage in Augenschein nimmt, besiegelt die Anti-Kriegs-Entschlossenheit. Er tritt selbst mit einigen frechen Gedichten im Zürcher „Cabaret Voltaire“» auf, aber der Siebenundzwanzigjährige ist zu sehr Außenseiter und Einzelgänger, als dass es zu mehr als einem kurzen, vergnügten Flirt mit den Dadaisten kommen könnte.“
Verschiedentlich ist der Brief am Kaiser Wilhelm II. aufgetaucht – er hat – auch schon beschrieben – gewaltigen Wirbel ausgelöst. Der Wortlaut:
Offener Brief an Kaiser Wilhelm II.
Erschienen am 3.6.1917 in der „Neuen Züricher Zeitung“
Majestät!
Mehr als Sie in Ihrer politischen und menschlichen Vereinsamung und Einsamkeit ahnen: flehend, werbend, fordernd sind die Blicke der ganzen Welt auf Sie gerichtet. Mag die Ihnen feindliche Presse noch immer in Ihnen den Vandalen und Barbaren an die Wand malen, mögen unfähige und fade Diplomaten und Staatsmänner, die besser als Staatskrüppel gekennzeichnet wären, noch immer den irren Plan hegen, den Teufel Militarismus durch den Beelzebub Imperialismus, den Unterteufel Mechanismus durch den Oberteufel Rationalismus auszutreiben: in allen Ländern blicken die Augen der Menschen, die Menschen geblieben sind, blicken auch die Augen der Muschiks, Poilus, Tommys, Hecht- und Feldgrauen und Olivgrünen auf Sie. Denn Sie, Majestät, haben es in der Hand, der Welt den baldigen Frieden zu geben…
Sie berufen sich darauf, dass Sie im November vorigen Jahres schon einmal bereit waren „zum Frieden“. In der Tat: Sie streckten dem Feind die Hand zum Frieden hin – aber die Hand war zur Faust gekrampft und war keine menschliche, blutdurchpulste Hand. Es war die eiserne Faust des Götz von Berlichingen.
Majestät: erkennen Sie die Zeit! In ihr: die Blüte der Ewigkeit! Erkennen Sie, dass alle, gleichviel welche, Machtideen in diesem Kriege Schiffbruch gelitten haben. Die Macht ist ein tönerner Götze, wenn Geist, Güte und Gerechtigkeit nicht mit ihr verbunden. Endgültig muss es vorbei sein mit den Prinzipien der Macht und ihren „Untergebenen“: Herrschsucht, Hoffart, Polizeigeist, Götzendienerei, Byzantinismus, Mammonismus … (welch letztere beide immer parasitär nebeneinander wuchern).
Majestät, Ihre Osterbotschaft hat die Herzen der Deutschen erhellt und die Stirnen mit einem schwachen Strahle zukünftigen Lichtes beglänzt. Begreifen Sie aber, dass man zu einem Volk, das frei sein will und das man ehrt und achtet – als Freier zu den Freien sprechen sollte. Sie aber sprachen freiherrlich. Noch immer spukt in den öffentlichen und geheimen Kabinetten Berlins das „Untertanenprinzip“. Und Sie waren schlecht beraten, als Sie die Osterbotschaft auf den Ton der Gnade stimmten. Rechte, Majestät, werden nicht verliehen. Sie sind ursprünglich da, sind wesentlich und existieren.
Geben Sie auf den Glauben an ein Gottesgnadentum und wandeln Sie menschlich unter Menschen. Legen Sie ab den Purpur der Einzigkeit und hüllen Sie sich in den Mantel der Vielheit: der Bruderliebe. Errichten Sie das wahre Volkskönigtum der Hohenzollern. Machen Sie sich frei von den Ahnen; frei von dem Wahne, als könnten Sie sich auf eine kleine kapitalistisch-junkerliche Sippe, die Beamtentum und oberes Offizierskorps aus sich „rekrutiert“, stützen, die paukend und trompetend den Schmerzensschrei des Volkes übertönt. Die in Wahrheit den Thron zerspellen und den geblendeten Simson so lange peinigen wird, bis er einst die Säulen des Staates stürzt.
Jetzt, Majestät, sind Sie ein Schattenkaiser! Denn Sie stehen im Schatten der autokratischen Barone und plutokratischen Munitionsfabrikanten. Seien Sie Sie selbst: offenbaren Sie sich als erlauchter Christ, indem Sie dem Volk, dessen Diener Sie sein wollen (vergessen sei Ihre Inschrift in das Münchner Goldene Buch: regis voluntas suprema lex: Sie büßen sie willig…), aus einem übervollen Herzen der Liebe heraus die Freiheit seines Willens und seiner Seele schenken. Freiwillig schenken.
Als Gnade nicht: als von einer mit dem Volke gleichen Stufe der Rechtlichkeit und Genossenschaft. Des wechselseitigen Vertrauens. Der Brüderlichkeit. Was für ein unbeschreiblicher himmlischer Jubel würde durch die Lande gehen, wenn es hieße: Wilhelm II. verzichtet auf das veraltete, unheilvolle, unmenschliche Recht, allein unfehlbar über Krieg und Friedenau entscheiden.
Er bedarf der Mitarbeit, der Zustimmung des Volkes bei solchen, das Volkswohl betreffenden, schwerwiegendsten Entschlüssen. Er will nicht mehr der Herr, er will der Diener der deutschen Seele sein. Das Heer werde künftig vereidigt auf den Namen des Vaterlandes. Denn es ist ein Volksheer. Unverzüglich sollen Abgeordnetenhaus und Reichstag zusammentreten, die Umgestaltung der Verfassung vorzubereiten: dass unter dem gleichen, direkten, allgemeinen Proporzwahlrecht, in welchem die Majoritäten nicht mehr vergewaltigt, die Minoritäten nicht unterdrückt werden können, ein parlamentarisch und demokratisch regiertes Reich erstehe, in dem die Minister vom Volkswillen ernannt und getragen und vor ihm und nicht vor einem einzelnen mehr verantwortlich sind.
Denn das deutsche Volk ist in Jahren unsagbaren Leidens gereift und den Kinderschuhen entwachsen: es braucht keine Bevormundung mehr. Es hat sie satt.
Majestät! Lastet das Gefühl der grenzenlosen Verantwortlichkeit in schlaflosen Nächten nicht manchmal schwer auf Ihnen? Wie leicht würden Sie die Bürde erfinden, wenn das Volk selbst Ihnen hülfe, sie zu tragen, teilhabend an der Verantwortung, weil teilhabend an der Regierung.
Majestät, Sie haben es in der Hand, den Frieden baldigst zu beschwören. Der Friede eines solchen Krieges kann nicht geschlossen werden: zwischen den vom Volk gewählten und vor dem .Volk verantwortlichen Leitern freiheitlich regierter Länder einerseits und zwischen einem einzig autoritären Manne anderseits, der verfassungsmäßig der einzig befugte zum Friedensschluss ist und seine Macht nicht direkt vom Volk, sondern von der übernatürlichen, übermenschlichen Idee des Gottesgnadentums empfing. Die neue russische Regierung und Wilson in Amerika – die friedensfreundlichsten Ihrer Feinde -, sie warten nur darauf, dass Sie den Weg zur Freiheit Ihres Volkes beschreiten, der es ihnen ermöglichen würde, die Stimme dieses Volkes zu hören und mit seinen Erwählten zu verhandeln.
Denn darauf kommt es an: eine Basis zu finden, wo Mensch zum Menschen sprechen kann. Nicht: Fürst zum Untertanen. Nicht: Herr zum Diener. Nicht: Feind mehr zum Feinde.
Republik ist nur ein Wort: Wilson und Kerenski denken nicht daran, sie für Deutschland zu propagieren. Sie wollen nur mit einer vor dem Volke verantwortlichen Regierung Frieden schließen: einen Frieden, den das ganze Volk vertritt.
Die innerpolitische Frage in Deutschland – erkennen Sie das, Majestät! – ist die wichtigste, um zu einem nahen Frieden zu gelangen. Bei weitem wichtiger als irgendein wahrscheinlicher oder unwahrscheinlicher Sieg im Westen, den die deutsche Heeresleitung vielleicht noch immer für möglich hält. Denn in einem künftigen Weltreich – es wird nur mehr einen Imperialismus der Menschlichkeit geben – wird es nicht mehr ankommen auf militärische Erfolge. Das militärische Zeitalter, in dem es noch möglich war, Kriege durch Waffen zu entscheiden, geht seinem Ende entgegen. Schon heute kämpfen nicht mehr die Heere, sondern die Völker gegeneinander.
Wichtiger als Soldatenmacht ist Wirtschaftsmacht: Kulturmacht.
Seien Sie der erste Fürst, der freiwillig auf seine fiktiven Rechte verzichtet und sich dem Areopag der Menschenrechte beugt. Ihr Name wird dann als wahrhaft groß in den neuen Büchern der Geschichte genannt werden, in denen man nicht mehr die Koalitions-, sondern die Geistesgeschichte der Menschheit schreiben wird. Dann werden Sie das Volkskönigtum der Hohenzollern auf Felsen gründen; während es jetzt nur mehr ein Wolkengebilde ist, das, wenn Sie die Zeit nicht erkennen, wie bald im steigenden Sturm verflogen sein wird.
Ich bin Euer Majestät ergebenster Klabund
In den Jahren 1914 – 1918 erschienen – wie es Guido von Kaulla bezeichnete – als „schnöselige(s) Geschreibe“:
1914 Soldatenlieder
1915 Der Marketenderwagen
1916: Erweiterte Neuauflage: „Dragoner und Husaren. Die Soldatenlieder“. Müller, München.
Alfred Georg Hermann Henschke – Der Spion aus Crossen?
Den folgenden Artikel von Markus Pöhlmann übernehme ich mit Genehmigung des Autors und des Verlages ungekürzt. Als Verwandter möchte ich keine Meinung dazu schreiben, obwohl ich eine solche habe. Das heißt nicht, dass ich diesen Artikel falsch finde, im Gegenteil. Aber ich hoffe, mit ihm eine Diskussion auszulösen, die nicht nur Klabund dient, sondern eben auch die politische Situation einbezieht, in die Menschen geraten können und was diese dann daraus machen.
Einen kleinen Hinweis auf das letzte Kapitel und darin besonders die Beschreibung seines Aufenthaltes in Locarno Monti, also in der Villa Neugeboren, will ich aber dennoch einfügen.
Der Grenzgänger. Der Dichter Klabund als Propagandist und V-Mann im Ersten Weltkrieg
Zu den eindrücklichsten politischen Zeugnissen deutscher Schriftsteller im Ersten Weltkrieg zählt zweifellos der Offene Brief des Dichters Klabund an Wilhelm II. vom 3. Juni 1917. In der „Neuen Zürcher Zeitung“ rief der aufgrund eines Tuberkulose-Leidens in der neutralen Schweiz lebende Schriftsteller den deutschen Kaiser auf dem Höhepunkt des industrialisierten Massenkrieges mit pathetischen Worten zum Thronverzicht auf, um den Weg zu einem Friedensschluss frei zu machen: „Geben Sie auf den Glauben an ein Gottesgnadentum und wandeln Sie menschlich unter Menschen. Legen Sie ab den Purpur der Einzigkeit und hüllen Sie sich in den Mantel der Vielheit: der Bruderliebe.“
Es ist vor allem dieses Dokument, das den Dichter zu einer moralischen Instanz unter den Intellektuellen werden ließ. Wer sich heute mit Klabund befasst, findet ihn geadelt als „Pazifisten im 1. Weltkrieg“. Schon für ein im ersten Kriegsjahr entstandenes Werk – von dem noch die Rede sein soll – konstatiert die jüngste Werkedition eine „prinzipielle Skepsis“ gegenüber dem Weltkrieg. Guido von Kaulla, sein Biograf, sieht die Gedichte von 1915 „eindeutig defensiv gegen den Krieg“ eingestellt. Der Brockhaus stellt fest, dass der Dichter seiner „stark erotisch – und pazifistisch-sozialistischen Themen wegen häufig angegriffen wurde.* Die Strahlkraft des pazifistischen Idealismus Klabunds geht so weit, dass ihn Walther Killy noch für die Nachkriegszeit als Angeklagten in einem Prozess „wegen Vaterlandsverrat u. Majestätsbeleidigung“ sieht. Ein anderer Biograf resümiert: „Sein Leben verlief sprunghaft, doch ohne Geheimnisse. Er sorgte dafür, dass alles sichtbar wurde, die Lichter und die Schatten.“ Und bedürfte es noch weiterer Belege, so ließe sich sein Schulfreund und Dichterkollege Gottfried Benn ins Feld führen, der Klabund mit seiner Totenrede von 1928 ein Denkmal gesetzt hat: „Gegen eine Welt der Nützlichkeit und des Opportunismus habe der früh Verstorbene „nichts als seinen Glauben und sein Herz getragen.“
Klabund war zweifelsohne ein an seinem Körper und der vom Krieg zerrissenen Welt Leidender. Doch war er auch ein öffentlicher Mensch „ohne Geheimnisse“, ein pazifistischer Streiter gegen eine „Welt der Nützlichkeit und des Opportunismus“? Derart eindeutige Urteile fordern zur kritischen Prüfung heraus. Deshalb soll im Folgenden versucht werden, zunächst einmal die sich in seinen literarischen Werken widerspiegelnde Haltung zum Krieg differenzierter zu fassen. Anschließend wird, auf neuere Quellenfunde bauend, Klabunds politisches Handeln während des Krieges schärfer in den Blick genommen. Am Ende wird die Erkenntnis stehen, dass der Künstler literarisch wie politisch-moralisch sehr viel ambivalenter zu sehen ist, als dies bislang geschah.
Die Kriegsdichtung
Den Kriegsausbruch erlebte der junge Dichter im Sommer 1914 in München, wo er in der Schwabinger Boheme Fuß gefasst hatte. Unter dem Eindruck der internationalen Krisensituation und des sich mit dem Kriegsausbruch Anfang August Bahn brechenden nationalistischen Eifers reagierte er zunächst einmal höchst konformistisch, nämlich mit einer Meldung als Freiwilliger zur Kavallerie. Dort wurde Klabund aber aufgrund seiner schlechten gesundheitlichen Konstitution zunächst zurückgestellt (und im Januar 1916 endgültig ausgemustert). Belege über eine kritische Position gegenüber der Rolle des Kaiserreichs am Ausbruch des Krieges oder gegenüber dem Krieg als Instrument der Politik sucht man vergebens. Ganz im Gegenteil: Als Reaktion auf die Ablehnung begann Klabund für den Fall einer späteren Einberufung mit privatem Reit- und Schießunterricht. Im Hinblick auf diese frühe Kriegsbegeisterung offenbart eine Einlassung Klabunds aus der unmittelbaren Nachkriegszeit dann auch Ehrlichkeit gegenüber der eigenen Biografie: „Der Krieg überfallt ihn und fasziniert ihn, wie eine Schlange einen Vogel fasziniert. Er meldet sich als Kriegsfreiwilliger, wird seiner Krankheit wegen abgewiesen. Er glaubt an ein „überfallenes Deutschland.“
Die Interpretation des Krieges als eines ästhetisch-künstlerisch faszinierenden Phänomens und das subjektive Empfinden, dass das Reich in einem Verteidigungskrieg stand, waren 1914 auch unter den Künstlern und Intellektuellen geradezu Topoi der Kriegslegitimation. Den Schriftstellerkollegen, die jetzt tatsächlich Soldaten geworden waren, fehlte im weiteren Verlauf meist die Zeit zur literarischen Reflexion; in vielen Fällen brachte auch die eigene Erfahrung des Krieges sehr bald ein Erschütterung ihrer positiven Erwartungshaltung mit sich. Für Klabunds schriftstellerische Entwicklung aber war entscheidend, dass die Freistellung vom Militärdienst – die im Hinblick auf die gesellschaftliche Erwartung an die patriotische Haltung und auch die Geschlechterrolle zunächst einmal ein einschneidendes Erlebnis der Zurücksetzung bedeutete – ihm jetzt die Möglichkeit bot, sich als Dichter am literarischen Verteidigungskampf für ein „überfallenes Deutschland“ zu beteiligen. Die Beweggründe für sein Engagement waren also ebenso zeitgemäß, wie sie kompensatorisch motiviert waren. Die hierbei zum Einsatz gebrachten künstlerischen Mittel waren es allerdings nur zum Teil.
Hierfür soll zunächst die Kriegslyrik untersucht werden, die sich in den Gedichtbänden „Soldatenlieder“ (1914), »Kleines Bilderbuch vom Krieg“ (1914) und „Dragoner und Husaren. Die Soldatenlieder von Klabund“ (1916) gesammelt findet. Dabei bestechen die „Soldatenlieder“ durch ihren konventionellen patriotischen Gehalt und die sich an der Gebrauchslyrik orientierende Form. So etwa die erste Strophe aus dem „Lied der Kriegsfreiwilligen“:
Brüder, laßt uns Arm in Arm
In den Kampf marschieren!
Schlägt der Trommler schon Alarm
Fremdesten Quartieren.
West- und östlich glüht der Brand,
Sternen¬schrift im Dunkeln
Läßt die Worte funkeln:
Freies deutsches Land!
Hebt die Hand empor
Kriegsfreiwillige vor !
Es finden sich auch humoristische Gedichte wie:
Wir Pioniere bauen schön die Brücken,
Damit Soldaten [sie] und Kanone drüberrücken.
Wir schleppen Balken viel und haben großen Schweiß.
Des Kaisers Dank ist unser Preis. – Valeri.
Gleichwohl wäre es irreführend, dieser Art von Humor eine ironisierende und damit den Krieg oder das Militär in Frage stellende Konnotation zuschreiben zu wollen. Vielmehr frönt der Dichter einem frivolen Landsknechtshumor, wobei der Krieg als naturgegebenes Gemeinschaftserlebnis präsentiert wird. In seiner scharfsinnigen Apologie des Soldatenliedes nahm Klabund dieses gegen die philologische Kritik in Schutz und wies auf den propagandistischen Wert und den „inneren Geist des Deutschtums“ der Lieder hin.
Neben der humoristischen Verharmlosung lässt sich aber bereits in den „Soldatenliedern“ eine Tendenz zur Ästhetisierung der Gewalt des modernen Krieges nachweisen. So z. B. in „Der Flieger“:
Der Motor singt…
Den Hebel hoch! daß eine Bombe
In feiger Feinde Katakombe
Verheerend springt.“
Doch schon im „Kleinen Bilderbuch vom Krieg“ begannen sich Formen und Inhalte zu wandeln. So unterscheidet Ralf Georg Bogner die konventionellen „Soldatenlieder“ von den nun „hochartifiziellen, stark expressionistisch geprägten Gedichte[n] mit ihrer Thematisierung von Gewalt, menschlichen Extremsituationen und Tod“. In dem Gedicht „Franktireur“ liest sich diese Wandlung wie folgt:
Weit steht der Himmel offen,
Und leuchtet Stern am Sterne.
Ich häng an einer Laterne.
Besoffen.
Ob eine derartige künstlerische Interpretation der massenweisen Hinrichtung belgischer und französischer Zivilisten durch die deutsche Armee als „prinzipielle Skepsis gegenüber dem Ersten Weltkrieg“ zu werten ist, scheint mehr als fraglich. Der weitere Kriegsverlauf hat dann auch, urteilt man nach seiner literarischen Produktion, Klabunds Haltung zum Krieg nicht substanziell verändert. Noch im Sammelband „Dragoner und Husaren“ (1916) engagierte er sich im Dienste der antirussischen Propaganda, die – im Interesse der Akzeptanz dieser Propaganda im deutschen sozialdemokratischen Milieu – auf den Zaren als Despoten fokussierte. In „Akim Akimitsch “ werden die Opfer dieser Despotie in der Figur eines Bauern personifiziert, dem Klabund zuruft:
Akim Akimitsch,
Darfst nicht mehr säen und schaffen,
Väterchen ruft zu den Waffen,
Akim Akimitsch.
Akim Akimitsch,
Was hat der Krieg für einen Zweck?
Eure Stiefel sind papierner Dreck,
Akim Akimitsch.
Akim Akimitsch,
Eure Großfürsten paschen
Alle Kontribution in ihre Taschen,
Akim Akimitsch.
Akim Akimitsch,
Du wirst lesen lernen
In dunklen Büchern und hellen Sternen…
Akim Akimitsch…
Akim Akimitsch,
In der Revolution
Anno Sechs erwachtest du einmal schon…
Akim Akimitsch…
Akim Akimitsch,
An deinem Blut saugen die fetten Egel
Der Romanows. Nimm deinen Dreschflegel,
Akim Akimitsch – schlag sie tot!
Das lyrische Spiel des Daheimgebliebenen mit den Atavismen des Krieges findet schließlich seinen zweifelhaften Höhepunkt in dem Gedicht „Feind Welt“:
Pardon will ich nicht geben:
Kraft wächst mir tausendfach
Aus einer Wunde nach.
Mit Blut düng ich mein Leben!
Dazu kam im Kriegsjahr 1914 noch eine Reihe von patriotischen Theaterschwänken. Auch in seiner inhaltlich wie literarisch weit anspruchsvolleren Nachdichtung chinesischer Kriegslyrik „Dumpfe Trommeln und berauschender Gong“ finden wir Klabund 1915 als einen auf die Konjunktur des Themas vertrauenden Literaten. Selbst die Prosa zeigt ihn dem Thema Krieg in ganz unpazifistischer Manier verbunden, namentlich 1916 bei seinem Roman „Moreau“. Bei der literaturgeschichtlichen Einordnung des Romans über den populären Troupier der französischen Revolutionsarmee und späteren Gegenspieler Napoleons ist die Werkedition bemüht, den propagandistischen Gehalt des Textes zu relativieren: Der Roman vermochte demnach „kein identifikationsstiftendes soldatisches Idealbild als Beitrag zur „Kriegspropaganda zu leisten, eher ein antifranzösisches Zerrbild.“ Die Frage aber, ob nicht gerade das von Klabund geschaffene „antifranzösische Zerrbild“ im Ersten Weltkrieg propagandistischen Zielen dienen konnte, wird ausgeklammert Ein weiterer Beleg für Klabunds antifranzösische Einstellung findet sich noch im Oktober 1916 im „Berliner Tageblatt“, wo er, den französischen Chauvinismus geißelnd, von einer „verhängnisvollen Hinneigung des deutschen Intellektuellen zu Frankreich“ spricht.
Während des deutschen Einmarsches in Belgien und Frankreich war es im Sommer 1914 in 5-6000 Fällen zu Tötungen von Zivilisten gekommen, denen die deutschen Truppen die völkerrechtlich illegale Teilnahme am Kampf vorwarfen. In der großen Mehrzahl der Fälle kann heute davon ausgegangen werden, dass die Vorwürfe unbegründet waren. Die Figur des hinterhältigen, bei Klabund zusätzlich alkoholisierten Freischärlers war bereits 1914 ein Topos in der deutschen Kriegskarikatur gewesen.
Betrachtet man das literarische Schaffen Klabunds aus den Kriegsjahren 1914 bis 1916, so lässt sich als Zwischenergebnis formulieren, dass die Masse seiner literarischen Produktion tatsächlich als dezidiert kriegsbejahende Gelegenheitslyrik zu definieren ist, die sich in den Dienst der deutschen Propaganda stellte und Beispiele von ausgesprochener Hasslyrik aufweist. Vor dem Hintergrund der im Folgenden zu schildernden politischen Verstrickungen Klabunds gewinnt die Frage nach der Einordnung dieser Kriegslyrik an zusätzlicher Brisanz.
Nachrichtendienstliche Tätigkeit
Die Abwendung Klabunds von der aktiven Kriegspropaganda ergab sich in der Folge seines Umzugs in die Schweiz, wo er sich Linderung für sein Lungenleiden erhoffte. Im Februar 1916 war er in ein Sanatorium in Davos gezogen, wo er auch seine aus Passau stammende spätere Frau Brunhilde („Irene“) Heberle kennen lernte. Diese hat wohl seinen Gesinnungswandel angeregt bzw. gefördert. Dem Aufenthalt in Davos schloss sich ein Umzug nach Zürich an, einem damaligen Zentrum der pazifistischen und sozialistischen Exilliteratur.
Auch wenn Klabund nicht als Exilant nach Zürich gekommen war, nahm er doch regen Anteil am dortigen literarischen und politischen Leben. In den von Rene Schickele herausgegebenen „Weißen Blättern“ sollte er 1918 mit der „Bußpredigt* seine radikale Wandlung zum Pazifisten publizieren. In dieselbe Zeit fiel auch der erwähnte Offene Brief an Kaiser Wilhelm II. in der „Neuen Zürcher Zeitung“ vom 3. Juli 1917. Dieser stellte ein bemerkenswertes publizistisches Dokument dar. Gekleidet in servile höfische Rhetorik und Bezug nehmend auf das Friedensangebot der Mittelmächte von Weihnachten 1916 sowie Wilhelms „Osterbotschaft“ vom 7. April 1917 bat Klabund den deutschen Kaiser im Interesse eines Friedensschlusses abzudanken. Politisch war diese Forderung der Abdankung als Vorbedingung für einen Friedensschluss insofern interessant, als sie bis dahin selbst von der gegnerischen Allianz noch gar nicht erhoben worden war. Im Zentrum der Klabundschen Argumentation stand also weniger die Friedensfrage, sondern die Verfassungsfrage. Durch die freiwillige Abdankung würde sich in Deutschland eine Art zweites „Augusterlebnis“ einstellen, unter dessen Eindruck das Wahlrecht modernisiert, die Verfassung demokratisiert, das Heer auf das Vaterland vereidigt und eine dem Volke verantwortliche Regierung den Frieden herbeiführen würde. Wilhelm bliebe hierbei die angenehme Aufgabe, für seine freiwillige Entsagung die Dankbarkeit des Volkes entgegenzunehmen: „Dann werden Sie das Volkskönigtum der Hohenzollern auf Felsen gründen“, endet der Brief, „während es jetzt nur mehr ein Wolkengebilde ist, das, wenn Sie die Zeit nicht erkennen, wie bald im steigenden Sturm verflogen sein wird.“ In Deutschland erregte der Offene Brief verständlicherweise einiges Aufsehen und machte die Zensurbehörden und die Politische Polizei auf den bis dahin patriotischen Kriegslyriker aufmerksam. Anlässlich eines Besuchs in Passau im Juli/August bei der Familie seiner Braut Brunhilde Heberle wurde Klabund festgenommen – kurz darauf aber wieder ohne Anklage freigelassen. Wie kam das?
Erklärung liefern hier bislang unbekannte Quellenbestände im Bayerischen Kriegsarchiv in München. Aus diesen erschließt sich, dass die überraschende Freilassung des Dichters auf Veranlassung des militärischen Nachrichtendienstes erfolgte, für den der kürzlich erst zum Radikalpazifisten konvertierte Klabund nämlich als Vertrauensmann tätig war. Das Schlüsseldokument bildet dabei ein Schreiben des Leiters der Kriegsnachrichtenstelle Lindau, Graf Berchem, an das Stellvertretende Generalkommando des I. bayerischen Armeekorps in München vom 3. April 1918. Darin räumte der Leiter der Lindauer Residentur der für Nachrichtendienst, Spionageabwehr, Presse und Propaganda zuständigen Generalstabsabteilung Illb ein, dass Klabund für Illb als V-Mann tätig sei und „fortlaufend befriedigend im militärischen Nachrichtendienst in der Schweiz“ arbeite. Im Hinblick auf den zu seiner Verhaftung führenden Offenen Brief ist Klabunds Aussage gegenüber seinem Führungsoffizier bemerkenswert: Von diesem deshalb zur Rede gestellt, gab der V-Mann an, der Artikel sei nicht von ihm verfasst, sondern ihm von unbekannter Seite „untergeschoben“ worden.
Schon aus der Kenntnis um die Organisation und die Arbeitsweise von Illb lassen sich nun Rückschlüsse auf Klabunds wahrscheinliche und mögliche Verwendung ziehen. Dafür ist zunächst die Arbeit der erwähnten Kriegsnachrichtenstelle Lindau zu untersuchen. Die Kriegsnachrichtenstellen waren im Laufe des Krieges entlang den deutschen Grenzen als Residenturen der Militärspionage mit regionalen Zuständigkeiten errichtet worden. So wurde von Lindau aus die Spionage gegen Italien organisiert, und zwar über die Schweiz. Die amtliche Geschichte des deutschen Nachrichtendienstes im Ersten Weltkrieg beschrieb die Aufgabe der Kriegsnachrichtenstelle Lindau wie folgt: „Den Kern der Organisation bildeten zahlreiche Vertrauensleute, die, in verschiedenen Schweizer Städten sitzend, als vorgeschobene Posten durch Entsendung von Erkundern oder Ausnutzung von aus den Feindländern kommenden Neutralen Nachrichtenmaterial in großer Menge einbrachten.“
Aufgrund ihrer Neutralitätspolitik und der geostrategischen Lage kam der Schweiz für die Nachrichtendienste aller Seiten eine eminente Rolle zu. Die Spionage gegen das neutrale Land selbst war zwar offiziell nicht Aufgabe der Lindauer Stelle, trotzdem kann es als gesichert gelten, dass die Kriegsnachrichtenstelle im Laufe ihrer Arbeit auch nachrichtendienstliche Erkenntnisse über die Schweiz gewann. Dass Klabund selbst militärische Spionage betrieben hat, scheint aufgrund seiner diesbezüglich unzureichenden Qualifikation unwahrscheinlich. Wahrscheinlich aber ist, dass er Mitteilungen zur politischen Entwicklung und zur öffentlichen Meinung in der Schweiz machte. Gesichert ist, dass Klabund als Kurier zwischen Agenten in der Schweiz und der Lindauer Kriegsnachrichtenstelle fungierte. So saß die wichtigste Lindauer Quelle – der bislang nicht identifizierte Agent „V. 32″ – in Locarno, wo auch Klabund längere Zeit Aufenthalt genommen hatte. Ein wichtiger Treffpunkt dürfte allerdings auch Davos gewesen sein, hatten doch die kriegsteilnehmenden Staaten in großer Zahl invalide Kriegsgefangene aus humanitären Gründen in die Internierung in der Schweiz entlassen. So waren die Hotels und Sanatorien im Raum Davos von einer großen Zahl Internierter belegt, und Kontakte Klabunds mit den Internierten sind erwiesen.
Als noch brisanter wäre jedoch eine nachrichtendienstliche Tätigkeit Klabunds in der Zürcher Emigrantenszene zu bewerten. Hierfür verfügte der seit dem Offenen Brief als Pazifist und Monarchiegegner bekannte Schriftsteiler in der Tat über eine geeignete Legende und auch über die erforderlichen Kontakte. Dabei muss sich eine Spitzeltätigkeit nicht nur auf die pazifistischen Literatenzirkel beschränkt haben. Galt doch das besondere Augenmerk des deutschen Nachrichtendienstes den in der Schweiz lebenden russischen Bolschewiki, namentlich Lenin, der im April 1917 mithilfe deutscher Stellen von Zürich über das Reichsgebiet nach Petrograd transportiert wurde.
Die Bereitschaft zur nachrichtendienstlichen Tätigkeit Klabunds lässt sich nur durch ein Motivbündel erklären: Ein Rolle kann der als Ehrverlust wahrgenommene Ausschluss vom Militärdienst gespielt haben; durch die Arbeit für Illb eröffnete sich für den, wie wir gesehen haben, durchaus patriotisch gesinnten Klabund die Möglichkeit, eine Art Ersatzdienst am Vaterland zu leisten. Der für die Zeit in Locarno nachweisbare Hang zum Glücksspiel lässt ein weiteres klassisches, wenngleich ökonomisch begründetes Motiv für eine nachrichtendienstliche Verpflichtung als möglich erscheinen. Entscheidend aber war sicher, dass Klabund aufgrund seiner Krankheit darauf angewiesen war, regelmäßig in die Schweiz reisen zu können. Die Erteilung eines Visums wurde so für ihn zu einem überlebenswichtigen Privileg, das ihn erpressbar machte.
Ob Klabund als Agent in der Emigrantenszene arbeitete, dafür gibt es allerdings bislang keinerlei quellenmäßige Belege. Seine Vertrauenswürdigkeit war in der Szene selbst nicht ungeteilt. So kritisierte sein Dichterkollege Ludwig Rubiner ihn noch nach dem Wilhelm-Brief als einen „Geistesmetzger vom August 1914″ und politischen „Konjunkturbuben“. Auch die Tagebuchaufzeichnungen von Harry Graf von Kessler, der zum damaligen Zeitpunkt an der Berner Gesandtschaft die Kulturpropaganda koordinierte, belegen, dass der demonstrativ zur Schau gestellte Pazifismus Klabunds nicht bei allen Emigranten auf Anerkennung stieg. So äußerte sich Paul Cassirer im Gespräch mit Kessler Anfang Juni 1918, dass er Klabund zu der Sorte von Leuten zähle, „deren Pazifismus darin bestehe, dass sie ihre Person in den Vordergrund stellten und die Welt zum Zeugen anriefen, wie unbequem der Krieg für sie sei“ – was wiederum Kessler zu dem Urteil veranlasste, dass auch er Klabunds „persönliche Bequemlichkeits-Opposition (für) verächtlich und lächerlich“ halte.
Klabunds Tätigkeit für Illb muss daher nicht zwingend nur im engeren Bereich der Spionage bzw. der Unterwanderung von Dissidentenkreisen gesucht werden. Seine persönliche Qualifikation lag natürlich vor allem in der Publizistik. Als parteipolitisch nicht festgelegter Linksintellektueller und bekennender Pazifist eignete er sich für Illb auch zur Einflussnahme auf die öffentliche Meinung in Deutschland und der Schweiz. Äußerte er sich auch kritisch zur Regierung und zum monarchischen System, so blieb er doch der „deutschen Sache“ weiterhin eng verbunden. Anlässlich des Abbruchs der diplomatischen Beziehungen zwischen dem Reich und den USA nach der Erklärung des uneingeschränkten U-Bootkrieges schrieb er noch am 5. Februar 1917:
In dieser Stunde, die uns steinern bettet
Deutschland, sink ich in deinen Schoß.
Die Liebe, die uns schwärmend kettet,
ist grenzenlos. […] Das böseste von deinen Kindern,
O Deutschland weiß:
Sie wollen dich zerstückeln und vermindern
Um deiner Freiheit Preis.
Gleichwohl galt er nach seinem Offenen Brief in nationalen und Sicherheitskreisen in Deutschland als Defätist. So wurde er im September 1917 anlässlich eines Besuchs in Passau persönlich angegangen, wie sich aus der Denunziation des Chefredakteurs der „Passauer Zeitung“ erschließt. Dieser „meldete“ dem Stellvertretenden Generalkommando in München seine Begegnung mit dem Schriftsteller, nachdem er kurz zuvor im Rahmen einer regionalen Presseeinweisung der Behörde über Klabunds Wilhelm-Brief instruiert worden war:
„Am Sonntag hatte ich das zweifelhafte Vergnügen, Herrn Klabund hier begrüßen zu müssen. Er ist militärfrei, anscheinend aber gesund genug, in Deutschland militärische Schreiberdienste zu tun. Er protzt mit seinem Wohlbefinden! Ob er sich die goldenen Armbänder und Ringe, die er auffallend zu tragen beliebt, in der Schweiz erschrieben hat, während seine Stammesgenossen das Gold zur Reichsbank bringen, weiß ich ebenso wenig, als ob die manikürten [sie] Finger nicht besser in Deutschland als in der Schweiz beaufsichtigt werden könnten. Daß die Münchner bzw. Passauer Begleiterinnen [sie] des Herrn Klabund noch behaupten, es geschähe ihm bei uns nur nichts, sondern .die Polizei und Behörden kriechen vor ihm‘ macht den Fall Klabund […] noch wunderlicher! Ja, der deutsche Michel! Von hier aus geht Herr Klabund für kurze Zeit in seinen Münchner Anbeterkreis.“
1918 wuchs der politische Druck weiter. Die Anklage wegen Majestätsbeleidigung war im Vorjahr nur durch die Intervention von Illb verhindert worden, was seine Abhängigkeit von dem Dienst fraglos verstärkte. Gegenüber den bayerischen Militärbehörden hatte sich der Nachrichtendienst zudem erfolgreich für die Erteilung eines Visums stark gemacht – ein für einen regimekritischen Schriftsteller höchst ungewöhnliches Privileg. Gleichzeitig unterlag seine Korrespondenz von und nach Deutschland der Zensur. Und im Mai 1918 erschienen in der bayerischen Presse von den Militärbehörden lancierte Hetzartikel gegen die „Drückeberger in der Schweiz“. Verantwortlich hierfür zeichnete pikanterweise der damals im Stellvertretenden Generalkommando des I. bayerischen Armeekorps für die Überwachung der Literasturszene zuständige Assessor Carl Schmitt.
In der Schweiz arbeitete Klabund inzwischen an einem Aufruf zur Gründung eines „Bundes der deutschen Geistigen in der Schweiz“, der wohl durch die Anwürfe in der deutschen Presse motiviert war. Der Plan, der im Vorjahr schon einmal aufgrund des allgemeinen Misstrauens der Exilanten untereinander gescheitert war, wurde von Kessler, der sich davon eine stärkere Anbindung der Exilantenszene, aber nicht zuletzt auch eine Stärkung der friedenswilligen Kräfte in Deutschland erwartete, unterstützt. Klabunds Unternehmen war also so wenig oppositionell angelegt, dass ihm der offizielle Vertreter der deutschen Kulturpropaganda in der Schweiz positiv gegenüberstand. Wie sehr Klabund nun in der Endphase des Krieges wieder auf eine gouvernementale Linie einschwenkte, zeigt auch der im Vergleich zum Wilhelm-Brief kaum bekannte und ebenfalls in der NZZ publizierte „Appell an Wilson“ vom 23. Oktober 1918.
Anfang des Monats hatte sich die deutsche Regierung an den US-Präsidenten mit einem Gesuch um Waffenstillstand auf der Basis von Wilsons Vierzehn Punkten gewandt Im Verlauf des folgenden Notenwechsels wurde jedoch klar, dass sich für Washington inzwischen die Geschäftsgrundlage verändert hatte und dass schärfere Friedensbedingungen, einschließlich der Forderung nach der Abschaffung der Monarchie in Deutschland, zu erwarten waren. Klabund forderte in seinem Appell nun Gerechtigkeit gegen das deutsche Volk und den Verzicht auf extreme Bedingungen, die der „Ententeimperialismus“, „blinder Chauvinismus und taube Rachsucht“ und die „Clemencisten“ forderten, die eine „Exekution“ des deutschen Volkes in Szene zu setzen gedachten. Durch eine derartige Politik würde das Deutsche Reich in die Hände der Revolutionäre getrieben werden.
Klabunds Führungsoffizier dürfte mit dem politischen und publizistischen Agieren seines Agenten in der Schweiz zufrieden gewesen sein. Der Schriftsteller machte sich daran, die Exilantenszene zu organisieren, wobei sich hier, glaubt man der Einschätzung Kesslers, eine Annäherung an die Gesandtschaft anbahnte. Und in der Friedensfrage vertrat Klabund in einer international renommierten Zeitung des neutralen Auslands eine Position, die bis in die Details, etwa den moralischen Appell an den Gerechtigkeitssinn Wilsons und die Drohung mit dem Gespenst der sozialistischen Revolution, deckungsgleich mit der offiziellen deutschen Propagandalinie war.
Das Ende des Krieges fiel für Klabund zusammen mit einer persönlichen Tragödie: Am 30. Oktober starb seine Frau bei der Geburt des ersten Kindes. Das Kind selbst sollte der Mutter wenige Monate später folgen. Während der Wirren der Münchner Räterepublik wurde Klabund Anfang April 1919 bei einem Aufenthalt in Passau festgenommen, weil die Polizei vermutete, er wolle mit dem dort inhaftierten Erich Mühsam Kontakt aufnehmen. Angesichts des Hasses, der seitens der Weißen Sicherheitsorgane Intellektuellen entgegengebracht wurde, die als rätenahe „Literaten“ verrufen waren, geriet er kurzfristig in eine gefährliche Lage, aus der er jedoch aufgrund der raschen Intervention von Verwandten entkam. Bis zu seinem Tod sollte Klabund eine anerkannte, wenngleich künstlerisch wie politisch nur schwer einzuordnende Persönlichkeit der Weimarer Republik bleiben.
Fazit
Im September 1917 hatte sich Klabund in einem Brief an einen Münchner Journalisten den Vorwürfen zu seiner Kriegslyrik gestellt:
„Diese Gedichte sind vor drei Jahren am Beginn eines scheußlichen Krieges geschrieben worden – als noch niemand wusste, wohin er lief, und als jeder über seine Ziele getäuscht war. Ich habe meine Meinung vom Kriege stark geändert meine 1915 geschriebene chinesische Kriegslyrik, mehr schon der Marketenderwagen, später der (Mo)reau zeigen den Weg, der zum absoluten Pazifismus führt, auf dessen Boden ich jetzt stehe.“
Was sich auf den ersten Blick als ein Eingeständnis in das eigene Irren präsentiert, wirft gleichwohl Fragen auf: Wäre seine Kriegslyrik denn weniger kritisch zu bewerten, wenn der Krieg eine andere Wendung genommen hätte oder die Ziele wahrhaftigere gewesen wären? Können die hier angeführten Werke tatsächlich als literarische Belege für seine politische Wandlung gelten? Und: Wie verträgt sich sein Bekenntnis zum „absoluten Pazifismus“ mit seiner Tätigkeit für den Militärnachrichtendienst?
Tatsächlich trat Klabund nicht nur im Sommer 1914, sondern für eine bemerkenswert lange Zeitspanne des Weltkrieges, nämlich vom Kriegsbeginn 1914 bis Mitte 1916, als ein von der verlegerischen Konjunktur beflügelter Produzent kriegsbejahender und propagandistischer Lyrik hervor, worunter einzelne Beispiele für ausgeprägte Hasslyrik auszumachen sind. Ohne Mühe lassen sich die von Jan Philipp Reemtsma für Heinrich von Kleist festgestellten „Wonnen des Unterkomplexen“ auch für Klabund attestieren.“ Der Einwurf, diese Kriegslyrik sei wegen ihrer minderen Qualität als Gebrauchsliteratur von geringerer Relevanz für das Gesamtwerk des Dichters, kann allenfalls im literaturgeschichtlichen Binnendiskurs Geltung beanspruchen. Klabund selbst hat mit dem offenen Bekenntnis zu seinem Gesinnungswandel schon während des Krieges eine dezidiert offensive Strategie verfolgt, die in der späteren wissenschaftlichen Apologie nur allzu ungeprüft übernommen wurde. Bei einer historisch-biografischen Betrachtung der Person und der Einordnung in das Thema „Literatur und Propaganda“ im Ersten Weltkrieg kann dies angesichts der schieren Textmenge, der Dauer des propagandistischen Engagements sowie aufgrund der teilweise scharfen Tendenz der Texte nicht unberücksichtigt bleiben. Die Frage, ob sich Klabund der Kriegspropaganda nur aus ökonomischem Interesse verschrieben hatte oder ob er aus Überzeugung handelte, blieb in der literaturhistorischen Forschung bislang weitgehend unberücksichtigt.
Klabund trat, und das ist als zweites Ergebnis festzuhalten, seit Ende 1916 öffentlich als ein zum Pazifisten geläuterter Publizist auf, war aber gleichzeitig als Verbindungsmann für den militärischen Geheimdienst tätig. In diesem Zusammenhang leugnete er seinem Führungsoffizier gegenüber die Autorschaft für das bis heute zentrale Dokument seines pazifistischen Bekenntnisses, den Offenen Brief an Kaiser Wilhelm. Beide Ergebnisse stehen im scharfen Gegensatz zu den einführend zitierten (literatur-) historischen und politisch-moralischen Bewertungen der Persönlichkeit Klabunds. Sie werfen Fragen nach dem Verhältnis von Künstler und Staatsmacht auf, die bis in die jüngste Vergangenheit diskutiert werden. Dabei ist zunächst einmal zu konstatieren, dass eine gegen die damaligen Kriegsgegner gerichtete nachrichtendienstliche Tätigkeit Klabunds an sich noch nicht als verwerflich zu verurteilen ist. Man mag die Politik und Kriegführung des Kaiserreichs im Weltkrieg heute zu Recht als unklug und falsch verwerfen; als ein in seiner Zeit abnormes „Unrechtsregime“ taugt das Kaiserreich allerdings kaum. Somit wird sich auch das nachrichtendienstliche Engagement seiner Bürger schwerlich kriminalisieren lassen.
Anders gestaltet sich aber die Frage nach der moralischen Position des bekennenden Pazifisten, der den Bund mit der bewaffneten Macht, und noch dazu mit deren konspirativen Institutionen, eingeht. Für einen Schriftsteller stellt sich hier die Frage nach dem Verrat am Leser und nach der Wahrhaftigkeit seiner literarischen Leistung.
Erschienen im http://metropol-verlag.de/archive/pp/zfg/zfg.htm
DRITTER TEIL
Weimarer Jahre
Am 11. November – sieben Tage nach Fredis Geburtstag – endete der I. Weltkrieg. Er erlebt ihn in Monti. Erlebte?
Von „Knallfred“ und seinen sprühenden Einfällen ist nichts geblieben, Trauer um „Irene“ und die Sorge um „das Kindlein“ beherrschen seinen Tagesablauf. Hildegard Jung bittet er, in Monti bleiben zu dürfen.
Guido von Kaulla:
„… Am 18. 11. 18 schreibt Klabund an Hilde Jung, dass er vorläufig in Monti bleibe. Wo solle er hin? Seit Irenens Herz nicht mehr schlage, habe er keine Heimat mehr. Irene sei ihm mehr als eine oder seine Frau – sie sei sein Friede gewesen. […] Oft sage er die Worte Hölderlins: „April und Mai und Junius sind ferne. Ich bin nichts mehr. Ich lebe nicht mehr gerne.“
Er verfasst die „Totenklage“, erschienen als Trilogie im Band „Dreiklang“ und „Der Totengräber – dem Andenken meines Engels gewidmet“. Klabund nennt diesen Einakter „ein provisorisches Erinnerungsblatt für Irene“.
Auch hier finde ich in seinen Briefen keine Hinweise, wie und ob die Familie in Crossen reagiert.
Klabund ist am Boden zerstört. Dreißig Tage lang vertraut er täglich ein Sonett einer Kassette auf dem Grabe an:
Ich, schwanke ohne Heimat, ohne Herd
Von neuem in das Wanderschaftsgetriebe …
Ich war dein Tod,
Ich habe dich gemordet.
Geholfen haben ihm in den ersten Wochen nach dem Tod der Tochter am 17. Februar die „Anti-Wilhelm-Deutschen“ oben auf dem Berg, denn trotz aller Trauer hat Klabund zusammen mit dem Schweizer Zoologen, Naturforscher und Zeichner Karl Soffel im August 1919 ein wunderbares Buch veröffentlicht. Sein Titel: „Der Tierkreis“ Das Tier in der Dichtung aller Völker und Zeiten, eine Anthologie. Er erschien im Erich Reiß Verlag in Berlin 1919 und die beiden schrieben: „Wir widmen dieses Buch Rin, unserem Hunde und Emmy, unseren lieben Frau vom Monti.“ Gemeint war die Schriftstellerin und Kabarettistin Emmy Ball-Hennings.
Und noch ein anderes Ereignis unterbricht seine selbstgewählte „Einsamkeit“ in Monti, es erreicht ihn ein Telegramm mit der Mitteilung, sein Freund aus der Münchener Studentenzeit Erich Mühsam ist verhaftet worden. Die Umstände dieser Verhaftung sind im Kapitel „Der Spion aus Crossen“ beschrieben und in seinem Tagebuch. Aber Klabund kümmert sich – bzw. will sich kümmern – und „klettert vom Berg“.
Und seiner Schwiegermutter Irene Heberle schreibt er im Februar 1919 in einem Brief aus Locarno-Monti, was ihn ablenkt und dass er eben die Arbeit doch nicht liegen lassen kann:
„… ich bin mit Arbeit überhäuft wie ein Tagelöhner (nur dass der äußere Lohn der aufgewandten Mühe kaum entspricht). Der Katalog. Ständige Mitarbeit an den kritischen Zeitschriften wie „Die neue Bücherschau“, „Bücherwurm“ etc. Repliken und Attacken da und dort. Dichtungen in „Schweizerland“, „Wieland“, „Neue Rundschau“, „Weisse Blätter“, „Rarität“, „Junges Deutschland“, usw. Meine Übersetzungen aus dem Chinesisch Französischen. „Das Flugblatt“. Plan eines Jahrbuches der reinen Philosophie, der reinen Dichtung (antipolemisch, antipolitisch, was die apriorische Seele betrifft). Dazu Korrekturen aller Art. Der Villon ist im Druck, erscheint demnächst. Der „Totengräber“ wird gesetzt. Den „Cherubim“ hab ich Reiß für Weihnachten vorgeschlagen: als lyrisches Werk größten Umfangs, enthaltend: die Sonette, die Oden, die Distichen, kl. Lieder, die Balladen und die chinesischen Liebesgedichte. Irene soll sich über den ihr errichteten Tempel nicht beklagen dürfen. Alles, alles, alles ist ihr gewidmet. – Die gewünschten Bücher und noch einige mehr werdet Ihr erhalten.“
Langsam kehren also die Lebensgeister zurück – bestimmt auch durch das Buch beeinflusst – und der Anfang des dritten Teiles meiner Biographie, den „Weimarer Jahren“, soll sich mit „Klamauk“ und Klakunderbund“ beschäftigen.
Klamauk, das ist die Episode des Spötters und Kabarettisten, dem Bänkelsänger. Aber ich meine, es ist auch die Zeit des „Salonkommunisten“, der sich mit der Misere nach dem verlorenen Krieg beschäftigt, z.B. im Gedichtband der „Harfenjule“. Logisch: „Klabund der Politiker“ wird dann auch ein Kapitel heißen.
„Klamauk“ auf höchstem Niveau
Der Schauspieler Peter Welk trägt beim 5. Hildener Literaturkonzert im Wihelm-Fabry-Museum am 29. März 2012 Klabund Gedichte vor und die folgende Einführung:
Zum Abhören auf das Dreieck klicken
http://www.welk.de/klabund.html
Und diese „Heimkehr“ passt in dieses Kapitel – Spott über sich selbst und die Familie.
Kurt Wafner beschreibt diese Episode so:
„ …In den Sog der Boheme gerät der junge Henschke noch bevor er sich Klabund nannte. Er trifft Menschen, die sich wie er als Außenseiter fühlen – Schriftsteller, Maler, Schauspieler. Mit Franz Werfel und dem jungen Bertolt Brecht sitzt er zusammen am Stammtisch der Torggelstuben, Leonhard Frank und Erwin Piscator sind seine Trink- und Gesprächsgefährten im Simpl, und von Erich Mühsam wird er mitgeschleppt ins Junge Krokodil.“
Und weiter:
„ … Die meisten Arbeiten Klabunds gehören zweifellos der „ernsten“ Lyrik an. Sie machten ihn berühmt. Ihnen ist es hauptsächlich zu danken, dass sein Werk in dem heiligen Hain der Weltliteratur aufgenommen wurde. Und dennoch: Sein Leben, Werk und Wirken sind ohne seine beinahe lebenslange leidenschaftliche Partnerschaft mit dem Kabarett nicht denkbar. Ebenso wenig kann eine sachkundige Geschichte des deutschsprachigen Kabaretts auf seinen Namen verzichten. Dieser fantasievollen und schwer zu machenden Kunst für kleine Bühnen galt eine seiner vielen Maskierungen, seiner Ver-Wandlungen. Dort machten sich Klabautermann und Vagabund gleichermaßen lautstark bemerkbar. Fürs Brettl war er Textdichter und Interpret oft in einer Person.“
Was aber treibt einen jungen Dichter, (Wafner): „Der malerisch und wortgewaltig Schönheiten der Natur und menschliche Seelen vor seinen Lesern ausgebreitet hatte, sich mit dieser ziemlich ruppigen zehnten Muse einzulassen? Der Hauptgrund: Klabund fühlte sich zu ihr hingezogen, weil er in ihr eine Wahlverwandtschaft sah. Kaspers kunterbuntes Kostüm schien ihm auf den Leib geschneidert zu sein. In seinen Chansons, Bänkelliedern und Balladen spiegelt sich seine Persönlichkeit wohl am deutlichsten wider.“
Und der Publizist Franz Blei sah ihn so:
„… Der Klabund ist ein überaus buntfarbiger Kugelkäfer, dem seine natürliche Buntheit noch nicht genügt. Wo immer er etwas Farbiges findet, rollt er sich darin herum, so lange, bis er auf seinen kleinen Stacheln einiges davon aufgespießt hat, was ihn noch bunter erscheinen lässt, als er ist. Solches macht dem Klabunde Spaß.“
Klabund passte spätestens seit Monti längst nicht mehr in „diese Spießbürgerei in deutschen Landen, bigotte Betschwestern und lauwarme Moralprediger – kurz: gefährliche Dummheit, Herrschsucht und Heuchelei in allen Schattierungen“. (Wafner). Und dann ist es nicht verwunderlich, dass Kabarett das geeignete Podium war für Spott und Satire. Zudem diese Form auch noch Spaß machte. Als er Ende der 20er Jahre mit der „Harfenjule“ seinen Höhepunkt in diesem Metier erreichte, bescheinigte ihm Kurt Tucholsky: „die meisten seiner Verse seien „Notentexte; sie pfeifen, brüllen, schreien und orgeln nach Musik.“ Er selber sagte einmal: „Ich will alle Seiten meines Wesens ausgedrückt sehen, und es genügt mir durchaus nicht, nur gute Bücher zu schreiben.“
In Kauf hat er dabei genommen, dass diese „unseriösen Seitensprünge“ immer wieder Krach mit seinen Eltern und auch mit so manchem Nachbarn verursacht haben.
Der große Kabarettist Werner Finck – der mich so etwa 1964 in Stuttgart vom „Stuhle riss“ – schrieb in der Zeitschrift „Das Stachelschwein“ im Januar 1925 die folgenden Verse, die er strophenweise auf je einer Postkarte an verschiedenen Tagen an die Redaktion für die Rubrik „Post“ schickte:
In Crossen hat der Herr Klabund
den heimatlichen Hintergrund:
Du fragst: Klabund?
und scheu beiseite
sagt man dir seine Kragenweite.
Den Crossern drum bewegt Klabund
nicht so das Herz als so den Mund.
Man rühmt ihn mit; doch durch die Blume
bekreuzt man sich vor diesem Ruhme.
Und kurz:
Es gilt Klabund in Crossen
indem er dieser Stadt entsprossen – und kurz und gut
man sagt: Klabund –
und jeder hat so seinen Grund.
Tatsache bleibt:
Es hat sich Crossen
im Fall: Klabund
noch nicht entschlossen.
Dieses Gedicht trägt die Über¬schrift: „Crossen an der / oder / Klabund daheim“.
Kurt Wafner schreibt, dass Klabund Vorbilder gehabt habe und nennt Wedekind und Villon. Fredi ist anderer Meinung. Sie seien wie auch Heinrich Heine, Johann Christian Günther und Michael Bellman allerhöchstens „Verwandte“ gewesen. Und genau wie diese war er mit diesen „Strolchenliedern“ erfolgreich. Die Kritiker der linksbürgerlichen und sozialistischen Presse mochten ihn und das Publikum sorgte für den finanziellen Erfolg.
Bereits vor dem 1. Weltkrieg war die erste Kabarettstation Klabunds die Münchener Künstlerkneipe „Simplicissimus“. Als Weinlokal wurde der „Simpl“ von Kathi Kobus betrieben, die ebenfalls in die Literaturgeschichte eingegangen ist. Erich Mühsam hat in seinen „unpolitischen Erinnerungen“ diesen geschildert:
„… Vorn befand sich ein Wirtsraum, nicht viel unterschieden von anderen Wirtsräumen, hinten das Hauptlokal mit Theke, Klavier und Podium; dazwischen der beide Räume verbindende Kanal, ein langer, sehr schmaler Gang, dennoch mit Tischen und Stühlen so eng bestückt, dass das Passieren in den Abendstunden, wenn der Betrieb in Gang war, nur unter vielen Schlängelbewegungen möglich war und man die mit Flaschen und Tabletts jonglierenden Kellnerinnen für gelernte Akrobatinnen halten konnte. Das Gedränge war von zehn Uhr abends an beängstigend … Es war doch so, dass wir uns allesamt in dem Lokal wohlfühlten, das bei Tage eher einer Kunsthandlung glich als einer Künstlerkneipe. Ah allen Wänden hingen Ölbilder, Zeichnungen, Radierungen … Kathi Kobus war eine kluge Frau. Selbst keine Künstlerin, wusste sie doch, dass aus manchem jungen unbekannten Talent manchmal später ein bewundertes Genie wird … Von der Begabung ihrer dichtenden Kundschaft machte sie Gebrauch, indem sie ihr Gelegenheit gab, vom Podium herab Verse zu deklamieren, was meistens der Eitelkeit zuliebe, oft um barer Honorierung willen und vielfach auch der Schuldentilgung wegen gern geschah. Häufig genügte eine freigebig spendierte Flasche Sekt, um Dichter, Sänger, Musiker beider Geschlechter zu Vorträgen anzuregen. In der ersten Zeit konnte man von einem eigentlichen Kabarett bei Kathi Kobus kaum sprechen. Einer nahm die Klampfe zur Hand und sang …“
Neben Walter Mehring und Joachim Ringelnatz zählte auch Klabund zu den „jungen unbekannten Talenten“, der Journalist Georg Zivier erinnert sich:
„… Da stand er, ein hoch geschossener morbider Knabe und leierte seine Herausforderungen wie ein Orchestrion herunter. Und die matte, gymnasiastenhafte Deklamation des Sprechers war indessen von starker Wirkung, weil in der Monotonie seiner Wortformung eine Art Eloquenz der Verhaltenheit frei wurde. Im Grunde war er kein Kabarettist, er war es weit weniger als etwa Frank Wedekind und Joachim Ringelnatz“
Klabunds Auftritte im „Simpl“ waren für ihn bereits damals wichtig, denn – schreibt Kurt Wafner:
„… Dort also, wo Kunst Bestandteil der Geselligkeit war, brachte der junge Dichter seine Erstlinge vors Publikum. So erreichten wohl viele seiner Arbeiten dessen Ohr früher als dessen Auge. An der Stimmung m der Kneipenstube konnte der Debütant ermessen, ob und wieweit seine Verse ankamen. Die Gesellschaft im Simpl war häufig sein erster Kritiker.
Nun hatte ja diese Art Vortrag für ein bisschen Bier, Weißwurst und Applaus mit Kabarett wenig zu tun – diesen verpflichtenden Namen legte sich der Simpl ja auch erst später zu – dennoch war das kleine Podium umgeben von „dem nicht übertrieben abwechslungsreichen Lärm, Gedränge, Gestank“ Klabunds Sprungbrett zum Kabarett-Erfolg: Er fand Freude am Echo seiner Zuhörer. Er lernte an deren Reaktionen, wie ein Chanson gebaut werden musste, damit es verstanden wurde. Und er verlor die Scheu vor der Menge. Vermutlich wurde dort schon seine eigenartige Wesensart geprägt: die sonderbare Mischung von Schüchternheit und Schnoddrigkeit, von Distanz und Liebenswürdigkeit.“
Programme an diesen Abenden hat es nicht gegeben, Zeitzeugen haben nie darüber berichtet, was mit entsprechenden Getränken versehen zur Aufführung kam. Aber Fredi hat sicher aus seinem reichhaltigen Fundus „Klamauk“ ausgesucht, den er ab etwa 1912 verschiedenen Zeitschriften angeboten hatte und über den Alfred Kerr urteilte: “Vagantenverse. Lieder eines Desperados, künstlerisch wertvoll.“ Und sicher finden sich eine ganze Beiträge in seinem ersten Lyrikband „Morgenrot! Klabund! Die Tage dämmern!‘ wieder.
Noch 1919 Ortswechsel: Klabund geht nach Zürich, in die Spiegelgasse. Im „Cabaret Voltaire“ trifft er auf den Kreis der Kriegsgegner, zu denen auch Hugo Ball, einer der führenden Köpfe der Züricher Pazifisten gehört. Ball, ebenfalls einer der ersten Kriegsfreiwilligen ist ein alter Freund. Aber sicher die wichtigste Rolle spielte der Freund Rene Schickele und so schreibt Fredi seht bald für dessen „Weiße Blätter“ und bekommt endlich die ersehnte Möglichkeit, sich öffentlich zu einer antikriegerischen und weltoffenen Position zu bekennen.
Kurt Wafner schreibt über die „Weißen Blätter und Schickele:
„… Schickeies Verdienst bestand vor allem darin, den internationalen Charakter der Kriegsgegnerschaft zu betonen. So erschienen zum Beispiel nicht nur deutschsprachige Autoren, sondern auch Beiträge bedeutender pazifistischer Schriftsteller aus anderen Ländern, so Barbusse, Rolland. Die 1916 erstmalig erschienenen „Weißen Blätter“ wandten sich in ungewöhnlicher Schärfe gegen die Kriegshetzer unter den Literaten. Der Herausgeber trat für eine offene Meinungsbildung ein. Er wollte „keine Litfaßsäule erscheinen lassen wo jeden Monat ein und dieselbe Meinung … aufgezogen wird“, sondern er meinte, die Politik müsste „vergeistigt“ werden, so dass Menschen mit hoher geistiger Kultur die politische Führung übernehmen könnten.“
Im „Cabaret Voltaire“ entstand mit Hugo Ball als einer der Wortführer „aus der Einsicht, dass der Krieg Ausdruck einer bis ins Mark morbiden Gesellschaft sei“ (Wafner) der Dadaismus Wie dort etwa ein Abend verlief, schildert der dadaistische Künstler Hans Richter:
„Das Baiische Kabarett wurde über Nacht zur Züricher Sensation. Vorlesungen moderner französischer Dichter wechselten mit deutschen, russischen, schweizerischen Vortragenden. Soireen wurden gegeben, moderne und alte Musik wurde gespielt, alles durcheinander. Cendras und van Hoddis, Hardekopf und Aristide Bruant, ein Balalaika-Orchester und Werfel, Delauney wurde gezeigt und Erich Mühsam vorgetragen, Rubinstein spielte Saint-Saens, Kadinsky und Lasker-Schüler … So wurde das Cabaret Voltaire zunächst eine literarische Demonstration. Die schöpferische Aktivität dieser Gruppe bestand in Herstellung, Vortrag und Veröffentlichung von Gedichten, Geschichten und Gesängen … Klingeln, Trommeln, Kuhglocken, Schläge auf den Tisch oder Kisten belebten die wilde Förderung der neuen Sprache, in der neuen Form und erregten, rein physisch, ein Publikum, das anfänglich völlig benommen hinter seinen Biergläsern saß …“
Und ein Beispiel für diese „neue abstrakte Sprache“ liefert der Dichter und Mediziner Richard Huelsenbeck:
„sokobauno, sokobauno, sokobauno Schikander, Schikander, Schikander dick werden die Ascheneimer sokobauno sokobauno die Toten steigen daraus Kränze von Fackeln um den Kopf sehet die Pferde wie sie gebückt sind über die Regentonnen sehet die Parafinflüsse fallen aus den Hörnern des Monds sehet den See Orizunde wie er die Zeitung liest und Beefsteak verspeist sehet den Knochenfraß sokobauno sokobauno sehet den Mutterkuchen wie er schreiet in den Schmetterlingsnetzen der Gymnasiasten sokobauno sokobauno“
Kurt Wafner weiter:
„… Die Dadaisten – eine bunt zusammengewürfelte Gemeinschaft von Dichtern und Malern, jeder auf seine Art ein „Bürgerschreck“. Als einzige Frau im „Cabaret Voltaire“: Emmy Hennings, die Frau von Hugo Ball. Ihre Vorträge, urteilt Hans Richter, „stellten in ihrer ungewohnten Grelle einen Affront dar, der das Publikum nicht weniger beunruhigte als die Provokationen ihrer männlichen Kollegen. So waren sie also sechsstimmig in diesem Voltaire-Orchester. Jeder spielte sein eigenes „,Instrument“, das heißt sich selbst, leidenschaftlich und aus voller Seele …“
Dadaismus wird eine Philosophie: „er sei eine „schöpferische Kunst, eine Kraft des Schöpferinstinkts, eine heroische Kunst, die das Ernste wie die Zufälle der Lebensgesetze einschließt … und eine schöpferische Basis, ein neues und universelles Bewusstsein der Kunst zu schaffen“
Wieland Herzfelde, marxistischer Verleger, bezeichnete seine Begeisterung für diesen als „Jugendsünde“ und schreibt:
„… Der Dadaismus war der mit Grölen und höhnischem Gelächter vollzogene Durchbruch aus einem engen, überheblichen und überschätzten Milieu, das, zwischen den Klassen in der Luft schwebend, keinerlei Mitverantwortlichkeit dem Leben, der Allgemeinheit gegenüber kannte. Wir sahen damals die irrsinnigen Endprodukte der herrschenden Gesellschaftsordnung und brachen in Gelächter aus … Zum Lachen war kein Anlass mehr, es gab wichtigere Probleme als die der Kunst. Wir sahen die neue große Aufgabe: Tendenzkunst im Dienste der revolutionären Sache …“
Und Klabund? Er wird kein Dadaist, Ihm gefällt zeitweise die vor allem „ungezwungene antibürgerliche Art, aber ihre Bilderstürmerei, ihre Sprachabstraktionen waren ihm fremd, was oft zu Disputen mit den Dadaisten führte. Er wollte auf die kleinen und großen Schmutzflecken im gesellschaftlichen Leben auf eine verständlichere Weise aufmerksam machen“ (Wafner).
Der Publizist Georg Zivier bemerkte:
„… Die Songs und Schlager, mit denen er die Kleinkunstbühne speiste, waren nur Nebenprodukte seines musischen Schaffens, aber seine frivolen Nebensächlichkeiten, seine Balladen von Liebe, Mord und Alkohol machten ihn schnell populär und hielten ihn in ständigem Trab von Podium zu Podium … Dem Sänger von hundert Leichtfertigkeiten, dem Bürgerschreck nach Montmartre-Art fehlte im Grunde jede Spur von Zynismus und Ironie. Das sentimentale Element, das in all seinen Versbändchen unter den dutzendweise gebündelten Lasterhaftigkeiten aufzuspüren ist, darf als Grundstoff seiner Persönlichkeit gelten. Klabunds „innerer Poetik’“ fehlt jeder moderne Zug, sie ist altmodisch im Sinne der deutschen Romantiker und nicht weniger verschwärmt und edel geformt als die Gefühlslyrik dieser vergangenen Epoche. Der Bohemien war Maske, der Troubadour war echt…“
Klabund war Klabund und er blieb es auch – Dada hin oder her. Ein paar spöttische Pfeile lässt er los, das war es dann.
Ich bin in Tempelhof geboren
Der Flieder wächst mir aus den Ohren
In meinem Munde grast die Kuh
O Eduard, steck den Degen ein.
Was denkst du dir denn dadabei’n
Des Morgens um halb fünfe?
Er sagte nichts mehr dadadrauf.
Er stützt sich auf den Degenknauf
Und macht sich auf die Strümpfe.
Harfenjulius im „Schall und Rauch“ überschreibt Kurt Wafner in seinem Buch den Wechsel Klabunds von München nach Berlin – vom „Simpl“ zu „Schall und Rauch“.
Im April 1919 aus dem Gefängnis entlassen, stürzt er sich „hemmungslos“ in seine Arbeit. Und das heißt: Neben Romanen, Grotesken, Glossen und Erzählungen schafft er zarte und schnoddrige Verse und Nachdichtungen und szenische Arbeiten fürs Theater. „Schnoddrige Verse“ sind dann eben „düstere, stehlende, schießende und schiebende“, wie es Ringelnatz bezeichnete. Oder „er vertauscht die heilenden Liegekuren mit der Dunstatmosphäre der brodelnden, lüsternen Großstadt der Nachkriegszeit,“ nennt das Kurt Wafner.
Anfang der 20er Jahre gibt es in Berlin achtunddreißig Kabaretts, das bedeutendste ist die kleine Bühne des „Schall und Rauch“ in den Kellerräumen des Großen Schauspielhauses, nahe der Weidendammer Brücke. „Die Zeit schreit nach Satire!“ Schreibt Kurt Tucholsky und im Januar 1919 fragt er im „Berliner Tageblatt‘: „Warum sind die Witzblätter der Deutschen, ihre Lustspiele, ihre Komödien und Filme in der Regel so langweilig und so mager?“ Und er forderte: Die Satire müsse wieder „beißen, lachen, pfeifen und die große, bunte Landsknechtstrommel trommeln lernen, gegen alles, was stockt und träge ist“.
Am 8. Dezember 1919 wurde das „Schall und Rauch“ unter der Direktion des Schriftstellers und Dramaturgen Rudolf Kurtz eröffnet. Seit wann Klabund dort sein „Unwesen“ trieb, lässt sich nicht mehr feststellen, aber er hatte ziemlich schnell dort einen Stammplatz.
Matthias Wegner schreibt zur Eröffnung:
„… Eröffnungsvorstellung im Dezember 1919 trägt Henschke „eigene groteske Dichtungen“ vor, Hubert von Meyerinck gibt Klabund-Balladen zum besten. Ein anderer Mitwirkender der Eröffnung ist der Regisseur und Schauspieler Gustav von Wangenheim. Als er seine Pierrot-Lieder zur Musik von Werner Richard Heymann vorträgt, kann Alfred Henschke nicht ahnen, wie sehr dieser Mann noch einmal die Missliebigkeit des Namens Henschke — und die Ermordung einer Trägerin dieses Namens — befördern sollte.“
Der Kommentar von Fredi zum Publikum:
Am Kurfürstendamm da hocken zusamm‘
die Leute von heute mit großem Tamtam.
Brillanten mit Tanten, ein Frack mit was drin,
ein Nerzpelz, ein Steinherz, ein Doppelkinn.
Matthias Wegner drückt es ganz ähnlich aus:
„… Die Berliner Atmosphäre der Schieber und Luden, der Spekulanten und Gauner, der Erfolgreichen und Benachteiligten leuchtet aus Henschkes atemlos hervorsprudelnden Versen so grell wie aus den Bildern von George Grosz oder Otto Dix. Sein Einfallsreichtum, seine variantenreiche Beherrschung von Rhythmus und Pointe, Witz und Zeitkritik machen ihn zu einem der beliebtesten Wortführer der neuen Freiheit, des neuen Übermuts und der Berliner Scharfsichtigkeit. Seine hinreißenden „Bänkellieder“ werden Allgemeingut“.
Und Kurt Wafner schreibt:
„… Und er spürte bald, dass er dort an der richtigen Adresse war. Was diese Bühne am Schiffbauer Damm mitzuteilen hatte, entsprach ganz den Vorstellungen des Mannes, in dem sich literarisch-künstlerisches mit politisch-kritischem Engagement paarte. Entlarven, Bestehendes in Frage stellen, verändern helfen, Tabus brechen: das hatte Klabund von jeher als einen Teil seiner Lebensaufgabe empfunden.“
„Es wurde zum Podium einer neuen, politisch akzentuierten Lyrik“, bekundet der Kabarettwissenschaftler Walter Rösler in „Das Chanson im deutschen Kabarett 1901-1933“, und in der „Geschichte der deutschen Literatur von den Anfängen bis zur Gegenwart‘, Bd. 10 (1917-1945) heißt es:
„Indem sich das lyrische Ich nach außen wandte, ignorierte, überwand oder zersetzte es im Kabarett- und Zeitungsgedicht die Esoterik und Verinnerlichung der seit dem Ende des 19. Jahrhunderts bestimmenden Stilrichtung bürgerlicher Lyrik, den Expressionismus eingeschlossen.“
Rösler nennt als Repräsentanten dieser Kabarettbewegung neben Mehring, Tucholsky und Weinert auch Klabund. Die Programmzeitschrift „Schall und Rauch“. Programmanzeigen und Kritiken geben Auskunft, was Fredi für „Schall und Rauch“ geschrieben hat. Sein Debüt gab er mit der Harfenjule – dem Lied einer Berliner Bettler-Musikantin – vorgetragen hat es die später weltberühmte Blandine Ebinger. Den Titel „Die Harfenjule“ wählte er dann auch als Titel für seine 1927 erschienene Gedichtesammlung. Als Rezensent prägte Kurt Tucholsky daraufhin für ihn scherzhaft den Namen „Harfenjulius“.
Kurz hielt auch der Dadaismus Einzug im Schall und Rauch“, aber es war eine kurze Episode – bedeutungslos. Klabund aber agierte mit pazifistischen „Einlagen“, z.B. aus der „Ballade des Vergessens“:
Millionen krepierten in diesem Krieg,
Den nur ein paar Dutzend gewannen.
Sie schlichen nach ihrem teuflischen Sieg
Mit vollen Säcken von dannen.
Im Hauptquartier bei Wein und Sekt
Tat mancher sein Liebchen pressen.
An der Front lag der Kerl, verlaust und verdreckt
Und vergessen, vergessen, vergessen.
Kurt Wafner schreibt über die Klabundschen Auftritte sehr ausführlich:
„… Zum ersten Schall-und-Rauch-Programm zählten auch Lieder und Chansons, in denen Klabund die Weimarer Gesellschaft heftig angreift, so in dem Lied „Berliner Weihnacht 1918“, das er auch selbst vortrug. Darin geht es um den Amüsierbetrieb jener Jahre, um die Schieber und Kriegsgewinnler. Und die zornigen, aufrüttelnden Schlussverse spie¬geln wider, was sich auf Berliner Straßen abgespielt hat:
Die Fahnen vom neunten November, bedreckt.
Er ist der letzte, der sie noch reckt…
Zivilisten … Soldaten … tach tach tach …
Salvenfeuer … ein Fall vom Dach …
Die deutsche Revolution ist tot…
Der weiße Schnee färbt sich blutigrot…
Die Gaslatemen flackern und stieren …
Wir wolln uns wieder mal amüsieren …
Und weiter:
„… In „Rag 1920“, im März-Programm vorgetragen von Mady Christians, greift Klabund dieses Thema noch einmal auf. Wieder zieht er gegen den Amüsierbetrieb der Neureichen zu Felde. „Die ganze schöne Erde ist ein einz’ges Tanzlokal“. Aber am Ende verliert sich der Weg in die Hoffnungslosigkeit. Denn auch in dem jungen Sowjet-Staat sieht der Dichter keine Alternative zu einem freien Leben. Er hat erkannt, dass aus dem neuen Russland keine „reinen und klaren“ Töne zu erwarten sind.“
Rag 1920
Die ganze schöne Erde ist ein einz’ges Tanzlokal.
Es tanzen Dissident und Christ, Beelzebub und Baal!
Es tanzt der würdige Dozent den Kantstep am Katheder;
Es tanzt die Flamme, wenn sie brennt, es tanzt ein jeder!
Komm! Und tanz mit mir den Rag doch,
Wenn du noch Atem hast.
Es tanzt das Herz im Leib dir,
Ruht an der Brust ein Weib dir,
Das deine Hände und am Ende deine Seele faßt!
Es tanzt der Schlanke und der Wanst, der Regisseur beim Proben,
Und selbst der brave Schieber tanzt, wenn er ein Ding geschoben!
Am Himmel selbst die Wolken weh’n im Tango und im Boston,
Die Sterne in der Ferne dreh’n, was kann die Erde kosten?
Komm! Erde! Tanz mit mir den Rag doch,
Wenn du noch Atem hast.
Das Herz tanzt in der Brust dir,
Bewusst dir, voller Lust dir,
Wenn eine Sonne voller Wonne deine Seele faßt!
Die Politik kam auf den Hund, man tanzt nach schlechten Noten
Den Twostep oder Tango und das Schieben ist nicht verboten,
Man tanzt uns auf der Nase rum, der Friede ist geschlossen,
Und reicht uns nur so hinten rum der Freundschaft Vorderflossen:
Komm Michel! Tanz mit mir den Rag doch
Wenn du noch Atem hast!
Zwar hast du bald mehr keinen,
Doch brauchst du drum nicht greinen,
Ein Totentanz, juchhei! Ist der beste Tanz, der zu dir paßt!
In Russland spielt ein Geiger auf in einem roten Mantel;
Der zwingt zum Tanz die Beine auf, als stach uns ’ne Tarantel!
Er spielt schon anderthalb Jahr: Tragödien und Possen,
Und spielt er auch nicht rein und klar, er spielt doch unverdrossen:
Kommt! Tanzt mit mir den Rag doch, den Petersburger Rag doch,
Wenn ihr noch Atem habt!
Europa ist am Ende,
Drum reicht euch nur die Hände
Zum roten Tanz, zum Totentanz! Grabt euer Grab euch! Grabt!
Aber eines seiner bekanntesten Lieder im „Schall und Rauch“ wird „Ich baumle mit de Beene“, wiederum von Blandine Ebinger vorgetragen. Kurt Wafner meint, sie habe mit „diesem düsteren Monolog einer Hinterhof-Göre den Weg zum Erfolg beschritt.
Zum Abhören auf das Dreieck klicken
http://www.welk.de/klabund.html
Ich baumle mit de Beene
Meine Mutter liegt im Bette,
Denn sie kriegt das dritte Kind;
Meine Schwester geht zur Mette,
Weil wir so katholisch sind.
Manchmal tropft mir eine Träne
Und im Herzen puppert’s schwer;
Und ich baumle mit de Beene,
Mit de Beene vor mich her.
Neulich kommt ein Herr gegangen
Mit ’nem violetten Schal,
Und er hat sich eingehangen,
Und es ging nach Jeschkenthal!
Sonntag war’s. Er grinste: „Kleene,
Wa, dein Port’monee is leer?“
Und ich baumle mit de Beene,
Mit de Beene vor mich her.
Vater sitzt zu ‚zigsten Male,
Wegen „Hm“ in Plötzensee,
Und sein Schatz, der schimpft sich Male,
Und der Mutter tut’s so weh!
Ja, so gut wie der hat’s keener,
Fressen kriegt er und noch mehr,
Und er baumelt mit de Beene,
Mit de Beene vor sich her.
Manchmal in den Vollmondnächten
Is mir gar so wunderlich:
Ob sie meinen Emil brächten,
Weil er auf dem Striche strich!
Früh um dreie krähten Hähne,
Und ein Galgen ragt, und er …
Und er baumelt mit de Beene,
Mit de Beene vor sich her.
Im Dezemberheft 1921 des „Schall und Rauch“ verabschiedet sich Klabund mit dem Gedicht, „Elegie“ von der Programmzeitschrift und auch von diesem Kabarett. Die Hunde bellen – die Karawane zieht weiter. Der Untergang des „Schall und Rauch“ ist im Kapitel zu diesem „Etablissement“ zu lesen.
Nachfolger für die meisten Künstler wurde das „Cabaret Größenwahn“ – gegründet von Rosa Valetti, Ecke Joachimsthaler Straße/Kurfürstendamm. Und am 11. September 1921 eröffnete Trude Hesterberg die „Wilde Bühne“ im Keller des „Theaters des Westens“ in der Kantstraße.
Klabund arbeitete für beide Bühnen als Hausautor. Brillieren konnte erneut Blandine Ebinger mit Fredis Jungmädchenlied „,Mit ’n Zopp“.
Mit ’n Zopp
Als ick noch in de Schule jing,
Mit ’n Zopp, mit ’n Zopp, mit ’n Zopp,
So manchet Männerauge hing
Mir am Zopp, mir am Zopp, mir am Zopp.
Und manchmal, da trat ooch een Herr heran:
„Na, Frollein, was hab’n Se denn da hinten dran?“
Da schlug ick ihn eins links und eins rechts an ’n Kopp
Mit ’n Zopp, mit ’n Zopp, mit ’n Zopp.
In China haben’s die Leute scheen,
Mit ’n Zopp, mit ’n Zopp, mit ’n Zopp.
Da können selbst die Männer jehn
Mit ’n Zopp, mit ’n Zopp, mit ’n Zopp.
Der Mandarin und ooch der Mob.
Die alte Jroßmama – und ob! –
Die tragen alle eenen Zopp.
Eenen Zopp, eenen Zopp, eenen Zopp.
Wir laufen in Deutschland noch immer herum
Mit ’n Zopp, mit ’n Zopp, mit ’n Zopp.
Unser republikanisches Brimborium
Hat ’n Zopp, hat ’n Zopp, hat ’n Zopp.
Er hängt uns hinten, er hängt uns vorn,
Wir sind schon beinah Chinesen jeword’n.
Wir wackeln bald nach rechts und bald nach links mit ’n Kopp!
Wozu der Zopp?!
Herrjott, war ick einst männertoll
Mit ’n Zopp, mit ’n Zopp, mit ’n Zopp.
Jetzt hab‘ ick aber die Neese voll
Mit ’n Zopp, mit ’n Zopp, mit ’n Zopp.
Sieben ledige Kinder und een räudiger Hund
Und noch keen Mann, det is mir zu bunt.
Ick häng mir uff am Fenster – hopp! –
Mit ’n Zopp, mit ’n Zopp, mit ’n Zopp.
Über die Bühne der Rosa Valetti schrieb der ,Berliner Börsen-Courier‘:
„… Die Einbrecher wandeln über die Bühne und das Publikum vom Kurfürstendamm hat seine Versicherungen gegen Einbruch aufgegeben. Die Prostituiertenfrage ist, bis zur Polizeistunde wenigstens, gelöst; die Dirnen besingen sich und können davon leben.“
Mit „Skandälchen“ geht auch diese Episode zu Ende. Einen löst Bert Brecht im Januar 1922 aus, als er sein Antikriegschanson vorträgt – die „Legende vom toten Soldaten“.
Trude Hesterberg berichtet in ihrer Autobiographie „Was ich noch sagen wollte“:
„… Es wurde ein solider, handfester Skandal mit allem Drum und Dran… Ich musste notgedrungen den Vorhang fallen lassen, um dem Radau ein Ende zu machen, und Walter Mehring ging vor den Vorhang und sagte jene bedeutsamen Worte: „Meine Damen, meine Herren, das war eine große Blamage, aber nicht für den Dichter, sondern für Sie! Und Sie werden sich noch eines Tages rühmen, dass Sie dabei gewesen sind!“
Kurt Wafner hat das Schlusswort dieses Kapitels:
„… Auch für Klabund erlosch der Stern am Kabaretthimmel. Nun, er war immer zweigleisig gefahren, mit der schnoddrigen Gebrauchslyrik für den schnellen Verzehr am Kabarett, als auch mit Werken, die ihn mit Recht in den künstlerischen Olymp führten. So endet seine Karriere als Autor und Interpret fürs Kabarett 1922. In einer Skizze schreibt er: „Vulkan, der Gott Berlins, schmiedete ihn zum Dichter. Es sei gewarnt, falsche Folgerungen zu ziehen: der Dichter steht mit beiden Beinen fest auf seiner märkischen Erde. Die deutsche Tradition, in der er sich eingeweiht fühlt, ist die der Mystik und die der Romantik.“
Marietta – Ein kleiner Liebesroman aus Schwabing
Liebesroman hin oder her, auch die Geschichte der Marietta di Monaco gehört in die Sparte „Klamauk“ oder „Kabarett“. Und „Marietta“ ist ein wichtiger Bestandteil dieser Episode.
Marietta
Klein. Schmale, bizarre Person.
Toujours: En route pour le scandal Stemel. Das ist sie seit einem halben Jahrhundert: Den Tanz getanzt gleich Nietzsches Mistral: „Zwischen Heiligen und Huren, zwischen Gott und Welt!“
Immer ganz deutlich diese Fähigkeit zur Hingabe. An was auch immer. Hingabe. Par excellence. Hingabe an Himmel und Laster. Tant pis! Masqui! Was wollen Sie? Vielleicht ein mittelalterlicher Mensch? Aus der Zeit, als man noch „lebte“? Ihr Seinshimmel von zwei Dominanten gestirnt: Gott und Alkohol. Teils verschleiert, diese Sterne, gehen sie nun langsam in Reinschrift… Und ganz nebenbei:
Sie hat weder Arabeske noch Attitüde für die Wege ums Goldene
Kalb. Den Sologötzen moralisierender Bourgeois.
Sie liebt das Leben, und das Leben liebt sie wieder.
Ich habe sie unter Denkmalschutz gestellt.
Gewissermaßen.
Mauritius
Aus Monacensia Literaturarchiv und Bibliothek
Am Freitag den 10. März 1893 wird in der Gebäranstalt an der Sonnenstraße in München Maria Kirndörfer als uneheliches Kind geboren und lernt ihre Mutter erst im Alter von drei Jahren kennen. Sie wächst bei Pflegeeltern auf, besucht eine Klosterschule der „Englischen Fräulein in Burghausen“ und bricht aus dieser „heilen“ oder „unheilen“ Welt nach der Schulzeit aus. Sie geht nach München, arbeitet als Kellnerin und wird Modell der Maler der Kunstakademie München. Eher zufällig wird sie 1913 für die Bühne entdeckt.
„Diese zierliche Kleine müsste einmal auf dem Podium stehen“ soll 1913 ein Unbekannter im „Simpl“ gesagt haben.
Wikipedia:
„… In der Folgezeit tritt sie als Vortragskünstlerin und Tänzerin im „Simpl“, „Schwabinger Brettl“, der „Katakombe“ und der „Seerose“ in München auf, aber auch in Berlin oder Paris.“
Und Wikipedia bezeichnet sie als „eine deutsche Kabarettistin, Lyrikerin, Diseuse, Tänzerin und Dichtermuse“. Da nennt sie sich allerdings nicht mehr Maria Kirndörfer … viel besser klingt Marietta di Monaco.
Im Winter 1912/13 lernt sie Klabund kennen. Guido von Kaulla schreibt:
„Damals war sie beim Fasching sein kleiner „Page Floriot“, und das erst im Korrekturabzug des „Heißen Herzens“ (1922) in der Überschrift aus „Marietta“ zu „Musette“ geänderte Gedicht ist eines jener Zeit: Wenn dein Mund / liegt an meiner Scham“, das endet: „So süßer Träume schwer. / Genug / Weiß ich dann von der Welt und will nichts wissen mehr.“
Schummelt Kurt Wafner nicht ein wenig, was die Liebschaften von Fredi angeht, wenn er schreibt?:
„ … Von den vielen Liebschaften des Poeten sind nur wenige bekannt. Eine von ihnen ist Marietta. Sie stand wie er auf dem Podium des Simpl und sang mehr oder weniger schlüpfrige Lieder. Sie hatte wohl Klabund so sehr entflammt, dass er ihr gleich zweimal ein Produkt seiner Poesie widmete: In „Marietta. Ein Liebesroman aus Schwabing“ nennt er sie „eine polnische Prinzessin, hübsch, aber schlampig.“
Seine beiden „Kumpel“ Carl Christian Decke („Bry“) und Hans Leibold studieren an anderen Universitäten, „Aber Marietta – eben einundzwanzig geworden (1914) – ist gerade von einem langen Paris-Aufenthalt zurückgekommen“, schreibt Guido von Kaulla.
Und weiter:
„… Jetzt also sind Marietta und Alfred Henschke, der sie rücksichtsvoll stets nur mit geschlossenen Lippen küsst, beieinander: „Du und ich und dies und das / Unter Buchen auf dem Moose – / Eine kleine weiße Rose / Nahmst du aus dem Wasserglas.“
Im Kabarett „Zum roten Strich“ im Lokal „Bunter Vogel“ treten beide gemeinsam auf. Guido von Kaulla:
„… führt sogar zu einer Kollegenschaft auf dem Podium: Fredi zeichnet sich durch prächtig einen balkanischen Prinzen charakterisierende Stegreifverse bei einem Puppenspiel aus. Diese Arbeit bringt ihn auch wieder intensiver an Kabarettdinge heran. Im Juni entsteht in unzähligen Sitzungen mit dem Kapellmeister und Komponisten Dr. Ralph Benatzky in dessen Gräfelfinger Wohnung in gemeinsamer Arbeit die Versposse „Der rote Fadem – ohne Musik“ -! Und Benatzky komponiert eine Reihe von Fredis deutschen und französischen Chansons.“
Aus Wikipedia:
„… 1916 gehört Marietta zur Gründungsgruppe des „Cabaret Voltaire“ in Zürich, das als Wiege des Dadaismus gilt. Am 31. Mai 1916 führt sie dort zusammen mit Hans Arp, Hugo Ball, Emmy Hennings, Marcel Janco und Tristan Tzara das aufsehenerregende dadaistische Werk „Simultan Krippenspiel“ von Hugo Ball auf. Auch Hugo Ball als einer der wichtigsten Vertreter der in Fortführung des Expressionismus entwickelten avantgardistischen Kunst- und Literaturbewegung des Dadaismus bewegte sich wie Marietta zuvor in der Schwabinger Künstlerkolonie rund ums Simpl, wo bereits 1914 und damit das erste Mal in der Literaturgeschichte in einem von ihm und Klabund gemeinsam verfassten, von Marietta di Monaco vorgetragenen Gedicht der Begriff ‚Dada‘ auftaucht.“
Vollends zur Dichtermuse und damit auch berühmt wird Marietta durch ihre engen Freundschaften mit Dichtern wie Joachim Ringelnatz, Frank Wedekind, Fred Endrikat und eben Klabund, deren Werke sie auf der Bühne rezitiert.
Das mit dem Malermodell ist schon angeklungen – 1916 malte in Zürich einer der bekanntesten Maler der „Neuen Sachlichkeit“, Christian Schad, ein Porträt von Marietta in Öl auf Leinwand das heute in der Christian Schad Stiftung in Aschaffenburg zu sehen ist.
„Marietta. Ein kleiner Liebesroman“ erscheint 1920 im Verlag Steegmann in Hannover und die Presse titelt danach über sie als „Muse Schwabylons“ bis zur „Königin der Schwabinger Bohème“ – sie ist berühmt.
Die Nazis kommen an die Macht, eine Weile schaut sie kritisch zu, 1936 emigriert Marietta nach Frankreich, nach drei Jahren aber kehrt sie nach Deutschland zurück.
Im Monacensia Literaturarchiv und Bibliothek unter:
https://www.literaturportal-bayern.de/autorinnen-autoren?task=lpbauthor.default&pnd=106706950
Fand ich zu ihrer Biographie die folgenden Zeilen (Auszüge):
„… In München entwickelt sich Marietta di Monaco in kurzer Zeit zu einer jungen abenteuerlustigen Bohemiènne. In der legendären Kabarettkneipe Simplicissimus von Kathi Kobus in der Türkenstraße 57, wagt sie sich 1913 erstmals auf die Bühne und wird begeistert aufgenommen. Marietta di Monacos eigenwilliger Vortragsstil findet großen Beifall. Im „Simpl“ trifft sich alles, was in Münchner Bohème-Kreisen Rang und Namen hat, darunter Frank Wedekind, Joachim Ringelnatz, Erich Mühsam, Klabund, Emmy Hennings, Hugo Ball. Marietta die Monaco ist bald mit vielen von ihnen eng befreundet. Sie wird die Muse und Geliebte des Dichters Klabund, der ihr den Künstlernamen Marietta gibt und 1914 den Roman „Marietta. Ein Liebesroman aus Schwabing“ für sie verfasst, der 1920 erscheint.
(…) Marietta di Monaco wird eine Berühmtheit. Mit ihrer unverwechselbaren rauchig-rauhen Stimme trägt sie auf der Bühne Gedichte von Tucholsky, Mühsam und Ringelnatz vor, legendär ist auch ihre selbst verfasste Ganghofer-Parodie. Mit ihrem Repertoire reist sie nach Rom, Südfrankreich und Paris. In Zürich, wo sich während des Ersten Weltkrieges zahlreiche Exilanten versammeln, tritt sie 1916 in Hugo Balls Cabaret Voltaire in der Spiegelgasse 14 auf. Marietta di Monaco ist häufig unterwegs: Zürich, Basel, Paris, Berlin, Locarno, Ascona, Sanary sind die Stationen, die in ihrem Buch „Ich kam – ich geh. Reisebilder, Erinnerungen, Porträts“ (1962) beschreibt.
https://www.youtube.com/watch?v=n3y92SSPfu0
Marietta di Monaco – Wie ich zu meinem Kaiser gangen bin…die Ganghofer-Parodie
Bis ins hohe Alter steht sie auf der Bühne des Kabaretts Katakombe, in der Schwabinger Laterne oder im Lohengrin, wo sie regelmäßig den „Revoluzzer“ von Erich Mühsam vorträgt. 1962 wird sie mit dem Schwabinger Kunstpreis geehrt. Zu ihrem 80. Geburtstag gratuliert Oberbürgermeister Georg Kronawitter der „Königin der Bohème“ und überreicht einen Geschenkkorb. Marietta di Monaco stirbt am 19. Januar 1981 in einem Altenheim in Schwabing.“
Biographie und Ehrungen
Aus Wikipedia:
„… An ihrem 65. Geburtstag ehrt der Schriftsteller Peter Paul Althaus Marietta mit einer Rede.
1962 veröffentlicht Marietta di Monaco, die zuvor bereits als Lyrikerin und für das Kabarett schriftstellerisch tätig war, (das Buch) „Reisebilder, Erinnerungen, Porträts“ unter dem auf ein Gedicht ihres frühverstorbenen Freundes Klabund anspielenden Titel „Ich kam – ich geh“.
Erst 1964 – 51 Jahre nach ihrem Debüt – wird ihre einmalige Vortragskunst im Rahmen einer Reihe mit privaten Document-Aufnahmen „Schwabinger Kleinkunst-Kostbarkeiten“ erstmals für eine Schallplatte aufgezeichnet. Marietta spricht hierfür Texte von Wilhelm Busch und ihren einstmaligen Weggefährten Endrikat und Ringelnatz.“
Und sie selber schreibt:
Eine Autobiographie
Manchmal weine ich keine Tränen.
Ich berausche mich täglich.
Gerne mache ich sündige Spiele.
Ich bin ein Knäuel von Sinnlichkeit.
Mein Kopf wird herumgeworfen.
Meine guten Gefühle werden von brutalen Händen erdrückt.
Ich schiele.
Ich rezitiere lyrische Anthologie.
Nachts tanze und schreie ich durch die Straßen.
Mein Mund ist ein Strich.
Meine Augen sind manchmal groß und leuchtend.
Mein Nacken ist ausrasiert.
Ich habe schlanke Beine.
Jeder Briefträger ist mein Vater.
In meinen Haaren beseitigt man den Schweiß der Hände –
Aber in der Sonne sind sie fließendes Gold.
Ich bin Marietta.
München, Frühling 1913
Die erstmals im „Süddeutschen Verlag – München“ erschienenen „Reisebilder – Erinnerungen – Portraits“ von Marietta die Monaco aus dem Jahre 1912 veröffentlichte der Allitera Verlag 2002, (ISB 978-3-93587-744-2).
Informationen über das Buch und den Verlag unter: www.allitera.de
Mit freundlicher Genehmigung des Verlages füge ich das Kapitel über Klabund ein – ein sehr unterhaltsames Kapitel!
Marietta di Monaco
Ich kam – ich geh – Reisebilder – Erinnerungen – Portraits
(Zürich 1916)
Klabund
Es war in München und Frühling.
Die Zeit rechnete mit dem Jahre 1914.
Für Theater, Literatur und Kunstgeschichte dozierte Professor Dr. Arthur Kutscher an der Universität.
Viele originelle Persönlichkeiten entpuppten sich unter seiner geistigen Führung.
Alfred Henschke befand sich unter den Seminaristen. Er stammte aus Crossen an der Oder. Erste Gedichte schrieb er auf Telegrammformulare. Er schickte sie an die Zeitschrift „Pan“. Alfred Kerr ermunterte den jungen Dichter. Theodor Etzel war Herausgeber der „Lese“. Er saß mit Henschke im Simplicissimus. Marietta rezitierte dort und wurde vorgestellt. Der junge Mann hätte Gedichte zum Abschreiben auf der Schreibmaschine.
Ob Marietta das machen wolle, denn für ein solides, perfektes Tippfräulein wären die Texte zu frei.
Das wollte sie, denn sie war auf Bechers Veranlassung Privatsekretärin im Verlag Bachmayr.
Tags darauf sollte sie die Gedichte abholen: Kaulbachstraße 68, im Gartenhaus parterre. Das tat sie.
„Die Gedichte sind von Klabund“, sagte der junge Mann und las ihr einige vor. — Ob sie ihr gefielen?
„Ich verreise für drei Wochen. Wenn Sie fertig sind, liefern Sie
die Manuskripte in der Ungererstraße ab, auf Nummer 5 im
dritten Stock bei Doktor Groth.
Dort werden sie dann von Klabund abgeholt.“
Der junge Mann verließ mit Marietta das Haus.
Die Sonne schien.
Sie erreichten die Höhe der Veterinärstraße und gingen dem Gesicht der Universität entgegen.
An der Fontäne sagte Marietta: „Glaube, Hoffnung und liebe nennen die Münchner diese drei Bauten. Glaube wird das Georgianum mit den jungen Theologiestudenten genannt, als Hoffnung bezeichnet man die Universität — und das Mädcheninstitut an der rechten Ecke nennt man „Die Liebe“.“ Dort stand eine Blumenfrau. Der junge Mann kaufte einen Nelkenstrauß. „Ich glaube schon sehr stark, daß Sie selber der Klabund sind“, sagte Marietta. „Warum meinen Sie das?“ „Sie sehen ganz so aus.“
„Nein, der Klabund bin ich nicht. Ich heiße Alfred Henschke. Der Klabund wohnt am Ammersee. Ich werde ihn dort besuchen.“ Beim Siegestor verabschiedete sich der junge Mann und überreichte Marietta seinen Nelkenstrauß.
Der Verleger Franziskus Seraphus Bachmayr war auf dem Internationalen Verlegerkongreß in Budapest. Johannes R. Becher saß als Lektor im Verlag. Marietta kam und setzte sich mit den Gedichten ins Nebenzimmer.
Becher erschien. „Was tust du hier?“ „Gedichte abschreiben — von Klabund.“ Das war Becher nicht recht.
Tags darauf ließ er den Schlüssel nicht bei der Nachbarin. Marietta ging in den Hof.
Das kleinste Fenster der Verlagswohnung stand offen. Ein alter Schneebesen fand sich in der Nähe.
Auf ihn gestützt, erkletterte sie den Mauerabsatz zum Hochparterre.
Von hier aus erreichte sie den Fensterrahmen, um sich mit den Händen festzuhalten.
So schwang sie sich in die Höhe und — es gelang: der zierliche Körper preßte sich durch das schmale Fensterchen.
Sie war im Verlag.
Marietta setzte sich an die Schreibmaschine. Becher kam und brachte Dorka mit.
Mit ihr schloß er sich mehrere Tage und Nächte ein, erlebte ein Liebesdrama und schrieb seine erste Novelle: „Das Verhältnis“. „Die neue Kunst“ nannte sich die feudale Zeitschrift, die es druckte.
Marietta machte in der Eile nicht nur Tippfehler, sondern verwehte in ihrer Phantasie auch den Sinn mancher Textzeilen. Immerhin: Das Manuskript wurde fertig: „Morgenrot! — Klabund! — Die Tage dämmern!“ Marietta lieferte es ab.
Becher sagte dann in einem späteren Gedicht an Marietta:
… „Die der Schwindsuchtsdichter leise streifte …
… Und Engel schütten dir den Schoß voll roter Marmeln“ …
Drei Wochen waren vergangen. Marietta kam ins Cafe Stefanie.
Nahe rechts beim Eingang saßen Hugo Ball, Hans Harbeck und
Alfred Henschke.
Die Begrüßung war heiter.
„Darf ich dir Klabund vorstellen?“ fragte Hugo Ball. „Den kenne ich schon seit drei Wochen.“ Man lachte hellauf.
Woher wohl das Pseudonym käme — wollte der Philologe Dr. Hans Harbeck wissen.
„Bei uns haben die Kinder einen Klabautermann — und Dichter hält man sowieso für Vagabunden. Aus der Anfangs- und Endsilbe beider Wörter habe ich meinen Namen gebildet“, sagte Klabund.
Man unterhielt sich über Anagramme: Jakob Davidsohn hatte durch Umstellung seiner Namensbuchstaben das Pseudonym „Jakob van Hoddis“ gefunden.
Von der Bezeichnung „Decamerone“ meinte Klabund: sie sei entstanden aus „Cento novelle de amore“. C ist gleich Hundert, von novelle sind nur der Anfangs- und Endbuchstabe genommen, und de amore steht vollständig da. Man braucht nur zwei Buchstaben umzustellen.
Hugo Ball, Marietta und Klabund trafen sich häufig. Sie machten Scherzgedichte zu dreien, welche man als Vorläufer des Dadaismus bezeichnen könnte. Kaum waren sie allein im Cafe Stefanie oder auch nach dem Abendessen im Garten der Max-Emanuel-Brauerei, holten sie ihre Bleistifte hervor, um gemeinsame Verse aufs Papier zu fechten. Dazu erfanden sie ein Pseudonym und sagten, es wären Gedichte von „Klarinetta Klaball“. Eines dieser Gedichte lautete:
„Ans Vaterland, ans teure, schließ dich an!
Und halt ihn fest mit deinem ganzen Herzen,
Denn wer ihn nicht mehr halten kann,
Der kann ihn auch verschmerzen.
Verschmerzen kann er ihn jedoch
Bei Pommern und in Pasing.
Man fing ihn ein bei Biberoch
Bei Velhagen und Klasing.“
Der erste Gedichtband Klabunds war bei Erich Reiss im Druck erschienen.
In der Torggelstube am Münchner Platzl befand sich die historische Kegelbahn von Max Halbe.
Wenn auch nicht gerade von allen Anwesenden gekegelt wurde, so waren doch die meisten namhaften Autoren dieser Zeit einmal dort zu Gast gewesen.
So fügte es sich, daß auch der junge Dichter Klabund dort eingeführt wurde, der sich als Kutscherseminarist Alfred Henschke vorstellen ließ.
Nach der Kegelbahn wurden literarische Neuerscheinungen besprochen.
Diesmal hatte Klabund seiner freien Texte wegen Aufsehen erregt.
Er wurde an diesem Abend zum Gesprächsmittelpunkt:
Klabund bemerkte eines Abends:
„Das Geld allein, die Reichen haben“s,
Indem er ein Cafe durcheilte,
Sich an Absinth und Weibern geilte“
Max Halbe, Alfred Henschke und einige andere Herren befanden sich bereits in der Ludwigstraße auf dem Nachhauseweg. Trotzdem auch Frank Wedekind als Intimus von Max Halbe gelten konnte, wollte der Verfasser der „Jugend“ doch nicht eine allzu freie Sprache anerkennen und griff den jungen Lyriker wiederholt an.
Einige Male wagte der Student Henschke, Einwände zu machen. Das aber empörte Max Halbe, und schließlich sagte er wütend: „Schweigen Sie, junger Mann, Sie sind ja noch ein ganz grüner Junge!“
Henschke schwieg wirklich.
Als man sich aber später beim Siegestor verabschiedete, sagte er zu Max Halbe: „Entschuldigen Sie, bitte, Herr Doktor, wenn ich Sie durch meine Einwände erzürnt habe; ich wagte nur mitzureden, weil ich nämlich selber Klabund bin.“
Im „Bunten Vogel“ spielte man einen Abend lang Kabarett. Ernst Moritz Engert hatte das Plakat gemalt. „Der rote Strich.“ Emmy Hennings sang Lieder von Aristide Bruant, in der Übersetzung von Ferdinand Hardekopf:
… Die Krankheit schien mir’s gar nicht wert,
Doch ist’s die wahre.
Jetzt haben sie mich eingesperrt
In Saint Lazare..
Schweigend saßen Klabund und Marietta im Zuschauerraum. Marietta war 1913 in Paris gewesen.
Viele ihrer starken Eindrücke hatte sie Klabund mitgeteilt auf den gemeinsamen nächtlichen Heimwegen durch die Pappelallee der Leopoldstraße. Mancher Nelkenstrauß war inzwischen verwelkt. Heute standen auf dem Tisch weiße Rosen. Klabund notierte ein Gedicht:
Marietta
„Kabarett zum roten Strich,
Leise flog der bunte Vogel
Über Busch und über Kogel
Unabänderlich.
Du und ich — und dies und das
Unter Blumen auf dem Moose
Eine kleine weiße Rose
Nahmst du aus dem Wasserglas.
Einmal fand ich deinen Schenkel,
Kleine Rose milder Gier,
Große Mutter warst du mir,
Und ich war dir wie ein Enkel.
Dreizehn Jahre alt und jung,
Als wie wenn ich sterben müßte,
Nebel und Erinnerung,
Fiel ich zwischen deine Brüste.*
Später fanden sich die Verse in einem Gedichtband von Klabund: „Die Himmelsleiter.“
Der Sommer kam — und mit ihm die Hundstage. Der heiße August brachte den Krieg.
Die gewissenhaften Jungen aus dem Cafe Stefanie schwiegen oder schwankten zwischen vaterländischer Heldenromantik und Dostojewskischem Christentum.
Klabund dichtete ein Lustspiel: „Kleines Kaliber“, welches in den Münchner Kammerspielen aufgeführt wurde. Von drei Akten spielte der erste in England, der zweite in Frankreich und der dritte in Russland.
In Erinnerung sind mir noch Verse aus einem Lied im dritten Akt:
Schabernacken.
Hei! Wir woll’n dem Feind es gönnen,
Wie Kosaken fiedeln können.
Tie — ie-i — ie.
v.
Väterchen braucht seine Reiter als Begleiter
Und so weiter.
Seiner Generäle Huren,
Welche in Karossen fuhren.
Fie — ie-i — ie.
Anschließend an die Erstaufführung wurde im „Bunten Vogel“ heftig über das Lustspiel debattiert, und jeder der anwesenden Kutscherseminaristen bemühte sich, irgendetwas Interessantes an dem Stück zu finden. Marietta aber schwieg. Plötzlich sagte Klabund: „Marietta hat ja überhaupt noch nichts gesprochen. Was sagt denn Marietta zu dem Stück?“ — Und Marietta antwortete: „Was soll ich sagen? — Klabund! — Du sagst es ja selber: Kleines Kaliber!“ Man staunte, lachte, und manche meinten: Das wäre die beste Kritik des Abends.
Noch aber war die Begeisterung nicht zu Ende. Klabund meldete sich als Kriegsfreiwilliger; aber der Stabsarzt schickte ihn nach Hause; denn Klabund hatte damals schon Kehlkopf tuberkulöse.
Das Cabaret Voltaire entstand im Mai 1915 in der Meierei des Holländerstübli in Zürich.
Diesmal entpuppte sich Klabund als Hausdichter:
Zuweilen in der Meierei,
Da trifft man Menschen eins und zwei,
Der Tische Decken sind kariert
Und auch die Reden, die man führt.
Die Lampen glotzen grün und rot,
Ein alter Herr frißt Butterbrot,
Ein junger kitzelt seine Magd,
Die ihren Sonntagsausgang wagt.
Die Emmy singt, Marietta spricht,
Zuweilen ist es ein Gedicht.
Ball spielt den Typerarymarsch
Und kratzt sich den Poetenarsch.
Ein deutscher Dichter singt Französisch,
Rumänisch klingt an Siamesisch.
Es blüht die Kunst. Hallelujahl
’s war auch schon mal ein Schweizer da.
Kabund kam wiederholt nach Davos.
Dort fand er Irene.
In Locarno starb seine Jungvermählte am Kindbettfieber.
Sie nahm den Klabundschen Sprößling mit ins Jenseits.
An der südlichen Friedhofsmauer von Ascona warf man ihr einen Grabhügel auf, ihr, durch die Klabund mit seinen „Liedern an Irene“ den Lorbeer der Unsterblichkeit errang.
Bei Schwanecke in der Rankestraße von Berlin zeigte Marietta ihren neuen Reisepaß dem Dichter Klabund. „Mit so vielen leeren Seiten im Paß könnte man auf eine Weltreise gehen. — Schau, Klabund, wie viele Visas hier Platz haben!“ Die Pforte nach Frankreich war den Deutschen nach dem ersten Weltkrieg noch verschlossen.
„So möchte ich in die Südschweiz und reise zu meinem dreißigsten Geburtstag nach Zürich.“
„Ich komme nach. — Auf Wiedersehn, Marietta!“ „Leb wohl, Klabund!“
Zehn Monate verbrachte Marietta in Ascona. Anfang Dezember kam ein italienisches Visum in ihren Reisepaß. Kurz vor der Grenze von Chiasso legte sie diesen zurecht, dachte an Klabund und ließ die leeren Seiten fächerartig am Daumen der rechten Hand vorübergleiten.
Da wirbelte durch die Luft ein großer, weißer Schmetterling: Ein Zettelchen war’s. — Woher kam es? — Durchs Fenster? — Es fiel ihr in den Schoß. — Sie nahm es auf — und las:
Ich kam — ich geh.
Wo — hin — wo — her?
Ich fall – ich steh.
Viel — leicht — viel — schwer.
Ich steh — ich fall,
Ich werde sein. Ich bin ein All,
Doch auch all-ein.
Für Marietta auf die Reise:
Für Marietta auf die Reise:
Klabund mußte es beim Abschied heimlich zwischen die leeren Seiten des Passes gelegt haben. Über die italienische Riviera, von Ospedaletti bei San Remo über Rom, München und Berlin kam Marietta Ende Oktober 1925 nach Südfrankreich und befand sich im Jahre 1928 in Cassis. Oft wanderte sie mit einem kriegsverletzten schottländischen Künstler durch die Pinienwälder hinüber nach Laciotta. Dort begegneten ihr eines Abends zwei deutsche Maler in einer Bar und berichteten über Klabunds Heimgang in die ewigen Gefilde, nach Vollendung seines 37. Lebensjahres. Sie überreichten ihr eine Schweizer Illustrierte, die zum Nachruf ein bis dahin unveröffentlichtes Gedicht mit dem Autogramm des Dichters abdruckte:
Solang wir noch im Licht sind,
Wir werfen Schatten weit.
Erst wenn wir einmal nicht sind.
Sind wir vom Joch befreit.
Solang wir auf der Welt sind,
Es wechselt Nacht und Schein,
Erst wenn wir ganz erhellt sind,
Wird ewig Sonne sein.
Die Freundschaft zwischen Marietta und Klabund dauerte bis zu Klabunds Tod, Guido von Kaulla schreibt:
„…Führt der Zufall später Marietta und Fredi immer wieder einmal zusammen, schätzen sie sich als noble Gefährten. Sei es auch nur, daß er ihr im Fasching 1915 – erstmals waren in Europa Pässe notwendig geworden! – den Paß für ihre Zürichreise stiftet – oder sei es, daß er ihr im Nachkriegsberlin heimlich die Verse des „Armen Kaspar“ bei der Visum-Seite in den Paß legt, so daß Marietta sie auf ihrer Italienreise an der Grenze beim Aufblättern als Gruß vorfinden muß.“
Am 19. Januar 1981 stirbt Marietta di Monaco in einem Altenheim in München. Sie ist im alten Teil des Münchener Waldfriedhofs im Grab Nr. 222-3-171 beerdigt.
Die Harfenjule – Geschichte eines Gedichtbandes
Der Erstdruck dieses Gedichtbandes erscheint 1927 im Verlag „Die Schmiede“ in Berlin. Fredi nennt ihn „Neue Zeit-, Streit- und Leidgedichte“ und ich lese viele Gedichte eines politisch engagierten Dichters.
Die Zeiten ändern sich – aus den „Goldnen Zwanzigern“ werden langsam die Jahre der „Weltwirtschaftskrise“ und ein großer Teil der Bevölkerung hat am diesen „Goldenen“ keinen Anteil, in einem Vorwort heißt es daher:
„… Der Autor ließ „Die Harfenjule“ 1927 in einer preiswerten Heftchen-Ausgabe herausbringen, damit möglichst viele sie sich leisten konnten – so preiswert, dass ein Zeilenwechsel in den Gedichten nur nach jeder Strophe erfolgte und ein Inhaltsverzeichnis ganz eingespart wurde; zumindest Letzteres sei hier nachgeholt.“
Das Inhaltsverzeichnis erspare ich mir, denn alle in der ersten bis zu den nachfolgenden Auflagen erschienenen Gedichte finden sich in der „Harfenjule“ – vielleicht interessant aber: Mit der „Ode an Zeesen“ endet die Erstausgabe des Jahres 1927.
Am Anfang die Frage, wer aber gab diesem Gedichtband der Namen oder wer war die Harfenjule? Dieses literarische Denkmal der Harfenjule übernahm Klabund, und 1982 erschien in einer Überarbeitung im Eulenspiegel-Verlag der Sammelband „Die Harfenjule“. In diesem Band sind jedoch die Lieder der originalen Harfenjule weggelassen worden. Gedichte aus anderen, älteren Veröffentlichungen oder dem Nachlass wurden hinzugefügt. Hanne Wider und Hannes Wader haben Texte aus der Harfenjule vertont.
Die Harfenjule
Luise Nordmann, geb. Schulz, Tochter eines armen Brettschneiders, wurde am 6. September 1829 in Potsdam geboren. Von Geburt an blind, konnte sie nach einer Augenoperation, die der bekannte Augenarzt von Graefe spendierte, wenigstens mit einem Auge etwas sehen. Sehr bald galt sie als Berliner Original und Zeitungsberichte machten sie in der Stadt bekannt. Übersehen wurde aber, in welcher Not sie mit ihrer Familie lebte.
Kurios, einer ihrer Gönner, ein Offizier der russischen Kolonie in Potsdam, gab ihr Gesangsunterricht und Luise sang Opern-Arien auf den Hinterhöfen Berlins. In einer Chronik heißt es: „Eine bettelarme Frau, fast blind, ihr Instrument geflickt. Eine traurige Gestalt, die himmlisch sang. Von Liebe und vom Leid: „Ick bin die Harfenjule mit jroßem Pompadur, in janz Berlin und Rixdorf spiel ick die Harfe nur.“
Potsdamer Sängersiedlung
Im Brandenburg Portal fand ich zu der Siedlung diese Zeilen:
„ … Der Preußenkönig Friedrich Wilhelm III. (1770-1840) galt als zugeknöpfter und den Musen fern stehender Mann, notorisch auch seine Wortkargheit. (…) Seine Majestät war aber nicht rundweg unsensibel. Er liebte immerhin – zur Pflege seiner angeschlagenen Seele – russische Gesänge. Und die russophile Neigung zielte nicht nur aufs Musikalische. Friedrich Wilhelm beeinflusste das Bild des Potsdamer Nordens aufs Schönste: in Gestalt der Siedlung Alexandrowka. (…)
1999 wurde dem damals schon bestehenden Potsdamer Weltkulturerbe die Kolonie sowie weitere städtische Denkmalbereiche hinzugefügt.
Die Häuser wurden in den Jahren 1826/27 auf Weisung und auf Kosten des Königs im Gedenken an seine Freundschaft zum Zaren Alexander I. gebaut. Der Baubefehl ist aber nur aus der vorausgegangenen preußisch-russischen Geschichte zu verstehen. 1812 zwingt der noch mächtige Napoleon Friedrich Wilhelm, am Russlandfeldzug der Grande Armee teilzunehmen. 22 000 preußische Soldaten kämpfen gegen das zaristische Heer. Es bleibt nicht aus, dass sie russische Gefangene machen und mit nach Haus bringen. Nach der Niederlage Frankreichs und mit dem Beginn der Befreiungskriege gegen Napoleon (1813-15), in denen die ehemaligen Kriegsgegner Preußen und Russland Alliierte sind, wandelten sich die russischen Gefangenen zu einer Art Militärpersonen auf Dienstreise (russ.: komandirowka). Mit allen Ehren wurden sie der Leibkompanie des Ersten Garderegimentes zu Fuß zugeordnet. Mehr noch: Nach einem Casting finden sich 62 russische Soldaten und Unteroffiziere unfreiwillig als Mitglieder eines Chores wieder, der, wie es heißt, mit „Gesang und Tamburin und kleinen Glöckchen“ bei der Truppenbetreuung im Einsatz ist und bis nach Paris kommt.
Doch für die russischen Sänger ist es eine Dienstreise ohne Ende. Es zerschlägt sich die Hoffnung auf Rückkehr in die Heimat. Alexander I. hat die Truppe inzwischen dem preußischen König zum Geschenk gemacht. Die „Havelrussen“ bleiben im preußischen Militärdienst und ziehen später in die für sie errichtete, durchaus komfortable Siedlung Alexandrowka ein. (…)
Was in der phrasenerstickten Zeit der „deutsch-sowjetischen Freundschaft“ nicht möglich war, wurde in Potsdam nachgeholt. Studenten der TU Berlin, Baufachleute und vor allem die „Potsdam Stiftung Kremer“ haben das Haus Nr. 2 mit Engagement und Sachkunde in ein sehenswertes kultur- und baugeschichtliches Denkmal verwandelt, das vom Leben der einstigen Kolonisten berichtet. Damit wurde Alexandrowka zu einem geretteten Symbol preußisch-russischer Freundschaft.
Im Jahr 1865 heiratet Luise Schulz den Puppenspieler Emil Nordmann und die beiden traten als Schausteller in einem Wandertheater auf. Zwei Kinder hatte sie, aber bereits 1871 waren Mann und Kinder gestorben, alle an Tuberkulose.
Nach dem Tod ihres Mannes wohnte sie in Schöneberg, Steinmetzstraße 46 und lebte bis zu ihrem eigenen Tod mit ihrer Schwägerin in einer Kellerwohnung, ein Berliner Original und die „Mutter aller Straßenmusikanten“. In seinen Zeichnungen hat Heinrich Zille sie unsterblich gemacht. Den Künstlernamen „Harfenjule“ gaben ihr auf den Berliner Hinterhöfen Rotznasen. „Hof-Konzert für ein paar Groschen, gewickelt in Stullenpapier. Aus Fenstern geworfen, mang die Mülltonnen. Tingeltangel im kaiserlichen Berlin, Luise brachte Musik ins Milljöh, Radio gab’s noch nicht“ heißt es in einer Biographie.
Am 7. Januar 1911 starb Luise Nordmann., am 12. Januar beerdigte man sie auf dem evangelischen Luther-Friedhof in Berlin-Lankwitz. Im II. Weltkrieg wurde ihr Grab zerstört, aber man setzte ihr auf dem Friedhof einen Gedenkstein, er wurde im Jahr 2010 gereinigt und restauriert. Im Volksmund lebte Luise noch lange fort und man sagte von ihr:
„Sie starb ganz sanft, schlief einfach ein, das war ein Trost.“
Sie wurde trotz ihres mühseligen Lebens 82 Jahre alt und ein wenig berühmt. Auf ihrem Grab liegt manchmal ein Blumenstrauß und mittwochs spielen auf dem Friedhof 16 Harfen zu ihren Ehren, ist wenigstens zu lesen.
Bis zu ihrem Tode 1911 zog sie tagtäglich bei jedem Wetter mit einem breiten schwarzen Strohhut auf dem Kopf und die reparaturbedürftige Harfe auf den Rücken geschnallt durch die Straßen. Ihr typisches Auftreten mit blumengeschmücktem Strohhut und Handharfe wurde oft in Skulpturen und Bildern festgehalten.
Und so dreht sich meine Spule,
Tief vom Innersten bewegt,
Bis die alte Harfenjule
Einst im Himmel Harfe schlägt.
Ein gewisser Peter Panther schrieb am 12. Juli 1927 in der Weltbühne:
„… Harfenjulius Klabund – Ja, und dann hat er die reizende Idee gehabt, seinen Kleinkram an Gedichten genau, genau so zu drucken wie meine Lieblingshefte, die ich so oft im Papierladen gekauft habe: „Wo ist der Himmel so blau wie in Wien? sowie hundert andre Schlager der Saison.“ Er: das ist Klabund, und seine neue Gedichtsammlung, die sehr lustig ist, heißt „Die Harfenjule“ und ist im Verlag der Schmiede zu Berlin erschienen. Zum für in die Tasche zu stecken.
Sehr reizvoll ist zunächst, dass die Gedichte, wie das in den Zwanzig-Pfennig-Heften der Operetten-Texte üblich ist, in langen Prosazeilen ausgedruckt sind. Das gibt den Versen so etwas kurz Abgehacktes, auch weiß man nicht genau, wann eigentlich eine Zeile aus ist, man muss mit dem Finger lesen, und manchmal bleibt ein entzückendes Reimwort klein und ärmlich dastehen. „niedertauen“. Punkt. Aus. Wie stark und sicher müssen Gedichte gebaut sein, mit denen man sich diesen Scherz erlauben kann!
Klabunden seine sind das. Sie sind mehr als das. Die meisten freilich sind Notentexte; sie pfeifen, brüllen, schreien und orgeln nach Musik. So ein Ding wie die „Hofsänger“ sind ein Chanson erster Güte – außer Mehring weiß ich keinen, der das kann. (Klammer auf. Mehring, warum schreibst du keine Lieder mehr! Es ist eine Affenschande. Klammer zu.) Sehr schön ferner das „Bürgerliche Weihnachtsidyll“, in dem die Gesangbuchverse so lustig mit Berliner Keßsheiten kollidieren.
O Kind, was hast du gemacht?
Stille Nacht, heilige Nacht.
Leis hat sie ihr ins Ohr gesungen:
„Mama, es ist ein Reis entsprungen!“
Papa haut ihr die Fresse breit
Oh, Oh, du selige Weihnachtszeit
Dann ist mein Lieblingslied in dem Heftchen enthalten: „Liebeslied“, Klabund hat es mir einmal leise am Klavier vorgesungen – er hatte es in sein Notizbuch gekritzelt, und da saß er so still und bräunlich am Klavier, er hätte ruhig zum Schluss mit dem Hut einsammeln gehen können. „Hui über drei Oktaven, Glissando unsere Lust! Laß mich noch einmal schlafen an deiner Brust.“ Das ist ein schönes Lied. Was: „Und ich baumle mit die Beene“ anbetrifft, so hat dieses Lied, wenn ich recht bin, der Ebinger ihre Marke gegeben.
So ein Versband ist immer ungleich – manches ist aus Pappdeckel, manches wie aus Stahlplättchen zusammengesetzt, vieles aus einem Guss. Es glückt nicht immer. Wunderschön die große „„Ode an Zeesen“.
Das ist eines von den Heften, das ich einmal – in achtzig Jahren – vergilbt und halb zerbröckelt zur Nachkontrolle lesen möchte. Mindestens zwanzig dieser Lieder werden dann noch frisch sein. Und das ist sehr viel.“
Übrigens, hinter Peter Panther und Theobald Tiger verbirgt sich Kurt Tucholsky und ich schließe mich seiner Meinung einfach an.
https://www.youtube.com/watch?v=RUkkuIwNLwc
Blandine Ebinger singt „Die hysterische Ziege“,
Chanson von Friedrich Hollaender
Friedrich Hollaender, Klavier
Heinrich Zille schrieb mit seinem schnoddrigen Humor: „Jibt dir det Leben een Puff, denn weine keene Träne! Lach dir’n Ast und setz dir druff und baumle mit de Beene“, Klabund steckte an.
Einen Teil der Harfenjule-Gedichte schrieb Fredi lange vor dem Erscheinungsjahr 1927. Guido von Kaulla in seiner Biographie „Brennendes Herz“:
„… Die 1927 erscheinende Gedichtausgabe „Die Harfenjule“ ist – gleich ihrem Verfasser – ein Novum und bis heute Unikum auf dem deutschen Literaturmarkt. Mit ihr ist Fredis alter Plan von 1913 endlich Wirklichkeit geworden. Aber nicht für eine Mark, sondern 50 Pfennig. Nicht nur 30 Seiten, sondern 64. Nicht nur 30 Gedichte, sondern 180. Die einzelnen Texte sind fortlaufend gesetzt. Das ganze – genau in der Aufmachung eines Schlagerheftchens – hat einen roten Umschlag von Briefpapierdicke, mit einem Foto des Poeten. Einfaches graues Zeitungspapier. Der Inhalt umspannt den ganzen Bereich seiner Lyrik. (…)
Die meisten Gedichte sind zwischen 1911 und 1926 entstanden und zum großen Teil schon veröffentlicht. Nur wenige der Verse reichen in der Entstehung noch weiter zurück. Nur ungefähr ein Drittel des Heftes gehört dem Bänkelsang, den Protestsongs und Versen, die aktuelle Ereignisse glossieren. Das zweite Drittel der Diversa enthält zum Beispiel die Klage eines Mannes über seine eitle ungetreue Frau, deren Ehe durch eine Fülle von unbezahlten Rechnungen gekennzeichnet ist. Um die Umfangsgrenze von vier Bogen einhalten zu können, wurden aus den Korrekturbogen hier u. a. die bereits gesetzten französischen Gedichte herausgenommen. Das restliche Drittel umfasst zumeist für Carola Neher entstandene Liebeslyrik.“
Zum Abhören auf das Dreieck klicken
Gedicht Er hat als Joehr von fuffzehn Jahren
http://www.welk.de/klabund.html
Etwas genauer geht es schon zur Geschichte der „Harfenjule-Gedichte“. Denn aus Locarno schickt er im November 1918 ein Bündel an Gedichten nach Passau, dass Guido von Kaulla als „Tingeltangel-Chansons und sozialkritischen Versen aus der Zeit, als er zwei Semester lang in der rein proletarischen Umwelt der August-Straße im Berliner Stadtteil Wedding lebte – und auch Couplets schrieb für den Theatermann Ferdinand Gregori zur Altberliner Posse „Eine leichte Person“. Auch da ist Klabund Vorläufer, nicht Mitläufer.“ Und im Band natürlich zu finden das Gedicht der „Heileigen drei Könige“ warum und wieso kommt in einem späteren Kapitel.
Von Klaus Mann stammen die folgenden Sätze:
„… Die besessensten Lobpreiser des Lebens waren immer die, die mit dem Tod auf dem vertrautesten Fuße standen. Wir haben den Rückschlag, in seinen depressiven Gedichten, in der „Harfenjule“ stehen die stärksten und bittersten. Manche von ihnen erinnern an die Jammerschreie von der Matratzengruft Heinrich Heines, sie haben dieselbe schamlos atemberaubende Unmittelbarkeit. Wenn hinter dieser Bitterkeit nicht Liebe stände, wäre sie unerträglich, aber man spürt sie, bei ihm so stark wie bei Heine.“
„Das Ende der Lyrik. Vorwort zu einem neuen Gedichtband. Von Klabund.“ So lässt ihn das „Berliner Tageblatt“ (5.3.1927) nun selbst zu Wort kommen:
„Kein Zweifel kann obwalten: Die Konjunkturkurve der reinen oder unreinen, der Lyrik überhaupt – ist in jähem Fall begriffen. Kein Mensch kauft, liest, druckt fürder Gedichtbücher, nur einige unverbesserliche Optimisten sind noch mit der Herstellung teils gereimter, teils ungereimter Verse beschäftigt, die in immer kleiner werdenden Portionen in Zeitschriften und Zeitungen zum tropfenweisen Ausschank gelangen. (…) Aber, so fragt sich der kritische Verstand nüchtern wägend auf dieser Erde zurückgeblieben – ist es mit der Lyrik wirklich materiell, essentiell aus? – Ist die mehr oder weniger sinnlos zusammenassoziierte Sozietät bilderreicher und gedankenarmer Konglomerate – nicht mehr ökonomisch oder seelisch verwendbar? Hat das Gedicht als solches aufgehört, effektiv und moralisch zu existieren? Dies war eine heikle Frage und für einen lyrischen Schriftstellereibesitzer mit langjährigem Dampfbetrieb geradezu katastrophal aufgeworfen. (…)
Oder – war es nicht möglich, das noch vorliegende Material (wie ja die Gasanstalten selbst den Koks trefflich zu verwerten gelernt haben) zu verwenden, zu modeln, umzuformen – alten Wein in neue Schläuche – ich meine: die noch auf Lager liegende Lyrik unter falscher Flagge aufs stürmische Meer der Druckerschwärze hinaussegeln zu lassen -noch ist deftige Prosa gefragt – so wird aus lüsternem Gestammel ein lustiges Apercu, aus einer Ode an den Großen Kurfürsten eine beschwingte Annonce kurfürstlichen Magenbitters. Sanfte Töne gehen in kesse Charlestons über. Die Jetztzeit wird zur Jazzzeit. (Herr Setzer: Drei Z!) Es gab ein Sechsnächtedichten – dann war die Umwandlung sämtlicher Gedichte in prosoide Schlager restlos gelungen, und aus einem lyrischen Gedichtbuch ,Das Glockenspiel‘ (…) wurde im Handumdrehen ,Die Harfenjule‘, ein ruppiges Heft auf Zeitungspapier mit achtzig der allerneuesten im Adlon und im Obdachlosenasyl gleich beliebten Schlager (…), erschienen im Verlag Die Schmiede und für nur 50 Pfennig (Selbstkostenpreis) in allen schlechteren Buchhandlungen erhältlich!“
Kurt Wafner meint, der Abdruck des Liedes in dieser Sammlung werde in verschiedenen Publikationen als Erstveröffentlichung bezeichnet. Eine Fehlinterpretation. Wafner: „In Wahrheit aber erschien es viel früher: im Heft 1 der Zeitschrift „Schall und Rauch“ vom Dezember 1919. Interessant ist, dass Klabund in der späteren Edition geringfügige Korrekturen anbrachte. So heißt es in der Urfassung:
Eifrig haspelt meine Spule,
Immer zu Musik bereit,
Denn ich bin die Harfenjule
Schon seit meiner Kinderzeit.
Später wurde aus den beiden ersten Versen:
Emsig dreht sich meine Spule,
Immer zur Musik bereit…
Außer an der „Harfenjule“ hat der Dichter noch andere Arbeiten später verändert, ausgebessert, ergänzt oder gar umgeschrieben, aber nur selten sind Vergleiche möglich, da Originalmanuskripte Klabunds Rarität geworden sind. Hier der Abdruck der Harfenjulen-Urfassung aus der Programmzeitschrift ,Schall und Rauch‘, Heft 1 vom Dezember 1919 (von der 2. Strophe an):
Und ich spiele meine Harfe,
Wo und wie es immer sei,
Zum Familienbedarfe,
Kindstauf oder Rauferei.
Niemand schlägt wie ich die Saiten,
Niemand hat wie ich Gewalt.
Selbst die wilden Tiere schreiten
Sanft wie Lämmer durch den Wald.
Und der Rührung Träne kullert
Auf das Harfenbandelier,
Und der leere Magen bullert
Sehnsuchtsvoll nach Schnaps und Bier.
Reich mir einer eine Halbe
Oder einen Groschen nur!
Als des Sommers letzte Schwalbe
Schwebe ich durch die Natur.
Also dreht sich meine Spule,
Tief im Innersten bewegt, –
Bis die alte Harfenjule
Einst im Himmel Harfe schlägt.
Als Abschluss der so genannten „Kabarettzeit“ und als Übergang zu den folgenden Kapiteln ist die „Harfenjule“ bestens geeignet. Denn so ganz stimmt der Satz von Kurt Wafner nicht, wenn er schreibt:
„… Ach für Klabund erlosch der Stern am Kabaretthimmel. Nun, er war immer zweigleisig gefahren, mit der schnoddrigen Gebrauchslyrik für den schnellen Verzehr am Kabarett, als auch mit Werken, die ihn mit Recht in den künstlerischen Olymp führten. So endet seine Karriere als Autor und Interpret fürs Kabarett 1922.“
Aus der Geschichte der „Harfenjule“ geht doch hervor, Fredi hat lange vor seinen Engagements in „Schall und Rauch“ und anderen Bühnen diese Ausdrucksform benützt – ja gebraucht – und er hat sie beibehalten, nicht nur in seinen Gedichten.
Eifrig haspelt seine Spule! – Weiter!
Un wie jehts weiter?
Und dazu nochmal zurück in das Jahr 1919 – nach Monti – ans Kriegsende. Der Kaiser ist ins Exil und in deutschen Städten marschieren die „revolutionären Garden“ und Klabund gerät in diesen Strudel.
Kurt Wafner:
„… Der Dichter geriet dann immer mehr in den Strudel revolutionärer Ereignisse. Sein unermesslicher Wille zur Gerechtigkeit und Menschlichkeit trieb ihn dazu, aber wohl auch eine Portion politischer Naivität.“
Etwa Anfang April 1919 ein Telegramm – Erich Mühsam – sein Freund aus der Münchener Studentenzeit ist verhaftet worden und Klabund möge versuchen, ihm zu helfen.
Guido von Kaulla:
„… Ein unbekannt gebliebener Münchener schickt ein Telegramm an Klabund: er möge sich um Mühsam kümmern; gedacht ist: ihn mit Wäsche und Büchern zu versorgen.
Da aber die Möglichkeit besteht, dass Klabund zu den Münchener Aufständischen gehört, wird er vom 17.4. – 26.4.19 in (lt. Bürger-kriegs-terminus-technicus) „Schutzhaft“ genommen, aus der er – nach Bürgschaft durch die Schwiegereltern – entlassen wird; mit der Zeitungsnotiz: „“entlassen, da sich der Verdacht politischer Gefährlichkeit als unbegründet erwies.“
Kurt Wafner schreibt:
„… Der Anarchist Erich Mühsam gehörte zu den führenden Köpfen der bayerischen Räterepublik. Er wurde von den konterrevolutionären Truppen der Reichswehr inhaftiert und zu fünfzehn Jahren Festungshaft verurteilt. Klabund konnte sich von den politischen Ereignissen in Deutschland kein rechtes Bild machen und stand dem Geschehen einigermaßen hilflos gegenüber. Ideologische Begriffe wie Sozialismus, Demokratie, Revolution waren für ihn zweitrangig. Wichtig war die moralische Seite – das Menschliche. Da war ein Freund in Not. Da musste er helfen. Natürlich erreichte er gar nichts. Es wäre ja auch ein Wunder gewesen, wenn er, der kleine „Asphalt-Literat“‘, Polizei und Justiz hätte umstimmen können.
Stattdessen wurde er selbst Opfer seiner Bemühungen. Erschrocken von der Nachricht war er sofort nach Deutschland gereist und am 16. April 1919 in München in „Schutzhaft“ genommen worden. Das Telegramm war der Zensur in die Hände gefallen, und man hatte Klabund Teilnahme an spartakistischen Umtrieben vorgeworfen. Die Haftdauer war auf zehn Tage festgesetzt worden, die er im Gefängnis in Straubing absitzen musste.“
Fredi führt im Gefängnis Tagebuch und Klabund wäre nicht Klabund, wenn er diesen Aufenthalt nicht in Gedichten verarbeitet hätte. Und die habe ich in einem Band „Verse aus dem Gefängnis“ zusammengefasst.
Vorweg einen Satz: Briefe, die in diesem Tagebuch auftauchen, schrieb Klabund nach Passau, nicht nach Crossen.
Nach seiner Verhaftung schaltet Schwiegervater Max Heberle einen Kollegen ein – den Nürnberger Justizrates Dr. Zilcher, der gleich Heberle Mitglied der gesellschaftlichen Vereinigung „Schlaraffia“ ist. Und der schreibt am 23. April 1919 nach Passau:
„… Heute früh war ich nochmals beim Generalkommando vorstellig und erhielt endlich die Erlaubnis, Henschke im Gefängnis zu besuchen. (…) Ich habe sofort sowohl an das Generalkommando Nürnberg als auch an das Volksgericht Passau Antrag auf Haftentlassung gestellt und mich eventuell zur Kautionsleistung erboten. (…) Es wird zweckdienlich sein, wenn Sie selbst beim dortigen Volksgericht, bzw. Staatsanwalt desselben, vorstellig werden und eventuell die Vernehmung des Mühsam darüber verlangen, daß dieser seit über drei Jahren in keinerlei Verbindung zu Henschke-Klabund steht. (…) Ich habe dem Verhafteten eine bessere Abendkost durch Vermittlung des Gefängniswärters erwirkt und werde ihn auch mit Büchern versehen. Mit koll. Hochachtung!“
Und über die Entlassung Fredis schreibt Guido von Kaulla:
„… Am 26. gehen die Tochter des Justizrates, Lily Zilcher, und Dr. Georg Gustav Wieszner mit Wäsche und Büchern zur Militärabteilung des Untersuchungsgefängnisses. Aber unterm Eisengatter des Tores kommt Klabund ihnen schon entgegen. Man begibt sich erst einmal auf die Festwiese und sieht im Kasperltheater „Fausts Höllenfahrt“ „im schönsten bayerischen Dialekt“, indes sich in Nürnberg ein kommunistischer Putsch vorzubereiten scheint.“
Und Fredi nach seiner Entlassung: „Was Putsch! Was Revolution! Ich will erst wieder einmal atmen und lächeln dürfen!“
Dr. Georg Gustav Wieszner – geboren am 19. März 1893 und am 22. Januar 1969 gestorben, seit 1914 Student an der Universität München, studiert Germanistik, Psychologie, Philosophie und vor allem Theaterwissenschaften, promoviert 1921 mit der Dissertation „Richard Wagner als Theaterreformer“.
Berufung als Dozent an die Nürnberger Fortbildungsanstalten, seit ihrem Bestehen (1921) an der Volkshochschule Nürnberg. Baut dort eine Theatergemeinde auf. Richtet an der Staatsschule für angewandte Kunst (Kunstgewerbeschule) das Stilgeschichtliche Institut ein. 1934 zwangsweise in den Ruhestand versetzt.
Seit Juli 1945 Studienprofessor und Direktor der Volkshochschule Nürnberg. Vom Nov. 1945 bis Okt. 1947 Leiter des Kulturamts der Stadt Nürnberg. In den Ruhestand versetzt im März 1969. Diverse einschlägige Veröffentlichungen. Träger der goldenen Bürgermedaille der Stadt Nürnberg.
Und dieser Dr. Wieszner – „Kutscherschüler, Gesprächspartner aus dem „Cafe Stefanie“, drei Jahre jünger – kann Klabund als Eisenbahnlektüre mit dem Reclambändchen der deutschen Übertragung der „Geschichte vom Kalkzirkeh“ dienen. Die französische „Kreidekreis“ – Übertragung des Julien war Klabund schon zuvor in der Bayerischen Staatsbibliothek vor Augen gekommen“, (Guido von Kaulla). Eine wichtige Lektüre, wie sich zeigen soll.
Klabunds Tagebuch veröffentlicht Matthias Wegner in seinem Buch „Wo andre gehen, da muss ich fliegen“ – Ein Lesebuch, es beginnt am Karsamstag, dem 19. April 1919. Guido von Kaulla aber datiert es bereits einen Tag früher:
„… „18. April 1919. Es ist elf Uhr. Ich sitze im eiskalten Arrestlokal von Straubing auf der Pritsche und schreibe diesen Brief. Abends soll ich nach Nürnberg, zum III. Armeekorps, aber vielleicht auch erst morgen. Wenn ich daran denke, daß ich diese Nacht hier in dem eiskalten feuchten Loch, ohne Strohsack selbst, zubringen soll, schaudert es mich. Und ich habe eine böse Nacht schon hinter mir. Man warf mich in Passau in das Arrestlokal, zu ebener Erde, feucht und ganz dunkel. (Auch diese Zelle hat kein Licht…) Nur eine Pritsche mit Strohsack darin. Du erinnerst Dich, was uns der Offizier versprochen hatte, der mich verhaftete? Er hat ja auch umsonst versprochen, daß ich am nächsten Tage der zivilen Behörde in Passau übergeben werden sollte. (Haben die Offiziere ihren Beruf gewechselt? Sind sie Polizisten geworden?) Um halb drei in der Nacht kam ein offenes Auto und sauste mit mir durch die Nacht nach Plattling. Der Reif lag auf den Feldern wie Schnee. Der Wind fauchte. Ich fror bis ins Rückenmark. In Plattling bestieg ich, einen Posten mit geladenem Gewehr neben mir, den Zug nach Straubing. – Eben bin ich das erstemal vernommen worden, es handelte sich um das Euch bekannte Telegramm. Das ist die ganze Geschichte. Daraufhin beschuldigte man mich, an der Räterepublik teilgenommen zu haben. Du weißt, lieber Vater, wie ich zu ihr stehe, und daß ich nicht lüge, weißt Du auch. Und Du weißt, daß gerade mein Verantwortungsgefühl mich davon abgehalten hat, mich in die Affäre zu mischen. Und jenes Telegramm, das ich ganz privat aufgefaßt habe, soll mich nun zum offiziellen Emissär der Räteregierung stempeln?
Denkt Euch: in der Vernehmung wurde mir noch Majestätsbeleidigung von 1917 vorgehalten (im Untersuchungszimmer hingen die Bildnisse dreier Prinzen)! Von einem Beamten der sozialistischen Republik! Was ich in den Zellen und durch den Begriff „Zelle“ ausstehe, brauche ich Euch nicht zu beschreiben, ich, der ich die innere und äußere Freiheit über alles liebe und, ein Schüler Laotses, jede Macht hasse, weshalb ich ja auch gegen die Diktatur des Proletariats bin, weil sie den gleichen Machtdünkel in ihm züchtet wie einst in den herrschenden Klassen der Imperialismus.“
Warum dieser Brief als erster Teil des Tagebuches nicht in allen Veröffentlichungen zu lesen ist, beschreibt Guido von Kaulla:
„… Der letzte Satz und überhaupt der ganze Brief wurde bei der Erstveröffentlichung 1920 in einer links-radikalen Berliner Tageszeitung keineswegs unterschlagen. Das blieb einem sich als „Klabund-Forscher“ bezeichnenden Wiener vorbehalten, der bei der Herausgabe eines nach dem Zweiten Weltkrieg gestatteten Zweitdrucks als selbständiger Broschüre diesen Brief wegließ, da er nicht linientreu ist und nicht geeignet, sich damit bei linksfaschistischen Intellektuellen anzubiedern – worauf Klabund (nach dem Ersten Weltkrieg) niemals Wert legte.“
Mit dem Karsamstag, 19. April 1919 geht das Tagebuch weiter und jetzt wie in allen anderen Veröffentlichungen:
Liebe Mutter, lieber Vater, heut ist nun schon der dritte Tag, dass ich gefangen bin, und immer ist noch kein Ende abzusehen. Man schleppt mich von Zelle zu Zelle, ich habe den Eindruck, als gelte der Mensch noch weniger als im kaiserlichen Deutschland. Von irgendwelchem Verständnis für mich war bei denen, die mich bisher verhörten, gar keine Rede. Ich wurde einfach angeschnauzt. Man fühlt sich ganz in der Rolle des Richters und traut dem „Angeklagten“ prinzipiell nur die mala fides zu. Was soll ich tun, wenn man einfach sagt: Das ist nicht wahr, das ist nicht wahr. Ein äußerst vereinfachtes Gerichtsverfahren, das an die zaristischen Gerichte erinnert. Was ist diesen „Machthabern“ ein gefangener Mensch, der die Freiheit will – nicht aus Laune, sondern in seinem immanenten Gerechtigkeitsgefühl? Im Garnisonskommando Nürnberg duzte uns der Gerichtsoffizier (oder was er war): „Kerls, ihr kommt jetzt einfach in Schutzhaft!“ (Schutzhaft, eine blumenhafte Bezeichnung für das, was mit uns geschieht.) Und ein fetter rosiger Mensch in Zivil, der hinter ihm stand, schrie, frei, gesättigt und glücklich: „Mit dem Verhör hat’s ja keine Eile…“ Ich konnte mich nicht enthalten, mich umzudrehen Und zu schreien: „Damit hat es wohl Eile, denn wir sind Menschen, die des edelsten menschlichen Attributes der Freiheit}, der persönlichen Freiheit, beraubt sind, und werden nun schon Tage und Nächte lang hin und her gezerrt.“ – Heute Nacht beherbergte uns das Zuchthaus Straubing. Es war wenigstens warm, aber die Prozeduren, die man mit uns vornahm, gehören zum Erniedrigendsten, was der Mensch dem Menschen antun kann – bis ins After hinein haben sie gesehen und gefühlt, ob man irgendwas darin verstecke… Ich möchte gerne wissen, wie man Verbrecher behandelt, wenn man „Schutzhaftgefangene“ so behandelt, oder vielmehr, ich weiß es: nicht schlimmer, nicht besser, nur genauso. Denn heute ist eine Zuchthausgefangene mit uns gefahren, die wegen schweren Diebstahls zu jahrelangem Zuchthaus verurteilt war.
Ich schreibe diese Briefe ins Blaue hinein, nur um bei Euch zu sein. Um in Gedanken wenigstens von Menschen geliebt und gut behandelt zu sein. Übrigens sind die einfachen Menschen, die Soldaten, die uns begleiten, die Arrestwärter usw., bei weitem die menschlichsten und freundlichsten. Die Behörden sind von derselben konventionellen Barschheit wie die früheren. Ich werde immer mehr vom revolutionären Deutschland enttäuscht. Was das kaiserliche gern gewünscht hätte: die Schutzhaft: das sozialistische hat es fertiggebracht, sie über mich zu verhängen. Ich habe das Gefühl einer unbeschränkten Militärdiktatur, wie nur je unter Ludendorff. – Hast Du mein gestriges Telegramm bekommen? Man versprach, es in Straubing aufzugeben. Aber ich durfte ja keinerlei Mitteilung dranhängen. Kannst Du nichts für mich tun? Kannst Du nicht für mich bürgen? Du bist doch ein vielbekannter Altbayer? Mein Reinlichkeitsgefühl wird natürlich auf Schritt und Tritt verletzt. Meine zwei Taschentücher sind zu Ende. Das Essen gestern: stinkender Stockfisch und eine schwarze Suppe, war nicht zu genießen. Abends im Zuchthaus war wenigstens die Suppe gut, und es gab Wasser und gutes Brot dazu.
Eben komme ich vom sogenannten Verhör im Justiz Kommissariat des dritten A. K. Man hörte mir halb zu, las nicht einmal das Protokoll ganz (das meine, das ich beifügte, erst recht nicht) und sagte einfach: „Das glaube ich nicht. Abzuführen bis zur weiteren Klärung der Lage ins Untersuchungsgefängnis Nürnberg. Akten gehen nach Passau.“ Da frage ich: warum bin ich überhaupt erst durch ganz Bayern geschleppt, gepeinigt und gemartert worden, um dann doch in Passau, woher ich komme, abgeurteilt zu werden? Wie lange kann das dauern? Ach, ich fürchte Wochen. Kann ich überhaupt in die Schweiz zurück? Wenn die sechs Wochen verflossen sind, dann komme ich nicht mehr nach Monti, ins Paradies zurück.
Nürnberg, 20. April 1919
Gestern Abend bin ich hier ins Gefängnis eingeliefert worden. Der Beamte, der mich gebracht, tröstete mich und meinte, „die Zimmer seien ganz nett…“ Selbstverständlich freute ich mich auf mein Zimmer. Wieder in einem Bette zu schlafen, wie schön müsste das sein. Die Präliminarien nahmen sich aber schon so seltsam aus, dass ich stutzte. Mir wurde alles Mögliche, mein Geld, auch meine Uhr, abgenommen, und dann wurde ich in eine Zelle geführt, die sich von der des Zuchthauses Straubing nur dadurch unterschied, dass eine kleine umklappbare Bank und ein unklappbarer Tisch vorhanden sind.
Im Zuchthaus Straubing war wenigstens Wasserspülung in der Zelle. Hier der alte Eimer schließt schlecht und verpestet die Luft. Zu essen bekommen habe ich gestern den ganzen Tag nichts als: einen Schnaps früh um 5 Uhr (nichts dazu) und abends um 6 Uhr ein Stück Brot und eine kleine Flasche Bier. Kein Mittag-, kein Abendessen, nicht einmal eine Tasse warmen Kaffee. Ich sagte, ich wolle auf meine Kosten mir etwas besorgen lassen. Man sagte, das ginge nicht. Ich werde bisher absolut wie ein Strafgefangener behandelt. Meine beiden Zellennachbarn sitzen wegen Unterschlagung und Diebstahl. Der eine rief mich gestern Abend leise an: „Kamerad“, sagte er, „Kamerad, hast Du eine Zigarette?“ Ich hatte keine mehr, denn ich hatte sie alle schon in Passau an die Soldaten des Wachkommandos verteilt, die sich so freundlich zu mir benahmen. „Kamerad“, sagte er weiter, „ich habe zu Weihnachten eine Gans stehlen wollen, da haben‘s mich erwischt, geschossen haben‘s nach mir, fünf Kugeln hab ich kriegt, zwei Monate hab ich im Lazarett gelegen und jetzt zwei Monate hier.“ Er schwieg. Dann nachdenklich: „Du, der Leutnant, der die letzten Tag hier war, der von den Spartakisten, der hat Zigaretten gehabt.“
Ich habe die Nacht sehr gefroren. Ich träumte von… Irene, aber ich weiß nicht mehr, was. Ich habe meine Unterhose und meine dicke wollene Weste anbehalten, und trotzdem fror ich. Früh um 6 Uhr schrie der Arrestwärter – ich bemitleide diese Geschöpfe um ihren Beruf als Kerkermeister. Dass sich Menschen überhaupt finden, einander solches anzutun. Der Arrestwärter schrie: „Aufstehen, der Henschke!“ Dann öffnete sich das Klappfenster an der Tür, eine Hand schob sich hinein: „Da hast’n Handtuch.“ Ich musste mich waschen, das „Bett“ machen, dann öffnete sich wieder das Klappfenster und eine Schale schwarzen Kaffees schwebte hinein. – Er ist wenigstens warm. – Heut ist Ostersonntag. Heute ist der Herr aus dem Grabe wieder auferstanden. Mich hat man in der Nacht vom Gründonnerstag ins Grab gelegt. Wann werde ich auferstehen? Diese Wände zerbrechen? Diese Stäbe zerknicken, wieder Flügel haben und ins Licht fliegen?
Ich wollte Euch noch gestern ein Telegramm schicken, Ihr wisst ja seit vier Tagen nicht, wo ich bin, und Eure Angst wird groß sein. Aber der Wärter wollte es nicht annehmen. Ich müsse warten, bis der „Feldwebel“ kommt. Wird er heute kommen? Es ist doch Ostern, und alles, auch der Untersuchungsrichter, hat Osterferien. Tagelang werde ich wohl noch sitzen müssen, ehe wieder ein Ruf an mich ertönt. Draußen lärmen die Spatzen. Sie singen wie Engel.
Man schmeißt mir einen großen Klumpen Brot hinein. Ich habe nichts, womit ich ihn schneiden könnte. Ein Messer wird mir nicht (ich weiß nicht warum, weil ich vielleicht auf den Wärter zugehen könnte?) zugebilligt. Ich versuche das Brot mit meiner Zahnbürste zu schneiden. Meine einzigen Kostbarkeiten sind: eine Zigarre und eine Orange. Ich würde es nicht wagen, die Zigarre zu rauchen, die Orange zu essen. Ich rieche nur an ihnen. Wenn ich an der Orange rieche, steigt Monti, mein tessinisches Paradies, vor mir auf. Die Mandelbäume blühen, die grünen Eidechsen schillern, und heute hat sicher Soffel, der gute Mensch, eine Zornnatter gefangen. Die Sonne scheint, die Maggia tönt, Rio, mein Hund, bellt, weil die Gartentür knarrt – und Freiheit – Freiheit überall!
Der Wärter schreit: „Ich brauch die Kaffeeschüssel!“ Ich kann das Getränk nicht so hinuntergießen, sonst wird mir schlecht. Ich sage ihm: „Warten Sie doch noch!“ Er ist sofort böse, vielleicht meldet er mich nun dem „Feldwebel“ nicht, dann ist wieder ein Tag und mehr als ein Tag verloren. Ich will ihn doch bitten, das Telegramm an Euch aufzugeben, und werde auch eine ärztliche Untersuchung beantragen. –
Nürnberg, 20. April 1919
Einer der Gefangenen, der draußen den Gang putzt, schiebt mir zwei kleine Hefte zur Lektüre durchs Fenster. Es ist die 14. und 15. Fortsetzung von „Die Tochter des Geigers oder das Rätsel der blauen Berge“. Auf dem Umschlag steht: „Dieser Roman beschäftigt sich mit dem geheimnisvollen Rätsel und erzählt wahrheitsgetreu die seltsamen Schicksale des mit wunderbarer Schönheit ausgestatteten Mädchens Klara Herzfeld.“ Ich freue mich darauf, in die seltsamen Schicksale des mit wunderbarer Schönheit ausgestatteten Mädchens Klara Herzfeld eingeweiht zu werden. Wird deren Schicksal so seltsam sein wie das meine und wird es von so wunderbarer Schönheit sein, wie du, Irene?
Das Mittagessen: eine Schüssel guter Suppe, in der zwei erbsengroße Fleischstückchen schwimmen, eine Schale guten Kartoffelsalats und ein Stück grün verschimmeltes Brot. Ich werde zum „Feldwebel“ geführt und bitte ihn, das Telegramm an euch aufzugeben. Er weiß nicht, ob es geht, eigentlich muss alle Post dem Untersuchungsrichter vorgelegt werden, der ist natürlich heute und morgen nicht da, es sind ja Feiertage! Auch der Arzt kommt erst übermorgen. Endlich verspricht er, einen kurzen Brief an Euch, nur meinen Aufenthaltsort enthaltend, absenden zu lassen. Wann wird er bei Euch sein? Doch kaum vor übermorgen. Die Tage verstreichen. Der Raum zerfällt. Die Zeit vergeht. Und nichts geschieht für mich. Alles: an sich und für sich. Ich bin ganz außerhalb der Erde. In der Hölle rotiere ich um mich selbst.
An der Wand hängt eine Tafel, und so sehe ich, dass meine armen Brüder, die Mitgefangenen, für ihre Arbeit im Gefängnis erhalten: Buchstaben auf Karten aufnähen, ein Gros Karten 5 Pfennig, fertigen von Rucksäcken, 1 Stück je nach Größe 1 bis 2 Pfennig, fertigen von Spielwaren, täglich 2 bis 25 Pfennig, Näh-, Stick- und Häkelarbeit, täglich 5 bis 10 Pfennig, Schreibarbeiten, für 500 Adressen oder dergl. 25 Pfennig, Schneider-, Schuhmacher-, Schlosser-, Schreiner-, Sattler-, Spengler-, Tüncher-, Maurerarbeit, täglich 25 Pfennig, Strümpfe und Socken stricken anstricken, ausbessern, täglich 3 bis 10 Pfennig. Ich kann es verstehen, wenn ein nicht sehr robuster Mensch, der wochen- oder gar monatelang gezwungen ist, in diesem, notdürftig zu einer Kammer umgewandelten Abort zu hausen, an sich zu zweifeln beginnt, vom Hammer des Schicksals niedergeschlagen, sich für die elendste aller Kreaturen hält und gerne bereit und fähig ist, sich sämtlicher Todsünden zu bezichtigen und alles zu gestehen, was man ihm zumutet. Ich zwinge mich, meine Bedürfnisse möglichst lange zurückzuhalten, weil es mich ekelt, die Tonne zu öffnen und der Gestank minutenlang im Raume stehenbleibt.
Wie spät ist es? 5? 6? Das Abendessen kommt: Die weiße Hand reicht durchs Klappfenster zwei kleine Stückchen Käse. Das ist alles. Als Beigabe ist wohl das schimmlige Brot von Mittag gedacht.
21. April 1919
Heute Nacht träumte ich wieder von Irene. Sie saß in ihrem seidenen Hochzeitskleid in einem Winkel einer Teestube und stickte an einem Kinderhemd. Es ist sechs Uhr. Der Aufseher: „Wachen Sie auf! Wir können auf Sie nicht warten! Nehmen Sie Ihren Jaucheneimer und leeren Sie ihn draußen aus!“
Ich möchte wohl manchmal heftig werden, aber ich sehe ein, dass es vollkommen zwecklos ist. Eine Respektperson bin ich ja gerade nicht. Ich sehe weder wild noch romantisch aus, wer würde Furcht vor mir haben? Nicht das scheueste Kind. Ich habe ein Knabengesicht, und man hält mich für einen unbesonnenen Gymnasiasten, der aus Spaß den Spartakistenrummel mitgemacht hat.
Die Zigarre habe ich dem Soldaten geschenkt, der gestern so gut zu mir war, und die Orange hab ich gestern Nacht noch aufgegessen. Ich konnte den Drang nicht mehr bezähmen. Meine beiden Wunder von der Welt draußen sind nicht mehr da. Die Orangenschalen hebe ich mir auf. Sie parfümieren die Zelle so süß, und ich kann sie, in Wasser gelegt, vielleicht als Zahntinktur verwenden. Ich habe eine Nordzelle. Ich sah vorhin, als mein Klappfenster offen stand, auf die Zelle gegenüber. Die war offen. Da lag die Sonne drin, wie eine schöne blonde Frau lag sie auf der Pritsche. Wie ich den Mann gegenüber um seine Sonne beneide. Er ist übrigens, ebenfalls in Passau festgenommen, ein Telegraphenbeamter, der angeblich als Telegrammzensor der Räterepublik in Passau gewirkt hat.
Es irrt immer eine vage Dämmerung durch meine Zelle wie vor Sonnenuntergang, als müsse es gerade Abend werden. Es mag sein, dass in dem von Kommunisten besetzten München der rote Terror herrscht. Sicher ist, dass in dem von der Regierung Hoffmann regierten Bayern der weiße Terror umso blinder wütet. Lieber Vater, du rühmst dich immer stolz, dass wir das freieste Wahlrecht der Welt haben.‘ Was nützt dir das freieste Wahlrecht, wenn du selber so unfrei bist, dass die Regierung jederzeit die Macht hat, dich, den Zivilmenschen, vom Militär verhaften und in Schutzhaft führen zu lassen. Noch immer besteht im revolutionären Deutschland die Schutzhaft; eine Einrichtung von wahrhaft mittelalterlicher Barbarei. Ist dies das neue Deutschland? War nicht immer eine der allerersten Forderungen freiheitlicher Männer gewesen: seien es Demokraten oder Sozialisten: dass zu allererst die Schutzhaft fallen müsse? Und sie besteht noch immer! Auch die private Zensur ist noch aufrechterhalten. Was nützt dir, lieber Vater, die schönste Gedankenfreiheit, wenn du deine Gedanken nicht frei zu äußern vermagst? Briefe an dich und von dir werden erbrochen, Telegramme aufgefangen, im Café sitzt ein Spitzel an deinem Tisch: dies, lieber Vater, ist das neue Deutschland, das sich nur dadurch von dem alten unterscheidet, dass an Stelle von Wilhelm II. und Ludendorff andere getreten sind. Eben lese ich in der „Nürnberger Zeitung“, die mir ein Soldat durch die Türe schiebt, dass das dritte Armeekorps Nürnberg vorläufig alle Versammlungen verboten hat.
Ist dies die sogenannte Versammlungsfreiheit? Mit der Veränderung von Personalien ist nichts getan: wenn nicht der Geist sich wandelt, wenn nicht die Seele rebelliert. Sie ducken sich schon wieder, die Bürger, wie sieggewohnt waren, sich zu ducken, früher. Und schon sehe ich den Schatten einer prinzlichen Gestalt über Bayern heraufkommen.
Nürnberg, 21. April 1919
Mittagessen: eine Schale gute Suppe, eine Schale weniger gute Spätzle. Abendessen (wird der Bequemlichkeit halber gleich mit hereingereicht): ein winziges Stück Käse (wie gestern). Ich esse den Käse schon um 4 Uhr auf, weil ich Hunger habe. Ich lasse mir das Bett herunterklappen, weil ich mich nicht wohl fühle, und lege mich hin. Ich habe ein wenig geschlafen. Ich gehe an den Wänden entlang und sehe alle möglichen mathematischen Zahlen und Formeln. Ich trete näher und bemerke, dass es Kaiendarien sind, von den Gefangenen angelegt. Vom Einlieferungs- bis zum Entlassungstage. Und manche Zahlenreihen sind endlos lang. Ein Strich durch das Datum, das heißt: wieder ein Tag vorbei. Wieder einen Tag dem Leben, dem Licht, dem Tanz und dem Gelächter näher gerückt.
Soll ich ebenfalls eine Tabelle anlegen?
Ich scheue mich. Ich habe Angst vor den Zahlen.
Der Feldwebel sagte gestern: „Warten Sie nur, in ein paar Tagen sind Sie entlassen.“ Die Leute sind alle so nett, das gleiche aber hat schon der Chauffeur im Auto gesagt: „Warten Sie nur, in Nürnberg lässt man Sie gleich wieder frei.“ Es war nicht wahr. Die Leute täuschen sich über die Schwerfälligkeit der juristischen und die Brutalität der militärischen Maschinerie.
Ich erfahre heute zu meinem Erstaunen, dass ich in der Militärabteilung des Untersuchungsgefängnisses gefangen gehalten werde. Wie ist das möglich, ich, ein Zivilist? Ein böses Symptom. Nicht für mich. Für Deutschland. Nach Recht und Gerechtigkeit hätte ich sofort der Zivilbehörde übergeben werden müssen. Das Zivil scheint schon wieder ausgeschaltet.
22. April 1919
Ich habe immer Hunger. Und ich friere immer.
Ich war eben beim Feldwebel zum Rapport: Ich habe um die Erlaubnis gebeten, Zeitungen zu lesen und mir meine Füllfeder neu zu füllen, was mir gnädig gewährt wurde. Ich habe ihm auch ein Telegramm übergeben, mit dem Ersuchen, es zu befördern.
„Bitte dringendst Haftentlassung fordern gegen Bürgschaft oder Kaution.“
Der Feldwebel sagte: „Wollen sehen, was sich machen lässt, lieber Henschke.“ Ich weiß mir nicht anders zu helfen, jetzt warte ich auf den Arzt. Wird er mir helfen können oder wollen? Eine Woche bin ich schon in Haft. Ich erinnere mich aus der Lektüre des „Crossener Lokalblattes“, dass Männer wegen kleinen Diebstahls zu einer Woche Haft verurteilt wurden. Die Buße für einen kleinen Diebstahl hätte ich also schon hinter mir.
Der Wärter schreit durchs Guckloch: „Wollen Sie spazieren, Henschke?“ Ich danke. Ich warte auf den Arzt. Ich weiß: alle Gefangenen müssen in Kolonne antreten, und dann geht es schweigend in den Hof. „Ohne Tritt, marsch!“ Ich höre die Stimme des Aufsehers verhallen und den Tritt der Gefangenen. Was für ein Wetter ist? Ich kann es durch die schmutzige, halb blinde Scheibe nicht erkennen, jeden Tag spiegelt der Himmel in ihr das gleiche Grau.
Was für Gefühle beseelen mich? Ach, nichts „beseelt“ mich. Ich friere und habe Hunger.
Eben bringt man mich in eine andere Zelle, die wenigsten den Vorzug hat, dass sie wärmer ist. Es geht Zentralheizung durch.
Der Arzt verordnet Anistropfen.
Folgende Geschichte fand ich in der neuen Zelle auf einer alten Schreibheftseite säuberlich niedergeschrieben: Wer mag sie erfunden haben?
Ein Vater und eine Mutter lebten mit ihren zwei Kindern auf einer rauhen Insel des weiten Weltmeeres, wohin sie durch Schiffbruch geraten waren. Wurzeln und Kräuter dienten ihnen zur Nahrung, eine Quelle war ihr Trunk und eine Felsenhöhle ihre Wohnung. Oft tobten auf der Insel furchtbare Stürme und Gewitter. Die Kinder konnten sich’s nicht mehr denken, wie sie auf die Insel gekommen waren; sie wussten nichts mehr von dem großen festen Lande; Brot, Mehl, Obst und was es dort sonst noch Köstliches gibt, waren ihnen unbekannte Dinge geworden.
Da landeten eines Tages in einem kleinen Schifflein vier Mohren an der Insel. Die Eltern hatten eine große Freude und hofften nun, von ihren Leiden erlöst zu werden. Das Schifflein war aber zu klein, alle zugleich auf das feste Land hinüberzubringen – und der Vater wollte die Fahrt zuerst wagen.
Mutter und Kinder weinten, als er in das schwache, bretterne Fahrzeug stieg und die vier schwarzen Männer ihn fortführen wollten. Er aber sagte: „Weinet nicht! Drüben ist es besser, und ihr alle kommt bald nach.“
Als das Schifflein wiederkam und die Mutter abholte, weinten die Kinder noch mehr. Aber auch sie sagte: „Weinet nicht! In dem besseren Lande sehen wir uns alle wieder!“
Endlich kam das Schifflein, die zwei Kinder abzuholen.
Sie fürchteten sich sehr vor den schwarzen Männern und zitterten vor dem furchtbaren Meere, über das sie hinüber sollten. Unter Furcht und Zittern näherten sie sich dem Lande.
Aber wie freuten sie sich, als ihre Eltern am Ufer standen, ihnen die Hände boten, sie in den Schatten hoher Palmenbäume führten und auf dem blumigen Rasen sie mit Milch, Honig und köstlichen Früchten bewirteten. „O wie töricht war unsere Furcht!“ sagten die Kinder, »nicht fürchten, sondern freuen hätten wir uns sollen, als die schwarzen Männer kamen, uns in das bessere Land abzuholen.“
„Liebe Kinder“, sprach der Vater, „unsere Überfahrt von der wüsten Insel in dieses schöne Land hat für uns noch eine höhere Bedeutung. Es steht uns allen noch eine weitere Reise in ein viel schöneres Land bevor. Die ganze Erde, auf der wir hier wohnen, gleicht einer wüsten, rauhen Insel. Das herrliche Land hier ist für uns ein, wiewohl nur schwaches Bild des Himmels. Die Überfahrt dahin über das stürmende Meer ist der Tod. Jenes Schifflein erinnert an die Bahre, auf der uns schwarz gekleidete Männer einst forttragen werden. Aber wenn jene Stunde schlägt, da wir, ich, eure Mutter oder ihr, diese Welt verlassen müssen, so erschreckt nicht! Der Tod ist für fromme Menschen, die Gott lieb gehabt und seinen Willen getan haben, nichts als ein Übergang ins bessere Land.“
Nürnberg, 22. April 1919
Der Wärter brachte Anistropfen. Ich habe sie geschlürft wie Henessy oder Benediktiner und ihren Geschmack lange im Munde gekostet. Als ich vor 13 Jahren an Rippenfellentzündung krank lag und das Fieber nicht weichen wollte, musste ich eine Hungerkur durchmachen. Ich bekam nichts als Tee und Wasserkakao. Ich hungerte so lange, bis ich weinte und nachts vom Kaiserautomaten träumte, wo man 10 Pfennig in einen Schlitz steckt und dann erhält man eine Schinkensemmel oder ein Lachsbrötchen oder ein Ei Brot, ach, ach, was gab es nicht alles für schöne Dinge auf dieser guten Welt zu essen! Das bisschen fettlose Mittagessen hält nicht an, und sonst gibt es ja nur morgens eine Schale Kaffee und abends ein Stückchen Käse. Um 4 Uhr hab ich ihn immer schon aufgegessen, und dann bleibt nichts für den Abend.
Es ist schlimm zu hungern. Der Hunger nimmt einem alle Gedanken fort, und man denkt nur dies: essen, essen, fressen, fressen. Wenn es nur dunkel würde! Man schlafen könnte! Den Magen ausschalten. Die Augen schließen. Das Herz im Traume reden lassen. Bei Irene sein.
23. April 1919
Wegen Kohlenmangel muss ab Donnerstag, 24., der Personenverkehr auf den bayrischen Staatseisenbahnen eingestellt werden. Wenn ich heute oder spätestens morgen früh entlassen werde, kann ich nicht mehr fort von Nürnberg. Soll ich glauben? Soll ich hoffen? Warum höre ich nichts von Passau? Man muss mir doch geschrieben oder telegraphiert haben?
Immer, wenn im Gang der Wärter mit den Schlüsseln rasselt, spitze ich die Ohren wie ein Hase. Ich gehe mit dem Gedanken um, an das preußische Justizministerium ein Telegramm zu richten.
Die Zeit schleicht wie eine Schnecke. Sie geht wie ein Krebs, rückwärts. Eben schlägt es erst 9 Uhr.
Heute gab es zu Mittag Suppe, rote Rüben und ein kleines Stück Fleisch. Abends Kunsthonig und Tee. Alles recht genießbar; nur viel zu wenig, um satt zu werden. Der Wärter versprach mir, ein Abendessen zu besorgen.
Justizrat Z. war bei mir. Er zeigte mir ein Telegramm von dir. Meine Hoffnung flammte auf. Wenn es ihm gelänge, mich frei zu bekommen, bald, baldigst. Daran liegt alles. Ich bat ihn um Bücher. Klara Herzfeld, das schöne Mädchen, befriedigte mich doch nicht recht, und ich bin stumpf vor in-die-Wand-stieren. Auch das Schreiben wird mir schwer. Ich habe eben zu Abend „gegessen“, aber ich habe schon wieder rasenden Hunger. Wenn ich das Stück Brot, das noch daliegt, jetzt aufesse, habe ich morgen früh nichts zu essen.
Ich kämpfe einen Gewissenskampf.
Hölderlin, mein großer, heiliger Bruder, wie sehne ich mich nach dem Lande Hyperions, nach einem Vers von dir, in meine Wunde als Balsam geträufelt. Was bedeutete für dich rote Rüben, Kunsthonig und Kommissbrot. Dir wäre das alles eins, was mir, ich gestehe es schmerzlich, in meiner Lage so viel bedeutet. Schubert saß dreizehn Jahre auf Hohenasperg gefangen. Ich erschrecke. Ich komme mir recht erbärmlich vor gegen die Herren der Vergangenheit. Aber sie hatten das Gefühl, Märtyrer zu sein, für eine große Sache zu dulden. Wofür dulde ich? Weil ein Esel mir ein Telegramm geschickt, ein zweiter Esel es abgefangen, ein dritter Esel es als verdächtig beanstandet hat. Kein Anlass, um mit meinem Duldertum theatralisch aufzutreten.
23. April 1919
Jeden Abend kommt der Sanitätsunteroffizier und misst mir die Temperatur. Dann verordnet er mir Anistropfen. Unten spielt immer jemand Klavier. Das scheint sich ein Dauer Gefangener in der Zivilabteilung gemietet zu haben. Die ältesten Operetten. Die Zampa-Ouvertüre, die ich so gut von den Karussell- und Rummelplätzen meiner Kindheit kenne. Ich denke an meine letzten Stunden auf Schweizer Boden. In der geschlossenen Abteilung eines Privat-Nervensanatoriums. Ein Billardsalon. Die Fenster nur mit Schlüssel zu öffnen. Ein Wärter in einer Nische. Der Tänzer Nijinski, der Partner der Anna Pawlowna, spielt mit kurzen harten Stößen Billard gegen einen kleinbürgerlichen Herrn ohne Kragen. Herr von Waldkirch erscheint auf Filzsohlen und preist stotternd seine Geigen.
Er hat eine Geigensammlung. Er holt eine Geige mit prachtvollem Ton. Ein Virtuose aus Konstanz, der uns begleitete, nimmt sie aus dem Kasten, prüft, und setzt an. Die Herren am Billard lauschen, steif. Herrn von Waldkirchs Gesicht fließt auseinander, wie übergelaufene Milch. Man reicht mir des Knaben Wunderhorn. Ich lese eine Ballade. Dr. Levy, mein guter Freund, spricht das letzte Gedicht aus der „Irene“.
Ich war seit langem nicht mit so vernünftigen Leuten zusammen wie diesen Wahnsinnigen, die an schweren paranoischen Wahnvorstellungen leiden.
„Monsieur“, sage ich zu Nijinski, „cfu’est ce pas, vous avez ete ä Berlin il y a sept ans?“
„Monsieur“, erwiderte er, „Je ne me souviens plus. Berlin ou Petrograd c’est la meme chose comme Jesus et Jehova.”
Waren dies alles Vorahnungen, dass ich in Kreuzungen in einem Hause war, wo man die Fenster nicht öffnen konnte und die Türklinken sich abschrauben ließen? Zimmer mit kleinen vergitterten Fenstern im Hause waren? Polstern an den Wänden? Jene Narren hatten es besser als ich. Sie können sich in einen Zustand der Freiwilligkeit hineinfühlen. Sie sind Pensionäre. Gäste. War dies eine Vorahnung meines jetzigen Zustandes, dass ich am Morgen vor meiner Verhaftung ein mystisches Gedicht begann:
„Der Gefangene“?.?
Nürnberg, 24. April 1919
Das Ereignis des heutigen Tages ist dein Brief, liebe Mutter. Ja, wenn alle Menschen so wären und dächten wie du! Vergiss bitte nicht, dass eine uralte Rechtssitte verlangt, vom Angeklagten immer a priori das Ärgste und Schlechteste anzunehmen. Was wussten auch die, die mich vernahmen, von meinen Versen, meinem Werk, meinem Wollen? Sie wussten nicht, dass ich ein Dichter bin, sondern hielten mich, gemäß gewordener Instruktion, für einen „Spartakisten“. Die Vernehmung von dem Eskadronschreiber in Straubing war geradezu von klassischer Lächerlichkeit, und in Nürnberg dauert sie auf 3. A. K. eine halbe Minute. Der Mann sah flüchtig in das Protokoll, sagte: „Das glaubt Ihnen doch kein Mensch, was Sie da sagen?“ und „In Untersuchungshaft zu setzen, bis die Sache geklärt“. Das war alles. Liebste Mutter, darum vier Tage durch Bayern geschleppt. Hätte man mich den nächsten Tag sofort in Passau vernommen, wie die Offiziere versprochen hatten, so wäre alles wohl bald erledigt gewesen. Jetzt hat die Affäre schon einen mystischen Schimmer angenommen: Durch die Autofahrt, das Zuchthaus und die unendlich vielen Begleitmannschaften (mit schwergeladenen Gewehren, versteht sich). Ich glaube, es sind seit Donnerstag voriger Woche fünfzig bis sechzig Leute völlig überflüssig meinetwegen bemüht worden. Ich war in meinem Protokoll von der Ansicht ausgegangen, dass die bona fides mir wenigstens nicht von vornherein abgestritten werden würde. Hätte ich die Bosheit des ganzen Apparates von vornherein durchschaut: ich hätte nur einen Satz zu Protokoll gegeben.
25. April 1919
Gestern las ich in den Serapionsbrüdern von E. Th. A. Hoffmann. In der Komposition seiner Erzählungen wird er wohl in Deutschland von niemandem erreicht. Die glücklichste Mischung dreier Talente: des Malers, des Musikers vor allem, und des Dichters. Und ein viertes Talent, das alle die anderen drei lenkt und zügelt: er war ein Geisterseher.
Heute Nacht träumte ich so lebhaft von meiner Heimkehr nach Monti, dass ich, als ich erwachte, in Monti zu sein glaubte.
26. April 1919
Frei! Wieder draußen! Wieder lebendig! Ich bin noch zu erregt und nervös, um die Wogen der Empfindungen, die mich durchströmen, bändigen zu können. Ein alter Bekannter aus München, ehemals Dramaturg hier am Theater, und Frl. Z. …, die Tochter des Justizrates, nahmen sich meiner an. Wir gingen auf die Festwiese, sahen „Fausts Höllenfahrt“ im Kasperltheater, im schönsten bayrischen Dialekt, und fuhren Karussell. Zwischen den Buden gingen Matrosen mit Gewehren, und es hieß, es würde ein neuer Putsch der Kommunisten in Nürnberg vorbereitet.
Ich nahm mir im Königshof ein elegantes Zimmer und bestellte mir sofort ein Bad. Meine Wäsche sieht desolat aus. Schmutzig und zerrissen. Ich habe vor Erregung die ganze Nacht nicht geschlafen. Ich will mit Euch telephonieren, dass ich nicht mehr nach Passau zurückkomme. Die Züge sind eingestellt, es bedürfte vielfacher Bemühung, um auf Güterzügen in Tagen zurückzukommen. Und dann läuft mein Pass bald ab. Soll ich ihn aufs Spiel setzen? Ich brauche Ruhe, Ruhe, Ruhe. Und die habe ich in Monti. Bei den jetzigen Zuständen in Bayern würde ich mir in Passau doch wieder höchst ungemütlich vorkommen. Es geht noch ein Zug ins Württembergische. Sendet meine Papiere und Sachen nach her, baldigst, express.
Heute will ich Nürnberg, dem Hirschvogelsaal und Hans Sachs einen Besuch abstatten, und im Hans-Sachs-Hause werde ich den Hut ziehen, zum ersten Male seit neun Tagen, und in Ehrfurcht das Deutschland grüßen, das ich liebe.
Klabund kehrt nach seiner „Schutzhaft“ schnellstmöglich nach Monti zurück und eigentlich will er dort auch bleiben. Warum er aber Herbstanfang 1919 die Schweiz verlässt, ist nie geklärt worden. Einerseits habe er in Monti gekündigt, andererseits zwingen ihn aber die zunehmenden Mark-Kursverluste zur Abreise.
„Zunächst holt er Besuche nach. Seine Freunde und Freundinnen in den verschiedenen Städten merken, dass unter der Sonnenbräune seine Haut oft fahl ist, sehen aber auch, dass sich sein lebhaftes Knabengesicht mit den jetzt zuweilen recht kampflustig blickenden Augen nicht verändert hat. In Berlin kommt es Ende September und Anfang Oktober zu sehr dramatisch verlaufenden Treffen mit Fiete Wilhelm, denn so bedeutungsvoll Fiete auch für ihn war – jetzt gehen sie im ganzen mehr neben- als miteinander: – der Weg führt nicht zur ehelichen Bindung,“ schreibt Guido von Kaulla.
Sein Wohnort wird ab Ende Oktober 1919 für Jahre Berlin. Er wohnt in Berlin SW 61 bei Frau Hertz in der Halleschen Straße 21 I, nur unterbrochen durch Reisen und immer wieder auch durch Aufenthalte in Crossen. Über diese und über das Verhältnis zum Elternhaus ist wenig oder nichts zu erfahren. Nach Passau berichtet er unter anderem, dass er Bruchstücke jenes „fürchterlichen“ Buches wieder aufgefunden habe und gemeint hat er den in seiner ersten Berliner Zeit geschriebenen Roman „Peter“. Und dieser sei von einem Zynismus und einer Verachtung des Menschen, wie es so ganz nur aus dem Bild Berlins begriffen werden könne. So sehe Berlin in der Tat aus – das Buch sei von einer scheußlichen Aktualität.
Zu den „Besuchen seiner Freunde und Freundinnen“ zählt auch die Schauspielerin Grete Guttmann. Klabund lernt sie auf einem Künstlerball Anfang 1920 kennen.
Guido von Kaulla schreibt:
„… In seinem ersten Berliner Nachkriegswinter trifft Klabund eine junge Schauspielerin, Grete Guttmann, auf einem Künstlerfest. Sie lässt ihren eigentlichen Begleiter im Stich und läuft mit Klabund zu Fuß über anderthalb Stunden durch das nächtliche Berlin. Sie hat „Bracke“ gelesen – und sie liest nun in ihrem Begleiter, der so jung aussieht und so hinreißend zu erzählen versteht wie in seinem Buch. Sie ist verzaubert von seinen Qualitäten, von seiner Bescheidenheit, seiner Genusssucht, seinem tiefen Wissen um innere Kräfte, seiner Lebenslust und seiner spielerischen Leichtigkeit. Sie sieht ihn: charmant und strahlend von Ideen, niemals kopierend, immer echt, in nichts gekünstelt, ungeheuer begabt. Sie schwärmt von seiner Persönlichkeit -: „ein ganzes Lichtermeer“ — und von seinem Leben —: „das einen Stern zeigt, der leuchtet, bis er versinkt“. Bald hat sie es im Blut, wie er ist bei Regen oder Sonne, bei Tag oder Nacht. „Was er anrührt, wird Melodie…!“ Und: „Er darf nur Limonade trinken, aber es ist Champagner“. Und: „Man kann sich in seiner Tiefe völlig verlieren und nicht wieder herausfinden, wenn man zu schwer ist“. Sein Sich-innnerlich-auf-Distanz-halten gegenüber manchem ihn abstoßenden Zeitgenossen nennt sie: sein den-schweigenden-Eremiten spielen. Zuweilen hält er auch das gesellschaftliche Zusammensein mit bestimmten Menschen für nicht vertretbar – dann kennt sein Charakter auch Kompromisslosigkeit.“
In jedem seiner Briefe und Einladungen an sie ist ein Gedicht beigefügt und von denen finden sich einige im Gedichtband „Das heiße Herz“, den Titel schlug sie Klabund vor.
Eine Heirat aber scheitert, Guido von Kaulla schildert die Gründe:
„… Auch sie ladet ihn ein, doch scheitert eine Heirat daran, dass er nicht zur israelitischen Kultusgemeinde gehört. Sie stellt ihn in ihrem orthodoxen Elternhaus zuerst als fast jüdisch und als aus sehr wohlhabendem Hause stammend vor, aber als er dann zum Essen mit einem der damals modischen schwarzen Oberhemden kommt, hebt er sich doch erstaunlich vom bürgerlichen Hintergrund ab. Einmal singt sie ihm eine Weise spanischer Herkunft vor: Anlass für ihn, eine Melodie zu seiner von ihm hochbewerteten China-Nachdichtung „Lied vom weißen Haupt“ zu schaffen. Das bleibt nicht die einzige Komposition, die Grete G. und ihre ältere Freundin Susanne Trautwein von ihm hören: mehr geflüstert als gesungen, zu schlichter Kadenz, die er auf dem Flügel greift. Das körperlich Erfassbare erfahren sie an sich und in sich. Als sie in den Tagen des sogenannten Kapp-Putsches durch die Straßen gehen, die unter Beschuss liegen, meint Klabund: sie sei als Hexe ja kugelfest, aber er müsse zur Seite gehen – und er bestätigt, dass man ihr nur durch Verbrennen beikommen könne. Und schon wendet sich das Gespräch den Gedanken der Inkarnation zu und dem, was Beide in einem früheren Leben waren.“
Und wenn ich über die Freunde schreibe, auch hier ein Zitat von Guido von Kaulla, der Klabunds Einstellungen diesen gegenüber beschreibt:
„… Zu Freunden ist Fred immer von großer Zuverlässigkeit und Herzlichkeit. Er ist völlig „da“, wenn er so plötzlich, wie er weggeht auch wieder auftaucht; sein umfangreicher Briefwechsel erweist, wie sehr er Verbindung zu Mitmenschen liebt. Sein stark ausgebildeter Gemeinschaftssinn erscheint ihr oft als der unmittelbare Antrieb zu vielen seiner Dichtungen. Aus der Brüderlichkeit gegenüber aller Kreatur – (im Eigenbericht betont er seinen Glauben an die Gemeinschaft der Götter und Menschen und Tiere und Blumen) – also auch zur Menschenkreatur — erwächst auch sein so leidenschaftliches Engagement in der Politik. Schilderungen von Zuständen menschlicher Not können ihn zu Tränen und zu leidenschaftlichen Ausbrüchen von Hilfsbereitschaft hinreißen. In solchen Situationen hat er für den Begriff Geld absolut keinen Sinn, er gibt sich dann in jeder Beziehung aus, ohne Rücksicht auf seine eigenen Notwendigkeiten.“
März 1925 – ist Fredi in Passau und schreibt einen Feuilleton-Artikel, der im „Berliner Tageblatt“ erscheint, in dem es u. a. heißt:
„Donau, Inn und Iltz stürzen sich rauschend in die Arme: wer liebt hier? Und wer wird geliebt? Wilde Dreieinigkeit! Wo der Flüsse drei sich weiß ineinander ergießen,
Standen wir liebend gelehnt, sahn in die jagende Flut
Drei ward eins. Ich faßte die Hand dir und dachte:
Du und ich – und das Kind. Also dreieinig auch wir. Dies – war einmal. Ein Frühling wie dieser. Nur: reicher noch und rasender. Und wird wieder einmal sein. Schon sinkt die Dämmerung. Die Festung Oberhaus droht dunkel. Nebel ziehen durch die alte Judenstadt, die Iltzstadt, und ich will mit ihnen ziehen. An einem Hause, vor dem ein armer Sünder hängt: bleib ich stehen und klopfe mit dem Stock an ein erleuchtetes Fenster im Parterre. Lucia, die Italienerin, wird mir öffnen, und ich werde bei ihr von allen Frauen träumen dürfen, und die liebste Frau wird mir nicht zürnen, wenn ich, der toten Lippen eingedenk, die lebenden küsse.“
Und mit Grete Guttmann erlebt Klabund auch die schon beschriebenen „Kabarett-Jahre“, denen er nie entwachsen war. Andere Frauen tauchen auf und Guido von Kaulla schreibt:
„… In seinem damaligen Leben ist eine reiche zierliche Argentinerin, mit der Klabund auch außerhalb Berlins aufkreuzt, und die von seinen Freunden „Das Silberschiff“ genannt wird. Freundin wird ihm auch (1920) Mimi aus Heidelberg, die „badische Aspasia“, nach dem Namen der altgriechischen geistreichen Geliebten des Perikles. Einmal vergleicht sie ihn mit dem Dimitrij aus den „Karamasoffs“. Er ist angetan von ihrem herzlichen Wesen, und er bereut es schnell, als er sie im Streit einmal gewürgt hat.
Doch unterm 11. 8. 20 teilt er Frau Heberle mit, dass Mimi noch sein Stern sei, dass aber ein zweiter Stern neben ihr aufgegangen sei – überm Karwendel. Es ist Fanny Z-rer. In einem Lebenszeichen von ihr heißt es u. a.: „Schreibe ich nach Crossen, so kommt die Antwort aus Berlin. Glaube ich Sie schließlich dort zu finden, sind Sie am Ende gar in München. (…) Darf ich mir eine Frage erlauben? Wo ist Frl. Mimi? Wissen Sie noch etwas von ihr? (..:) Ich freu mich schon, wenn Sie zu uns kommen, dann mach ich wieder Apfelstrudel oder Omelette-Soufflee, den Traum Ihres Lebens. Alle Eier und viel Zucker will ich sparen, bis Sie kommen.“
Die Verse dieser Zeit wechseln zwischen beiden – etwa von Mimi mit dem: „Als ich bei dir lag / Auf dem Wiesenhag, / (…) / Berg und Brust sind eins, / Schoß und Erd ist eins, / Augen, Augen blinken wie von Tau“ hin zu dem Ende eines Gedichtes für Fanny:“
Fannerl
Hab dich doch lieb,
Fannerl, Wenn die Sterne fallen,
Wenn die Sonne steigt.
Du duftest wie das Ried.
Du bist frisch wie ein Taumorgen.
Deine Hände betten mich an deine Brust,
Als wäre ich dein Enkelkind.
Unten im Gries
Fliesst die Isar.
Wollen wir Floss fahren
Bis ins Meer?
Tags ist es kühl bei dir
Wie im Schatten der Leutaschklamm.
Aber nachts
Brennst du wie der Mittag auf den Karwendelsteinen.
Wenn der Herbst kommt,
Wenn ich weiter muss –
Weine nicht,
Fannerl.
Und schließlich war da noch die „Stehgeigerin Mascha aus Polen“, mit der er sogar eine Tournee ins Tessin unternahm. „Es füllt sich seine „Erotica“-Mappe, in der schon alte Verse auf den Pagen Floriot liegen“ schreibt Guido von Kaulla und weiter: „Filmmanuskripte von Klabund finden keinen Absatz. Aber Vortragsreisen bringen neben Feuilletons und den Büchern Einnahmen – im Wettlauf mit der Inflation; noch gibt es keinen Hörfunk als günstige Honorarquelle“ Und – vermerkt sein Biograph – in verbotenen Spielclubs ist er auch wieder anzutreffen.
Oft ist zu Bekanntschaften jener Jahre in Redewendungen zu lesen „mein toter Freund Klabund“ oder „Klabund, mit dem ich befreundet war“. Überprüft man diese aber, ist bei diesen mehr der Wunsch der Vater des Gedanken, Kurt Wafner meint:
„… Klabund war trotz seiner zurückhaltenden Art ein geselliger Mensch. Aber ihn zum Freund zu gewinnen, war schwer. Den meisten Personen, die ihn umgaben, offenbarte er sein inneres Wesen nicht. So war auch sein Verhältnis zu dem Menschen distanziert, der ihm in manchen Dingen ebenbürtig war und mit dem er so „manches Ding gedreht hatte“.
Ein Beispiel ist Bert Brecht: „Klabund liebt an Brecht dessen künstlerische Kraft. Aber er hat eine Abneigung gegen den Menschen Brecht, bei dem zuzeiten nicht nur die Fingernägel bekanntermaßen unsauber sind, sondern zuzeiten auch seine Handlungen. Die Witterung Klabunds ist da untrüglich. Daran ändern auch nichts die Begegnungen und Unterhaltungen der Berufskollegen in München und Berlin“, so Guido von Kaulla.
Der Theaterkritiker und Zeitgenosse Hans Sahl urteilt über Brecht und Klabund: „… Klabund war wie Brecht ein deutscher Bänkelsänger. Aber was ihn von Brecht unterschied, war seine Bescheidenheit, er war zuvorkommend und höflich im Gespräch mit anderen, während Brecht oft schroff war und abweisend. Er machte nie viel von sich her, obwohl er dazu allen Grund gehabt hätte…“
Ganz anders sein Verhältnis zu Gottfried Benn. Dazu Guido von Kaulla:
„Benn betreut Klabund auch ärztlich. In einem Exemplar seiner „Gesammelten Gedichte lautet seine Widmung an Klabund:
Nehmen Sie jene erste
tauende Nacht im Jahr
und die strömenden blauen
Streifen des Fe¬bruar,
Nehmen Sie jene Verse
Reime, Strophen, Gedicht,
die unsere Jugend erhellten
und man vergißt sie dann nicht,
nehmen Sie von den Wesen
die man liebte und so,
jenen Hauch des Erlöschens
und dann Salut und Chapeau –
Ah, diese spärlichen vollen
Schläge des Herzens und
über uns fallen die Schollen –
leben Sie wohl, Klabund! –
Und eine andere Freundschaft aus der Schülerzeit ist erhalten geblieben. „Aus dem nahen Frankfurt/Oder kommen die Gebhardts oft herübergefahren; sie können nirgends mehr mit Klabund erscheinen, ohne dass nicht von allen Seiten Frauen auf ihn zueilen. Man ist sich darin einig, dass Klabund einen Reiz hat, der jeden unmittelbar anrührt“, schreibt Guido von Kaulla.
Hinter den „Gebhardts“ verbergen sich Fredis Schulfreund aus Frankfurter Zeiten Julius Hermann Wilhelm Gebhardt und seine Frau Grete Balkenholl – Fredis „Jugendliebe“.
Julius Gebhardt äußert einmal: „er habe nie jemanden gesehen, männlich oder weiblich, der sich nicht bei dem ersten Gespräch geradezu in Fredi Henschke verliebt) hätte. Andererseits aber sei er gewesen wie ein Bach unberührt bleibt.“
Im Jahr 1922 erscheint die „Geschichte der Weltliteratur in einer Stunde“, In der Vorbemerkung heißt es: „Die deutsche Dichtung ist vergleichbar einem Baum, der tief in der deutschen Erde wurzelt, dessen Stamm und Krone aber den allgemeinen Himmel tragen hilft. Es gibt eine deutsche Erde. Der Himmel aber ist allen Völkern gemeinsam.“
Kurt Wafner sieht auch hier wieder die Vielseitigkeit dieser Jahre zwischen „Klamauk“ und „ernsthafter Literatur“, er schreibt:
„…Wie in all seinen Werken reist der Dichter auch in diesem Buch im Eilzug durch die Weltliteratur. Und er versucht, bei jedem der hier sichtbaren Autoren das Einzigartige, Unverkennbare festzuhalten. Man spürt seine Liebe zur Klassik, zu Romantik, doch bemerkenswert ist, wie er für die gegenwärtige Dichtung Partei ergreift: „… Die heutige Dichtung der Expressionisten ist nicht unverständlicher oder absonderlicher als irgendein hymnisches oder ekstatisches Gedicht von Goethe, mit dessen Grundformen sie sich berührt…“ Doch deutlich wird seine Abneigung gegen Tendenzliteratur “ wie hier im Falle Johannes R. Bechers -, wenn er schreibt: „… Der Dichter hat die Pflicht, Politiker zu werden … Er hat aber auch die Pflicht, Dichter zu bleiben, d.h. mythischer Diener der Wirklichkeit und Künder des reinen Klanges…“
Der Journalist Jules Ferdmann, Herausgeber der „Davos Revue“ und bestimmt ein Freund aus den Davoser Jahren, urteilt über diese Geschichte der…:
„… Klabund verstand, ungewöhnlich kurz und kondensiert zu schreiben. Sein Stil war energisch, lapidar, aphoristisch. Manche seiner besten Sachen schließen auf einigen Seiten ein ganzes Reich der Erlebnisse ein. Aber die gleiche Tendenz, die in dieser Hinsicht positiv und reformatorisch wirkte, führte ihn oft in einer anderen Beziehung auf Irrwege: Klabund wurde verleitet, manche komplizierten Dinge und Gedankengänge zu simplifizieren. In dieser vereinfachten Art schrieb er u.a. seine witzige und stellenweise bemerkenswerte „Literaturgeschichte“.“
Und noch eine typische Geschichte zum Fredi dieser Jahre erzählt Kurt Wafner:
„… Wie alle seine Lebensumstände befanden sich auch Klabunds Finanzen auf einer ständigen Berg- und Talfahrt. Seine Bücher waren zumeist Verkaufsschlager. Dann kam Geld in die Kasse. Aber das verflüchtigte sich bald wieder, denn der Dichter praktizierte Hilfsbereitschaft. Er zahlte meist die Zeche bei Feiern und Festen. Und er unterstützte großzügig mittellose Studenten. Und dann dauerte es nie lange, bis die Gondel wieder in die Tiefe schoss und er selbst der Hilfe bedurfte.
So half ihm zum Beispiel Trude Hesterberg. Sie rief zum Preisausschreiben auf für das beste Chanson. Die Eingänge waren erschreckend unbefriedigend. Da dachte die Hesterberg an Klabund, der gerade mal wieder einen Blutsturz hinter sich hatte und gab ihm den Preis – 1500 Mark.“
Diese Jahre zwischen 1920 und 1924 waren wohl die produktivste Zeit für den Dichter und wohl auch die stürmischsten für den „Liebhaber“. Außer seiner recht aufwendigen Literaturgeschichte‘ veröffentlichte er das Gedichtwerk „Dreiklang“. „die ,Sonette an Irene“, den Balladenband „Das heiße Herz“, das Schauspiel „Die Nachtwandler“ und den Groteskenband „Kunterbuntergang des Abendlandes“. Dazu kamen einige Nachdichtungen und Übersetzungen und Feuilletons wie vom Fließband.
„Fernost-Rilke“
Kurt Wafner fragt: „Was trieb Klabund zu Nachdichtungen aus der fernöstlichen Welt?“ Und die Antwort gibt er gleich selbst: „Es war wohl seine lebenslange Neugier auf Entdeckungen. Darum durchforstete er die Weltliteratur auf der Suche nach sensationellen Fundstücken, die er in seiner Dichterwerkstatt bearbeiten könnte. Er wurde fündig.“
Und eine Antwort ist eine Notiz über sich selbst, die Klabund 1916 in einem Verlagsprospekt gibt: „Er ist ein Träumer der Tat und ein Revolutionär der Seele.“
Was Anfang März 1915 am Starnberger See bei einem Besuch seines Freundes, dem Schriftsteller Bruno Frank, beginnt, endet im Höhepunkt – dem „Kreidekreis“.
Guido von Kaulla schildert die Begegnung:
„An jenem Märzabend also sitzen die Freunde die Nacht zusammen und geraten in Feuer, denn sie lesen sich gegenseitig die schönsten Dinge der Weltliteratur vor. Als Frank bei den Versen vom „Pavillon aus Porzellan“ von Li-tai-pe … angelangt ist, springt Klabund auf. „Das ist unglaublich schön. Nur muss man’s anders übertragen. Morgen gehe ich auf die Bibliothek“. Lesen ist für Klabund gelebte Wirklichkeit. Er sucht denn auch angesichts der europäischen Kriegswirren geistige Zuflucht in Asien … er wird vielmehr von einem neuen Abenteuer herausgefordert – und er stellt sich“ …
Klabund liest Nachdichtungen und Übersetzungen deutscher und französischer Sinologen, und er entdeckt „eine innere Verwandtschaft mit der assoziativen Bildersprache und dunklen Vieldeutigkeit dieser Poesie“ (Wegner).
Klabund beginnt mit chinesischer Kriegslyrik und stelle fest: „Lyrik kann man nicht übersetzen. Sie kann nur auf einer anderen Sprachebene neu gestaltet werden“ und noch im zweiten Kriegsjahr kommt sein erster Nachdichtungsband auf den Büchermarkt: „Dumpfe Trommel und berauschter Gong“‘.
Im Nachwort heißt es: „Viele Strophen und Refrains sind logisch unfasslich. Aber wir wollen uns nicht von den Philologen weismachen lassen: diese Verse seien aus Unbeholfenheit oder Ungeschicklichkeit so dunkel – während sie es doch nicht unbewusst als Äquivalente der Seele sind in einer unbeschreiblichen Anmut. Die neue deutsche Lyrik und das Volkslied mit seinen nicht immer leicht verständlichen Intuitionen und Assoziationen sind (und wissen voneinander nicht) Geschwister.“
So ungewöhnlich ist die literarische Hinneigung zu Buddha, zur altchinesischen oder indischen Literatur und Philosophie zu dieser Zeit nicht und durch Klabund wird z.B. auch Bert Brecht inspiriert, sich in dieser Welt dichterische Anregungen zu suchen. „So hat er, dem die Urheberschaft eines Werkes nie Kopfzerbrechen bereitet hat, sich auch der Laotse-Nachdichtung von Klabund angenommen. Doch während sich Brecht als kühler Beobachter vor allem dem gesellschaftlichen Aspekt zuwendet, spürt man bei Klabund die innere Hingabe an die Lehren Buddhas und den Taoismus. Der Gedanke der Wiedergeburt wird dabei dem unheilbar Kranken wie ein glückliches Omen erschienen sein: die endliche Loslösung von allen Leiden“, schreibt Kurt Wafner.
Am 29. November 1918 schreibt Fredi an seinen Freund Heinrich aus Monti-Locarno:
„… Wäre ich nicht ein Jünger des Tao (der einzigen Philosophie, die dem Menschen dieser Zeit etwas zu sagen hätte: denn es ist eine lebendige Philosophie, eine Philosophie, die gelebt werden muss und nach der gestorben werden muss), ich wäre längst verzweifelt.“
Kurt Wafner:
„… Klabunds Arbeiten über fernöstliche Themen nehmen einen beträchtlichen Platz in seinem literarischen Schaffen ein. Aber am bedeutendsten ist wohl sein Schauspiel „Der Kreidekreis“. Dieses Werk hat ihn vor allem bekannt und beliebt gemacht.“
Die Geschichte über die Entstehung des „Kreidekreises“ schreibt Kurt Wafner so:
„… Im Sommer 1923 ging es dem Dichter wieder einmal besonders schlecht. Er musste feststellen, dass auch sein Kehlkopf von der Schwindsucht angegriffen worden war. Er hatte die gleiche Krankheit, an der seine Frau Irene gestorben war. Er kann kaum sprechen, muss aber abends auf den Kabarettbrettern stehen, für ein paar Mark, die er zum Leben braucht. Die Inflation bedroht auch ihn, aber er lässt sich nicht unterkriegen. Eine Spezialbehandlung in Davos ist dringend notwendig, aber dazu fehlt das Geld. Da bekommt er überraschend Hilfe, abermals von Kollegen aus dem Schauspielerensemble.
Die berühmte Darstellerin Elisabeth Bergner berichtet aus ihrer Lebensbeschreibung „Unordentliche Erinnerungen“: Sie saß mit Kollegen im Restaurant des Deutschen Theaters. Plötzlich sagte der Schauspieler Alexander Granach: „Dort sitzt der arme Klabund“‘ Ich sagte: „Ist das der Klabund von dem ich so wunderschöne chinesische Gedichte kenne? Warum ist er arm?“ Und jetzt erzählte uns Granach, dass Klabund an Kehlkopf-Schwindsucht leide und nur noch kurze Zeit zu leben habe, da er das Geld nicht hatte, um in ein Schweizer Sanatorium zu gehen, zur Behandlung. Wir waren sehr erschrocken …“
Sie luden ihn ein, an ihren Tisch zu kommen. „Klabund hatte wirklich keine Stimme und sah aus wie ein lebender Leichnam. Etwas ging in mir vor. Ich weiß nicht, was, aber etwas ging vor in mir. Ich begann ihm zu erzählen, wie sehr ich seine chinesischen Übersetzungen liebte. Er schien sich zu freuen. Wenn man ihm auf den Mund sah, konnte man seine spärlichen einsilbigen Antworten gut verstehen. In mir ging etwas vor. Ich fragte ihn, ob er schon einmal ein Stück geschrieben habe. Er verneinte. Ich fragte ihn, ob er vielleicht das alte klassische chinesische Stück „Der Kreidekreis“ kenne. Er verneinte …“
Von nun an ging alles sehr schnell. Die Bergner schickte das Stück an Klabund. Er las es und war begeistert. Und war einverstanden, den „Kreidekreis“ für die Bühne zu bearbeiten. Die Bergner konnte einen Vorvertrag und Vorschuss für Klabund erwirken. Und Klabund konnte sich in Davos behandeln lassen und sein Leben um einige Jahre verlängern.
Am 1. Januar 1925 am Stadttheater Meißen uraufgeführt gibt es weitere triumphale Aufführungen in Hannover und Frankfurt am Main. Im deutschen Theater in Berlin folgen mehr als einhundert Aufführungen und dort spielt die Hauptrolle des Mädchens Haitang – Elisabeth Bergner. Der „Kreidekreis“ wird ein Erfolgsstück „und Klabund hat den Höhepunkt seines künstlerischen Schaffens erreicht“. (Wafner)
Es gibt einen zweiten „Kreidekreis“, Brecht greift das Thema auf und nennt sein Stück „Der kaukasische Kreidekreis“.
Der Literatur-, Film- und Theaterkritiker Hans Sahl (eigentl. Hans Salomon), urteilt:
„… Das Werk Klabunds war „ungleich schöner und menschlich gleichnishafter als das, was Brecht daraus gemacht hat und marxistisch umstilisierte. Klabund war ein Tonfall, ein Lautenlied, gesungen in einer sternklaren Nacht von einem Sterbenden, dessen Tage gezählt waren …“
Klabund über sein Werk: „Es galt, Charaktere zu schaffen, die Handlung neu zu knüpfen … es galt, ein chinesisches Märchenspiel zu ersinnen … Es sollte sein, wie wenn jemand von China träumt…“
Und der Biograph Matthias Wegner urteilt: „… Im Kampf zwischen der bescheidenen und naturhaft mütterlichen Haitang und der ehrgeizigen und nur auf den gesellschaftlichen Erfolg erpichten Gattenmörderin Yü-pei siegt die Aufrichtigkeit des Gefühls. Im Konflikt zwischen Menschlichkeit und gesellschaftlicher Realität siegt die Menschlichkeit…“
Weitere Theaterstücke folgen und Gottfreid Benn schreibt z.B. am 4. September 1926 an seine Freundin Gertrud Zenzes: „Ich wollte, ich wäre so fingerfertig wie Klabund, der ja heute abend schon wieder einen „Cromwell‘ im Lessingtheater hervorkarnickelt.“
Aber die Uraufführung ist ein Riesenmisserfolg. Nach wenigen Tagen wird das Stück abgesetzt.
Alfred Polgar eigentlich Alfred Polak, österreichischer Schriftsteller, Aphoristiker, Kritiker und Übersetzer:
„…Cromwell, ein Schauspiel von Klabund, phantasiert frei über den historischen Vorwurf. Der dichterische Ertrag ist gering; auch das Theater hungert da an vielen bunten Schüsseln. Klabunds Stück ist von der Berliner Presse so zugedeckt worden, daß ich ihm nicht gerne auch noch eine Scholle Kritik nachwerfen möchte.“
Im Literaten-Treffpunkt „Romanisches Cafe“ in Berlin geht ein Sprich des Maler-Bohemiens John Höxter um:
„Auf den Hund kommt Klabund, Nicht reich, nicht gesund. Vor glattem Mist Bewahre ihn, Herr Jesus Christ!“
Und Klabund? Er sieht sich die Premiere an mit Grete Guttman, sie muss die Daumen drücken. Hinter ihnen sitzt Lion Feuchtwanger und er flüstert: „Greta, gestehen Sie: ist es nicht schlecht?“ – Sie antwortet; „Bockmist, wenn es Sie beglückt und Sie das hören wollen.“
In der Vorankündigung zu „Celestina“ habe ich geschrieben: Angeblich zusammengetragen aus alten Archivunterlagen der Stadt und Erzählungen wandert er durch die Jahrhunderte Crossens. Allerdings habe ich den Verdacht, er hat ein bisschen geschummelt und die meisten Geschichten schrieb ein Autor namens „Klabund“. Und deshalb kann ich über die folgende „Geschichte“ schmunzeln.
Guido von Kaulla erzählt sie:
„… Ende Juni verhandelt er in München-Pasing bei Dr. Albert Mündt, der für seine Taschenbuchreihe „Die Rolandsbücher“ Manuskripte benötigt. Klabund steuert eine Auswahl von Versen des Barockdichters Gryphius bei. Eine Auswahl von Versen von Omar Khayyam (um 1100) wird erwogen. Mündt ist freudig überrascht, als Klabund schon sehr bald „Nachdichtungen“ dieses altpersischen Dichters liefert. Er weiß nicht, daß nur zwei Gedichte Verbindung zu einem Khayyam-Original haben und der Rest Original-Henschke ist, nur zuweilen leicht frisiert, ähnlich wie bei „O-sen“. Das sich wissenschaftlich gebende Nachwort ist, ebenso wie später beim „Hafis“-Bändchen. im Grunde Spiegelfechterei. Aber die Verse sind vorzüglich. Und so nimmt Klabund allmonatlich auch von diesem Verleger eine Vorschuß-Summe in Empfang.“
Auch „Der himmlische Vagant“ hat eine etwas „obskure“ Entstehungsgeschichte. Dazu Guido von Kaulla:
„… Klabund legt Mündt unter dem Titel „Der himmlische Vagant“ als Projekt ein „lyrisches Porträt von J. Chr. Günther“ vor, dessen Ablehnung durch Reiss er schon im voraus sicher sein darf, denn ein „Fortschritt“ sind auch diese Verse nicht — entstanden in der Zeit von 1912-1916 und im gleichen „Henschke“-Grundgefühl. Er hat mit dem Günther-Porträt aber kein Glück, weil Mündt bereits eine Auswahl von Original-Günther-Gedichten vorbereitet hat.
Diese Gedichtauswahl von Klabund wird nun mitsamt dem Titel frei für ein neues, anderes lyrisches Porträt. Er fügt die ohnedies schon in recht klabundisch-henschkeschem Geist geschriebenen veröffentlichten drei Gedichte auf Villon hinzu, überträgt ein Gedicht von Villon und läßt sich durch fünf andere Villon-Vorlagen zu neuen Poemen anregen. Bis Ende 1917 kommen noch einige Verse hinzu – auch ein 1793 spielendes „Marie-Antoinette“-Gedicht rutscht mit hinein. Das Ganze wird von Reiss abgelehnt werden und dann 1919 bei Mündt erscheinen.“
Der Titel war zu schön und so erschien im Verlag Kippenheuer & Witsch 1968 herausgegeben mit einem Vorwort von Marianne Kesting erneut ein „Himmlischer Vagant“: Die Zusammenstellung kam bei der Kritik nicht besonders an, aber immerhin … Das komplette „Werk“ habe ich gescannt, ob ich es veröffentliche, weiß ich noch nicht. Aber es ist als Text-Datei gespeichert.
„Dramatische Sorgenkinder“ nennt Guido von Kaulla Klabunds Versuche am Theater und etwas spöttisch vermisst er die Fortschritte. Gemeint sind z.B. „Der Wüstling“ durch Harry Kahn mit der Marionettenbühne des II. Bayerischen Infanterieregiments anno 1918 in München. „Hannibals Brautfahrt“ hatte seine Uraufführung 1919 in Basel – mit Anny R. in der Hauptrolle, – und die „Totengräber“ in Mannheim.
Er schreibt:
„… Nun hat für Mai 1920 Dr. Rolf Roenneke, der neue Schauspielleiter in Hannover am ehemaligen Hoftheater, die Uraufführung der „Nachtwandler“ durchgesetzt Es kommt zu einem erfreulich kräftigen Skandal: die Gegner kriechen aus den Löchern. Die Jugend im Zuschauerraum -: mag sein, dass ihr demonstrativ tobender Beifall nicht so sehr der nicht recht lebensfähigen Szenenfolge gilt als vielmehr der Rückenstärkung für „ihren“ Klabund, der neuen Auftrieb erhält.“
Er gilt als „berüchtigter Klabund“, der ein „widerwärtig brünstelndes Stück“ geliefert habe und zeige, „wie der jüdische Geist die deutsche Jugend durch vorzeitige Schürung ihrer erotischen Phantasie bis zum Verbrechen treibt“, so die Kritik.
Klabund antwortet u. a.: „Das Stück ist deutscher, als die „Deutsche Zeitung“ je sein wird, und ich möchte festgestellt wissen, dass der antisemitische Radau gegen mich (…) völlig unangebracht ist.“
Der Kritiker des „ Hannoverschen Kuriers“, Martin Frehsee und selbst Autor, schreibt u. a.:
„Denn was er zur Schau bringt ist Schemen, und was die Schauten von Schemen reden, ist meschugge!“
Worauf ihm Johann Frerking, Kritiker der „Hannoverschen Neuesten Nachrichten“ in einer Broschüre entgegentritt:
„… – Zum Stofflichen wäre im einzelnen etwa noch zu bemerken, ein Publikum, das die Brunst des Holofernes ohne Mucken hinnimmt und das den in Ophelias noch nicht zugeworfenem Grabe herumspringenden Hamlet begeistert beklatscht, habe sachlich nicht das Recht, einen Dichter anzuflegeln, (…) weil sich zwei junge Menschen unbefangen auf ihre erste Gemeinsamkeit freuen oder weil zwei Särge ein wenig unsanft von der Bühne getragen werden; auch sollte sich (…) ein Kritiker, der einmal ausgerechnet auf Schillers (…) „Räuber“ Goethes Wort von den unbegreiflich hohen Wertem angewandt hat, hüten, (…) u.a. wegen eines veräpfelten „wilhelminischen Regierungsrates“ über diesen Klabund Wehe zu rufen, (…) Die Tugendretterkompagnie ruhte nicht, (…) bis eine Schauspielerin auf offener Szene einen Weinkrampf kriegte und ihr junger, temperamentvoller Partner sich in der Erregung dieses Moments zu einer kurzen, aber deutlichen Festrede an die johlende Arbeitsgemeinschaft hinreißen ließ.“
Klabund an Hilde Jung in Monti: Begeisterte Jugend habe gegen eine verzopfte Hoftheaterclique gekämpft. Er sei beglückt, denn er habe nur vor einem Angst gehabt: dass der Abend lau ausgehen würde. Man sei elektrisiert gewesen, und im Zuschauerraum habe es sogar Handgemenge gegeben“, Was für ein herrliches Geplänkel um „Die Nachtwandler“ und sicher hat es dem Stück gutgetan, denn bessere Werbung gibt es nicht.
Am 1. Januar 1921 liegt Fredi mal wieder flach – wahrscheinlich die „Feiertage“ – genauer, er findet sich im Sanatorium Dr. Weyl in Berlin-Schlachtensee wieder. Der Theater- und Kabarett-Direktor Dr. Eugen Robert trägt die Kosten und die Ärzte wollen einen „Klimawechsel“, Schweiz oder Italien. Ermöglicht wird der Aufenthalt in Positano an der süditalienischen Amalfiküste durch ein beträchtliches mäzenatisches Devisen-Geschenk von Seiten des Grafen Georg v. Arco, des berühmten Pioniers der Funktechnik.
17. März 1921 – Klabund schreibt aus Positano:
„…Ich bin seit einigen Tagen hier und fühle mich zum ersten Male auf meiner Reise wirklich wohl: trotzdem das Wetter gar nicht angenehm ist. Es weht ein kalter Wind und das Meer geht hoch. Von meinem Balkon aus sehe ich die weiße Gischt auf den grünen Wogen. Unendlich dehnt sich die Flut. Unter dem Horizont liegt Afrika. Positano ist ein altes Sarazenennest. Es klebt wie ein Vogelnest auf den Felsen. Häuser und Felsen gehen ineinander über. Es führt keine Eisenbahn nach hier, und kein Schiff legt hier an. Zwei ganze Straßen gibt es da nur. Orangen und Zitronen und Ölbäume wachsen vereinzelt an den Hängen. (…)
Der Bürgermeister ist nur zweimal die Woche zu sprechen. (Ein angenehmer Posten!) Das Gasthaus, in dem ich wohne, ist ganz altväterlich, so wie zu Goethes Zeiten die italienischen Gasthäuser waren. Als ich in meinem Wagen, vom Gebirge kommend, vorfuhr, trat der Wirt an mich heran, zeigte mir persönlich das Zimmer, stellte mir seine Frau vor. Das Zimmer ist groß wie ein Saal, geht nach Süden, hat Balkon. Ich bleibe, solange es mir hier so gut gefällt oder so lange ich mir hier so gut gefalle. Die Landschaft hat gar nichts Bezauberndes wie etwa Capri: Sie ist eher wild und ungestüm. Aber so ist’s mir gerade recht.“
Geschrieben im Fieber einer Krankheit, Januar bis April 1921 schreibt Klabund an Walter Heinrich über seinen Roman „Spuk“ und damit wissen wir, wo er geschrieben wurde.
Sein Gesundheitszustand hat sich wesentlich gebessert und Fredi weiß, was er Graf Arco zu verdanken hat. Die Wiener Gymnasialdirektorin und Philantropin Dr. Eugenie Schwarzwald berichtet im Frühling 1926 über ein Gespräch in Wien:
„…Plötzlich macht einer (…) einen häßlichen Witz über eine bekannte Persönlichkeit. Schon will ich (…) die verdiente Abfuhr erteilen. Da fällt mein Blick auf Klabund. Er ist totenblaß, aber er spricht nicht. Er schaut nur. Durch die runde Hornbrille, hinter der er sich sonst verbirgt, schleudern seine Augen zürnende Blitze. Sein Zeigefinger legt sich so heftig befehlend auf seine Lippen, daß es wie ein Schlag wirkt. Der Lästerer bleibt mitten im Satz stecken. Sein raffiniertes Lebemannsgesicht zeigt tiefe Bestürzung. Im Nu ist Klabund von Reue erfaßt. Heimlich schiebt er mir ein Zettelchen zu, zum Weitergeben an den Betroffenen. Darauf steht mit seiner feinen, flüchtigen, wie um Verzeihung bittenden Schrift: „Nicht böse sein. Ich durfte es nicht hören. Der Mann, den Sie schmähten, hat mir das Leben gerettet.“
In der Erzählung „Der letzte Kaiser“ steht dann auch als Widmung: „Für Gräfin und Graf Arco“.
Rückreise aus Positano – Klabund hat ein Angebot, in München ein Kabarett zu leiten – da scheint ihn nur das Finanzielle zu locken – er lehnt ab. Zwar ist er wie des Öfteren einmal wieder „knapp bei Kasse“, aber er hat zwei Manuskripte, „Spuk“ und die „Geschichte der Weltliteratur in einer Stunde“.
Herbst 1922 – Klabund wieder in München und beim Stöbern auf den Märkten entdeckt er einen alten Stich mit dem General Moreau.
Guido von Kaulla schreibt:
„… Dieses Bild gab ihm die Vision eines Moreau, die, wie er Rutra lachend erzählt, so gar nicht mit dem historischen General übereinstimmt, der als braver Familienvater eines geruhsamen Todes gestorben ist. Aber wie er damals unbekümmert um die Historie seine Dichtung in einem heißen Atemzug niederschrieb und dann noch zweimal durcharbeitete (ehe er in diesem einem seiner Lieblingswerke seine Romanform fand) – so formt er ähnlich auch jetzt, nach allerdings sorgfältigen historischen Studien, den Roman Peter des Großen – den „Pjotr“.
Beim Durchsehen der Korrekturbogen im Januar 1923 schreibt er an seine Schwiegermutter: alle Leute redeten, wie im dritten Kriegsjahr, nur von Preisen, Essen, Kohle usw.; und: im „Pjotr“ habe er seinen ganzen Sadismus und Menschenhaß ausgerast. Es sei also nicht gerade ein freundliches Idyll geworden. Die Zeit der sanften Bücher sei wohl vorbei. Und er glaube, so etwas wie den Franziskus werde er nicht mehr zustande bringen. Man werde bösartig. Und um nicht böse zu werden, müsse man böse abreagieren, d. h.: es tun oder schreiben.“
Ein Exemplar des „Pjotr“ geht an Bruno Frank, der mit einer Postkarte antwortet:
„… Mein lieber Klabund, ich danke Dir für Deine Nachrichten und für den Pjotr, den ich atemlos, mit Bewunderung, las. Daß mir Deine Lyrik hundertmal nähergeht, weisst Du; dem Werk und der Figur fehlt (nach seiner vollen Absicht) jene Art von Humanität, die mir durch kein Format ersetzt wird. Ich bin – hoffnungslos 19. Jahrhundert, und der Begründer des ersten Tierschutzvereins wiegt mir alle Diktatoren auf, von Dschingiskhan bis Mussolini. (Ich bin nicht so blöd, um Deine innere Kritik nicht zu sehen — aber es ist doch nur Kritik der Liebe, die mir darin fehlt.) Laß Dir innig Gutes wünschen, Klabund!“
Einen Roman der Hanse will er schreiben, aber nur der Teil des „Störtebecker“ wird entstehen und in diesem lebt nach eigenem Bekunden Klabund, „Was ich gerne täte, ihn lasse ich es tun.“
Und 1926 bekennt er in einem Interview:
„… Ja, ich habe eine Vorliebe für historische Stoffe. Aber ich gehe willkürlich mit der Geschichte um. Meine Figuren decken sich nicht ganz mit der historischen. Ich mache selber Geschichte. Die Gestalten meiner historischen Romane (…) sind Projektionen meiner selbst. Ich liebe in meiner Dichtung die starken Charaktere. Ich selbst, in kleinen Dingen sehr konziliant, lasse mich von nichts abbringen, was ich als richtig erkannt habe.
Ich habe mich auch durch Not von meinen Plänen nicht ablenken lassen, ich habe immer intensiv gearbeitet, zu allen Zeiten des Jahres und des Tages, ob ich gesund war oder krank, aber ich habe mich nie für einen bürgerlichen Beruf entscheiden können. Ich war immer sehr sicher meiner selber. Noch ehe ich begann, wußte ich meinen Weg.“
Frühling 1924 – Klabund auf Reisen – er verläßt Davos und Guido von Kaulla schildert dieses „reisen“:
„… und begleitet die junge polnische Cafehausgeigerin Maryla v. Scostkiewicz („Mascha“) auf ihrer Tournee durch Oberitalien und die Südschweiz. Maryla, in Kiew aufgewachsen, erklärt ihm zuweilen die Themen russischer Volkslieder. Daraus formen sich Gedichte – „Aus deinem Herzen in mein Herz gesungen“ – für deren Zusammenstellung unter ihrem Namen bzw. unter dem Pseudonym „Maryla v. Otwil“ beim Spaeth-Verlag Vertrag gemacht wird. Gleichzeitig bereitet Klabund eine Anthologie eigener Übertragungen polnischer Lyrik vor. Äußerlich verläuft das Zusammensein der beiden recht kärglich – das Geld ist knapp. Einerseits Maryla -: „Was soll ich Ihnen auf die fünf Franken herausgeben? Nichts? Oh, wie ich Ihnen danke, nun können wir einmal heute bei Biaggi ordentlich zu Abend essen“ – andererseits Klabund, wieder bei Tingelversuchen („Ich lese im Grand Hotel“): „Als ich abends um halb neun Uhr in einem von Hermann Hesse geborgten Smoking die Halle betrete, (…) der Direktor (…) Bei dem herrlichen Sommerwetter sind unsere Gäste alle ausgegangen. (…) Wie die Zigeuner ihren Zuhörern ins Ohr hinein geigen, so brachte ich meinen Mund dicht an das Hörrohr und schmetterte meine Weisen der alten Dame ins dürre Trommelfell: „Du hast die Sonne durch dein Aug‘ berückt, / Daß sie die goldenen Strahlen heller zückt“, schrie ich und: „Soll ich kleine Lieder singen?“ „Ja“, nickte sie schwermütig, „ja, ja.“ (…) – Nicht nur Lyrik entsteht, auch das Drama „Brennende Erde“ mit der Marylas zartem Wesen nachgebildeten einzigen Frauenrolle. Das Stück «spielt in einem heutigen legendär gesehenen Rußland. (…) Der rauhe, wüste Kommissar Rjurik, der (…) in das Kloster am Sinsee einbricht: er ist ein Meteor, der auf einen anderen Stern stößt (…) Der Antichrist, die Christin – (…) Es handelt sich nicht um Pro- und Anti-bolschewismus: Es handelt sich um zwei Menschenschicksale.“
Eine „Frauenbegegnung im Sommer 1924 gibt es noch, die mit einer 22jährigen Münchener Schauspielerin, dem Fräulein Karoline Neher. In der Ringlinie 2a der Tram in München- Am „Cafe Stefanie“ ist er aufgesprungen – er starrt sie an, bis sie ihm zuzischt: „Wenn Sie mich ganz ungeniert betrachten wollen, müssen Sie ins Theater gehen – ich spiele heute in den Kammerspielen den Hugenberg in der „Büchse der Pandora“!
Guido von Kaulla bestreitet die Art dieser Begegnung: „Diese Begegnung – der nicht nur ein Rosengeschenk in der Garderobe folgte – findet keineswegs in Gegenwart und durch Vermittlung von Walter Mehring statt und keineswegs in der Linie 8.“
Carola Neher – Dein Mund, der schön geschweifte
Kurt Wafner nennt dieses Kapitel: „Die Sphinx tritt auf“! War sie das?
Und die im letzten Kapitel erzählte Geschichte vom ersten Treffen mit Klabund griffen alle Chronisten auf.
Kurt Wafner:
„…Er trifft sie in der Straßenbahn. In München. In der Nähe vom ,Cafe Stefanie‘. Er schaut sie unentwegt an, bis sie ihm zuflüstert: „Wenn Sie mich ganz ungeniert anstarren wollen, müssen Sie ins Theater kommen. Ich spiele heute in den Kammerspielen den Hugenberg in der „Büchse der Pandora“. So begann Klabunds Bekanntschaft mit der am 2.11.1900 in München geborenen Schauspielerin Carola Neher.“
Guido von Kaulla:
„…Und ähnlich kam ich auch zu meinem Manne. Auch ihn habe ich der Straßenbahn zu verdanken!
Zwei Jahre nach meiner Flucht fuhr ich durch die Münchener Theresienstraße in die Kammerspiele, wo ich „zweite Besetzung“ spielen durfte. Auf die fahrende Straßenbahn sprang beim „Cafe Stephanie“ ein junger Mann auf, der mich sofort unverschämt zu fixieren begann.
– „Wenn Sie mich ganz ungeniert betrachten wollen, müssen Sie ins Theater gehen“ – zischte ich ihn an, da sein Blick mich irritierte. „Ich spiele heute in den Kammerspielen den Hugenberg in der „Büchse der Pandora“. Der junge Mann lächelte. „Gewiss, ich werde gehen und Sie weiter ansehen!“
Und er hielt Wort und kam tatsächlich ins Theater. Und entdeckte hier offenbar zweierlei: eine Schauspielerin – und seine Frau. Der unverschämte junge Mann war nämlich Klabund.“
Guido von Kaulla zitiert, geschrieben hat diese Zeilen „die junge Schauspielerin Carola Neher“- im „Berliner Tageblatt“ vom 19. Dezember 1926.
Wahrscheinlich im gleichen Blatt erzählt sie von ihrer ersten „Straßenbahnflucht“:
„… „Ich bin genauso zum Theater gekommen, wie es in den Zehnpfennigromanen „vom Köhlerkind zur Brettldiva“ zu lesen steht. Ich wollte zur Bühne, mir war schon in Baden-Baden ein Engagement versprochen; und da meine Mutter davon nichts wissen wollte, bin ich eines Morgens von ihrer Seite frisch und frei weggelaufen. Nicht heimlich und bei Nacht, sondern am helllichten Tage; meine Mutter auf der Nymphenburger Straße in München immer hinter mir her.
Ich lief die Schienen entlang. Da kam – o Engel vom Himmel – eine Straßenbahn! Ich sprang auf … und meine Mutter blieb, verzweifelt winkend, zurück. Ich fuhr mit der Straßenbahn zum Bahnhof und vom Bahnhof nach Baden-Baden. Dort konnte ich für einen kranken Schauspieler einspringen und spielte noch am gleichen Abend eine stumme Rolle. So kam ich zum Theater.“
Auch Matthias Wegner beschreibt dieses erste Treffen der beiden und auch bei ihm spielt die Straßenbahn die gleiche Rolle:
„… Als letzte Produktion der auslaufenden Spielzeit kommt im Juli des Jahres 1924 wieder einmal ein Stück von Frank Wedekind zur Aufführung: „Die Büchse der Pandora“. Unter der Regie des bewährten Hausregisseurs Robert Forster-Larrinaga spielt auch Tilly Wedekind mit, die Witwe des Dichters. Zu den noch unbekannten Darstellerinnen gehört eine selbstbewusste Vierundzwanzigjährige in der kleinen Hosenrolle des Gymnasiasten Hugenberg. Ein Jahr zuvor hat sie schon einmal an den Kammerspielen gespielt, ebenfalls in einem Stück von Frank Wedekind: der Pantomime „Die Kaiserin von Neufundland“. (…)
… Wollen wir ihren eigenen Worten Glauben schenken — was bei dieser Schauspielerin immer ein kleines Risiko birgt – so beschert ihr eines Tages eine Fahrt mit der Straßenbahn eine schicksalhafte Begegnung. Auf ihrem täglichen Weg mit der Linie 2 ins Theater fällt ihr ein junger Mann auf, der sich mit elegantem Sprung auf das Trittbrett des Wagens schwingt. Ihre Vorliebe für sensible und Künstlernaturen lässt sie ihn genau fixieren. In der Rolle der zurückhaltenden Dame, die mit gesenktem Blick auf die Flirtversuche der Männer wartet, hat sich die hübsche junge Frau noch nie geübt. Was aber den eleganten Herrn betrifft, so muss ihn schon ein erster Blick auf sie elektrisiert haben. Jedenfalls gibt er seiner bereits reichlich erprobten Neigung zur galanten Kontaktanbahnung sogleich ungeniert nach: er beginnt, die Schöne, wie sie später behauptet hat, „ungeniert zu fixieren“.
Nach einer kurzen Unterhaltung weiß Fredi, was er wissen will: Auftritt am Abend in den „Münchner Kammerspielen“ – er wird sie dort „in Augenschein“ nehmen und sicher wird ihn die schauspielerische Leistung seiner neuen und attraktiven Bekanntschaft nicht auf Anhieb beeindruckt haben – „Die kleine Hosenrolle bot ihr wenig Möglichkeiten zur Entfaltung der Talente. Als Schauspielerin sei sie in München noch weniger aufgefallen denn als junge Schönheit, meinte ihr Bruder im Rückblick“.
Einerseits hat sich schon der damals noch ziemlich unbekannte Dramaturg Bert Brecht auf Anhieb für die junge Dame interessiert, Andererseits hält man sie in den Kammerspielen für „ziemlich unbegabt“ und den „Herrn Direktor“ Falckenberg stört ihr Mund, der sehe aus wie von „einer Leiche“.
Der österreichische Schriftsteller, Theaterautor und Regisseur Arnolt Bronnen – nennt sie eine „nette kleine Hur“ und Lion Feuchtwanger plante ein Rendezvous im Englischen Garten, „kniff“ aber und schickte Freund Bronnen an den verabredeten Treffpunkt.
Klabund aber ist von Carola Neher fasziniert. „Er erwartet sie am Bühnenausgang, überreicht ihr seine Visitenkarte und drängt auf ein abermaliges Zusammentreffen. Wie sehr ihn die erste Begegnung ins Herz getroffen hat, schreibt er ihr noch im August – nach einem Tete- ä-tete im Englischen Garten — in einem Gedicht. „Hinter den Schläfen donnert der Niagara meiner Sehnsucht“, ruft er ihr darin zu. Bei Betrachtung ihres Mundes ist er zu ganz anderen Empfindungen als der Direktor Falckenberg gekommen: „Dein Mund springt manchmal auf wie eine rote, reife Feige“, schreibt Guido von Kaulla.
Matthias Wegner beschreibt die beiden nach ihrem „sich kennen lernen“:
„… Seit der Zeit (…) Anfang August 1924 in München werden sie sich „Carla“ und „Fred“ nennen (auch „Monilein“ und „Moni“). „Carla“, zierlich, hat schwarzes welliges Haar und dunkelbraune leuchtende Augen. „Fred“ bietet das Erscheinungsbild eines eher schmächtig wirkenden Mannes. Der Kopf, stets ein wenig zur Seite geneigt, erscheint groß und rund. Sein weicher Mund ist meist leicht geöffnet und gern zu einem Lächeln bereit. Seine schönen, ruhigen, hellen, blau-grauen Augen blicken immer etwas erstaunt. Er wirkt verträumt und doch sehr eindringlich.“
Verträumt und verliebt folgt dieses Gedicht, das er im Gedichtband der Harfenjule veröffentlichen wird:
Dein Mund, der schön geschweifte,
dein Lächeln, das mich streifte,
dein Blick, der mich umarmte,
dein Schoß, der mich erwärmte,
dein Arm, der mich umschlungen,
dein Wort, das mich umsungen,
dein Haar, darein ich tauchte,
dein Atem, der mich hauchte,
dein Herz, das wilde Fohlen,
die Seele unverhohlen,
die Füße, welche liefen,
als meine Lippen riefen –:
Gehört wohl mir, ist alles meins,
wüßt’ nicht, was mir das liebste wär’,
und gäb’ nicht Höll’ noch Himmel her:
eines und alles, all und eins.
Nochmal zurück zum „Rendezvous“ in der Straßenbahn und dieses bestreitet Guido von Kaulla wie schon geschrieben: „ Diese Begegnung – der nicht nur ein Rosengeschenk in der Garderobe folgte – findet keineswegs in Gegenwart und durch Vermittlung von Walter Mehring statt und keineswegs in der Linie 8.“
Aber auch nicht in der Linie 2
Carola Neher spielte in Baden-Baden, Darmstadt, Nürnberg und München und „dort ereilte sie das Schicksal. Es hieß Klabund. Für den Dichter war die Begegnung mit Karoline Neher (wie ihr richtiger Name lautete) von Beginn an mehr als ein flüchtiges Abenteuer. Für den Kranken bedeutete sie das blühende Leben. Aber nicht nur ihre Schönheit und das etwas lasterhafte Image dieser Frau mag ihn angespornt haben, sondern wohl auch ihre talentvolle Liebe zu den Musen. Und für „die Neher“? Für sie war der 1924 bereits erfolgreiche Dichter eine Art Lehrmeister, sie erhoffte sich von ihm Unterstützung bei ihrem recht beschwerlichen Aufstieg zum Ruhm“, so Kurt Wafner.
Die Idylle in München dauert nicht allzu lange, Carola Neher spielt zwar noch an den Kammerspielen den Hugenberg in der „Büchse der Pandora“ von Frank Wedekind – Regie: Robert Forster-Larrinaga – mit Tilly Wedekind, Maria Koppenhöfer, Hans Schweikart, aber noch 1924 wird sie ein Engagement in Breslau annehmen.
Guido von Kaulla schreibt:
„… Carola Neher tritt Anfang September 1924 ihr Engagement in Breslau an. Klabund fährt nach Berlin, um die Zwischentitel für den Stummfilm „Ein Sommernachtstraum“ zu schreiben. Er trifft mit Frau Dr. Eugenie Schwarzwald zusammen, einer Wiener Schuldirektorin, der er gleich nach der Stabilisierung der Währung (im November 1923) für die von ihr geleitete „Mittelstandsküche Berlin“ trotz großer eigener finanzieller Bedrängnis 200 Mark geschickt hatte (mit der Bedingung, dass sein Name nicht genannt werde).
Seine oft erwiesene stille Hilfsbereitschaft kommt aus der Mitte seines Wesens. Eugenie Schwarzwald über ihn: „Jede Begegnung mit ihm war ein Fest. Denn er suchte nicht das Seine. Der Narzissmus der Produktiven, ihm war er fremd. An dem Schicksal des Freundes, mit dem er gerade sprach, nahm er tiefen Anteil, der sein Wesen kennzeichnete.“ Aus seiner geplanten Rückkehr in das milde Klima der Südschweiz wird nichts: es zieht ihn nach Breslau, wo er jedoch das Angebot .des Direktors Barnay nicht annimmt als Dramaturg am Lobe-Theater tätig zu sein. Auch die für den 8. November angesetzte Matinee-Aufführung seines Schwankes „Hannibals Brautfahrt“ mit Carla in der Rolle der „Miss“ ist nicht Magnet.“
Am 3. November erhält sein Mentor Unus eine Postkarte aus Breslau:
„… „Lieber Unus, Dank für die Herzogin. Ich will versuchen, was draus zu machen. – Ich bin noch immer in Breslau. Sie ersehen, wie sehr ich attachiert bin. Zum Arbeiten komme ich nur sporadisch. Mit Geld haperts heftig. (Heute war der Gerichtsvollzieher da, ein ganz umgänglicher Herr.) – Schulden wie Heu, Stroh im Kopf, und nur ein brennendes Herz. Wie soll das enden? – Hoffentlich nicht mit einer Katastrophe. Immer Ihr K.“
Diese Herzogin bezieht sich auf ein Drama des englischen Dramatikers John Webster (1580-1625) – sein Name „Die Herzogin von Malfi“ (d. i. Amalfi) und die ist ihm sehr wohl bekannt. Warum aber ausgerechnet John Webster und seine Herzogin? Mit seinem Gespür für außergewöhnliche Stoffe hatte er in seiner „Geschichte der Weltliteratur“ schon 1921 auf sie hingewiesen.
Wikipedia schreibt über ihn:
„… John Webster war Sohn eines wohlhabenden Kutschen- und Wagenmachers. Er wuchs behütet auf und besuchte die Merchant Taylor’s School in London. 1597 absolvierte er ein Rechtsstudium am Middle Temple. Daher rühren auch vermutlich die vielen Gerichtsszenen in seinen Werken. Ab 1602 arbeitete Webster mit Thomas Dekker, John Ford und Michael Drayton an diversen Theaterstücken. Um das Jahr 1604 begann Websters aktive Phase.
Seine Tragödien „Der weiße Teufel“ (1612) und „Die Herzogin von Malfi“ (1613, veröffentlicht 1623) werden häufig als Meisterwerke des frühen englischen 17. Jahrhundert angesehen.
Die beiden Hauptwerke Websters, die in England oft auf den Spielplänen stehen, basieren auf italienischen Quellen. (…)
In „The Duchess of Malfi“ ist die Titelheldin nicht Täterin, sondern Opfer. Dennoch macht Webster auch hier – für seine Zeit ungewöhnlich – eine starke Frau zur Heldin: Sie ist tapferer als ihre schurkischen Brüder und sieht stoisch dem Tod entgegen. Auch hier geht es um Grausamkeit, Korruption und Wahnsinn, aber Gut und Böse sind klarer getrennt und die Charakterisierung der Figuren ähnelt geradezu psychologischen Studien. Das Stück wurde wahrscheinlich vor einem gebildeteren Publikum im Blackfriars Theatre aufgeführt, wo der Innenraum, die Beleuchtung und musikalische Zwischenspiele zwischen den Akten für eine bessere Wirkung sorgten.
Webster gilt unter den Dramatikern seiner Zeit als der mit der düstersten Sicht des Menschen. Der Literaturnobelpreisträger T.S. Eliot sagt, dass Webster „vom Tod besessen war und den Totenschädel unter der Haut sah“. Die Werke waren im 18. und 19. Jahrhundert von den Spielplänen verschwunden, wurden aber im 20. Jahrhundert als brillante Stücke mit poetischer Qualität und finsteren Themen neu entdeckt – wahrscheinlich weil ihre verzweifelten Hauptfiguren erst nach den Schrecken der Weltkriege wieder verstanden wurden.“
Am 8. 10. 1923 erhält Unus die Zeilen:
„Lieber Unus, ich war gestern bei Ihnen – wie verabredet! – Haben Sie noch eine Abschrift der „Herzogin von Amalfi“? – Bitte lassen Sie sie doch in meinem Namen abgeben bei Elisabeth Bergner, Margarethenstraße 13, ich sprach zu ihr davon.“
Die Schauspielerin Elisabeth Bergner erinnert sich in ihrer Selbstbiographie „Bewundert viel und viel gescholten“ (1978):
„… Brecht und ich hatten angefangen, an einem Projekt zu arbeiten. Es handelte sich um die „Duchess of Malfi“ von Webster. Die Idee war mir ursprünglich von Edward Sheldon suggeriert worden.“
Und deshalb will Klabund 1924 mit der „Herzogin“ eine tragende Rolle für Carla vorschlagen doch daraus wird nichts.
Das „Vereinigte Lobe- und Thalia-Theater“ mit dem Intendanten Paul Barnay gilt als Sprungbrett für große Bühnen, aber die Stadt empfindet Klabund als unerträglich. Warten auf die Geliebte – Während sich der Dichter seine Tage und Nächte in Breslau um die Ohren schlagen muss und an seiner Gesundheit sündigt.
Carola Neher aber spielt in Breslau ab der Spielzeit 1924/25 bis April 1926 ein breites Repertoire und dazu gehören auch „Hannibals Brautfahrt“ und der Kreidekreis von Klabund.
Am 7. Mai 1925 heiraten Carola Neher und Klabund und diese Heirat hat eine Vorgeschichte – eine ziemlich dramatische.
Matthias Wegner:
„… Doch vorher nimmt das Geschick der beiden eine überraschende und bedrohliche“ Wendung. Mitten in ihrer unermüdlichen Theaterarbeit wird Karoline Neher 1925 von einer gefährlichen Erkrankung heimgesucht, die ungewohnterweise ihrem Geliebten die Rolle des „gesunden“ Helfers zuweist. Sie erleidet eine Blutvergiftung und muss ein Breslauer Sanatorium mit Klinikbetrieb aufsuchen. Zweimal muss sie sich einer Operation unterziehen. Zweimal steht das Leben der Fünfundzwanzigjährigen auf des Messers Schneide.“
Und Guido von Kaulla schreibt:
„… Im Frühjahr 1925 zwingt eine schwere Blutvergiftung Carola Neher zu einem viele Wochen dauernden Aufenthalt im Breslauer Sanatorium Friederici, wo sie gleich nach der Einlieferung operiert werden muss.“
Sicher hat Fredi Erinnerungen an seine erste Frau und befürchtet das Schlimmste, aber seinem Naturell entsprechend verbringt er Tag und Nacht an ihrem Bett und versorgt sie aufopfernd. Am 30. April 1924 legt er ihr ein Gedicht auf die Bettdecke.
Der Frühling
Der weiße Blütenbaum,
Sieht glühend mit tausend Augen
Durchs Fenster
Süß singen die Vögel und
Ich liebe dich
Du braune Gazelle
Wie bald
Wirst du über die grünen Sommergipfel springen
Irdische Göttin Himmlische Tänzerin.
Tage später – die Erleichterung ist wohl groß – gehen diese Zeilen an Irene Heberle nach Passau:
„…Frl. Neher liegt noch im Sanatorium, noch immer schwer krank. Zum zweiten Mal operiert, aber hoffentlich ganz außer Lebensgefahr.“
Und am 6. Mai 1925 etwas ausführlicher:
„… Liebe Mutter, vielen Dank für Deine Karte. Ich würde Euch gerne einmal wiedersehen, und hoffentlich kann es bald gesehenen. Ich habe ein sehr aufregendes und aufgeregtes Jahr hinter mir. Zu guter oder böser Letzt lag der Mensch, um den es sich handelt, an einer schweren Blutvergiftung auch noch zum Sterben darnieder, und da hab‘ ich in meiner Herzensangst ein Gelöbnis getan, wenn er wieder gesund würde, würde ich ihn, d.h. sie heiraten. Frl. Neher ist jetzt auf dem Wege der Gesundung.
Ich lege Dir, damit Du sie kennen lernst, einige Bilder bei. Sie ist ein ungewöhnlich charmantes und liebenswürdiges Mädchen, auch eine höchst begabte Schauspielerin (sie hat jetzt 50 mal die Heilige Johanna hier gespielt, auch die Hauptrolle im Hannibal: „die Miss“‘, und wird auch die Haitang spielen).
Die Bedenken, die ich gegen eine Ehe hatte – und die ja auch heute nicht zerstreut sind -, liegen erst einmal im Äußeren, Äußerlichen: eine Schauspielerin ist an die Stadt ihres Engagements gebunden, und das kann eine fürchterliche Stadt sein, die ihr weniger ausmachen wird, da sie ja ihre künstlerische Arbeit hat. Mir aber fällt z. B. eine Stadt wie Breslau ganz beträchtlich auf die Nerven. Ich bin jetzt 6 Monate hier, und ich kann manchmal kaum mehr atmen. An sich hasse ich schon einen längeren Stadtaufenthalt – und dann noch dazu hier! Eine Stadt, die riesenhaft gewachsen ist seit dem Krieg, (größer als München), ohne jeden musischen Glanz, ohne jede, auch die geringste, landschaftliche Schönheit. Dazu ein scheußliches Klima: wenig diskutable Menschen: das ist Breslau. Andere Bedenken liegen in den beiden künstlerischen Berufen (Keiner kann den seinen aufgeben). Und schließlich auch in der „Berufshysterie“ der Schauspielerin – so geh ich denn bei aller Liebe und Zuneigung mit gemischten Gefühlen in diese Ehe. Aber es gibt ja Wunder. Ein Wunder hat ihr das Leben gerettet. Vielleicht wird ein Wunder auch unsere Ehe retten.“
Klabunds Beweggründe für eine erneute Ehe sind geschildert, aber welche bewogen Carola Neher? Dazu Guido von Kaulla:
„… Die Beweggründe der Neher für diese Eheschließung? Die Begegnung im Sommer 1924 wäre für sie nur eine bedeutungslose Episode gewesen, wenn Klabunds Maßlosigkeit des Gefühls, seine hinreißend leidenschaftliche Hingabe nicht im Gegensatz zu ihren bisherigen Liebhabern gestanden hätte. Vielleicht war es auch die ihr wie ihm wesentliche innere Unruhe gewesen, die sie reizte, ihn zu halten. Außerdem verband beide die Unruhe zum Wort. Für sie als Schauspielerin war an sich zum Bekanntheit erfordernden beruflichen Fortkommen aus dem „Drecksleben“ ihre Verbindung zu Klabund schon Förderung genug. Gewiss aber hatte die Eheschließung für die kraftvolle Vierundzwanzigjährige eine andere Bedeutung als für den Vierunddreißigjährigen, der einem frühen Ende entgegenging – worüber beide sich schwerlich im unklaren waren.“
Dass er sich selbst überfordert hatte während Carola Nehers Erkrankung, verschweigt er in diesem Brief. Fredi muss sich wegen erneuter Lungenprobleme in dasselbe Sanatorium einweisen lassen. Dieses Versäumnis holt er am 8. Mai nach und schreibt nach Passau:
„… Es sind heute drei Wochen, dass ich die Blutung hatte, es geht aber schon wieder besser und ich hoffe, in 8 Tagen mit meiner Frau – wir haben uns gestern hier im Sanatorium verheiratet – nach Davos zu fahren. Ich versichere Dir, dass ich mit der Mutter von Carla Neher weder Bekanntschaft habe noch haben werde. Nur Du wirst mir – neben meiner leiblichen Mutter – als „Mutter“ anredenswürdig sein. Du hast recht, mich haben die letzten Monate seelisch ungeheuer mitgenommen. Ich habe doch zweieinhalb Monate am Krankenbett eines lieben Menschen gesessen, früh und nachmittags, 8 Stunden, und bin zur Arbeit, die ich vertraglich abliefern musste, den Aiglon, immer erst nachts gekommen. Ich habe einen Monat fünfzehnmal die Sonne am Schreibtisch aufgehen sehen. Dazu die ständige Sorge um einen ständig in Lebensgefahr schwebenden Menschen – es war zu viel für mich. Und so war der ganze Zusammenbruch viel mehr seelisch als körperlicher Art.“ –
Carola Neher berichtet am 13. Mai 1925 an Frau Poeschel in Davos, dass es ihr endlich wieder bessergehe und sie mit ihrem Geliebten demnächst wieder nach Davos kommen werde: „Sehen Sie doch zu, dass wir die beiden oberen Zimmer bekommen, wir sind doch so gerne allein.“ Die Eheschließung erwähnt sie nicht.
Im Sommer 1925 taucht ein Besucher in der Pension Stolzenfels auf – Student im ersten Semester und „junger Dichter“, der aus Crossen stammende Herybert Menzel.
Menzel erzählt Guido von Kaulla:
„…. Ich sollte ihm von mir zu lesen geben. „Es interessiert mich immer, was junge Menschen schreiben – und Sie kommen aus Crossen!“ Aus Crossen, das ihn oft geschmäht hatte, früher, und in dem er sich vor den Menschen immer etwas beunruhigt fühlte. Er ist dort prüden Gemütern oft auch allzu frei. Gerade darum lag ihm so viel daran, seiner Heimat Ruhm zu schaffen. Darum freute ihn auch jede Anerkennung, die von der Heimat ausging.“
Das Paar ist inzwischen Prominenz der Weimarer Kulturszene, Zeitungen und Zeitschriften berichten. „Der Dichter und seine Schauspielerin sind ganz nach dem Geschmack der neuen Zeit und ihrer Medien: nach außen sorglos und vom Erfolg verwöhnt, stehen sie im Scheinwerferlicht und beflügeln die Träume des Publikums von einer Romanze im Kunsthimmel“ (Guido von Kaulla). Flitterwochen wird es nicht geben, Klabund findet sich erst einmal in Davoser wieder. Die Erkrankung ist in Anbetracht der rücksichtslosen Vernachlässigung inzwischen beharrlich fortgeschritten.
Guido von Kaulla:
„… Der Besitzerstolz des zum zweiten Male verheirateten Dichters ist gewaltig, und die überwältigende Freude über die Überwindung von Carolas bedrohlicher Erkrankung beflügelt ihn. An Hermann Hesse, den er seit den Tagen, die sie beide mit der jungen „Irene“ im Tessin verbracht haben, freundschaftlich verehrt, schickt er ein Foto seiner neuen Frau. Der Begleitbrief klingt beschwingt und glücklich — aber wieder einmal verraten ein paar ironische, aber unmissverständliche Worte, die die jüngsten Breslauer Erfahrungen anklingen lassen, dass unter dem Glück ein Abgrund lauert: „Anbei muss ich Ihnen, eitel wie ich bin, einmal meine Frau vorstellen. Wie gefällt sie Ihnen. Sie ist so schön, so klug, so genial, dass sie, in ihrem Jargon gesprochen, mich völlig an die Wand gespielt hat und Sie von mir nicht mehr viel übrig finden werden. Einmal kommt ja die Frau, die uns unbewusst an allen anderen Frauen rächt und die uns radikal frisst. Mit Haut und Haaren, Leib und Seele. Auch nicht ein Seelenzipfelchen bleibt unverspeist. Denn die gesunde Sphinx hat einen guten Appetit. In dem angenehmen Zustand des Gefressenwerdens befindet sich momentan der ergebenst Unterzeichnete“.
Aber Klabund leidet schwer unter der Trennung und schreibt (leider nicht erhaltene) Briefe nach Breslau. „Im Sommer besucht die nach einer harten Bühnensaison erschöpfte Carola Neher ihren Mann zum ersten Mal in seinem zweiten — beinahe schon: ersten — Zuhause. Für sie ist das landschaftlich so reizvolle und gesellschaftlich so amüsante Davos ein zauberhafter Ort der Entspannung, der das graue Breslau schnell vergessen lässt. So kommt sie den Bitten ihres Mannes nur allzu gerne nach, ihn wie einen Gesunden zu behandeln“ schreibt Matthias Wegner.
Dazu kommt immer wieder Klabunds Eifersucht, als z.B. in Davos der Schauspieler Alexander Moissi einen Urlaub verbringt. Guido von Kaulla berichtet, dass der verzweifelte Klabund nach einer bitteren Szene einmal ohne jede Rücksicht auf seine Gesundheit ins Gebirge lief, um seiner Nerven wieder Herr zu werden. Klabunds Liebe zu seiner Frau und sein Stolz auf sie sorgen nach jedem „Krach“ für eine Versöhnung.
Klaus Mann erzählt in seiner Autobiographie „Der Wendepunkt“ über seine Begegnungen mit dem Paar:
„… Mit Carola Neher ihn zu beobachten, war beinahe beunruhigend, so sehr liebte er sie. Ich vergesse nie den werbenden, gedämpften, zarten Ton, den seine Stimme, sprach er zu ihr, hatte. Ich weiß noch, dass ich mit den beiden zusammen war in einer kleinen Münchner Bar, die Neher hatte vorher irgendeine Posse gespielt. Sie war kapriziös und mochte nicht essen, ich sehe Klabund, als sei es heute, wie er sich zu ihr neigte und besorgt scherzte: „Ich als dein Manager muss unbedingt darauf bestehen, dass du eine Kleinigkeit nimmst“ Ich glaube, sie bestellte trotzdem nichts.“
Herbst 1925 und wieder Breslau, dem ungesunden Breslau. Carola Neher spielt wieder eine Hauptrolle nach der anderen und Klabund schreibt und wartet auf seine Frau. Im November gehen an Hermann Hesse diese Zeilen:
„… Ich lebe, vom Schicksal hierher verweht, noch immer in Breslau, dem (Bollwerk des Ostens), einem feuchten, unfreundlichen Ort im preußischen Sibirien. Wie oft sehne ich mich nach dem warmen, zärtlichen Tessin.“
Und nach Passau, dass ihm die Stadt ganz beträchtlich auf die Nerven falle. Er könne «manchmal kaum noch atmen.“
Wie sehr ihm die Abende in dieser Stadt auf die Nerven gehen zeigen diese Zeilen, die er in seiner Verzweiflung hinter die Bühne bringt:
„… Drei Stunden warte ich schon auf Dich. Es ist kalt wie im späten Herbst. Auf der Dominsel fiel schon das Laub von den Kastanien. O lieber Stern! Wann erscheinst, wann scheinst Du? Ich gehe am Lobe -Theater vorbei. Die Vorstellung ist erst um 11 Uhr aus. Und es ist erst halb zehn Uhr. Noch immer eine Stunde. Welches Kleid wirst Du anhaben? Das schwarze, englische Jackenkleid? Oder über dem braunseidenen das Abendcape? Soll ich morgen abfahren? In medias res, das heißt mit dem Auto nach Italien? Du bist der einzige Lichtblick in dieser tristen Einöde, Mitteleuropa genannt. Leuchte ihr, leuchte mir weiter! Komm! Komm bald! Ich bin schon beim fünften Tee mit Rum und beginne eben mit einer Serie Grogs. Ich liebe. Ich liebe Dich. Ich liebe Dich.“
Ab dem 16. September 1925 steht im Vereinigten Lobe- und Thalia-Theater auch der Kreidekreis auf dem Spielplan. Regie: Renato Mordo. Carola Neher als Haitang. Mit Franz Lederer, Walter Gynt, Fritz Eßler, Cläre Kristl, Werner Rafael und wird bis Frühjahr 1926 aufgeführt.
Matthias Wegner schreibt über diese Inszenierung:
„… Während Klabund mit der Stadt Carola zuliebe weiterhin seine Mühe und Not hat, entwickelt sich diese immer mehr zum Publikumsliebling des Lobe-Theaters. Im September spielt sie endlich auch die Haitang im „Kreidekreis“. Sie wird diese Rolle noch oft mit großem Erfolg spielen. Die Breslauer Kritik lobt sie in den höchsten Tönen, was dem Ehepaar umso mehr behagt, als der Kritiker Alfred Polgar die Darstellung Elisabeth Bergners in Berlin etwas einschränkend beurteilt hatte: sie verharre zu sehr auf ein und demselben Ton, „es klingt wie das Wimmern eines Kätzchens, das in den Brunnen gefallen ist“. Dennoch attestiert Polgar der Bergner, dass sie in der Rolle „sehr rührend“ gewesen sei.“
In der Breslauer Zeitung ist hingegen nur lobendes zu lesen:
„… Wie als heilige Johanna ergreift sie wieder durch Zartheit und Reinheit des Umrisses, durch die innige Versunkenheit der seelischen Bewegung. Sie sieht bezaubernd aus. Wunderschön, auch körperlich zwingend, ihre Stille, ihre Verhaltenheit, die in sich gekehrte Stummheit…“
Und nochmal Matthias Wegner:
„… Das Lob lässt erkennen, dass der Kritiker den ganz und gar neuen, gegenüber der Bergner herberen und gewiss auch kühleren Ton der jungen Schauspielerin zu schätzen weiß. Ihr nun immer unverwechselbarer, eigenwilliger Stil entwickelt eine verstörende Modernität, woran die „gläserne“ Stimme ihren besonderen Anteil hat. Noch gehört sie nicht zur ersten Garde deutscher Schauspielerinnen — aber sie ist auf dem Weg dorthin.“
Ein angenehmer Nebeneffekt des erfolgreichen Kreidekreises ist eine deutliche Verbesserung der finanziellen Situation. Carola Neher spielt Rolle um Rolle und Klabund kann sich die nötigen Aufenthalte in Davos leisten. „Der dortige Lungenarzt hält, unter der Bedingung, dass der Patient nun eisern Ruhe in der trockenen Höhenluft wahrt, einen Stillstand der Krankheit noch immer für möglich. Die Tuberkulose hat sich an den Oberlappen der beiden Lungenflügel lokalisiert. Mit viel Glück könnte es erst einmal dabei bleiben“ (Matthias Wegner).
Carola Neher hat zur Bühne zurückgefunden und ihre Gesundheit ist die alte, Fredi aber weiß die Merkmale seiner Krankheit richtig zu deuten, er schreibt:
„… Man liest zu Hause meine Bücher,
Und mancher freut sich meiner Schrift.
Mich decken schon die schwarzen Tücher,
Und meine Lippen speien Gift.
Auch den Sommer 1925 verbringt Klabund zu einem großen Teil oben in Davos und dort kommt es zu einem letzten Treffen mit dem Dichter Carl Christian Bry, seinem alten Freund aus Münchner Studienzeiten.
Guido von Kaulla:
„… . kommt es zu einem Wiedersehen mit dem an Tuberkulose erkrankten Bry, der sein letztes Lebensjahr in Davos verbringt, mit seiner Frau Helene, der Schwester von John R. v. Gorsleben, einem lieben Kollegen aus dem Vorkriegs-München. Als Klabund sich um elf Uhr morgens Brys Liegebalkon nähert, ist er in der sehr lauten, fast lärmenden Gesellschaft Carlas und einiger ihrer Bekannten, die zusammen weiterziehen. Klabund geht zu seinem Freund, der nur noch im Flüstertone sprechen kann. Neben Bry wird für Klabund ein Lager bereitet. Die Unterhaltung der Freunde ist sehr ruhig und führt mit wenigen Worten an den Kern ihres Lebens – an das Bleibende in dem, was sie geschaffen haben. Bry darf vor allem auf sein Buch „Verkappte Religionen“ blicken. Um sein Urteil nach Klabunds bester Leistung gefragt, sagt Bry offen: dass sein bestes Teil die Lyrik sei, besonders das „Wiegenlied für Irene“ sei nicht nur das Lyrischste und Sangbarste, sondern auch das Tiefste, was er je geschaffen habe. Klabund freut sich und liest darauf sofort das Gedicht vor. Bry bekommt nasse Augen. Auf Brys Bemerkung, dass nur eine einzige Zeile schwach sei und unbedingt gestrichen werden müsse, fängt Klabund an, das Gedicht nochmals zu lesen, und bei der Zeile „Die des Gottes Gnadenblut durchdrang“ hebt Bry seine Hand und bittet: „Lassen Sie das Ganze ohne diese Zeile – Sie werden sie nicht mehr vermissen.“
Klabund gibt Bry bald recht, auch wenn er aus Erlebnisgründen die Zeile belässt. Noch sind Bry und Klabund zusammen auf dem Liegebalkon. Aber Klabund wird unruhig und nervös, als seine Frau mit dem lauten Schwärm ihrer Freunde zurückkommt, um ihn abzuholen. Carola tritt ihm wie einem ganz Gesunden gegenüber – das ist sein ausdrücklicher Wunsch. Er selbst sagt beispielsweise zu Besuchern: „Rauchen Sie nur!“ Sie hustet ihm etwa burschikos nach, als sei seine Krankheit nicht mehr als ein Schnupfen, öfter ist sie im Zusammensein mit Klabund auch gereizt – immer wieder kommt es auch in Gegenwart Anderer zu Reibereien. Sie nimmt keine rechte Rücksicht auf das für sein Schaffen nötige Ruhebedürfnis. Ihre eigene künstlerische Arbeit als sehr ausdrucksstarke Schauspielerin steht für sie absolut im Vordergrund. Aber der unverhüllte Lebenstrieb dieser Frau, der er verfallen ist, bedeutet ihm gewünschte Notwendigkeit.“
Carl Christian Bry stirbt am 9. Februar 1926 in Davos.
Im Sommer in Berlin verbring Fredi den Herbst und Winter abermals in Davos, schreibt Guido von Kaulla:
„… Noch ist es 1925. Sobald er reisefähig ist, tritt Klabund, begleitet von einer Krankenschwester, die Fahrt ins rettende Hochtal von Davos an. Ein Telegramm geht an Carla: „habe die Schwester gut nach Davos gebracht Grüße dein Fred“. Sein Arzt dort wird jetzt Dr. Hans Staub. Staub hält es damals für möglich, sagte er später zu Guido von Kaulla nach dem Befund und angesichts der starken Widerstandskraft und Zähigkeit der Natur des Patienten, dass sich durch strenges Einhalten der Kur das Leben verlängern ließe. Die Tuberkulose hat sich in den Oberlappen beider Lungen lokalisiert, und der Körper ist immun geworden gegen eine weitere Ausbreitung. Dagegen hat die Erkrankung zu großen Hohlräumen geführt: die Ursache für manchmal schwere Blutungen. Aber Klabund sagte schon als Student zu Julius Gebhardt: es käme ihm nicht darauf an, wie lange er lebe, sondern wie intensiv. (Und Aureomycin und Streptomycin sind noch nicht erfunden). Doch lebt Klabund gegen früher vorsichtiger und meidet zu große Anstrengungen.“
In der „Breslauer Zeit“ entsteht aber auch noch ein für mich sehr wichtiges Gedicht, „Die heiligen drei Könige“ (erschienen 1926), darin tritt Klabund beherzt in der „Weltbühne“ der „Nationalsozialistischen Freiheitspartei“ entgegen. So nannte sich die NSDAP während eines allerdings nur kurzen Verbotes nach dem so genannten „Hitler-Ludendorff-Putsch“ vom 8. und 9. November 1923.
Das „braune Gesindel“ hatte sich ereifert, diese „heiligen drei Könige“ verletzten „religiöse Gefühle“. Klabund antwortet:
„. .. Ich kann in dem fraglichen Gedicht weit und breit keine Gotteslästerung finden, dagegen finde ich bei Ihnen, die sich so gern als Deutscheste der Deutschen bezeichnen, eine geradezu hanebüchene Unkenntnis deutscher Volksbräuche.“
Und er fügt hinzu:
„… Mein Großvater hat als Erzieher des ehemaligen Kaisers sein Bestes dazu beigetragen, dass wir den Krieg verloren, aber stattdessen die Nationalsozialistische Freiheitspartei gewonnen haben. Das nächste Mal wird es uns hoffentlich umgekehrt gehen.“
Die heiligen drei Könige
(Bettelsingen)
Wir sind die drei Weisen aus dem Morgenland,
Die Sonne, die hat uns so schwarz gebrannt.
Unsere Haut ist schwarz, unsere Seel ist klar,
Doch unser Hemd ist besch… ganz und gar.
Kyrieeleis.
Der erste, der trägt eine lederne Hos‘,
Der zweite ist gar am A… bloß,
Der dritte hat einen spitzigen Hut,
Auf dem ein Stern sich drehen tut.
Kyrieeleis.
Der erste, der hat den Kopf voll Grind,
Der zweite ist ein unehlich‘ Kind.
Der dritte nicht Vater, nicht Mutter preist,
Ihn zeugte höchstselbst der heilige Geist.
Kyrieeleis.
Der erste hat einen Pfennig gespart,
Der zweite hat Läuse in seinem Bart,
Der dritte hat noch weniger als nichts,
Er steht im Strahl des göttlichen Lichts.
Kyrieeleis.
Wir sind die heiligen drei Könige,
Wir haben Wünsche nicht wenige.
Den ersten hungert, den zweiten dürst‘,
Der dritte wünscht sich gebratene Würst.
Kyrieeleis.
Ach, schenkt den armen drei Königen was.
Ein Schöpflöffel aus dem Heringsfaß –
Verschimmelt Brot, verfaulter Fisch,
Da setzen sie sich noch fröhlich zu Tisch.
Kyrieeleis.
Wir singen einen süßen Gesang
Den Weibern auf der Ofenbank.
Wir lassen an einem jeglichen Ort
Einen kleinen heiligen König zum Andenken dort.
Kyrieeleis.
Wir geben euch unseren Segen drein,
Gemischt aus Kuhdreck und Rosmarein.
Wir danken für Schnaps, wir danken für Bier.
Anders Jahr um die Zeit sind wir wieder hier.
Kyrieeleis.
Kurzer Zwischenstopp am 21. April 1926 in Frankfurt – Carola Neher spielt das Klabund Stück „Brennende Erde“, Regie: Richard Weichert. Carola Neher als Marusja, es werden neun Vorstellungen gegeben und dann endlich ist Breslau für Klabund und auch seine Frau Vergangenheit.
Wikipedia schreibt dazu:
„… Das Schauspiel „Brennende Erde“ des deutschen Schriftstellers Klabund (1890–1928) erlebt im Schauspielhaus in Frankfurt am Main seine Uraufführung. Angeregt wurde das Revolutionsdrama durch die Novelle „Inga“ des russischen Dichters Wladimir Lidin (1894–1979). Die mit Klabund liierte Schauspielerin Carola Neher (1900–1942), der das Stück gewidmet ist, spielt in der einzigen weiblichen Rolle der Marusja.“
„Brennende Erde“
Klabund schreibt über die Entstehung des Stückes in der Zeitschrift „Die Szene“:
„… „Das Drama „Brennende Erde“ spielt in einem heutigen, legendären Russland. Es treibt keine innere und äußere Politik und wird nicht von ihr getrieben. Es will Menschen auf die Bühne stellen, Herzen schlagen lassen, im Guten und im Bösen, sonst nichts. Die stoffliche Anregung gab mir die Novelle eines jungen russischen Dichters Wladimir Lidin „Inga“. Ich las sie im Dezember in Davos auf dem Liegestuhl. Aber die Inga wandelte sich zur Marusja, gewann ihr Eigenleben und ihr Eigenschicksal, trat aus der kleinen Geschichte ins Leben, und aus dem Leben auf die Bühne. Sie empfing von Anfang an ihr Blut von dem schauspielerischen Leben meiner Frau…“
Die Kritik jedoch beurteilt das Stück nicht gerade überschwänglich. Es fehle „die innerliche Dialektik“, die „poetische Gerechtigkeit“. Dieser Mangel verhindere den Charakter eines Problemstücks. Aber gelobt wird die Hauptdarstellerin, der Klabund die Rolle „auf den Leib geschrieben habe“. Sie wäre die „wahre Muse“ dieses Abends gewesen. Ihre „seltene Naivität und berückende Uninteressiertheit, das Gerade und Spontane ihres Wesens – strömten das poetische Fluidum über die Szene …“ Es klinge „nicht fertig und ausgelernt“, sondern „schön und gut, als wär’s ein Stück von Klabunds bester Lyrik“, urteilte die „Frankfurter Zeitung“.
Die Premiere ist also ein Misserfolg für Klabund, aber ein Erfolg für Carola Neher. Der Kritiker Bernhard Diebold zum Inhalt:
„… Die siebzehnjährige Marusja ist als Findling von den frommen Vätern eines Klosters aufgezogen worden, wird aber von dem russischen Revolutionshauptmann Rjurik brutal geraubt und aus dem Frieden ihrer Jugend verschleppt. (…) In ihrer frommen Reinheit wünscht sie nun, gleich einer zweiten Maria einen Erlöser zu gebären. Aber Klabund wird mit dieser Symbolik nicht fertig. Von einer rohen Soldateska vergewaltigt, geschah an Marusja wohl die Zeugung, aber die Gewalt erbringt keine lebendige Frucht! Nur eine Kinderpuppe hält die Sterbende in Händen: das Symbol der symbolischen Fehlgeburt.“
Eine Kritik äußert: „Es ist reaktionär vor allem, weil die poetische Gerechtigkeit fehlt. (…) Dieser Mangel an innerlicher Dialektik bringt das Drama um den Charakter eines Problemstückes, den es offenbar haben sollte.“
Und der Kritiker Hans Georg Brenner (damals „rechts“, später „links“) beurteilt Klabund:
„Nur dem [Individualitätstrottel wird die Notwendigkeit nicht aufstoßen können, zwischen zwei sich hart gegenüberstehenden Weltanschauungen wählen zu müssen.“
In der „Volksbühne“ wehrt sich Klabund: „Ich muss auch gegen die Auffassung energisch protestieren, als ob es sich in meinem Drama um „pseudopazifistische und antibolschewistische Ideen“ handle.“
Der Schauspieler Ernst Kiefer berichtet Jahre später aus seiner Erinnerung zu „Brennende Erde“:
„…Bei den Proben zu .Brennende Erde‘ war es, dass ich Klabund zum ersten Mal sah und Carola Neher. Sie war eine bildschöne Frau, die mein junges Herz mit allerlei Sehnsüchten erfüllte und schon damals das war, was man wenig später einen „Star y“ nannte, wenigstens in der Art wie sie auftrat und sich benahm. Und hier erinnere ich mich deutlich an einen Satz Hilperts, der ja im Stück die Hauptrolle spielte. Auf der Treppe des Garderobentrakts von irgendjemand gefragt, wie er sich in seiner Rolle fühle, antwortete er: „Det war alles jut, wenn meine Partnerin nich war“ und klemmte seine „Scherbe“ fester ins Auge. Klabund sehe ich recht deutlich vor mir. Ein überschlanker Mann mit einer dicken Hornbrille. Sehr schweigsam, sehr verschlossen. Ich erinnere mich nicht, jemals seine Stimme gehört zu haben. Natürlich habe ich ihn auch nur aus der Distanz des von der Persönlichkeit faszinierten jungen Schauspielers gesehen. Wahrhaftig kein schöner Mann, um mich vorsichtig auszudrücken, aber von einer unerhört sympathischen Ausstrahlung. Mehr noch – und ich übertreibe nicht – umgeben von einer Aura von Liebenswürdigkeit. Geste und Gang waren äußerst lebhaft. Wenn er sich in Bewegung setzte, so geschah das fast immer ruckartig. Treppen flog er fast hinunter; wenn er sich verabschiedet hatte, war er blitzartig verschwunden, ohne ein rasches grüßendes Kopfnicken an irgendwelche Vorübergehende zu vergessen.“
Endlich in Berlin
Und endlich kann sich die Schauspielerin in die „Welthauptstadt der Kunst“, Berlin, aufmachen. Alles was Rang und Namen in der Theaterwelt hat, oder noch bekommen wird, ist dort versammelt. Carola Nehers erstes Engagement führt sie an das Theater in der Königgrätzer Straße, wo sie auf die künftigen Stars wie Elisabeth Bergner, Tilla Durieux, Renate Müller, Alexander Moissi und Albert Steinrück stößt.
Erstes Engagement im Theater in der Königgrätzer Straße am 10. Juni 1926 – „Gefallene Engel“ von Noel Coward mit Carola Neher als Jane Banbury, einer Komödie in drei Akten und am 26. August 1926 folgt im Berliner Lustspielhaus „Kukuli“, ein Lustspiel von V. A. Jager-Schmidt. Regie: Eugen Burg. Carola Neher in der Titelrolle einer farbigen Samoanerin. Mit Olga Limburg, Camilla Spira, Wolfgang Zilzer, Eugen Burg, Hans Sternberg.
Und er wäre nicht Klabund, wenn er nicht auch hier zum Ariosen (liedhaft, gesanglich, melodiös) käme:
Kleiner Vogel Kukuli
flieh den grauen Norden, flieh,
flieg nach Indien, nach Ägypten,
über Gräber, über Krypten,
über Länder, über Meere,
Kleiner Vogel, laß die schwere
Erde unter dir und wiege
dich im Himmelsäther – fliege
zwischen Monden, zwischen Sternen
bis zum Sonnenthron, dem Fernen
flieg zum Flammengott der Schmerzen
und verbrenn‘ in seinem Herzen!
Bevor aber Carola Neher ihre erste Rolle in Berlin übernimmt, können die beiden noch einige Wochen erholsamen Urlaubs verbringen.
Gut Zeesen
Ganz von fern wie ferner Krieg
Rollen
Auf der Königswusterhausener Bahn die Güterzüge.
Und ich sitze nackt auf der Veranda
Wie des Sommers Gott
Sitz ich nackt und faul auf der Veranda
Violett umblühen mich Bethulien
Mich umtanzen
Dicke Fliegen Filigran von Mücken
Pfauenauge und Zitronenfalter
Und ich hock und freß wie ein Kaninchen
Frischen mildesten Salat
Kohlrabi
Auch gezuckerte Johannisbeeren
Und danach ein Glas
Erdbeerbowle
Wie ein Mensch
Wie ein Gott
Und ich sitz und schwitz und freß und sauf
Und ich denk und träume
Nichts
Träum und denk das Nichts vom Nichts des Nichtses
Bin am Ende meiner Kräfte
Und am Anfang aller Seeligkeit.
(„Ode an Zeesen“, Auszug)
Mai 1926 – Klabund und Carola Neher lernen im Berliner Restaurant „Mutzbauer“ einen Verwandten von Carl Zuckmayer kennen, den Berliner Bankier Dr. Ernst Goldschmidt. Man plaudert und Klabund erzählt, er wolle mit seiner Frau demnächst nach Italien reisen.
Matthias Wegner über diese Begegnung:
„… Zwischen dem Dichter und dem kunstinteressierten Geschäftsmann entwickelt sich eine freundliche Beziehung, die dem Ehepaar eine verlockende Einladung einbringt. Goldschmidt besitzt ein malerisches Gut mit einem feudalen Herrenhaus bei Königs Wusterhausen, südlich von Berlin in der Mark Brandenburg an einem herrlichen Park und einem unberührten See gelegen. Da er selbst nur gelegentlich dort anwesend sein kann, lädt er die beiden ein, vor dem strapaziösen Neubeginn in Berlin einige Urlaubswochen auf dem Gut zu verbringen. Sie willigen begeistert ein und erleben von Mai bis Juli einen glühendheißen und, nach allem, was wir darüber wissen, außergewöhnlich glücklichen Sommer.“
Und dieser Urlaub dauert von der zweiten Hälfte Mai bis Ende Juli – für Klabund nur durch eine Reise nach Wien unterbrochen. Übrigens, Zuckmayer hatte hier sein Erfolgsstück „Der fröhliche Weinberg“ geschrieben.
Carola Neher breitete sich auf ihre neuen Rollen in Berlin vor und Klabund schrieb sein Drama über Oliver Cromwell und hier entsteht auch „Die Ode an Zeesen“. Als Privatdruck aufgelegt übergeben sie die Ode an Dr. Ernst Goldschmidt als Gastgeschenk für den Aufenthalt zusammen mit einem Faltboot, das in Anspielung auf Carola Nehers neue Rolle „Kukuli“ getauft wurde, und ein weiteres Geschenk.
Klabund schreibt an Goldschmidt:
„…Lieber Herr Doktor Goldschmidt, ich bin Ihnen für Ihre liebenswürdige Gastfreundschaft zu großem Dank verpflichtet. Sie hat mir ermöglicht, einen Plan, den ich lange mit mir herumtrug, aus- und zu Ende zu führen. Ich habe gestern die erste Niederschrift meines Cromwell-Dramas beendet. Gestatten Sie mir, als ein Zeichen der Erinnerung und Dankbarkeit, Ihnen das Manuskript zu verehren. Es ist zwar wie alle meine ersten Niederschriften für andere so gut wie unleserlich, aber Sie sollen ja auch nur meine Dankbarkeit daraus lesen.“
Die Urlaubsunterbrechung, also die Fahrt nach Wien liest sich so: „Ich bleibe zehn Tage in Wien, um mit Martin das Szenarium unserer Wedekind-Revue fertig zu stellen. Wir wollen Frank Wedekinds teure Gestalt auf die Bühne bringen, doch er wird kein Wort sprechen, das er nicht in seinen bekannten Werken und in seinem unbekannten Nachlass niedergelegt hat. Ich denke auch daran, noch lebende Personen aus Wedekinds Welt auftreten zu lassen.“
Frau Wedekind erhält ein 18 seitiges Exposé vorgelegt, dessen offizieller Titel Klabund nicht nennt: „Inhalt der Revue „Wedekind“ von Karl Heinz Martin“.
Martin hatte bisher gute Wedekind-Inszenierungen geliefert. Das Manuskript gliedert die Revue in zwei Teile und diese wieder in je zwei Intermezzi. In ihr kommen zwei Gestalten aus dem Orchesterraum herauf – beide stellen Frank Wedekind dar: die linke den clownhaften Dichter des Veit Kunz (aus “Franziska“), die rechte den philosophierenden Sexualethiker und pervertierten Moralprofessor (aus der „Hidalla“-Dichtung). Die beiden Wedekindteile äußern nun ihre Einstellung zur Gesamtpersönlichkeit des Dichters. Ein blonder Herr mit Brille als „Dozenturkandidat“ (es ist die Gestalt Artur Kutschers) erwägt, an wen er sich halten solle: an den Moralisten oder an den Harlekin. Beide Wesenheiten werden praktisch demonstriert, so etwa mit Szenen von der Elendskirchweih in „König Nikolo“, mit Teilen von „Mine Haha“ usw. Gegen Ende des zweiten Teiles hebt sich, alledem entrückt, – Lulu – „das ewig Weibliche“ – feierlich gegen den Himmel empor, während in der Mitte der Bühne der Professor Wedekind betend verharrt, wie der Stifter auf einem Madonnenbild. Auf einem Schleier erscheint die riesenhafte Totenmaske, die den ganzen Schauplatz der Bühne ausfüllt. Im Verlauf der Revue erschießt der Professor den Clown — also einen Teil seines Selbst – mit der Behauptung: der Moralist genüge durchaus! Aber der Dozenturkandidat widerspricht ihm erregt -: dann kenne der Herr Wedekind sein eigenes Werk nicht! Aber er (Dr. Kutscher also) kenne es – das dürfe Wedekind ihm glauben -, denn er habe es länger studiert als der Autor! –
Natürlich kommt es anders, als man denkt, Guido von Kaulla kommentiert süffisant:
„In Wien ist also „Knallfred“ mächtig am Wirken, macht die Rechnung aber ohne die Wirtin! – Als später Tilly Wedekind mit dem Biographen das Revuemanuskript durchgeht, erzählt sie (die natürlich dem Vorhaben nicht zugestimmt hatte): wie sehr sich die Neher und sie im Berliner Lokal Maenz über die an ihrem Tisch sitzenden allzu vorschnell gewesenen Martin und Klabund amüsiert hätten, die sich nur schwer in die Rollen der Verlierer fügen konnten!“
In einem Interview mimt Klabund ein wenig den smarten Schriftsteller, der Geld verdient und verdienen will und nur hofft „noch manches anständige Buch zu schreiben“ – das wird dann der „Borgia“-Roman. Ein politisches Schauspiel soll der in Zeesen niedergeschriebene „Cromwell“ sein. Davor hatte Klabund schon seinen Beitritt zur „Gruppe 1925“ erklärt, einer Schriftstellergemeinschaft; sie (lt. Ankündigung) „sammelt um sich Schriftsteller von Belang“ (das Modewort damals!), „die mit der geistesrevolutionären Bewegung unserer Zeit verbunden sind“, (…) Die Gruppe erweist ihr (sehr kurzes) „Leben in (…) Stellungnahmen zu Dingen, die ihr wichtig erscheinen.“ Zur Gruppe gehören u. a. Johannes R. Becher, Willy Haas, Ludwig Marcuse, Bertolt Brecht, Walther von Hollander und Ernst Toller.
Und in Wien „gibt er einer Theaterzeitung ein Interview, das in den Angaben über den äußeren Ablauf seines Lebens ein von Unwahrheiten strotzender großer (wienerisch gesprochen:) „Schmäh“ ist: Klabund gibt dem Reklameaffen überreichlich Zucker“ (Guido von Kaulla).
Bei der Frage nach seinem Alter antwortet Klabund: „Ja, ich bin, warten Sie mal… ich bin 34 Jahre alt“.
Das Drei-Punkte-Zögern ist die Folge eines Datumschwindels, den durchzuhalten kurzes Nachdenken erfordert: in der „Literaturgeschichte“ hat Klabund als Geburtsjahr 1891 beim Korrekturlesen stehen lassen – und behält das nun bei allen Gelegenheiten bei. An faustdicken Unwahrheiten liest man u.a.: „1914 wurde ich eingezogen, dann wieder als dienstuntauglich freigelassen. […] In Locarno lernte ich meine erste Frau kennen, […] ging 1919 nach Bayern. Ich wurde sofort verhaftet und musste vier Wochen im Zuchthaus und im Militärgefängnis sitzen. Den Grund meiner Verhaftung habe ich nie erfahren. Der Kriegsgerichtsrat verriet mir nur: „Gegen Sie schwebt ja auch noch ein Verfahren wegen Majestätsbeleidigung!) Das war 1919, in der bayerischen Republik.“
So wenigstens berichtet es Guido von Kaulla.
Sicher aber diente dieser Aufenthalt in Wien auch der Vorbereitung eines Gastspieles seiner Frau in der Donaustadt. Anfang April 1927 treffen die beiden dort ein und am 22. April steht Carola Neher im Burgtheater mit „Cäsar und Cleopatra“ von Bernard Shaw auf der Bühne, weitere Inszenierungen folgen bis zum Oktober des gleichen Jahres.
Seine Eindrücke über Wien schreibt er Max Heberle:
„…Ihr liebt Wien ja sehr. Ich habe noch einen zwiespältigen Eindruck, und weiß noch nicht, ob es mir gefallen soll oder nicht. Die Leute sind teils unverschämt liebenswürdig (Journalisten), teils unverschämt frech (Chauffeure und Kellner). Theater wird ganz schlecht gespielt, schlechter als die durchschnittliche deutsche Provinz. Überragend nur das Theater in der Josefstadt, wo ich Euch rate, „Die Gefangene“ anzusehn mit Helene Thimig und Ernst Deutsch in den Hauptrollen. Das ist allerbestes Theater. Interviewt bin ich alle Augenblick worden. Der Wiener interessiert sich scheinbar mehr für den Menschen als für das Werk. Diese Sucht nach Indiskretionen, der Mangel an Sachlichkeit, das langsame Tempo, das sind alles mir nicht sympathische Züge im Bild des Wieners. Aber wenn man eine Weile hier ist, dann schläft man vielleicht auch ein und passt sich der romantischen Schlamperei an.
Seid herzlichst gegrüßt und umarmt von Euerem Fred“
An Irene Brunhilde Heberle, unmittelbar nach dem Eintreffen in Wien am 2. April 1927
„Liebste Mutter, herzlichen Gruß aus Wien! (Parkhotel Schönbrunn.) Wien präsentiert sich nicht freundlich. Sturm, Regen, April. – In den nächsten Wochen erscheinen 2 neue Bücher von mir, die Du sofort erhältst – die „Romane der Leidenschaft“ und „Die Harfenjule“. – Ich bin sehr müde, abgespannt, erschöpft. Beifolgende Karte für Deine Autographensammlung ist von Arco, dem großen Radioingenieur. – Hast Du nicht in Davos Hans Adler gekannt? Er hat einen bezaubernden, österreichischen Roman geschrieben „Das Städtchen“ (Verlag Ed. Strache Wien). Ich finde ihn jedenfalls (abgesehen vom Titel) prachtvoll.
Seid beide umarmt von Eurem Fred“
Zurück nach Berlin und in die Jahre 1926 bis 1928.
Im Sommer 1927 erscheint „Die Silberfüchsin“, Matthias Wegner schreibt:
„… Die Geschichte, in vier Fortsetzungen der Zeitschrift „Sport im Bild“. Das Blatt der guten Gesellschaft“ veröffentlicht, ist — Wie fast alle Dichtungen Klabunds — eine nur geringfügig verfremdete Rollenprosa: aus der Perspektive der Frau werden die Liebe und ihre Gefahren, die Hoffnungen und Bedenken eines Ehepaares, in knappen Dialogen vorgeführt. Kein anderer Prosatext des Dichters ist von so schonungsloser Selbstkritik und biographischer Genauigkeit wie diese Erzählung. Von der Zeitungsredaktion einigermaßen willkürlich mit seltsam unpassenden Zeichnungen von Orlik bis Picasso illustriert, sorgt sie bei den Lesern für einige Spannung: der Text bietet vielerlei Anlass zu Literaten- und Gesellschaftsklatsch. Was uns an authentischen Dokumenten über das tägliche und nächtliche Zusammensein des Paares fehlt – in der „Silberfüchsin“ (einer Geschichte, die Klabund in keines seiner Bücher aufgenommen hat) treten die gegenseitige Attraktion des Ehepaares ebenso wie ihre explosiven Konflikte offen zutage. (…)
Das Motiv der „Silberfüchsin“, einen zornigen Lukas zu heiraten, war auch das Motiv des Dichters Klabund für die Eheschließung mit Carola Neher: „Die Ehe erst wird mir den wahren Frieden geben.“ Und mit zwei Sätzen formuliert die „Silberfüchsin“ auch, wie der Autor sich selbst gesehen haben möchte: „Wie schön sind seine Gedanken! Wie schön sind seine Blumen!“ — womit vor allem seine Gedichte gemeint waren. Als Verfasser von Liebesgedichten hat Klabund es inzwischen zu einiger Meisterschaft gebracht.“
Matthias Wegner nennt die Liebe Klabunds zu seiner Frau „beinahe masochistisch“. Und: „Mochte ihn auch die Eifersucht peitschen, Herz und Hand fanden immer wieder Worte, mit denen er Carolas Lebensgier nur auf sich zu ziehen suchte.“ Ein Beispiel:
Als sie zur Mittagsstunde noch schlief – für Carola
Zwar ist es schon Mittagszeit,
Sonne steht schon hell am Himmel –
In den Straßen: welch Gewimmel,
In den Herzen: welches Leid –
Manche Segel bauscht der Wind, –
Mancher Kutter bleibt im Hafen –
Du sollst schlafen, du sollst schlafen,
Du sollst schlafen, liebes Kind.
Siebzig Mal littst du, Haitang,
Fünfzig Mal starbst du, Johanna –
Schmecktest Süßigkeit und Manna,
Wenn der Quell der Qualen sprang.
Süßes, junges Blut – es rinnt –
Küsse, Dolche flammten, trafen –
Du sollst schlafen, du sollst schlafen,
Du sollst schlafen, liebes Kind.
Einmal endet sich das Spiel,
Einmal endet sich das Grausen,
Und die Ewigkeit wird kühl
Dir um Brust und Schläfen sausen.
Sand deckt dich wie Wolle lind,
Und der Hirte bläst den Schafen –
Du sollst schlafen, du sollst schlafen,
Du sollst schlafen, liebes Kind.
Genau datiert – erhält Carola Neher aus Zürich dieses Gedicht, geschrieben am 30. Oktober 1925 um 11 Uhr:
Da ich einsam bin
Nur ein Same bin
Samenkorn gesät in Eis und Schnee
Werd‘ ich weitergehen
Auf der Leiter stehen
Die zur Hölle ihre Wege weiß.
Gestern liebt ich noch
Gestern stiebt ich noch
Ein Raketenregen, Feuerregen, rinn!
Heute bin ich nur
Eine Wagenspur
Denn dein Sichelwagen rollte über mich dahin.
Weil du Böses glaubst
Guten Gutes raubst
Ward ich böse, böser noch als die, die dich gebar.
Auch im Traume stand Steil in meiner Hand
Schon ein Dolch, der nach dir lüstern war.
Süßes Satanskind ‚
Schnee fällt auf uns lind,
Der November reckt den weißen Schild!
Gib mir deine Brust – , f
Unser Leid und Lust .
Über alle Ufer bis zum Everest schwillt.
Und dieses Gedicht zeigt wieder einmal, wie sehr die Trennung ihn schmerzte. „Sie stand irgendwo auf der Bühne, umgeben vom Applaus der Menge, während er in Davos auf dem Krankenbett lag“. Guido von Kaulla schreibt: „Er braucht seine „,Hexe“‘! Selbst dann, wenn sie Kilometer weit von ihm entfernt ist! Und seine dichterische Begabung verhilft ihm zu jeder Stunde dazu, mit ihr Zwiesprache zu halten. So entstand folgendes Gedicht:
Lieber Engel, laß den Unmut fahren.
Du bist jung. Dein Licht steht im Zenit.
Laß uns werden, was wir waren.
Streich die trübe Träne aus dem Lid.
Unsere Augen werden wieder tauchen
Ineinander auf den tiefsten Grund.
Unsere Höhenfeuer werden rauchen,
Und es wird sich wiederfinden Mund zu Mund.
Bist du einsam, bin ich’s doch nicht minder.
Aber ich bin dort, und du bist hier.
Durch die Linden weht ein erster
linder Frühlingshauch, er weht mich bald zu dir.
Über die Trennung schreibt Fredi:
„…Gewiss möchte ich immer um sie sein, aber ich wohne nicht mit ihr, seitdem ich so krank bin … Ich kann doch nicht plakatieren: Ja, ich bin Carolas Gatte, aber ich habe mich dazu gebracht, mich physisch fern, sehr fern von ihr aufzuhalten. Je länger, je unerwartet länger ich lebe, desto mehr bin ich mit ihr vermählt, aber zwischen meinem Davos und ihrem Berlin liegen Hunderte von Kilometern, und diese Distanz wird größer, wenn es mich nach Berlin reißt…“
Wie diese Distanz aussieht, beschreibt der Journalist Fred Hildenbrandt in seinem Buch „Ich soll dich grüßen von Berlin“:
„… Ich kannte ihn ganz gut. Er wusste, dass ich ihn liebte. Und obwohl wir niemals länger miteinander gesprochen hatten, empfanden wir beide stets ein Gefühl der Vertrautheit und er Freundschaft. Er gehörte zu jenen Schriftstellern, von denen ich unentwegt glaubte, ich müsse irgendetwas für sie tun. Er gehörte zu den Lebensuntüchtigen. Ihm wurde nur Bitternis zuteil.
Und weil ich das wusste, geriet ich einmal völlig außer mir. Das war in grauer Vorzeit auf einem der großen Winterlichen Kostümfeste. Da traf ich ihn, wie heimatlos durch das bunte Gewühl streifend. Er war im Smoking, der um seinen abgemagerten Leib schlotterte. Hinter seinen dicken Brillengläsern irrten seine Blicke suchend umher. Er trug eine kleine kostbare Damenhandtasche an sich gepresst, Schweißtropfen standen auf seiner Stirn. Er atmete kurz und heftig. Er suchte seine Frau, Carola Neher. (…) Ich nahm ihn am Arm. „Klabund! Sie sind in diesem eiskalten Winter noch in Berlin?“ Er sah mich zerstreut und unruhig an. „Haben Sie meine Frau gesehen?“ Er sucht seine Frau, dachte ich und war leicht beunruhigt. Denn Carola, diese schwarze hübsche Menschenfresserin, konnte, soweit ich Frauen dieses verhängnisvollen Typs kannte, an einem schwachen Mann wie Klabund kein Genüge finden. Wahrscheinlich hatte sie sein Name gelockt. Es konnte auch sein, dass sie nach Art von Hexen zuerst Mitgefühl mit diesem berühmten kranken Jüngling empfunden und ihn geliebt hatte. Dann aber konnte man sich an den Fingern abzählen, was passieren würde. Nur Klabund zählte es sich nicht an den Fingern ab.
„Ich suche meine Frau schon die ganze Zeit“, sagte er müde, „ich finde sie nicht. Ich möchte gerne nach Hause gehen. Sie kann ja hierbleiben, wissen Sie. Ich müsste ihr nur ihr Handtäschchen geben.“ Mein Herz wurde schwer vor Mitleid. Warum, du Idiot, dachte ich, warum hast du eine Hexe geheiratet?
Was Carola betrifft, so mochte ich sie sehr gerne. Ich hätte sie nur niemals geheiratet. Das ist wieder einer meiner hyperklugen Sprüche, die ich stets sofort bereit hatte, nur mir selber gegenüber hatte ich sie nicht bereit. Hol’s der Satan! Carola war nicht nur hübsch und nicht nur klug, sondern auch sehr begabt. Das war eine Übermacht. (…) Ich stand eine Weile ratlos und blickte in das erschöpfte Gesicht vor mir. Natürlich amüsierte sich Carola in diesen Augenblicken anderswo, indem sie von einem Arm in den anderen flog. Natürlich hatte sie ihren stillen Mann völlig vergessen. Und .wenn mich der Anblick seiner geduldigen, nachsichtigen, demütigen Gestalt nicht so ergriffen hätte, würde ich ihn wahrscheinlich angebrüllt haben: „Mann, lassen Sie Ihre Gemahlin laufen. Stopfen Sie ihr verdammtes Handtäschchen in die Smokingjacke, fahren Sie heim oder suchen Sie sich eine nette Frau, es sind genügend da.“
Ich verstand beide. Das ist die ewige Kalamität in solchen Konstellationen. Man versteht beide Teile. Deshalb vermag man auch keinem beizustehen. Ich sagte nichts. Aber es war Klabund, der vor mir stand. Und er war krank. Und ich beschloss, mich auf seine Seite zu schlagen, was auch herauskäme. Ich brachte ihn bei meinen Freunden an einem Tisch unter. Ich feuerte das Handtäschchen auf einen Stuhl. Ich versorgte ihn mit Sekt. Dann sagte ich: „Bleiben Sie hier sitzen. Rühren Sie sich nicht von der Stelle. Ich suche sie.“
Selbstverständlich fand ich sie sofort. (…) Sie tanzte mit einem windigen, hübschen Burschen, der sich als Hamburger Zimmermann kostümiert hatte. Er sah, ich muss das sagen, sehr gut aus. „Hau ab, Bruder“, sagte ich zu dem Zimmermann. „Wat denn, wat denn?“ sagte der Zimmermann. „Wat willste? Wat bist du denn für eine Nulpe?“ Carola stand atemlos vom Tanz neben uns. Ich warf einen flüchtigen Blick auf die klinische Gesamterscheinung des Hamburger Zimmermanns und gewann den Eindruck, dass er, wenn es sein musste, sofort k. o. gehen würde. „Hau ab, Genosse“, wiederholte ich und zog Carola weg von ihm. Bevor er etwas äußern konnte, sagte ich: „Hören Sie zu. Ihr Mann sitzt an meinem Tisch. Er ist hundemüde. Er ist krank.“ Sie sah mich unschlüssig an und blies die feuchten Strähnen aus dem Gesicht, das erhitzt, braun und sehr schön aussah. „Ich komme dann“, sagte sie leichthin. „Wo ist Ihr Tisch?“ „Sie kommen nicht dann‘, sagte ich, „Sie kommen sofort mit mir.“
Der Hamburger Zimmermann hatte sich inzwischen in Wut versetzt, er fasste mich an der Schulter und sagte: „Hör mal zu, du Nulpe, ich …“. Weiter kam er nicht, denn ich hatte in dem Institut des ehemaligen Gardehauptmanns von Beerfelde barbarische Lektionen im Boxen und nachher noch im Jiu-Jitsu genommen, und ich hatte es heraus, einen Mann umzukrempeln, wenn er nicht auch Lektionen im Boxen und Jiu-Jitsu genommen hatte. Ich faßte den erbosten Zimmermann am Oberarm. Das genügte. „Oh verflucht“, sagte er, „lassen Sie mich los!“ Ich nahm Frau Klabund ebenfalls am Arm, mit einer zarteren Variation, und steuerte sie durch das Treiben bis zu meinem Tisch. Wir sprachen kein Wort unterwegs. Die beiden brachen sofort auf. Auch sie sprachen kein Wort zusammen. Sie sagten auch nicht adieu. (…) Carola ist, wie ich nach Jahren las, in Russland hingerichtet worden. Warum, weiß ich nicht. Es wird ihr in der Ewigkeit angerechnet werden müssen, dass sie Klabund glücklich gemacht hat, solange es ihm und ihr beschieden gewesen ist. Es ist nicht leicht, auf die Dauer einen Dichter glücklich zu machen. In diesem Fall war es für beide nicht leicht. Denn beide wanderten auf einem schmalen Grat.“
Im Dezember 1926 finden sich Klabund/Neher in Wien wieder, Carola Nehers Gastspiel im Burgtheater muss vorbereitet werden.
Am 7. Dezember 1926 schreibt Fredi nach Passau:
„…Liebe Mutter, tausend Dank für Deinen Brief. Ach, ich bin gar nicht gesellschaftswütig, meine Frau auch nicht, da und dorthin geht sie wohl aus Gründen der Repräsentation‘, was ein Schauspieler in gewissen Grenzen ja nötig hat, aber im allgemeinen schminken wir uns das alles ab. Ein Schauspieler, der ernsthaft arbeitet, und sie arbeitet fanatisch an ihren Rollen, hat ja dazu auch gar keine Zeit. Es ist eigentlich ein schrecklicher Beruf, ein schrecklich schöner, Probe von 11-4, Essen, Schlafen, 7 Uhr im Theater, 8 Uhr spielen, halb 12 abgeschminkt, Essen, 1 Uhr Schlafen. Ich glaube, nur die Bergleute haben’s ähnlich angestrengt. Ich jedenfalls bin dagegen faul, oberfaul. Ich tue überhaupt nichts mehr.Nach Wien „übersiedeln“ wollen wir nicht.
Meine Frau hat zwar einen Antrag, ganz ans Burgtheater zu gehen, aber sie traut diesem verkalkten Etablissement nicht ganz, und will nur als Gast ein paar Monate hin. Sie ist eine derart moderne, aggressive, irritierende Schauspielerin, dass ich mir in der Tat nicht ganz klar bin, wie das Wiener Publikum und die Wiener Kritik auf sie reagieren werden. Die schwärmen doch so für geistige Mehlspeis, Schmarrn und Gugelhupf. Seid beide umarmt von Eurem Fred. Thomas Mann: Unordnung und frühes Leid – reizend.“
Am 22. April ist mit „Cäsar und Cleopatra“ von Bernard Shaw Carola Nehers Premiere an der Donau – Klabund schickt aus dem Parkhotel in Hietzing an Frau Heberle, die ihm die Erkrankung ihres Gatten mitgeteilt hatte diese Zeilen:
„…Liebe Mutter, ich freue mich, dass es dem lieben Vater scholl besser geht, hoffentlich hält diese Besserung an. Ich weiß nicht, welche Indikation für Vaters Leiden an der jugoslawischen Küste gegeben ist, aber ich höre so viel von dem paradiesischen Klima, der herrlichen Landschaft und der außerordentlichen Billigkeit etwa der Insel Rab oder von Dubrownik, Crikvenica etc. –
Meine Frau hat einen starken Erfolg hier gehabt, beim Publikum und in der Presse – Tagblatt, Journal, Morgen (Polgar), Allgemeine usw. – mit Ausnahme der „Stunde“, was allerdings einen ganz privaten Hintergrund hat. In Wien ist ja alles so schrecklich privat und persönlich und unsachlich. Liebstöckl gilt ja als absolut korrupter Bursche. Wenn auch nicht durch Geld, so doch erotisch-bestechlich. Wenigstens hat man mir das sofort erzählt. Ich selber war ja von vorneherein von der Eignung fürs Burgtheater nicht ganz überzeugt. Sie ist doch eine zu moderne Schauspielerin. Und in Cleopatra schaut es aus, wie wenn wirklich eine Katze mit einer Ratte (Caesar) und einer Anzahl Mäusen spielt. Sie spielt so herrlich aggressiv, so gar nicht gemütlich, den üblichen Wiener „Charme“ hat sie gar nicht. Ende August gastiert sie auch in München. Hoffentlich könnt Ihr sie dann mal sehen. – Herzlichen Gruß Euch beiden Euer Fred.“
Fredi sieht seine „Cleopatra“ als Erfolg, Alfred Polgar (geboren am 17. Oktober 1873 in Wien; gestorben am 24. April 1955 in Zürich; eigentlich Alfred Polak; Pseudonyme Archibald Douglas, L. A. Terne), ein österreichischer Schriftsteller, Aphoristiker, Kritiker und Übersetzer sieht den Auftritt ganz anders:
„… In einer verwahrlosten Aufführung von Shaws „Caesar und Cleopatra“, beschämend schon durch die Sprechunkultur, die sie offenbart – Caesar redet Kaugummi, Ruffio bellt, laut und deutlich spricht nur der Souffleur, im ägyptischen Verein geht es zu, dass man’s verstehen würde, wenn der Nil sofort austräte – in dieser Aufführung des Burgtheaters also, für die im Wiederholungsfalle, dem Fremdenverkehr zuliebe, hoffentlich gelten wird: Fremden ist der Eintritt verboten, erschien als Cleopatra Frau Carola Neher aus Berlin, eigentlich aus München, ganz eigentlich aber aus Graz.
Jung, hübsch, sehr apart, schlank wie die beliebte (in solchem Fall zum Vergleich unvergleichlich taugende) Gerte und biegsam wie diese, mit einem nervösen von lebhaft rundfunkenden Augen belichteten, von einer kleinen frechen Nase pointierten Katzengesicht. Carola Neher hat die Begabung, fraulichen Reiz als künstlerische Begabung geltend zu machen („enharmonische Verwechslung“, wie die Musiker sagen“). Der Cleopatra gibt sie vieles, was der Figur taugt: das Ungezähmte, das Kindlich-Heitere und – Gefährliche, Temperament als Rassezeichen, das Quellkühle und Grausame eines naturnahen Geschöpfes. Auch das Herrische geht ihr leicht von Herz und Lippe. Das Spiel der Frau Neher rückt die kleine Königin gleichsam in ein ungedämpftes Licht, das Linien und Züge der Figur überschärft. So bekommt diese manchmal etwas Hartes, Nüchternes (das man hier als „berlinerisch“ empfindet).
Darüber hilft die geschmeidige Anmut der Darstellerin, ihre Klugheit, ihr körperlicher Humor, sozusagen: der Mutterwitz ihrer Bewegung allemal hinweg. Die Stimme splittert im Affekt, aber Carola Neher spricht sehr klar, kultiviert, unterstützt die Rede durch ausdrucksvolle Mimik und freies Gebärdenspiel. Ob sie viel Herz hat, weiß ich nicht; in den Vordergrund drängt sich dieses Organ keinesfalls. Ihre Drolerien sind reizend, zuweilen nur scheinen sie wie bewusste Zutat. Dass Carola Neher eine echteste Theaterbegabung ist, dass ihr Spiel Geist hat und Grazie, war gerade an diesem, von beidem sonst völlig verlassenen Shaw-Abend nicht zu übersehen. Sie wird es beim Theater in Wien trotzdem, oder besser ebendeshalb nicht leicht haben.“
Der Kritiker hat unrecht und Fredi als „neutraler Experte“ kann das natürlich besser beurteilen, die Cleopatra war ein Erfolg. Basta! Aber „dass sie „ganz eigentlich aus Graz“ komme, das muss geklärt werden – schon den Münchnern zuliebe. Guido von Kaulla kann das und er fügt gleich noch eine ganz andere Kritik ein, Fredi hat eben doch recht:
„… Diese Falschmeldung hat Carola Neher selbst in Umlauf gebracht. Man hatte ihr dazu geraten und zu verstehen gegeben – weil sie doch zum ersten Male in Wien gastiere -, nur dadurch (als in Österreich geborene Schauspielerin) bei der Presse Erfolg haben zu können.
In Graz war ehedem ein berühmter Schauspieler Neher, mit dem sie aber nicht verwandt ist. Im „Neuen Wiener Tagblatt“: „Auch das Burgtheater hatte sein Sensationsgastspiel. In Shaws historischer Komödie „Caesar und Cleopatra“ erschien eine neue Cleopatra. Carola Neher: junge Dame mit Etonkopf, kluges, modernes Gesicht. Sie hatte erst ein paar Worte gesprochen und schon einen Eroberungszug begonnen. Es gibt Schauspielerinnen, denen (das Publikum sofort Kredit gibt, und solche, die schwer darum zu ringen haben. Carola Neher ist ein Glückskind, und ihr Talent darum nicht geringer, weil es sofort verstanden wird. Das Ohr freut sich ihrer raspeligen Knabenstimme, die weithin trägt, das Auge ihrer gertigen Gestalt. Auch in Cleopatra lauert – wie in Turandot – ein animalisches Wesen: grausam, primitiv, verschlagen, gefährlich; aber reizend in der Nettigkeit ihres Blutdurstes, süß in der Entwicklung vom unbewussten 16 jährigen Balg zur bewussten Königin Ägyptens. Wenn der kleine Unband Anspielungen dreht: wunderschön, frauenhaft leuchtet dann Carolas dunkles Auge, wenn sie von Marc Anton schwärmt, der viel jünger, auch stärker ist als Caesar, vielleicht ein berauschender Gatte. (…) Umso stärker das verhaltene Pathos der Dichtung, wenn Caesar zuletzt geistig so hoch wächst, dass die kleine Cleopatra, beugt sie den Nacken noch so tief zurück, den Gipfel nicht erblicken kann. Er ist wie die Memnonsäule, sein Ich durchdringt geheimnisvoll die Wüste der Welt …
Bei Herrn Heine entwickelt sich dieser Caesar allmählich. (…) Und die kleine Carola-Cleopatra als notwendiger Kontrapunkt, der die Hauptstimme durch sein Dasein erst hör- und fühlbar macht! Das Beste aber, was Frau Neher dem Burgtheater mitbringt, ist ihre Jugend: Jugend ist schon an sich ein Talent, zumal wenn sie Kraft und Höhe bedeutet. Carola Neher steht durchaus auf dem Niveau des Burgtheaters. Sie hat auch die Nerven einer modernen Nervenschauspielerin und wird als köstliches kleines Reptil durch Strindbergszenen schlüpfen. Cleopatra war ein kleines Vorspiel. Das Kind mit der Krone auf dem Kopf machte den Eindruck, den Shaw wünschte: sie sah nicht aus wie die Tochter eines Oxforder Professors, durchaus nicht, man glaubte an den Flötenbläser, der ihr Vater war, zumal wenn sie die alten und jungen Caesars im Parterre mit köstlichen leisen Flötentönen verwirrte …“
Bevor das Ehepaar in den Sommerurlaub verschwindet, macht Klabund Station in München (wieder bei seinen alten Wirtsleuten, den Thens, in der Herzogstraße). Von dort schreibt er an Unus:
„…Ich bin nach München gefahren, auf „Eheurlaub“. Ich will versuchen, hier einen Film zu schreiben, der mir angeboten ist. -Ja, Aufregung gab‘s zuerst viel in Wien. Das alte Burgtheater hat gewackelt, als dieser moderne junge Mensch auf seine Bretter sprang. Zuerst war Wien verblüfft, endlich bezwungen. Sie spielte Cleopatra (für mein Gefühl besonders reizvoll) und ein englisches Lustspiel „Weiberfeinde“ (das Stück Clischee, die Rolle dürftig).“
Brioni
Wikipedia schreibt:
„… Brijuni (italienisch Brioni) ist eine kleine Inselgruppe in der kroatischen Adria. Sie liegt vor der Küste der historischen Region Istrien nur wenige Kilometer vom Zentrum der Küstenstadt Pula entfernt, zu deren Stadtgebiet sie gehört.
Die Inselgruppe besteht aus 14 einzelnen Inseln und steht insgesamt unter Naturschutz. Die Gesamtfläche des Parks, der im Jahre 1983 gegründet wurde, beträgt inklusive der umgebenden Wasserflächen 33,9 km². Nur die größte Insel, Veliki Brijun, kann besucht werden, allerdings nur entweder als Besucher auf einer geführten Ausflugstour oder als Hotelgast. Das altösterreichische Fort auf Brioni Minore (Mali Brijun) war schon in den vergangenen Jahren im Sommer Kulisse für Theateraufführungen und konnte zu diesen Anlässen besichtigt werden. (…)
Die Inselgruppe Brijuni kann über Schiffsverbindungen von Fažana oder von Pula aus erreicht werden. Das Anlegen mit privaten Booten ist nur im Hafen der Hauptinsel gestattet. Außerdem ist Tauchen im Nationalpark nur von lizenzierten Tauchzentren aus erlaubt.
Am 30. Mai 1928 treten Carola Neher und Klabund von Gottfried Benns Wohnung aus die Reise nach Brioni an. Es ist für Carola Neher ein Urlaub von anderthalb Monaten vor Beginn der Probenarbeit für die „Polly“ in der Uraufführung der „Dreigroschenoper“ von Brecht und für beide der letzte gemeinsame Urlaub, schreiben die Chronisten. Leider schreiben sie aber nicht, auf welcher der zahlreichen Inseln. Zu vermuten ist es war die größte der Inseln – Veliki Brijun.
Eigentlich wollten sich die beiden in München trennen, Klabund sollte zurück nach Davos, Carola Neher aber alleine in den Süden reisen.
Matthias Wegner schreibt:
„… Klabund will daher nicht von seiner Frau weichen, er spürt, dass es die letzten gemeinsamen Wochen sind. Seine Gefühle sind die Motive seines Handelns, nicht die Vernunft – die hat über sein Handeln und den Umgang mit seiner Krankheit am wenigsten vermocht.
„Plötzlich vor unserer Abreise aus Zürich, (Matthias Wegner) stehen seine Koffer mit dabei, und er sagte, er führe auch nach Brioni. Was konnte ich machen?“ berichtet Carola Neher an Frau Poeschel. Und Klabund liefert den Grund dafür nach, dass er seine Frau nicht alleine weiterreisen lassen wollte und konnte: „Wir haben die ganze Saison so wenig voneinander, dass ich mich nicht trennen mochte … Ich will momentan absolut nicht krank sein.“ Er kündigt seine Wiederkehr nach Davos für „nächsten Winter“ an und macht sich mit seiner Frau auf den Weg in den sonnigen Süden. Noch einmal, so hofft er, wird er mit ihr die schönen Sommermonate des Vorjahres aufleben lassen, in der Sonne liegen, Carolas Nähe genießen — und schreiben. Doch es ist eine Illusion. Mit Klabunds Konstitution ist es in diesem einen Jahr so sehr bergab gegangen, dass an einen behaglichen Erholungsurlaub nicht zu denken ist. Zwar weicht das Fieber, zwar übt auf ihn „Brioni auch wieder den gleichen Zauber aus wie im vorigen Jahr“, aber an Baden ist so wenig zu denken wie an das vergnügliche Herumspazieren. Die meiste Zeit verbringt er, wie in Davos, auf dem Balkon seines Hotels im Liegestuhl. Carola Neher ist verzweifelt: „Ich finde doch, dass es ihm schon längere Zeit nicht besonders geht. Ich will auch unbedingt, dass er die ganze nächste Saison wegbleibt von Berlin, er geht nachts raus, rennt den ganzen Tag herum, telefoniert den ganzen Tag.“ Sie selbst treibt in Brioni geradezu fanatisch Sport, angeblich nur, «um schlank zu sein. Ich habe nämlich 10 Pfund zugenommen und bin eine „ ausgesprochen dicke Nudel“ geworden.“
Matthias Wegner: „Hier fühlte sich das Paar für einige Wochen, wie aus einer Postkarte Carola Nehers an die Mutter von „Irene“ hervorgeht, „im Paradies“. Klabund arbeitet am Drehbuch zum Film „Rasputin“, einer gut dotierte Auftragsarbeit der Firma Metro-Goldwyn-Meyer, es wir nie verwendet, erscheint aber als “Roman eines Dämons“.
Ende Juni berichtet er Otto Zarek, dass er nun endlich ein bisschen Sonne habe, dass die Arbeit am „Borgia“ abgeschlossen sei und das Berliner Staatstheater sein neues Stück („Die Liebe auf dem Lande“) geben werde. Der Brief schließt: „Ich spiele auch mit dem Gedanken, ein ganzes Jahr nicht nach Berlin zurückzukommen. Na, wir werden sehen“ …
Guido von Kaulla beschreibt diesen Urlaub so:
„… Dann Brioni: Es bedeutet für Klabund das gleiche pausenlose Arbeiten wie immer, aber eben unter günstigen klimatischen Bedingungen. Carola folgt ihm, als in Wien die Stücke abgespielt sind. Auf die Rückseite einer Postkarte mit ihrem Foto schreibt sie an Frau Heberle (deren Gatte am 18.6.1927 in Karlsbad verstarb): „Verehrte gnädige Frau, ich freue mich, dass ich Ihnen eine Freude machte mit den Blumen. Ich war nicht in Passau, sonst hätte ich Sie, gnädige Frau, besucht. Wie geht es Ihnen? Fred und ich sind in Brioni – das ist ein Paradies. Gehen Sie doch auch hierher – man wird hier so ruhig und zufrieden – es ist wunderschön! Viele liebe Grüße und Wünsche Ihrer Carola Neher-Klabund.“
Leider fehlen uns nähere Beschreibungen über den Verlauf dieses Aufenthaltes, aber ein wenig später geschriebenes, trauriges Gedicht, das Klabund seiner Carola in den Mund gelegt hat, lässt ahnen, was der Urlaub den beiden bedeutet haben muss:
Alle Frauen
Die dich früher liebten,
Hatten so viel Zeit für dich.
Ich hab gar keine Zeit –
Nicht für dich
Kaum für mich.
Ich habe nie Zeit
Zu einem flüchtigen Kuß
Und einer verwehenden oder bösen Zärtlichkeit.
Je nachdem rich gelaunt bin.
Ich habe den ganzen Tag Probe.
Abends spiele ich Theater.
Dazwischen Masseure, Friseure, Photographen –
Wann soll ich dich lieben?
Nachts nach der Vorstellung bin ich todmüde.
Verzeih mir, daß ich dich nicht lieben kann.
Vielleicht im Sommer
In Interlaken oder Brioni
Aber bis dahin wirst du nicht warten wollen.
Schade.
An das Ehepaar Poeschel geht ein Brief, er habe keine Temperatur mehr und es gehe ihm wieder gut: „… Ich fühle mich eigentlich relativ recht wohl jetzt. Vor allem ist es warm und immer Sonne. Der Berliner Winter dauerte noch bis Anfang Juni, als wir wegfuhren, immer eiskalt. Ich bin so froh, ein bisschen Sommer zu haben. Ich denke, es wird mir weiter gut gehen. Ich bin sehr vorsichtig, bade nicht, gehe kaum spazieren, habe einen schönen Balkon mit gutem Liegestuhl. Ich glaube, dass meine Berliner Wohnung (parterre, im Norden, sehr kalt) mir nicht bekommen ist… Brioni übt wieder den gleichen Zauber aus wie voriges Jahr“.
Die Tage in Brioni, die ein Ausruhen vom Berliner Pflaster bewirken sollten, entwickeln sich zur Tragödie. Im Juli fiebert Klabund schon wieder, er muss jetzt wirklich sofort zurück nach Davos, wo der Patient, krank auf den Tod, Mitte des Monats erschöpft eintrifft. Der Arzt diagnostiziert wieder einmal eine Lungenentzündung.
Am 21. Juli schreibt Klabund – wieder in Davos – aus seinem gewohnten Eckzimmer im Haus Stolzenfels nach Crossen:
„… Liebste Mutti, vielleicht können wir uns Ende August in Oberbayern treffen. Eher kann ich hier nicht fort. – Carla ist in Berlin. Ihre Proben beginnen im August.“
Am 23. Juli an Frau Heberle:
„… Ja, bitte schick‘ mir die Zeitungsausschnitte vom Gefängnis-Tagebuch. – Ich bin nach Davos gegangen, weil die Hitzewelle, die über Europa gekommen war, ja in Italien besonders stark sich auswirkte. Hier oben ist es natürlich kühl dagegen. Ich will etwa vier Wochen bleiben. Dann will ich noch ein paar Wochen nach München und hoffe bestimmt, Dich um diese Zeit in Dachau zu finden. Das russische Lustspiel, das ich Euch“ (Guido von Kaulla: das ist Frau Heberle und ihr adoptierter Neffe – der Opernsänger Ernst Bernhardin-Ade, der später ein treuer Bewahrer von Klabunds Dachauer Nachlass wird) „- immer ein wenig vorlas, ist vom Berliner Staatstheater angenommen.“ Das russische Lustspiel ist „Die Liebe auf dem Lande“ und ein Stück mit nur einer Frauenrolle … der Kommissarin, die alle Männer am Narrenseil führt.
Am 27. Juli an Frau Heberle:
„… Liebste Mutter, (…) Ich liege im Bett, ich bekam plötzlich wieder Fieber, über 38°, wie leider so oft die letzte Zeit. (…) Ja, das Amperbad muss herrlich sein, die schönsten Freuden des Lebens sind die einfachsten. Wir waren ungefähr zwei Monate in Brioni. (…) Meine Frau ist schon wieder in Berlin. Die Proben zur neuen Saison beginnen im August. (…) Umarmung Deines Fred.“
Guido von Kaulla:
„… Auf der Rückfahrt amüsiert sich Carola bei einer Episode am Bärenzwinger in Bern: sie und Klabund waren gespannt, was für ein Gesicht wohl so ein „Berner Mutz“ mache, wenn er zufällig an den Abzug eines im Zwinger liegenden Spielzeuggewehres gerate und dann der Korken herausflöge …! In Zürich trennen sich die Wege der beiden. Sie muss nach Wien zur „Burg“, vielmehr zu deren Nebenbühne: dem „Akademie-Theater“.
Urlaub vorbei und an Fritz Heyder schreibt er am 16. August 1927 – wieder in München:
„Lieber Herr Heyder, herzlichen Dank für Ihre freundlichen Briefe. Ich freute mich, wieder einmal von Ihnen und den Ihren zu hören. Ich war zwei Monate auf der Insel Brioni im adriatischen Meer. Es war einer der schönsten Sommeraufenthalte, die ich gehabt habe. 2 Monate Sonne, Meer, Wald, Ruhe. Der einzige Nachteil war, dass es dieses Jahr für Deutsche wegen des hohen Standes der Lira sehr teuer war. – Gearbeitet habe ich allerlei. Ich habe ein Lustspiel für meine Frau geschrieben, „,XYZ“ betitelt. Zum ersten Mal auch ein Filmdrama „Der Mann Gottes“, das von einer amerikanischen Filmfirma, der Metrogoldwyn, akzeptiert wurde. Für den Winter steht ein zweites Drama in Aussicht. Alles Gute Ihnen und den Ihren Ihr Klabund. Grüßen Sie Lieberrnann herzlichst.“
„XYZ“ – Spiel zu Dreien in drei Aufzügen erschienen bei Reclam in Leipzig.
Kurt Wafner: „Klabunds Schreibeifer peitschte ihn selbst im Krankenbett zu literarischen Ausbrüchen. Er liegt dann – so beschreibt es Guido von Kaulla – „und hält wie gewohnt einen Abriss-Schreibblock mit der linken Hand über sein Gesicht. Die rechte Hand mit dem Bleistift streckt er vor sich hin. Er schreibt in seiner flüchtigen zarten Schrift Zeile für Zeile. Nur bei längerem Nachdenken lässt er die Hände auf die Brust sinken. … Ist eine Seite vollgeschrieben, so reißt Klabund das Blatt ab und lässt es zu Boden sinken. Wenn er dann aufsteht und das Zimmer verlässt, schenkt er dem Geschriebenen keine Beachtung …“ Aber Frau Heberle sammelt die Seiten liebevoll auf. Manchmal gefiel ihm ein Wort nicht und er suchte angestrengt nach einem besseren.“
Und so etwa entstanden Klabunds letzte Werke, der Lyrikband „Die Harfenjule“, der Roman „Borgia“ und das Schauspiel „XYZ“. „Zu erwähnen sind allerdings auch einige unvollendete Arbeiten, Manuskripte, die meist verschollen sind.“ (Wafner)
„XYZ“ – Am 24. September 1927 in Wien erstaufgeführt zählt nicht zu den „größeren Würfen“, aber Klabund kann darauf verweisen, dass es in der Reclam-Bücherei erschienen ist. In der Zeitschrift „Die Bühne“ vom 14. 9. 1927 steht seine Glosse:
„… „Wer beim Theater A sagt, der muss auch B sagen und schließlich XYZ sagen. Wer einmal eine kleine, scheinbar zu nichts verpflichtende Liaison mit dem Theater beginnt, – der steht bald, ehe er sich’s versieht, lichterloh in Flammen. Er vernarrt sich in den ganzen Komplex „Bühne“: Er schlürft die staubgeschwängerte Luft des halberleuchteten Probenraumes mit einer Wollust ein, als wäre es der Ozon des Engadins. Er verliebt sich in Stücke, Regisseure, Schauspieler – und Schauspielerinnen. Und kann es nicht lassen, dieser verehrten und geliebten Frau Stücke auf den Leib, auf die Seele zu schreiben; nur damit er Gelegenheit hat, sie seine Worte sprechen zu hören, sie lächeln und weinen zu sehen aus seinem Herzen …“
Guido von Kaulla fügt hinzu:
„… Sie, die anmutigsten, aber widerspenstigsten Geschöpfe der Natur, gehorchen plötzherrlich diszipliniert, seinen herrischen Wünschen und Befehlen. Er schrieb „Kreidekreis“, „Brennende Erde“, „Der junge Aar“ dem Schauspieler und damit sich zuliebe. Er schrieb „XYZ“ für drei Schauspieler und eine Schauspielerin: Carola Neher, deren Gestalt über die Bühne nur gehen zu sehen für ihn Freude und Glück bedeutet.“
In der Premiere am 24. 9. 1927 spielen Carola Neher, Raoul Aslan, Otto Tressler und Josef Moser. Eugenie Schwarzwald berichtet von dieser:
„… Des Dichters sonst blasses Knabengesicht ist in heiße Glut getaucht. Die Hände, mit denen er die meinen umklammert, sind Eisklumpen. Er ist trotz aller Selbstbeherrschung in einer verzweifelten Aufregung. Kaum wagt man zu sagen: „Aber Sie haben doch schon so viel Erfolg gehabt.“ – „Aber nicht in Wien“, flüstert er, „denken Sie doch, Wien, das ist doch wichtig.“ Man sieht, ihm ist nicht zu helfen. Aber dann kommt sie auf die Bühne, sie, der jeder Gedanke, jeder Atemzug gilt. Jetzt weiß er nicht mehr, dass das Stück von ihm und dass Wien wichtig ist. Jeder seiner Sätze, die sie spricht, ist von ihm gedichtet. Jede Betonung, jede Bewegung geht ihm durch und durch. Der Vorhang fällt. Man klatscht freundlich und erheitert. „Sind die Leute zufrieden?“ fragt er bang wie ein Schulkind. „Ja“, sage ich froh erleichtert: „Sie haben einen großen Erfolg.“ – „Ich, nein, nicht ich, Carola!“ sagt er. Und dabei sieht er aus wie eine treue Mutter, die ihr Kind wiegt: Du sollst schlafen, du sollst schlafen, du sollst schlafen, liebes Kind.“
Das eilig „hervorkarnickelte“ (Gottfried Benn) Stück löst bei den Kritikern keine Begeisterungsstürme aus.
Fredi ficht das nicht an, er meint, „er könne es nicht lassen, der geliebten Frau Stücke auf den Leib, auf die Seele zu schreiben, nur um sie seine Worte sprechen zu hören.“
Der Begriff „hervorkarnickeln“ stammt von Klabunds Arzt und älterem Freund, dem Dichter Gottfried Benn, der schreibt am 4.9.1926 an die Freundin Gertrud Zenzes: „Ich wollte, ich wäre so fingerfertig wie Klabund, der ja heute Abend schon wieder einen ,Cromwell‘ im Lessingtheater hervorkarnickelt.“
Der Kritiker Alfred Polgar:
„… Ein Spiel en trois. Personen: Frl. Y, Herr X, Graf 2. („Der eine hieß Gribl-Grabl, der andere aber hatte keinen Namen, und das war das Feine an ihm!“ H. C. Andersen.) Fräulein Y, die tun kann, was sie will – sie ist nämlich von Beruf Komtesse und hat keine anderen Sorgen als erotische -, heiratet erst den Proleten, der ihr vortäuscht, Graf, dann den Grafen, der ihr vortäuscht, Diener zu sein. Schließlich, da der Graf ihr zu dumm ist, wieder den Proleten. Der Wechsel, hin und zurück, vollzieht sich leicht, im Wortumdrehen. Die Ereignisse treten ein wie Marquis Posa künftig zu König Philipp: unangemeldet. Die Situationen machen sich nicht breit, sondern schmal, und holde Abkürzung waltet. Das Spiel verlächelt die Schwerfälligkeiten des Lebens, zumal in Liebes- und Heiratssachen; es ist voll Ironie gegen die Wichtigtuereien der Kausalität. Wenn Klabund sagt, Frl. Y „heiratet“, so hat das Wort kein bürgerliches Gewicht. „Nimmt“ wäre richtiger. Es geht in diesem unbeschwerten Spiel gar nicht um Heirat und Liebe oder derlei, obgleich an diese Vokabeln im Zwiegespräch oft gerührt wird. Es geht lediglich um Partnerschaften. Um eine zweite Stimme im Duo, um einen Kameraden fürs Vierhändige. Frl. Y braucht mehrere. Heute den, morgen jenen, übermorgen beide. Liebt sie den X, den Z? Sie liebt, glaube ich, das Alphabet. Viele Spiele sind in ihr, wollen den rechten Gegenspieler. Und einer kann nicht alles.
Klabund gibt einen Beitrag zur Biologie der neuen Frau. Sie lebt in einer dünneren Luft als ihre Mütter, viele Meter überm Sentimentalen. Sie macht kein Wesens aus dem Zeitvertreib, den pathetischere Jahrhunderte Liebe nannten (und mein alter Freund Gustav Schönaich: Nervenscherze). Machen wir Männer auch keines! ruft der Dichter. Er ist milde, spöttisch, überlegen. Er toleriert, was er nicht ändern kann. Der Schwächere gibt nach. Sein kleines Spiel hat Witz und Witze. Schaum aus des Theaters vollem Glase, der dramatische Nährwert also gering. Zum Beschluss seiner Komödie zieht Klabund einen verbindenden Schnörkel um sie und das Leben. Ein Blumensteg aus Worten, gewissermaßen, hebt die Trennung zwischen Bühne und Parkett auf. Oben gehupft, wie unten gesprungen. Wenn ich nicht irre, ist das schon einmal oder tausendmal dagewesen. Herr Aslan bewährt sich, im Wiener Akademietheater, als Lustspieler in Moll; sein Humor ist weich gefüttert. Herr Tressler nimmt die Sache gradaus so ulkig, wie sie gemeint ist.
Carola Neher, Ursache und Wirkung des Abends, bezaubert durch ihr Temperament, ihre Grazie in allen Lagen und Lebenslagen. Das Voraussetzungslose, Unbedingte der Figur trifft sie mühelos. Es scheint, sie hat es. Miene, Gebärde, Tonfall spiegeln die Freiheit, in der solche Jugend erwuchs. Vielleicht ist Fräulein Y großer Gefühle, Gefühle von ewiger Dauer nicht fähig. Aber wie lang dauert denn schon die Ewigkeit? Ein paar Jahre, wenn’s hoch geht. Frau Neher tanzen zu sehen, ist ein Vergnügen. Auf weichem Lager, zwischen Kissen von überzeugend symbolischer Form, turnt sie behende und possierlich. (Der Dialog ist Springschnur: anmutig-flink über ihn weg und unter ihm durch.) Mit der Liebe spielt sie furchtlos wie das Kind mit dem bösen Hund; siehe, er tut ihm nichts! Sie ist leichter als das Leben: es trägt sie.“
Klabund hat so seine Vorahnungen:
„… Samstag findet in München die Premiere zu „XYZ“ statt, das Stück, in dem meine Frau am Wiener Burgtheater die Hauptrolle gespielt. Die Münchener Besetzung ragt nicht entfernt an die Wiener heran (ich habe auch das Gefühl, die eine Hauptrolle sei mit Rühmann falsch besetzt: denn das Stück muss komisch wirken durch die Dialoge, Charaktere, Situationen. Aber es darf nicht auf komisch gespielt werden. Dann wird es zur Posse. Das fürchte ich fast von Rühmann, der sonst ein trefflicher Schauspieler ist, aber eben ein Komiker.)“
Seine Meinung über Rühmann teile ich, aber ich halte Rühmann eben für noch schlechter, als Fredi annimmt. Der schreibt am 14. Januar 1928 nach Passau:
„… Liebe Mutter, Tausend Dank für Deinen Brief. Er bestätigt mir, dass (trotz allem) das Stück mit Rühmann der Hauptrolle falsch besetzt ist. Es ist eine leichte com-dia dell’arte. XYZ: das sind ja Arlecchino, Colombine, ntalone: nur in unsere Zeit transponiert. Alle drei müssen liebenswürdig bleiben, immer und in jeder Situation: ich glaube, das Stück hat durch Rühmann eine Schärfe bekommen, die es nicht hat. Tausend Grüße, ich sende es Dir, wenn es gedruckt ist.“
An Unus nach Berlin geht am 9 Januar 1928 ein Brief:
„… Ich bin in Davos-Dorf, Stolzenfels, und bleibe vorläufig hier. Herrliche Sonne, man kann stundenlang von 11-4 ohne Decken im Freien liegen – meine Frau wohnt jetzt Königsweg 25b/Wichmann, also ein paar Häuser von Ihnen. Sie hat auch Telefon (weiß ich leider nicht). Schreiben Sie ihr mal eine Zeile, sie wird sich freuen. – Ich fand sie in „Coeurbube“ besonders gut, weil besonders einfach. Soviel ich höre, spielt sie Ende April im Staatlichen Schauspielhaus in: „Die Katalaunische Schlacht“. (Ein Stück, wie prädisponiert zu einem Theaterskandal!) Mein Lustspiel XYZ scheint in München durchgefallen zu sein. Ob infolge der (unglücklichen) Besetzung oder überhaupt?: ich weiß es nicht. Sehr peinlich für mich hinsichtlich der Berliner Aspekte.“
Die letzten Werke
Klabund schreibt Vor- und Nachwort zum „Romanfilm“ „Rasputin„, gedacht für den amerikanischen Charakterdarsteller Lon Chaney.
Ebenfalls in diese „letzte Periode“ fällt „Das Kirschblütenfest“ – (nach Izumo) geschrieben 1925 – Uraufführung 1927 Spiel nach dem japanischen. Klabund hat die Knaben-Hauptrolle in die Rolle eines Mädchens abgewandelt. Eine Besetzungsanmerkung: „Kotaro ist von einer zarten, aber glühenden jungen Schauspielerin zu spielen“ – und somit ist ein neues Rollenangebot für Carla geschaffen (das aber nicht auf den Bühnen, an denen sie arbeitet, verwirklicht werden wird).
Und zur Bühnenaufführung kommt auch seine Bearbeitung des Stückes „Der Hofmeister“ von Jakob Michael Reinhold Lenz (1751-1792), die dessen Bearbeitung durch Bert Brecht vorangeht.
Ist Klabund in Berlin – und dort wohnt er jetzt im „Hotel am Zoo“ zieht er wieder unruhig und lebenshungrig mit Literatenfreunden durch die Berliner Cafes und er arbeitet jetzt auch für den Berliner Rundfunk, für den er Hörspielfassungen von Grabbes „Herzog Theodor von Gothland“ und „Der junge Aar“ von Edmond Rostand einrichtet. Letztere kommt auch in die Theater.
Matthias Wegner zu dieser Periode:
„… Sein Arbeitstempo ist atemberaubend. Seit seinen beiden „Literaturgeschichten in einer Stunde“ („Deutsche Literatur“ und „Weltliteratur“) versteht er sich auf eilige, oft erfrischend unbekümmerte Ritte durch den abendländischen und asiatischen Bildungsvorrat.
Aufträge nimmt er an, wo immer sie sich bieten. Sein unbekümmerter Umgang mit großen Namen und Traditionen bewahrt ihn vor jeder falschen Feierlichkeit. Seine Sprache bleibt immer unverkennbar spontan, ob schwärmerisch oder ironisch, frech oder trauernd. «Wo der ismus aufhört, da fängt der Dichter erst an, denn letzten Grundes macht die Einzelseele, nicht die Massenpsyche oder -psychose erst den Dichter zum Dichter.“ — „Ein guter naturalistischer Roman ist mir lieber als ein schlechter expressionistischer und umgekehrt.“
„Heinrich Laube … schlug die dramatische Pauke, dass einem Hören und Sehen verging“ — solche Sätze mussten die ehrwürdige Tradition deutscher Literatur-Geschichtsschreibung provozieren. Aber für ein „Fachpublikum“ hat Klabund nie schreiben wollen.“
Resignation gestattet er sich trotzdem nicht, Einer Zeitung gegenüber meint er:
„… Die Gestalten meiner historischen Romane … sind Projektionen meiner selbst. Ich liebe in meiner Dichtung die starken Charaktere. Ich selbst, in kleinen Dingen sehr konziliant, lasse mich von nichts abbringen, was ich als richtig erkannt habe. Ich habe mich auch durch Not von meinen Plänen nicht ablenken lassen, ich habe immer intensiv gearbeitet, zu allen Zeiten des Jahres und des Tages, ob ich gesund war oder krank … ich war immer sicher meiner selbst. Noch ehe ich begann, wusste ich meinen Weg.“
„Ehrliche Worte — was daran eher selbstauferlegte Entschlossenheit als Gewissheit ist, das hat Klabund seit der Erkenntnis seiner tödlichen Gefährdung stets mit sich alleine abgemacht“, so Matthias Wegner.
Klabunds letztes Werk ist der Roman der verbrecherischen Renaissance-Familie „Borgia“.
Kurt Wafner:
„… Das Buch, das noch zu seinen Lebzeiten erschien, wurde in viele Sprachen übersetzt. Der Stoff hatte den Dichter bereits seit langem beschäftigt, aber seine Krankheitsanfälle und Kuraufenthalte die Edition immer wieder verhindert.“
Nach einer Neuausgabe seiner Romane schrieb die Presse am 3. November 1998:
„… Mit List und stilistischer Tücke hat Klabund einen Weg zwischen zwei Erfolgsgenres der zwanziger Jahre gefunden, den weit ausladenden Roman auf der einen und die Biographie auf der anderen Seite. Die Kürze seines Romans und sein federnder Stil bedingen einander. Auf jede historiographische Anstrengung ist demonstrativ von vornherein verzichtet … Der Papst sitzt in einem Spiegelkabinett der Bosheit und der Lust, von dem aus keine Türen in die Realgeschichte führen.“
„Mitte Juli 1928 plagte ihn hohes Fieber. Wo anders würde er Linderung finden als in Davos? Also trat er seine letzte Reise an – zum Haus Stolzenfels, zur Familie Poeschel. Der Arzt stellte eine schwere Lungenentzündung, aber auch eine Hirnhautentzündung fest.“ (Wafner)
Nachts
Von Da Ich bin erwacht in weißer Nacht,
Der weiße Mond, der weiße Schnee,
Und habe sacht an dich gedacht,
Du Höllenkind, du Himmelsfee.
In welchem Traum, in welchem Raum,
Schwebst du wohl jetzt, du Herzliche,
Und führst im Zaum am Erdensaum
Die Seele, ach, die schmerzliche –?
Die Journalistin Martha Maria Gehrke (damals Ehefrau von Harry Kahn, Journalist und Freund Klabunds aus dessen Studentenzeit berichtet über ein Treffen:
„… Er ist völlig von dieser Frau besessen und scheint überhaupt nichts anderes mehr zu sehen, zu hören und zu denken. Er liest auch zusammen mit Carola „im Radio“, und als er das Funkhaus verlässt, bezaubert er wieder durch die höfliche Art, mit der er trotz rascher Gangart doch jeden Anwesenden im Vorbeigehen zu grüßen versteht. Seine Natürlichkeit, Liebenswürdigkeit, sein Humor und sein völliger Mangel an Selbstgefälligkeit machen seine Gesellschaft zu der denkbar angenehmsten. Harry Kahn sagte einmal zu ihm: ,Wann wirst du endlich dreißig werden und anfangen wie zwanzig auszusehen!‘ Damit charakterisierte er sein Äußeres, aber auch seine Art des ewigen Gymnasiasten‘: das Sekundanergesicht mit den immer wieder tieferstaunten Augen. Der Schwung und das Feuer kommen aber durch, wenn er seine Gedichte spricht, sei es auf der Kabarettbühne, sei es bei einer Vorlesung, im Vortragssaal oder im Hörfunk.“
Als sie meine Stimme im Radio hörte –
Du hörtest meine Stimme wie von fern.
Sprach ich von einem andern Stern?
Du griffst mit deinen Händen in das Leere,
Ob dort ein Leib nicht und ein Lächeln wäre.
Kein Leib. Nur Stimme. Lippe nicht. Nur Wort.
Und leise legtest – du den Hörer fort.
Am 9. März 1928 klagt Klabund in einem Brief an Irene Heberle:
„…Ja, es ging mir die letzten acht Tage nicht gut. Ich fühlte mich schrecklich deprimiert; ich bin allen möglichen praktischen Anforderungen des Lebens manchmal gar nicht gewachsen, trotzdem es so aussieht.“
Ihm folgt ein mehrwöchiger Besuch in Dachau, dann fährt er nach Berlin und Crossen und. an Unus schreibt er:
„… Lieber Unus, ich hatte Ihnen eine Karte zur hundertsten Aufführung von „Coeurbube“ schicken wollen! – Meine Frau spielt demnächst im Deutschen Theater Pygmalion von Shaw. Wollen Sie hineingehen? Premiere ist am 14. IV. – Sie kann vorläufig keine Zeit erübrigen, da sie am Tage probt und abends spielt, aber wir werden uns doch mal sehen. Ich rufe Sie bald an. Meine Adresse: Schillerstr. 2/part. Telefon (ab 1 Uhr): Steinplatz 6177. Herzlichen Gruß, auch von meiner Frau, auch an Herrn Krüger Ihr Klabund.“
Die letzten Tage von Klabund beschreibt Guido von Kaulla:
„… Als keine spürbare Besserung in seinem Zustand eintritt, befragt Klabund den Besitzer von „Haus Stolzenfels“, Dr. Poeschel, ganz allgemein nach den Symptomen einer Meningitis: er brauche diese Auskünfte für eine ihn beschäftigende Arbeit. Erst nachträglich wird sich Poeschel darüber klar, dass sein Gast bei sich selbst Hirnhautentzündung vermutet und mit dem herannahenden Ende rechnet.
Das bestätigen auch Briefe dieser Tage.
„Liebste Eltern, herzlichsten Gruß aus Davos! Ist es Euch nicht möglich, sagen wir innerhalb acht bis zehn Tagen nach Davos zu kommen? Ihr sitzt von Berlin bis Landquart (1 Stunde nach Davos) im selben Wagen (Schlafwagen). Ich lade Euch herzlichst ein. Euer Fredi.“
Carola Neher studiert in Berlin die Rolle der Polly für die Uraufführung von Brechts „Dreigroschenoper“ ein und Klabunds Zustand verschlechtert sich so sehr, dass sie zum Ärger von Brecht die Proben unterbricht und nach Davos fährt. …“ich bekam plötzlich wieder Fieber, über 380, wie leider so oft die letzte Zeit. Ich liege so ungern im Bett, d. h. gezwungen, freiwillig sehr gern“«, schreibt er in seinem letzten Brief an Frau Heberle.
Ich würde sterben, hätt ich nicht das Wort,
Das meine flüchtigen Gedanken hält,
Das sie bewahrt für die und jene Welt;
Es schützt mich, daß mein Lebensbaum verdorrt,
Es reißt den Schreitenden zum Schweben fort.
Ich würde sterben, hätt ich nicht das Wort.
Davos – „das alte Davos“
Der Titel stammt aus einem Brief Klabunds an seine Schwiegereltern in Passau – Fredi schreibt am 30. Dezember 1925:
„… Liebste Eltern, ein gesegnetes neues Jahr wünsche ich Euch! Wie Ihr seht, bin ich mal wieder in dem alten Davos. Es ist das gleiche geblieben, – aber es hat sich auch manches geändert.“
Wikipedia:
„… Die Landschaft Davos in der walserdeutschen Ortsmundart Tafaas auch Tafaa, italienisch Tavate umfasst beinah das gesamte Landwassertal im Schweizer Kanton Graubünden. Die politische Gemeinde mit zahlreichen Siedlungen besteht aus den sechs Fraktionsgemeinden Davos Dorf, Davos Platz, Davos Frauenkirch, Davos Glaris, Davos Monstein und Davos Wiesen der Region Prättigau/Davos. Seit Mitte des 19. Jahrhunderts entwickelte sich Davos zu einem bekannten Luftkurort und Wintersportgebiet; die Bevölkerung stieg von 1680 Einwohnern im Jahr 1850 auf über 11’000 im Jahr 1930 an.“
Seine zweite Heimat sei die Gemeinde gewesen, schreiben alle Chronisten. Stimmt das?
Im August 1916 kommt Klabund das erste Mal nach Davos und er kommt aus Crossen – jener Stadt die er auch in seinen Werken als seine (erste) Heimat beschrieb. Aber bedenke ich, was er in Davos bei seinen langen Aufenthalten schrieb, ist Davos künstlerisch sicher zu seiner ersten Heimat geworden.
In der Vorankündigung einer Klabund-Ausstellung 2014 schreibt Walter Labhart:
„… Unter dem Motto „Ich würde sterben, hätt ich nicht das Wort …“ zeigt das Heimatmuseum Davos eine Klabund gewidmete Ausstellung. (…)
1918 schrieb er in Davos Dorf in einer einzigen Nacht „Die kleinen Verse für Irene von Klabund“. Von 1920 bis 1925 entstanden am gleichen Ort die Prosatexte „Das Schreibmaschinenbureau“, „Denkmal im Schnee“, „Schwindsüchtige“, Davoser Elegie“ und die Gedichte „Mond über Davos“ und „Davoser Bar„.
Erste Station in Davos: Das Waldsanatorium des Dr. Jessen, in dem vier Jahre früher Thomas Mann Gast war. Aber nach wenigen Tagen „flog“ Fredi dort wieder raus, er wollte sich den sehr strengen Anordnungen seines Arztes nicht unterordnen. Uns so kam er in die „Pension Stolzenfels“ des Ehepaares Poeschel. Das sechsstöckige, Ende 1913 fertiggestellte Haus stand damals am Ende von Davos-Dorf, am Höhenweg, dem Promenadenweg zu.
„Stolzenfels“? Am Mittelrhein geboren kam mir eine Erinnerung, es gibt dort eine Burg des gleichen Namens und Wikipedia schreibt darüber:
„… Schloss Stolzenfels ist ein Schloss im Mittelrheintal in Koblenz. Es thront auf der linken Seite des Rheins über dem Stadtteil Stolzenfels, für den es namensgebend war, gegenüber der Lahnmündung. Die erst Anfang des 19. Jahrhunderts vom preußischen Kronprinzen zum Schloss ausgebaute Anlage geht auf eine kurtrierische Zollburg aus dem 13. Jahrhundert zurück, die 1689 zerstört wurde. Das neugotische Schloss ist das herausragendste Werk der Rheinromantik.“
Und tatsächlich ist die Burg Namensgeber der Pension, las ich. Wie die Poeschels darauf gekommen sind – keine Ahnung, zumal Erwin Poeschel aus Kempten im Allgäu stammte.
Schwindsüchtige
Sie müssen ruh’n und ruh’n und wieder ruh’n,
Teils auf den patentierten Liegestühlen
Sieht man in Wolle sie und Wut sich wühlen,
Teils haben sie im Bette Kur zu tun.
Nur mittags hocken krötig sie bei Tisch
Und Behlingen Speisen, fett und süß und zahlreich.
Auf einmal klingt ein Frauenlachen, ojaalreich,
Wie eine Aeolsharfe zauberisch.
Vielleicht, daß einer dann zum Gehn sich wendet
– Er ist am nächsten Morgen nicht mehr da
-Und seine Stumpfheit mit dem Browning endet …
Ein andrer macht sich dick und rund und rot.
Die Ärzte wiehern stolz: Halleluja!
Er ward gesund (und ward ein Halbidiot…).“
Paul Raabe schreibt über Davos in seinem Buch „Klabund in Davos“:
„… Vor hundert Jahren hatte sich Davos, im Hochtal der Nordrhätischen Alpen in Graubünden gelegen, zu einem berühmten Schweizer Kurort, dem bekanntesten Luftkurort Europas, entwickelt. (…) Mit der Fertigstellung der Rhätischen Bahn, die das entlegene Davos über Landquart mit Chur und so mit dem Unterland verband, war aus dem ärmlichen Bergdorf nach und nach ein blühendes Städtchen geworden. Dank seines milden und sonnigen Höhenklimas suchten hier Lungenkranke Heilung oder Linderung ihres Leidens, das damals noch schwer zu bekämpfen war. (…)
Davos ist durch Thomas Manns Roman „Der Zauberberg“ in die Literaturgeschichte eingegangen. Thomas Mann hatte 1912 drei Wochen seiner Frau Katja Gesellschaft geleistet, die im Waldsanatorium von dem Lungenarzt Dr. Jessen behandelt wurde. (…)
Unter den vielen anderen deutschen Autoren war jener, dem dieses Buch gewidmet ist und dem Davos zum Schicksal wurde in einer Zeit, als es noch keine Medikamente gab, die die Lungentuberkulose eindämmen konnten. Dieser Schriftsteller war Klabund.“
Und über diesen Schriftsteller, der durch seine Krankheit angeblich zu einem „Schnell- und Vielschreiber wurde, schreibt Paul Raabe:
„… Ständig bedroht von der Krankheit, wurde Klabund von einer unbändigen Leidenschaft zum Schreiben erfasst, so dass er fortan Jahr für Jahr Bücher veröffentlichte: Verse, Grotesken, Romane, Erzählungen, Nachdichtungen. Die Muße der langen Liegekuren wurde zum Antrieb einer literarischen Produktion, der oft allerdings die letzte Ausgefeiltheit fehlte, was die Kritik nicht zu Unrecht bemängelte.“
Der Auffassung Paul Raabes will ich widersprechen, zumal sie auch in anderen Biographien auftaucht. Sicher hat diese Krankheit sein Leben stark geprägt, aber Klabund mit dieser unbändigen Neugier hätte sicher wesentlich mehr geschrieben, wenn er nicht immer wieder von ihr „ausgebremst“ worden wäre.
„Unterstützung“ bekomme ich von Matthias Wegner, der schreibt:
„… Das Ziel seines Lebens, in den Olymp der Dichter und Denker zu gelangen, hatte er schon früh bestimmt. Der Drang zu formulieren, zu erzählen und zu phantasieren, war so unstillbar wie der seiner Frau zur Schauspielerei. Über alle Gefährdungen und Enttäuschungen hinweg hatte ihm stets sein geradezu fanatischer Wunsch hinweggeholfen, die Realität nur im Spiegel der Poesie zur Kenntnis zu nehmen. Diese Brechung seines Wahrnehmungsvermögens durch die Flucht in den Traum, die Begierde nach Schönheit, Phantasie und kunstvoller Form, hatte ihm geholfen, die Krankheit über viele Jahre hinweg in Schach zu halten. Es fällt schwer, im ganzen Umfang zu ermessen, wie radikal die Flucht vor der Krankheit das Weltbild und die Dichtung Klabunds beeinflusst hat. Fest steht nur, dass er sich den Beruf längst vor Beginn und der Erkenntnis der tödlichen Gefahr gewählt hatte. Schon der Knabe, dem die Schule in allen Fächern so leicht gefallen war, hatte zielstrebig die ersten, tastenden Schritte in Richtung auf die Literatur unternommen.“
Siehe oben, „er wollte sich den sehr strengen Anordnungen seines Arztes nicht unterordnen“ heißt dann, Krankheit hin oder her, sie bestimmte eben nicht den Ablauf seiner Aufenthalte in Davos und seines „Lebens „in der Ebene“ und Klabund betonte dies immer wieder. Sich nicht unterkriegen zu lassen, bedeutet aber auch, man soll die Feste feiern, wie sie fallen und Fredi hat viele Feste gefeiert. Wäre dies nicht möglich gewesen in der „Einsamkeit“ des Dr. Jessen – das Klabundsche Werk wäre sicher ganz anders ausgefallen.
An Walter Heinrich schreibt er 1916:
„… Der Fasching ist vorüber. Hier haben wir ihn gefeiert; ich habe rasend getanzt. Ach, man sah wieder rote und gelbe und violette Pierretten und hielt sie in seinen Armen. Es gab wieder spaßhaft ernste Faschingsabenteuer mit Tränen und Gelächter.“
Programmgestalter Klabund und sein Umgang mit der Krankheit. In der Ankündigung der „Festivitäten“ heißt es:
„… Davos-Dorf, am 1. ten März 1916.
Das diesjährige Stolzenfelser Faschingsfest findet am Sonntag den 5ten März ab 7 Uhr Abends statt. Es wird dringend ersucht, bereits zum Abendessen im Kostüm zu erscheinen. Nur Damen und Herren, bei denen Tuberkeln nachgewiesen sind, haben Zutritt. Der Infektion sind keine Schranken gesetzt. Schiittelverbot! Es herrscht ein rauher, aber herzlicher Ton. Nu jrade!
i.A. Klabuntata Klabore“
Als Programm ist folgendes geplant:
„… Bazillenwalzer Allgemeiner Rippenresektionsgesang (Chor.) Auftreten des Prestidigitateurs „Henri bleu“ sowie der verschiedensten Rasselgeräusche. (Liege) Sackhüpfen. (I. Preis: ein Thermometer) Elegabal Nachtschweiss, der Künstler am Trapez Das Tangofieber im Fiebertango Solisten: Fräulein Pneumo, Herr Thorax Temperaturenpolka
Eintritt: 5 Bazillen. Eintritt: 5 Bazillen!
Ein weiteres „Fest“ folgt, der Regisseur ist der gleiche:
„… Schon schmilzt der Schnee. Schon blühen (in Gedanken) die weißen Anemonen, die zärtlichen Veilchen. Der sogenannte Frühling naht! Bald zwitschert es aus Millionen Frauen- und Vogelkehlen nach der allbekannten Melodie von Eugen Hildach: Der Lenz, der Lenz ist da! Angesichts dieser bevorstehenden Tatsache, die sich nicht länger verheimlichen lässt, laden die weiblichen Insassen der (Familien-)Pension „Stolzenfels“, will sagen: die Stolzenfelser Nymphen und Dryaden, ihre männlichen Tischgenossen, will sagen: die Stolzenfelser Faune und jungen Götter auf Sonntag den 19ten dieses zum althergebrachten und sagenhaften
Fest der Schneeschmelze
geziemend und errötend ein. Für kulante Bedienung von zarter Hand und dementsprechende Getränke ist eifrig Sorge getragen. Man munkelt von!! Punsch!! die griechische Kapelle „Grammophon“ wird ihre heiteren Weisen erschallen lassen.
Exsudatum est: das Komitee
Die Quittung folgt: „Ich bin wieder ein wenig elend. Alle paar Tage krieche ich mal ins Bett. Da sind aber auch die … Frauenzimmer dran schuld.“
An anderer Stelle hat er schon früher über seine Krankheit geschrieben:
„… Die Krankheit ist ein besonderes Kapitel. Ich führe in meinem Leben doppelte Buchrechnung. Auf der einen Seite nimmt zwar die Krankheit erheblichen Raum ein; aber sie ist nur notiert, zur Kenntnis genommen. Der Teufel soll mich frikassieren, wenn sie Einfluss auf die andere Seite, auf mein wirkliches Leben gewinnen sollte … Ich möchte doch noch leben, eine Weile wenigstens noch …“
Nach der Saison ist erst mal Schluss mit Davos und Stolzenfels, unter anderem, weil mal wieder das Geld ausgeht. Mit einem Anschlag verabschiedet er sich, am schwarzen Brett ist zu lesen:
Achtung! Obacht! Attention!
Infolge plötzlichen Kurssturzes und durch den Krieg verursachter Verhältnisse ist unser, in Stolzenfels wohnhafter, verehrter Mitbürger, Herr Schriftsteller
Klabund
in große unverdiente Not und Nahrungssorge geraten. Er sieht sich deshalb genötigt, seinen letzten materiellen Besitz (bis auf das Hemd – welches er gegen entsprechendes Ehrenhonorar abzulegen ebenfalls bereit ist) zu veräußern. Er bittet, Interessenten, Mäzene und Kunstverständige: sich mit ihm in geneigte Verbindung zu setzen. Es kosten beispielsweise: Ein alter Hut 3,-frcs, Ein abgelegter Kneifer (ohne Glas) 1,75 frcs, Eine Grammophonplatte (nicht mehr spielbar) 2,30, Eine Photographie 4.- fr (mit Autogramm 10.-) Autogramme jeder Art und Größe, schon von 1,50 bis zu den teuersten Preisen. Gefälliger Unterstützung sieht entgegen, gramgebeugt,
der Unterzeichnete Zimmer 4.
Ende März 1916, reiste Klabund ab. Die „Davoser Blätter“ druckten am 25. März 1916 fünf Gedichte Klabunds ab, etwas Kleingeld hat es also sicher gegeben. Aus Zürich gehen am 1. April zwei Briefe an die Poeschels und die „Davoser Verse:
„… Sehr verehrter Herr Poeschel,
Grüßen Sie um Gottes willen niemand in der Pension von mir. Empfehlen Sie mich sehr Ihrer Frau Gemahlin. Und nehmen Sie das Manuskript beifolgender Verse zum Andenken an Ihren ergebenen Klabund.“
Davoser Verse
1.
Ich bin in einer winterlichen Frühe
Auf dem bezaubernden Balkon erwacht.
Im Morgenschlaf dehnt sich die weiße Mühe,
Umnebelt noch vom Schleiergeist der Nacht.
Ein Schlitten klingelt vor verhangnen Fenstern;
Und eine Wolke schwebt und ist ersehnt.
Es werden ferne Glocken von Gespenstern
Geläutet, deren Sichel mondwärts lehnt.
Bin ich der Ewige, der ich gewesen?
Die Sonne bricht aus meinem Mund mit Schrei,
Und vor der Pforte schwingt ein Stern den Besen
Und macht den Weg für meine Schritte frei.
2.
Ich bin von Menschen so verlassen, daß
Zwei milde Mäuse nun mein Spielzeug sind,
Aus grauem Stoff ersonnen, und von Glas
die schwarzen Augen, funkelnd aber blind.
In sich beschränkt ist rings die Welt so tot
Wie diese Mäuse sind: des Unseins Raub,
Aus grauem Stoff verfertigt, blind und taub,
Erkennet eines nicht des andern Not.
Verstehet eines nicht des andern Wort;
Fühlt eines nicht des andern Herzens Schlag.
Und also ist ein jegliches verdorrt;
Und alles ist nur eines: Nacht und Tag.
3.
0 ich liege weit
Außer Raum und Zeit
In der Sonne lieg ich still und weiß.
Schnee bekränzt mich licht.
Himmel mein Gedicht;
Und die Wälder läuten laut und leis.
Aus der Tiefe steigt Blond ein Haupt und neigt
Seiner Locken liebliches Gespenst. Seele, du der Schnee, Seele, du der See,
Seele, Seele, Sonne, – wie du brennst!
Die „Davoser Erzählung“ erscheinen im gleichen Monat in der „Neuen Züricher Zeitung“ und Fredi schreibt an Erwin Poeschel:
„…Die Davoser Erzählung wird nun, freilich ohne Ortsangabe, um niemanden zu kränken und niemandem zu schmeicheln, in der Neuen Zürcher Zeitung erscheinen. Vor eineinhalb Monaten aber kaum. Ich bin über Davos intuitiv „auf dem laufenden“. Teils lässt man sich die Haare färben, teils schreibt man sonderbare und überflüssige Briefe. Man beschuldigt sich gegenseitig des Betruges, der Hochstapelei und der Vergewaltigung. Es wirkt alles lächerlich. Aber das Lächerliche erschüttert. Das hat schon Cervantes, der wie der Osterhase ebenfalls Zeitgemäße, gewusst. Um meinen Kredit in Davos wieder zu heben, der durch meine Lustfahrt nach Lugano schwer gelitten hat, sende ich Ihnen inliegend die zehn Frank Desinfektionsgebühr und bitte um Mitteilung weiterer Schulden. Empfehlungen an Ihre verehrte Frau Gemahlin.“
Und damit wissen wir, während seines ersten Aufenthaltes in Davos schrieb Klabund im Februar und März 1916, „auf dem Liegestuhl sitzend“ „Die Krankheit“. Paul Raabe:
„… In Sylvester und Sybil, den Hauptfiguren der Erzählung, erkennt man unschwer den Dichter und jene Freundin wieder, in Pneumo und Thorax Frieda und Erwin Poeschel, in Professor Ronken den Chef des Waldsanatoriums, Dr. Jessen, Thomas Manns Geheimrat Behrens im „Zauberberg“, in Alfons Hein den heute längst vergessenen Schriftsteller Paul Apel. Klabund schrieb keinen „Zauberberg“, sondern eine realistische, humoristische und zugleich todtraurige Geschichte, in der er das Leben in Davos auf eine treffende und zugleich sehr direkte Weise schilderte und sicherlich bei manchen Mitpatienten Verärgerung hervorgerufen haben wird.“
Der zweite Davoser Aufenthalt 1916/17
Paul Raabe überschreibt diesen Aufenthalt mit: „Irene – Liebe und Tod“ und weiter: „Im Sommer 1916 erschien Klabunds Roman „Moreau“.
Die „Davoser Blätter“ berichteten am 26. August darüber, „zustimmend und ablehnend zugleich“, so Raabe.
„… Was heute als „Roman eines Soldaten“ vorliegt, ist ein Ding mit falscher Flagge. Was Klabund wesentlich wurde, waren lose gereihte, wirkungsvolle Bilder und Szenen; dazwischen rollt die Handlung mit Kinoschnelligkeit, und eine flammende Aufschrift und drei Zeilen Text stellen die Verbindung her. Dennoch ist dieser „Roman“ mehr als ein Libretto zu einem Kinofilm (was auch an sich schon etwas Gutes sein könnte). Er ist erfüllt von einem wundersamen Lyrismus der Sprache, einer im Sinne und Geiste Flauberts gesteigerten Situationskunst, einem toll und frisch jagenden, balladenhaften Erzählertalent. Aber nicht einem Erzählen in geduldiger epischer Breite, sondern in flackernden, abgerissenen, heftigen Worten, die nur manchmal eine prachtvoll ausgebreitete Landschaft, das Ergreifende eines Zusammentreffens einhalten lässt, um alsdann ein paar Seitenlängen bei der Gestaltung solchen Affekts zu verweilen… Die Sensation, die so Vieles in Klabunds Werken verdirbt, macht auch dieses reifere, in Partien wunderbare Buch in Partien für ernsthafte Leser schwer genießbar.“
Und weiter:
„… Für Klabunds zeitraffenden Stil hatte der Davoser Rezensent keinen Sinn. Positiver dagegen hatte Erwin Poeschel das Buch in der Frankfurter Zeitung besprochen.“
Für diese Besprechung bedankt sich Klabund:
„… Sehr verehrter Herr Poeschel,
Sehr überrascht und erfreut hat mich Ihre Besprechung des Moreau in der Frankfurter Zeitung, für die ich Ihnen dankbar die Hand drücke. Sie ist von einer menschlichen Wärme, die mich beglückt, und die mir zeigt, dass ich Ihnen in den paar Wochen, die ich im Winter in Ihrem Hause verlebte, als Mensch und Dichter etwas sein durfte. Darüber bin ich sehr froh. Ich hoffe, bald mit Ihnen über meine neuen Pläne sprechen zu können: ich bin beladen und fast erdrückt von ihnen. Im Herbst sollen 4-5 neue Bücher erscheinen: bei Reiß, in der Insel und in einem Münchner Verlag. Die Davoser Erzählung wird mich hoffentlich in Davos nicht unmöglich machen: die Beziehungen zwischen Stoff und Dichtung werden einem laienhaften und noch dazu hysterischen Publikum wie dem Davoser nicht leicht klar werden. Man wird beides verwechseln. Nun: ich sehe den Davoser Folgen gefasst entgegen.
Empfehlen Sie mich bitte Ihrer verehrten Frau Gemahlin und seien Sie herzlich begrüßt von Ihrem ergebenen Klabund.“
August 1916 bis April 1917 verbringt Klabund acht Monate oben in Davos – an Walter Heinrich schreibt er „Fünf Wochen bin ich nun schon wieder in dieser abenteuerlichen Einöde und fühle mich unendlich wohl“ und dazu hatte er allen Grund, denn er lernte Irene Heberle kennen, Und auch Paul Raabe übernimmt den Einfluss, den die 20 jährige auf Klabund gehabt haben soll und durch den er zum Kriegsgegner wurde, er schreibt:
„…Er erlebte in der Begegnung mit ihr eine innere Wandlung: Aus dem kriegsbegeisterten Klabund wurde ein radikaler Pazifist. Er legte seiner Freundin den Vornamen Irene, d. h. Friede, zu, und unter dem Eindruck ihrer Gegenwart entstanden nicht nur die kleinen Romane „Franziskus“ und „Mohammed“, sondern ein Gesang in 43 Gedichten „Irene oder die Gesinnung“, eine lyrische Selbstkritik, die aus dem Gesamtwerk Klabunds herausfällt.“
Frühjahr 1917, Klabund verlässt Davos. An seinen Freund Fredy Kaufmann gehen die Zeilen:
„… Ich fahre demnächst nach Locarno. Mit einem sehr, sehr schönen blonden Geschöpf. Ich schicke Dir ein Bild. Seit Jahren war ich nicht so hin. Irene – ist ihr Werk“
Und an Erwin Poeschel geht dieser Brief:
„… 6. V. 1917.
Lieber Herr Poeschel,
Ich habe die erste Zeit in Locarno, wie immer nach einem Ortswechsel (damals hatte ich auch die Schlafkrankheit noch nicht: jetzt bin ich überhaupt nur eine halbe Stunde des Tages wach), allerlei gearbeitet: ich habe den in Davos schon projektierten Mohammed beendet, der nun sofort, in Stil und Ausstattung genau wie der Moreau, erscheinen soll. Im Juni wahrscheinlich schon. Die Korrekturen sind bereits gelesen. Ich sende Ihnen in den nächsten Tagen ein Exemplar der zweiten Korrektur: ich werde mich freuen, Ihre Meinung zu hören. (Nur bitte ich Sie, es nicht weiter zu geben als an Ihre Frau Gemahlin, Frl. Meinhardt, und höchstens Modrow – den ich bestens zu grüßen bitte.) – Wir leben hier ganz sommerlich und ländlich. Wenn wir nicht schlafen, so segeln oder angeln wir. Das Angeln ist eine unerhörte Beschäftigung: weil es hier gratis gestattet wird, nehme ich an, dass es überhaupt keine Fische im Lago Maggiore gibt. Ich habe jedenfalls noch keinen gesehn. (Schwanting hat eine Kaulquappe gefangen. Er ist sehr stolz darauf und hat uns alle auf sein Gut eingeladen „zum Angeln“ … Wenn nur dieses Gut nicht auch so eine Fata Morgana ist, wie die Fische im Lago…)
Mit den ergebensten Grüßen, auch an Ihre verehrte Frau Gemahlin der Ihre Klabund.“
Klabund und Brunhilde Heberle heirateten am 8. August 1918 in Locarno, den „Rest“ dieser Geschichte habe ich schon erzählt, Nach einer Frühgeburt stirbt Irene und sie hat „ihre Tochter zu sich geholt“, schreibt Fredi, das Davoser Glück währte nur kurz.
Auch schon erzählt, nach dem Tode der Tochter bleibt Klabund oben in Monti, denn hier schrieb er bereits am 3. Juni 1917 seine offenen Briefe an Kaiser Wilhelm II., an den amerikanischen Präsidenten Wilson aber auch die Bußpredigt, eine „Anklage und Aufruf, Er erlebte in der Begegnung mit ihr eine innere Wandlung: Aus dem kriegsbegeisterten Klabund wurde ein radikaler Pazifist“, schreibt Paul Raabe.
Im Frühjahr 1919 kehrt Fredi nach Berlin zurück und seine bestimmt produktivste Phase beginnt. Hilfreich die vielen Kabaretts und Theater in der Stadt und natürlich ein großer Freundes- und Bekanntenkreis und seine unterdessen gewachsene Popularität.
Davos war damals weit entfernt, aber Paul Raabe schreibt: „Vier Briefe hat Erwin Poeschel aus diesen Jahren aufbewahrt, aus denen man erfährt, dass er aus alter Anhänglichkeit neben der „Crossener Zeitung“ auch die „Davoser Blätter“ las und sich dem Ort seiner Not und seines Glücks verbunden fühlte. Im letzten undatierten Brief kündigte er dann seine bevorstehende Ankunft im November 1923 an.
„Sehr geehrter Herr Poeschel,
mit der größten Teilnahme habe ich von dem Unglück gelesen, das Davos betroffen hat. Bitte, unterrichten Sie mich doch, ob Sie und Stolzenfels wohlauf sind. In den sehr spärlichen Berichten der deutschen Blätter war vom Bergsanatorium und vom Sanatorium Davos-Dorf die Rede. So hoffe ich herzlich, dass der Kelch an Stolzenfels vorbeigegangen ist. Ich fühle mich ja immer noch mit Davos verbunden: ich lese zwei Lokalblätter: die Crossener Zeitung und die Davoser Blätter.
Wenn ich von mir kurz berichten darf: ich bin für ein Jahr in den Reinhardkonzern als eine Art Mittelding zwischen Dramaturg und Varietedirektor getreten. Gottseidank: ohne die Verpflichtung übernommen zu haben, in dem Hexenkessel Berlin zu bleiben. Wenn die verfl… Valuta nicht wäre, wäre ich längst wieder in der Schweiz. Die Amerikanisierung Berlins macht erhebliche Fortschritte. Geist gilt im allgemeinen so viel wie er sich in Geldwerten ausdrücken lässt. Man kauft Ideen oder die paar Menschen, die welche haben. Sie werden sich schwerlich eine Vorstellung machen, was für glänzend dotierte Posten in den verschiedensten „Branchen“ mir schon angeboten worden sind. Würde ich in Berlin mich festlegen wollen, könnte ich jeden Tag eine Stelle mit 40000 bis 50000 Mark im Jahr „beziehen“.
Mein lyrisches Hauptwerk „Dreiklang“ erscheint demnächst. Ich lasse es Ihnen schicken.
Seien Sie bestens gegrüßt von Ihrem ergebenen Klabund
Der zweite Brief:
„…20. 6. 20. Passau, Ludwigspl. 1
Lieber Herr Poeschel, ich wollte Ihnen schon längst mal wieder guten Tag sagen und mich erkundigen, wie es Ihnen und Ihrer Gattin geht. Hoffentlich gut. Ich denke mir, dass Sie Ihr Leben von Griechen, Türken und Polynesiern fristen werden, denn Deutsche kann es doch in Davos kaum noch geben: wer hat bei der Valuta die Möglichkeit? (…)
Ich bin seit einigen Monaten wieder ein wenig aufgewacht. (…) Ich arbeite viel. Der „Dreiklang“, mein principiellstes Gedichtbuch erscheint. Ich sitze über Heiligenlegenden. Von meiner Literaturgeschichte, die Korrodi so unnobel behandelt hat, erscheint, überarbeitet, das 10. bis 20. Tausend. (…)
Ich hab große Sehnsucht nach dem Hochgebirge. Ich hätts nötig. Ich werde wohl nach Mittenwald gehen. Schönsten Gruß und Empfehlung. Ihr Klabund.
Wieder in Berlin:
„… 21/3/22. Berlin S.W. Halleschestr. 21/1 r Lieber Herr Poeschel, ich freute mich von Ihnen zu hören. Ihre Frage nach meinem vorjährigen Anfall kommt grade zu meinem diesjährigen zurecht: ich liege mal wieder seit einigen Wochen mit Temperatur (über 39), aber jetzt scheint es ja langsam zurückzugehen. (…)
Ich bin seit einiger Zeit sehr arbeitsunlustig. Ich hatte aus Geldgründen eine Kuliarbeit übernehmen müssen, und die hat mich so angeekelt, dass ich mir auch den Appetit auf meine eigene Arbeit für einige Zeit verdorben habe. Es ist dieser Tage im Rolandverlag eine Zeitsatire „Kunterbuntergang des Abendlandes“ erschienen. Im Frühling erscheint (bei Reiss) ein neuer Gedichtband: hauptsächlich Balladen und Mythen enthaltend. -Ich freute mich, von Modrow zu hören. Sagen Sie ihm doch einen herzlichen Gruß von mir. Ich denke überhaupt oft an Davos. Oft bin ich in Gedanken nachts im Mondschein im Schlitten nach Clavadel gefahren. Das winterliche Davos nachts im Mondschein: das ist das eindrucksvollste Bild, das ich von der Davoser Landschaft mitgenommen habe. Ich liebe den Mond ja so sehr, gegen die heiße Mittagssonne habe ich immer eine gewisse Antipathie gehabt. Sonst sind es vor allem die Davoser Menschen, die sich mir eingeprägt haben: Sie, Ihre Gattin, Modrow voran. Seien Sie und Ihre Gattin herzlich gegrüßt von Ihrem Klabund.“
„… Berlin S.W. (Oktober 1923)
Lieber Herr Poeschel,
in etwa 14 Tagen bin ich oben in Davos und werde mich freuen, Sie und Ihre Gattin wieder zu sehen. Leider wird es mir wohl nicht möglich sein, bei Ihnen zu wohnen, so gerne ichs täte, aber ich bin ein armseliger Proletarier geworden, wie wir Deutschen alle bis auf einen geringen Prozentsatz, über 8, 9 frcs kann ich nicht hinausgehn, und auch das nur kurze Zeit. Ich komme ja hauptsächlich wegen meines Kehlkopfes, ich will Dr. Rüedi konsultieren, auf den ich baue. Auf jeden Fall aber hoffe ich, dass wir öfter mal zusammen sind. – Hier rast die Lawine immer schneller zu Tal, je mehr sie sich der Tiefe nähert, desto rasender geht es, und desto mehr reißt sie mit sich. Ein Schweizer Frank kostet schon eine Milliarde! Die Einkünfte sind lächerlich gering: 3-5 Schweizer Franken die Woche!! Auch mir geht’s natürlich nicht anders. Ich erhielt von der Frankfurter Zeitung für einen Romanabdruck 50 (fünfzig) Franken! (Früher das gleiche für einen Artikel!) Die Preise in den Geschäften sind Gold, die Löhne Papier – das (todmüde) Volk hungert und friert und lässt sich alles nur gefallen, weil es eben so todmüde ist. Armes Deutschland. Nun muss es leiden, so zertreten, ausgeplündert, im Sterben, wie es liegt. –
Herzlichen Gruß, auch an Ihre Frau Gemahlin, Ihr Klabund.
„Davos… ist optisch und psychisch ein unvergesslicher Eindruck“ schreibt Klabund und diese Eindrücke sind in seinen Texten zu finden.
Wieder in Davos – Winter 1923/24
Am 13. November 1923 schrieb er eine Postkarte an Hermann Hesse:
Davos-Dorf, Stolzenfels Lieber Herr Hesse, ich bin seit einigen Tagen in der Schweiz, komme auch in den Tessin, hoffe, Sie zu sehen. Es sieht böse, chaotisch, anarchisch in Deutschland aus. Hunger, Verzweiflung, Misstrauen gegen Gott, die Welt, sich selbst. Hier ist noch Leben, Da-sein, Wahrhaftigkeit. Drüben ist alles irreal, phantastisch, wie in mittelalterlichen Höllenbildern. Herzlichen Gruß, auch an Ball und Emmy Hennings, Ihr ergebener Klabund.“
Anders als erwartet, kommt er doch bei den Poeschels unter und Guido von Kaulla schreibt über die anstehende Operation:
„… Der Operation sieht Klabund mit Skepsis entgegen.. .Es gelingt aber Dr. Rüedi, durch recht schwierig zu vollziehende Eingriffe – dreimaliges Ausglühen: am 12.11. am 3. und 29.12. – die Geschwüre zur endgültigen Vernarbung zu bringen und dem Patienten seine gute laute Stimme wiederzugeben, wenn auch ein Heiserwerden bis zum Flüstern nach Anstrengungen unvermeidlich ist. Diese frappant gute Dauerheilung – trotz ausgiebiger Inanspruchnahme der stimmlichen Funktion – spricht (so Dr. Rüedi zum Biographen) wiederum für die große Heilungstendenz von Klabunds geschlossener Tuberkulose.“
Es geht im wieder besser und sein unverwüstlicher Witz zeigt sich in zwei Gedichten, die er „Familie Poeschel auf den Weihnachtstisch gelegt und gewidmet von Klabauzke, privilegiertem Dichter“ schreibt.
Bürgerliches Weihnachtsidyll
Was bringt der Weihnachtsmann Emilien?
Ein‘ Strauß von Rosmarin und Lilien.
Sie geht so fleißig auf den Strich.
O Tochter Zions, freue dich!
Doch sieh, was wird sie blau wie Flieder?
Vom Himmel hoch da komm ich nieder.
Die Mutter wandelt wie im Traum.
O Tannebaum! O Tannebaum!
O Kind, was hast du da gemacht?
Stille Nacht, heilige Nacht.
Leis hat sie ihr ins Ohr gesungen:
Mama, es ist ein Reis entsprungen.
Papa haut ihr die Fresse breit.
O du selige Weihnachtszeit!
Davos am 21. Dezember 1923 und einen Tag später:
Trauercarmen in memoriam
unserer so plötzlich in Gott
eingegangenen Katze, gewidmet
der untröstlichen Herrin Elfriede Poeschel
Unsere alte Katze ist verschieden,
War so sanft und gut.
Ach, sie war des Hauses Trost und Frieden,
Und nun liegt sie da in ihrem Blut.
In Gestalt des Liftes kam geschlichen
Lautlos, tückisch, flink: der Tod,
Bis sie unter seiner Eisenfaust verblichen,
Und das ganze Treppenhaus war rot.
Nimmer wirst du mehr im Schoß der Herrin schnurren, schnarren,
Und der Herr, er krault dich nicht von Zeit zu Zeit.
Unterm Schnee wird man dir eine Grabstatt scharren,
Nur zwei Schuhe breit.
Aber einst wird die Posaun ertönen,
Wenn der Katzengott zur Auferstehung bläst,
Und du wandelst dann mit vielen schönen
Katern zum erkornen Fest.
Wie behaglich wirst du in des Himmels Bett dich schmiegen!
Mäuse gibt es ohne Zahl und keinen Hund.
Jeden Tag wirst dutein anderes Junges kriegen:
Weiß und schwarz und scheckig oder bunt.
Aber unsre Tränen tropfen und wir raufen
Uns die Haare sonder Ruh.
Zwar man könnte eine andre Katze kaufen,
Aber das wärst doch nicht du.
Was auch Darwin oder Haeckel sage:
Eine Seele hattest du gewiß.
Und so rinnt denn unsere Totenklage
In die Uferlose, in die Finsternis.
Unter den Gästen an diesem Weihnachten befinden sich der deutsche Schriftsteller Jakob Wassermann (geboren am 10. März 1873 in Fürth, gestorben am 1. Januar in Althausee) mit seiner Frau Martha Karlweis einer der produktivsten und populärsten Erzählern seiner Zeit und der Berliner Vortragskünstler Ludwig Hardt Geboren am 16. Januar 1886 Neustadt-Gödens (Ostfriesland, gestorben am 17. März 1947 in New York)
Und auch diesen Mitpatienten widmet er eine Kostprobe seines Humors:
Seemanns Los
Von allen Menschen so lebensfroh
Keiner dem graus’gen Tod entfloh.
Dort unten auf dem Meeresgrund
Schlummern sie friedlich mit bleichem Mund.
Als einzig geretteten spülte an Land
Die Woge den Zahlmeisteraspirant.
Doch sollte er sich seiner Rettung nicht freun,
Er fiel in die Claun einem westindischen Leun.
Was war er so auf das Weltmeer erpicht?
Trink einen Bittern und weine nicht.
Hätt er wie sonst auf dem Podium gesessen,
Hätt ihn der Löwe nicht gefressen.
Herrn Zahlmeisteraspiranten Hardt in Ehrfurcht gewidmet von Klabautzke, Poesie für alle Lebenslagen, diskret – reell – koulant.
Am 11.11. beginnt die „fünfte Jahreszeit“ und die wurde auch in diesem Winter kräftig gefeiert – „Mit Spott und Scherz sorgte – wie schon vor Jahren – Klabund für „High life“, montierte Plakate, schrieb Verse, inszenierte Auftritte und flirtete und tanzte und sang und trank. Die Zwanziger Jahre in Davos!“ (Paul Raabe)
Liegekuren, wandern und Wintersport und Klabund arbeitet, an Hilde Jung nach Monti schreibt er am 9. März 1924:
„Liebe Frau Hilde, ich freute mich sehr, von Ihnen zu hören: leider, ja anlässlich einer an sich gar nicht erfreulichen Gelegenheit: Sie sind krank! Hoffentlich sind Sie, wenn dieser Brief Sie erreicht, schon wieder gesund, das wünsch ich von Herzen. Ich selber war schwer krank, hatte die Stimme ganz verloren, bin 3 mal im Kehlkopf operiert worden, aber jetzt geht‘s schon wieder recht gut, vor allem kann ich wieder sprechen. Ich bekam im letzten Jahr die Kehlkopf Tbc – sonderbarerweise gerade die gleiche Form und an den gleichen Stellen wie weiland meine Frau. – Ich denke oft an sie und auch an Sie. Es war eine schöne Zeit. Vielleicht gehe ich in 3 Wochen in den Tessin, ob allerdings nach Locarno, weiß ich nicht. Es ist zu viel schmerzlicher Erinnerungen. Wie schade, dass Sie nicht die Villa Neugebauer haben, ich käme sofort zu Ihnen. Sie wären dann doch auch da. – Hesse ist z. Z. in Basel, Hotel Krafft, am Rhein. Er hat mich hier besucht.
Jene Nacht im Hospiz Santa Maria ist mir einmal im Traum erschienen. Es war sehr sonderbar und sehr schön. .—‘
Alles, alles Gute, hoffentlich begegnen wir uns noch einmal im Leben. Ihr Klabund“
Daneben schließt Klabund eine ganze Reihe an Bekanntschaften und Freundschaften, Paul Raabe schreibt:
„… Im Übrigen gab es ein reges geselliges Leben in Davos, an dem Klabund teilnahm. In der Villa Helvetia verkehrte er in literarisch und künstlerisch interessierten Kreisen. Mit dem Maler Philipp Bauknecht und dem Bildhauer Philipp Modrow schloss er engere Freundschaft. Auch unter den Davoser Zugereisten und Einheimischen hatte er viele Bekannte, so Martin Platzer, den Redakteur der „Davoser Blätter“, oder den aus Russland stammenden Journalisten Jules Ferdmann, den auch die Lungenkrankheit in Davos eine neue Heimat hatte finden lassen. Die beliebte Pianistin Klara Zappler organisierte das musikalische Leben. Der Theatersaal des Kurhauses bot Raum für Konzerte, Rezitationen, Lesungen und Theateraufführungen. Hier lasen Jakob Wassermann und Hermann Hesse, Ludwig Hardt und viele andere, auch natürlich Klabund.“
Nach 1918 bezieht Carlo Graf Seilern mit seiner Familie die Villa Helvetia in Davos hinter dem damaligen Kurhaus. Mittelpunkt ist die Hausherrin, Ilse Gräfin Seilern. Auch Klabund verkehrte in der Villa Helvetia und führt weitere Gäste ein.
„Davos-Dorf Stolzenfels 26. I. 24
Sehr verehrte gnädige Frau,
einen herzlichen Gruß sende ich Ihnen! Hoffentlich geht es Ihnen schon besser? Mitte nächster Woche besucht mich auf ein paar Tage ein guter Freund mit seiner Gattin. Er ist nicht nur mein Freund, sondern auch einer der bedeutendsten Deutschen, die heute leben. Freilich auf einem ganz andern als meinem Gebiet. Er ist der Chef der Telefunken, der Gesellschaft für drahtlose Telegraphie und Telephone. Es ist der Graf Arco. Wenn Sie gestatten, würde ich Gräfin und Graf Arco zum Tee einmal mitbringen. Sie gehören zu einer Art Menschen, deren Bekanntschaft Sie nicht anstrengen würde. Und falls Sie einmal nach Berlin kommen würden, würden sie Ihnen in jeder Beziehung dienlich sein können.
Mit ergebenstem Gruß Ihr Klabund“
Und bei dieser Gelegenheit kann auch etwas nützliches getan werden, Klabund schreibt an die Gräfin:
„… Kurhaus Davos-Davos 21. III. 24.
Liebe Gräfin,
ich höre eben, Sie wollen eventuell das Frl. von Otwil modellieren: ich fände das sehr hübsch, denn sie ist, bildhauerisch gesprochen, gewiss ein äußerst reizvolles Geschöpf. Sie würden aber auch ein gutes Werk tun. Lassen Sie sich von ihrem Stolz aber auf keinen Fall abhalten, sie zu honorieren. Denn es geht ihr sehr, sehr schlecht. Und sie ist ein sehr, sehr anständiger Mensch. (Eine durch die Zeitverhältnisse deklassierte russische Adlige.)
Ergebensten Gruß, auch an Ihren Herrn Gemahl, Ihr Klabund“
Zu diesen Freundschaften zählt aber auch der Maler Philipp Bauknecht, der seit 1920 in Davos eine Blockhütte bewohnt – auch er Lungenkrank.
Über einen weiteren Gast in Davos schreibt Paul Raabe:
„… In Klabunds Briefen an Erwin Poeschel taucht hin und wieder der Name Philipp Modrow auf. Er war ein aus Frankfurt am Main gebürtiger Bildhauer, der 1910 von der Lungenkrankheit heimgesucht wurde und sich von einem Daueraufenthalt in Davos Heilung versprach.“
Die Freundschaft mit Modrow führte zu der berühmten Büste Klabunds. Matthias Wegner:
„… 1923 hatte in Davos der Bildhauer Philipp Modrow eine Büste von Klabund angefertigt – die dann später einer der Pseudokenner als „Totenmaske“ bezeichnen wird (die nie abgenommen wurde). Der „Verein ehemaliger Crossener Gymnasiasten“ erwarb die Büste, um sie im Juni 1925 in der Aula seiner alten Schule (jetzt: Realgymnasium) an der Wand zum Direktorzimmer aufzustellen. Eine Genugtuung für die Eltern und Bruder Hans, denn Klabund ist bei sehr vielen Crossenern missliebig. Sie wollen wegen seines „Kaiserbriefes“ nichts von ihm wissen und distanzieren sich von ihm, weil er zur politischen Linken gehört und weil er (irrtümlich) für eine Art von Salonbolschewist und Konjunkturkommunist gehalten wird.“
Über das Schicksal dieser Büste ist zu lesen:
„… 1925 ist er schon bei deutsch-völkischen Landtagsabgeordneten wegen angeblicher Gotteslästerung im Gedicht „Die heiligen drei Könige“ ein Stein des Anstoßes. So kann es nicht überraschen, wenn im „Dritten Reich“ seine Büste auf einen Abstellplatz verbannt wird. Für seine Anhänger – denn auch sie gibt es – bedeutet es aber Anfang Januar 1926 einen Höhepunkt, als das Landestheater Bunzlau im Schützenhaussaal von Crossen ein Gastspiel mit dem „Kreidekreis“ gibt. Der Autor – gerade wieder einmal in der Heimat – überreicht nach Stückschluss auf der Bühne die ihm gewidmeten Rosen der Hauptdarstellerin, hält eine kleine Dankesrede zum Publikum und vereint anschließend die Ensemble-Mitglieder (zu denen auch der nachmals als Kabarettist sehr berühmte Werner Finck gehört) als seine Gäste im Hotel „Drei Kronen“ am Markt. Die „Haitang“ hat den Ehrenplatz zwischen Klabund und seinem weißhaarigen Vater, dessen kluges Gesicht in Freude leuchtet.“
Die Pianistin Klara Zappler veröffentlicht 1960 einen Artikel in der „Davoser Revue“, der das Leben in der Villa Helvetia wiedergibt.
Der bedeutendste Künstler in Davos war Ernst Ludwig Kirchner. Paul Raabe meint, er habe sich aber von den Kranken ferngehalten und in der Biographie des Brücke-Malers kommt Klabund nicht vor. Aber schreibt Raabe:
„… Dagegen darf man annehmen, dass Klabund mit dem erwähnten Schriftsteller Rudolf Utzinger Umgang pflegte, auch wohl den von Sibirien nach Davos verschlagenen, heute vergessenen Maler Emmerich Haas kannte, der den Geige spielenden Albert Einstein gezeichnet hat. Einstein selbst war mehrfach in Davos, und es ist nicht auszuschließen, dass auch er, der Gelehrte, ihm, dem Dichter, begegnet ist.“
Carola Neher – Klabunds zweite Ehefrau
Zur Erinnerung, im Sommer 1924 lernte Klabund Carola Neher in München kennen. Im Winter 1924/25 nimmt sie ein Engagement am Breslauer Theater an und Klabund zog ebenfalls nach Breslau.
Im Dezember begleitet sie ihn erstmals nach Davos. „Herr Klabund, Berlin… Frl. Neher, Breslau“, heißt es in der Davoser Fremdenliste. Anfang 1925 kehren die beiden gemeinsam nach Breslau zurück und heiraten am 07. Mai 1925, in der Zeit, in der Klabund mit seinem Theaterstück „Der Kreidekreis“ die größten Erfolge seines bisherigen Lebens feiert.
Am 21. April 1926 in Frankfurt – spielt Carola Neher in der Uraufführung die Marusja in Klabunds „Brennende Erde“. Zwei Kritiken erscheinen in der „Davoser Revue“, in der von Kasimir Edschmid heißt es:
„… Klabund ist eine der wenigen sehr sympathischen Erscheinungen in der jüngeren Literatur. Ihn verlässt nie eine gewisse poetische Anmut, ein bänkelsängerischer Charme, ein liebenswürdiger Geist. Er besitzt in hohem Maße jene Grazie, die aus unaussprechlichen Dingen eine himmlische Note macht. Er fürchtet den Tod und liebt die Engel und bewegt das ganze Instrumentarium der Literatur mit einer angenehm spielerischen Hand, die nichts weiter als Lyrik ist.
Offenbar hat ihn die Idee einer Rolle gereizt, die die einzige Frauenrolle seines Stücks ist. Diese Frau, die eigentlich eine Art Vogel ist, die von Mönchen am Rand der russischen Revolution aufgezogen wird, die nicht weiß, was ein Revolver und was ein Mann ist, wird in die Flutungen der Revolutionsmassen hineingezogen. Sie hat das Unglück, eine frigide Konstitution zu sein, was Klabund oft mit ihrer Heiligkeit verwechselt. Sie ist, im Gegensatz zu Shaws Heiliger, völlig passiv, sie wird von aller Welt begehrt und gejagt und schließlich umgebracht, aber sie lächelt nur. Tatsächlich ist für die Menschen Klabunds dieses Lächeln eine Art Sonne und die Widerlegung ihrer politischen Leidenschaft, und in der Tat ist dieses Lächeln von großer Poesie und schöner dichterischer Verzücktheit. Allerdings genügt es dramatisch in keiner Weise, es ist Stimmung, aber nicht Tragödie, wie das ganze Stück.
Die Menschen Klabunds sind nicht Heroen, sondern Gefühle. Sie sind nicht eiserne Ausrufer ihres Schicksals und ihrer Epoche, sondern Schemen.“
Über Carols Neher schrieb Bernhard Diebold:
„… Die wahre Muse dieses Abends erschien in der Gestalt der Gattin des Dichters, Carola Neher, der Stück und Rolle ganz legitim „auf den Leib geschrieben“ worden waren – wie man zu sagen pflegt. Die knabenhafte, irgendwie an die Bergner erinnernde Gestalt dieser jungen Schauspielerin, ihre seltene Naivität und berückende Uninteressiertheit, das Gerade und Spontane ihres Wesens -strömten das poetische Fluidum über die Szene. Zugegeben: sie hatte es leicht zu wirken als einziges Weib unter zwanzig bis dreißig Männern. Aber sie wirkte nicht durch die Rolle allein, die wenige Treffer liefert – sondern durch ihr Geschöpf und Wesen. Sie sprach die Sätze der Bergpredigt so ohne falschen Gesang und doch so innig durchbebt, dass dieses Instrument von Mensch von sich aus Seele geben musste. Es klang nicht fertig und ausgelernt – es klang schön und gut – als wär’s ein Stück von Klabunds bester Lyrik.“
Und am 15. August 1927 veröffentlicht Walther Harich in Davos einen Aufsatz über Carola Neher:
„… Carola Neher ist eine Dichtung ihres Gatten Klabund. Er entdeckte sie, zuerst für die Öffentlichkeit, dann für sich. Den einfühlsamen Übersetzer chinesischer Lyrik zog ein verwandtes exotisches Element an, dem er die erste Richtung gab. Auch wenn man in Crossen in der Mark oder in Wien geboren ist, kann man exotisch in einem ganz bestimmten Sinne sein. Wie Mozart die ganze Chinoiserie des Rokoko in sich barg. Carola Neher ist in Wien geboren und in München aufgewachsen. Dort entdeckte Klabund sie. Ein halbes Jahr später war sie in Breslau und spielte fünfundsiebzigmal die heilige Johanna. Wenn ein Allerweltslustspiel es in solchen Städten auf zwanzig Aufführungen bringt, ist das viel. Carola Neher spielte Shaws Johanna fünfundsiebzigmal. Dann kam der Welterfolg des „Kreidekreis“. Dem Manne inspiriert von der Schauspielerin, die Schauspielerin getragen von dem eigentümlich kühlheißen Atem dieser Dichtung, in der sich ein uralter, fremder Kulturkreis der neuen Sprachbeschwörung ergab. Eigentümliche Durchdringung der Elemente: die Welt des „Kreidekreis“ ist nicht China, die Haitang Carola Nehers ist keine Chinesin. Aber Dichtung und Gestalt lösten die Vorstellung aus, die der gewöhnliche Europäer von dem Wunderlande China hat. Darauf beruhte der Erfolg des Stückes. Nicht auf dem historisch Echten, sondern auf dem Unhistorischen. Die Haitang der Neher ist unser Traum von China. Siebzigmal spielte sie die Haitang in Breslau, über dreißigmal in andern deutschen Städten, wie Frankfurt a. M. und Chemnitz. Man sieht, die Zahlen des oben angeführten Klabundschen Gedichts sind längst überholt. Seit der letzten Saison wirkt Carola Neher in Berlin. Sie gilt heute als eine der „prominentesten“ Schauspielerinnen.“
War Davos für Klabund erste oder zweite Heimat? Für Carola Neher jedenfalls war „Stolzenfels“ und das Ehepaar Poeschel, das sie sehr liebevoll aufgenommen hatte, ein besonderer Rückzugsort. Die enge Beziehung zeigen die erhaltenen Briefe und sie vermitteln eine Carola Neher abseits des Rummels, der um sie gemacht wurde und bei dem sie mitgespielt hatte.
Breslau, 4. März 1925
Wir danken Euch für das Gedenken,
Das Ihr uns tatet wiederum schenken,
Ihr wollt dasselbe uns bewahren
In neuen wie in alten Jahren
Es leuchte Früh-, auch Abendröte
Euch immerdar! Altmeister Göthe.
Trau
Schau
Wem
Carola von Levetzow grüßt auch, zu Breslau, den vierten hujus.
Im Mai 1925 – Klabund ist in Lugano und schreibt nach Davos:
„… Lugano poste restante 16. 5. 25
Lieber Herr Poeschel, Ich denke, ehe ich nach Österreich gehe, ein paar Tage nach Davos heraufzukommen. – Endlich ist es warm geworden. Ich beginne, mich wohl zu fühlen. Es sind viele nette Leute hier: Hesse, Emmy Hennings, Hugo Ball. Wir strolchen in der Landschaft herum, tanzen in den Grotten und Osterien nach den automatischen Klavieren und leben ein wenig. – (…)
Ich habe hier einen Vortrag gehalten, in einem Grandhotel, es war eine Catastrophe. Nur das Erdbeben von Messina kann etwas ähnliches gewesen sein. Ich las im Vestibül, wo im Hintergrund eine Pokerpartie stattfand. Begann ich z. B. „Er ward von einer armen Magd empfangen“, so schrie gleich einer Füll dazwischen. Abgesehen von den 4 Pokerern waren 8 Damen und 1 Herr anwesend. Der Herr wunderte sich, dass ich nicht sang. Er hat mich mit Kamsky verwechselt, der auch hier herumgeistert. Eine der Damen sagte: „Machen Sie das alles selbst?“ (wörtlich). Der Direktor meinte, der Erfolg wäre größer gewesen, wenn ich bei der Table d’höte gelesen hätte. Da hätten alle zahlen müssen und keiner wäre mir ausgekommen. – Er hat Recht.“
Wie angekündigt, kommt Klabund in’s Haus Stolzenfels – allein. Über diesen Aufenthalt schreibt Guido von Kaulla:
„…Ende Mai 1925 fährt er wieder in die rettende Davoser Höhenluft. Seine Lebensweise ist gegen früher nun vorsichtiger geworden. Er raucht nicht mehr, und er trinkt selten Kaffee. Als er sich etwas erholt hat, geht er gleichwohl nicht mehr wie sonst fast jeden Abend aus. Er spielt abends noch etwas Bridge, wenn er nicht arbeitet; er geht zeitig zu Bett, schläft aber dennoch bis in den Morgen hinein. Er arbeitet dann im Bett oder auf dem Liegestuhl und geht am späten Nachmittag zwischen 5 und 7 Uhr ins Cafe, Zeitungen zu lesen, die er auf das aufmerksamste verfolgt.“
Breslau, 1. 12. 1925, Klabund kündigt an, die Wochen zum Jahreswechsel wieder in Davos verbringen zu wollen, natürlich diesmal nicht allein:
„… Lieber Herr Poeschel, Ihnen und Ihrer Gattin einen herzlichen Gruß! Was macht die Saison? Wie ich hörte, schon in voller Blüte. (Auf meine Blüten fiel ein Reif in der Novembernacht: Altvater Zweig hat die Lauge seines kritischen Spottes über den Kreidekreis ausgegossen, und der Kreidekreis ist im Züribiet mit Päukli und Trompetli durchgefallen…) – Hier im heile Usland, in Berlin, Breslau kreidekreiselts unentwegt weiter. Meine Frau spielt den Kreidekreis schon im dritten Monat und schleudert grässliche Flüche gegen die arme unschuldige Haitang. Zwischendurch hat sie mit „Scampolo“ einen großen Erfolg gehabt. Dieses freche unverschämte Jöhr liegt ihr naturgemäß besonders gut…
Davos! Davos! Du Alpenparadies!
Es wird nicht allzulang mehr dauern, bis
Wir Deiner werden ganz und auch teilhaft
Zwecks Stärkung unsrer Lung- und Lebenskraft.
Achtungsvoll Henschke’s aus Breslau.
„Tausend Grüße an Sie liebste Frau Poeschel, Ihre Neherchen“ schreibt Carola Neher in einem Brief wahrscheinlich Ende 1925 und darin die folgenden Zeilen:
„… Ich liebe meinen Mann so sehr, wie nichts auf der Welt, aber wenn ich wieder zurückkomme, wird er doch wieder unglücklich und er braucht Ruhe und Frieden.“
Und am 17, Januar 1926 aus Breslau:
„… Liebste Frau Poeschel,
tausend Dank für Ihren lieben Brief, das Geld ist auch gekommen – und schon wieder gegangen, ich kann nichts dafür.
Klabund, der reizendste Mensch der Welt, „wenn er nicht mein Gatte wäre“, lebt zur Erholung bei seinen Eltern. Auch gut. Gestern wollten wir uns zum 150. Male scheiden lassen, ist aber nichts daraus geworden. Ich liebe ihn doch. (…)
Ich spiele jetzt nochmal den leidlichen Kreidekreis, dann nochmals neu „heil. Johanna“ dann „fröhl. Weinberg“ von Zuckmayer, dann Caesar und Cleopatra, die schönste Rolle des Jahrhunderts! Pippa wurde abgesetzt. Bitte tun Sie mir doch einen großen Gefallen. Schicken Sie doch zum Atelier Himmelsbach nach Herrn Hilz, telefonieren Sie mit ihm, er soll doch dringend meine Bilder schicken, ich brauche sie, er hat sie doch versprochen! Es ist zum Verzweifeln. Bitte, bitte tun Sie mir den Gefallen. Der Brief gilt eigentlich Ihrem Manne, denn er hat den letzten geschrieben, aber Sie sind ja doch eins!! „Glückliches Volk“
Durch das folgende Gedicht erfahre ich, dass Klabund im Juni 1926 in Mainz auftrat, vielleicht war meine Verwandtschaft anwesend und von Fredi auch so angetan:
Ich hawwe d’Leute in Mainz nich gefalle,
Ich war ihne zu uhnverständlich vor alle,
Auch hawwe sie sich mich nich vorgestellt
Als n Hund mit Hornbrille, welcher bellt.
Erst als ich des nachts mit ihne gesoffe,
da wäre sie plötzlich ganz betroffe.
Und es sprach Herr Notar und Justizrat Bing:
Mit dem Kla‘-bund, des isch doch n eigen Ding.
Und es sprach Herr Druckereibesitzer Dr. jur. Baum:
Es war wie im Traum und man glaubt es kaum.
Den Schlußpunkt setzte (im Hotel) das Dienstmädchen dann:
Der Kla‘-bund, das isch doch n großer Mann,
Der Kla‘-bund, der hat mir in mei’m Lewe
Das allergrößte Trinkgeld gegewe…
Im echt Mainzer Dialekt verfertigt von Henschke, steht darunter!
Erst im Dezember 1926 kamen Klabundes wieder nach Davos und Fredi bleibt nach Carola Nehers Abreise Ende Januar drei Monate “oben“.
Sie schreibt am 31. Januar 1927 nach Davos: „Von hier, wo der Himmel schon trübe und kein Schnee Sendet Ihnen viele herzliche Dankesgrüße Ihre Carola Neher. Es war doch wunderschön und Klabund ist doch bezaubernd.“
Noch 1927 erscheint das „Das Kirschblütenfest, Spiel nach dem Japanischen“. In ein Exemplar, das Klabund Erwin Poeschel schenkt, schreibt er als Widmung:
Lebe liebe wandle handle
Und in diesen Tagen muss er auch wieder in der Pension „Stolzenfels“ eingetroffen sein – nur lange ausgehalten hat er es oben auf dem Berg nicht, denn bereits im März ist er wieder in Berlin.
Am 8, Juli 1928 gehen diese Zeilen nach Davos:
„… Lieber Herr Poeschel,
da es möglich ist, dass ich in den nächsten Tagen nach Davos komme, bitte ich, Post vorläufig nicht mehr nachzuschicken, sondern dortzubehalten.
Herzliche Grüße Ihnen allen Ihr Klabund
Mitte Juli trifft Klabund dann in Davos ein, er stirbt am 14. August 1928, zusammen mit Erwin Poeschel hat Carola Neher diesen Tod miterlebt.
Paul Raabe schreibt über die Tage danach:
„… Ihre Briefe, die sie nach der Rückkehr aus Berlin nach Davos schrieb, sind auch ein Abschied von dem Ehepaar Poeschel, das am Ende des Jahres die Pension Stolzenfels aufgab und Alfred Giger überließ, dessen Enkel Andreas Jenny das Haus als Hotel heute fortführt. Nach Davos ist Carola Neher nicht mehr zurückgekehrt.“
Was Davos für Klabund war, beschreibt Paul Raabe so:
„… Klabund in Davos – das bedeutet ein Doppeltes: ein Kapitel deutsch-schweizerischer Kulturgeschichte und einen Abschnitt in der Zeitgeschichte von Davos. (…)
Verknüpft bleibt Klabunds Schicksal mit Davos, dem Ort, an dem er immer wieder Hilfe und Linderung gefunden hat. Klabund und seine Leidensgefährten haben durch ihre Werke, ihren Lebenswillen und ihre Lebenskraft bewiesen, dass Davos nicht nur die irreale Welt des „Zauberbergs“ war, sondern ein unvergesslich gebliebener Tatort der Geschichte, an dem das damals noch unheilbare Leiden durch die Kunst und den Geist überwunden wurde.“
Carola Neher muss zurück ans Theater, nach ihrer Abreise aus Davos schreibt sie am 18. August 1928.
„… Liebe Poeschels,
es ging heute so schnell, als ich wegfuhr, aber es war nicht so flüchtig gemeint. Ich bin Ihnen so verbunden mit ganzem Herzen und der Dank den ich Ihnen aussprechen kann ist nur ein kleiner Teil meines Gefühles zu Ihnen.
Sie sind so gut und gütig und einfach verstehend mit mir und meinem Schicksal, dass ich Gott danke, dass ich Sie gefunden habe und dass mein Monilein das Glück hatte so viel bei Ihnen zu leben und jetzt (o Gott) zu sterben.
Liebe Poeschels ich umarme Euch in Dankbarkeit Eure Carola Neher
(Ich muss „Euch“ schreiben – weil ich Sie ganz gleich beide meine.)
Und an Irene Heberle schreibt sie; „Innigsten Dank für Ihren liebevollen Brief. Sie haben mir sehr zu Herzen gesprochen. Ich bin sehr unglücklich und zuinnerst einsam. Der einzige Mensch, der mich kannte und verstand, den ich liebte und verehrte, ist fort. Nichts mehr in meinem Leben kann diesem Glück gleichkommen, das ich durch ihn empfunden.“
Davos ist „Geschichte“ und Gedichte wie das folgende wird es nicht mehr geben:
Sanatorium
Die Spatzen singen und der Westwind schreit
Sacht umarmend rollt der Regen seine Spule.
Der weiße Himmel blendet wie verbleit.
Verrostet krümmt er sich im Liegestuhle.
Auf der Veranda. Neben ihm zwei Huren
Aus der Gesellschaft, syphilitisch eitel
Sie streichen zärtlich seinen Schuppenscheitel
Und sprechen von Chinin und Liegekuren.
In ihren grau verhängten Blicken duckt er
Der Morphiumteufel hinter Irismasche.
Er hüstelt, hustet, und zuweilen spuckt er
Den gelben Auswurf in die blaue Flasche.
Sie schenken ihm freundschaftlich Angebinde
Als er zum ersten Male in den Garten stieg,
Je eine Liebesnacht – als drüben in der Linde
er Kuckuck einmal rief (für alle drei) und schwieg.
Das letzte Werk Klabunds war der Roman „Borgia“ und er erschien noch zu seinen Lebzeiten. Kurt Wafner schreibt über diesen:
„… Das letzte Werk, an dem Klabund schrieb, war „Borgia“, der Roman der verbrecherischen Renaissance-Familie. Das Buch, das noch zu seinen Lebzeiten erschien, wurde in viele Sprachen übersetzt.
Der Stoff hatte den Dichter bereits seit langem beschäftigt, aber seine Krankheitsanfälle und Kuraufenthalte die Edition immer wieder verhindert. Anlässlich einer Neuausgabe seiner Romane schrieb die Presse am 3. November 1998:
„Mit List und stilistischer Tücke hat Klabund einen Weg zwischen zwei Erfolgsgenres der zwanziger Jahre gefunden, den weit ausladenden Roman auf der einen und die Biographie auf der anderen Seite. Die Kürze seines Romans und sein federnder Stil bedingen einander. Auf jede historiographische Anstrengung ist demonstrativ von vornherein verzichtet … Der Papst sitzt in einemSpiegelkabinett der Bosheit und der Lust, von dem aus keine Türen in die Realgeschichte führen …“
Im Portrait über Carola Neher habe ich geschrieben: „Das Leben einer berühmten Schauspielerin. Aber war es das wirklich und in dieser Darstellung?
Carola Neher hat immer dafür gesorgt, dass sie Gesprächsstoff war, die Medien sind ihr „gefällig“ gewesen – aber es gab die andere Carola Neher, die private und ich denke, sie hat diese „Privatperson“ ganz gut verborgen“.
Klar, sie lässt keinen Fototermin aus – heute würde man schreiben – sie kam an keinem „Rotlicht“ einer Kamera vorbei und kein Photograph nachte sich Sorgen, er bekomme kein Bild. Beispiele:
Zu Beginn der Theatersaison kletterte sie im Beisein der Presse auf den 168 Meter hohen Funkturm in Berlin – natürlich gibt es ein Bild.
In Wien 1927 lächelt sie auf einem Motorrad sitzend in die „Linsen“, hinten drauf als „nette Beigabe“ den Ehemann Klabund. So wie dieser den Sozius markiert, fuhren die Beiden keinen Meter.
Und im selben Jahr die „Neher“ mit einem Papagei auf der Titelseite der Zeitschrift „Die Bühne“.
Auch 1927 – Modeaufnahmen in Wien, man zeigt, was man hat, sicher zur Freude der Medienvertreter. Aber und ein dickes Aber ist angebracht, zum einen kostet ihr Lebensstil Geld und zum anderen waren die Ausgaben für die medizinische Versorgung ihres kranken Mannes sehr hoch.
Das Bild mit dem Geparden hatte ich schon, Josephine Baker fand es Jahre später so toll, dass eben auch sie mit einem Geparden …
Anfang 1927, Klabund sitzt mal wieder in Davos fest, Matthias Wegner schreibt:
„… Zu Beginn des Jahres 1927 findet sich Klabund wieder in der Pension Stolzenfels in Davos ein. Seine Frau begleitet ihn für einige Tage, reist dann jedoch wieder nach Berlin zurück, weil das Theater dort auf sie wartet. Klabund verbringt den Winter wieder mit Liegekuren, kurzen Spaziergängen und Schreiben. Erst im März kann er wieder nach Berlin zurückkehren, und wieder reißt ihn ihre Nähe in ein Wechselbad der Gefühle. „Denken Sie das Neueste“, schreibt er sogleich an die Davoser Pensionswirtin und mittlerweile enge Vertraute, Frau Poeschel, „meine Frau überraschte mich nach meiner Rückkehr … damit, dass sie Auto fahren gelernt hatte. Sie fährt jetzt jeden Tag wie irrsinnig in Berlin herum -natürlich im tollsten Verkehr, Friedrichstraße, Alexander-, Potsdamer Platz. Sie will sich ein Auto kaufen und damit nach Wien fahren!
Sicher wird sie mich einmal in einer Eifersuchtsszene absichtlich gegen einen Baum fahren. Mein Leben ruht künftig wirklich ausschließlich in „Gottes Hand.“ Es ist natürlich nicht irgendein Auto, das sich die kapriziöse Dame ausgesucht hat: „Nach ihrem Grundsatz: vom besten und teuersten hat sie sich einen Mercedeswagen ausgesucht, soviel ich weiß. (Ich kenne den Wagen noch nicht. Erst hatte sie sich für einen Steyr entschieden).“
Sprecht für den armen Kaspar ein Gebet!
Priez pour le pauvre Gaspard!
Herzlichen Gruß an Sie, Ihren (…) Gatten e tutti quanti
Zeilen eines ängstlichen Ehemannes? Quatsch, es war der stolze Ehemann und er fügt hinzu: „Das nächste mal werden wir also vermutlich im Auto in Davos anrücken. (Was Wassermann kann, können wir auch.)“
„Auch ihre Flirts haben wohl weit weniger gewogen, als es ihr ihre Verehrer nachgesagt haben“, so Matthias Wegner.
Und weiter:
„… Billy Wilder, damals angehender Drehbuchautor und Journalist in Berlin, erzählt in seinen von Hellmuth Karasek aufgezeichneten Erinnerungen von seinen Erlebnissen als „Eintänzer“ im „Eden“ in der Budapester Straße und erwähnt dabei auch, dass er mit „der großen Schauspielerin Carola Neher … gegen Entgelt getanzt“ habe.
Bei ihrer meist betörenden Wirkung auf die Männerwelt kann man freilich kaum glauben, dass sie es nötig gehabt haben sollte, ihre Tänzer zu bezahlen – zumal Wilder berichtet (und mit einem Brief Klabunds auch belegt), dass er mit ihrem Ehemann befreundet gewesen ist. Die beiden hatten sich im „Romanischen Cafe“ kennengelernt, und Klabund hatte Wilder geraten, sich für seine Tätigkeit als Eintänzer ein Zeugnis ausstellen zu lassen.
Eigentlich wollte Wilder nur eine Reportage für seine Zeitung verfassen. Wie dem auch sei – da Carola alles andere als ein Kind von Traurigkeit war, haben sich die beiden wohl einfach beim gemeinsamen Tanz miteinander amüsiert. Auch wenn sie sich nach außen hin den Männern zu unterwerfen vorgab – ihre Souveränität und Freiheit hat sie unter allen Umständen verteidigt. Dabei half ihr übrigens auch die veränderte Rolle der Frau in den zwanziger Jahren. Mit Bubikopf und androgyner Kleidung war inzwischen ein neuer Frauentypus modern geworden, der auf dem Berliner Parkett mit selbstbewusster Dominanz auf sich aufmerksam machte und so gar nichts mehr mit dem Frauenklischee der Vorkriegszeit zu tun haben wollte. Bert Brecht insbesondere konnte von Carola Nehers Drang nach Selbständigkeit ein Lied singen. Zu keinem Zeitpunkt hat sie sich in die Reihe seiner ergebenen Verehrerinnen und Mitarbeiterinnen eingliedern lassen. Schließlich hatte sie ja auch von Kindesbeinen an lernen müssen, sich zu wehren, ihren Weg ohne fremde Hilfe alleine zu gehen.“
Dem könnte ich noch hinzufügen … und schließlich heiratete sie Klabund und nicht Bert Brecht.
Eine übertriebene Eitelkeit in Bezug auf ihre Figur? Sie treibt Sport „um schlank zu sein. Ich habe nämlich 10 Pfund zugenommen und bin eine „ausgesprochen dicke Nudel geworden“.
Matthias Wegner:
„… Für Figur und Fitness hat die disziplinierte Schauspielerin schon in Berlin viel getan. Bei einem Türken, der eine Boxschule leitet, hat sie sich mit vielen prominenten Kollegen regelmäßig zum Training getroffen. Das Bild, das sie mit ihm bei einem Boxkampf zeigt, dürfte für Fotografen gestellt sein – Carola Neher versteht es, für Medienwirksamkeit und Publicity zu sorgen —, aber in der Boxschule in der Passauer Straße übt man sich ja auch im Seilspringen und der Gymnastik. Leinwandstars wie Marlene Dietrich oder Vicki Baum gehen dort ein und aus. Hinterher trifft man sich im berühmten Theaterrestaurant „Schwanecke“ mit Schriftstellern und Kritikern, Malern und Mäzenen. Das Künstlerleben kocht in dieser Stadt, und Carola, die nun endlich auch zu den ganz Großen gehört, will immer mitten im Gewühl stehen. Die Bande zu Bert Brecht werden bei solchen Gelegenheiten wieder enger geknüpft, er steckt voller ansteckender Pläne – und berauscht die umschwärmte Schöne mit seiner verführerischen Brutalität, die Klabund so sehr stört.“
Dazu passt dann das von Carola Neher geschriebene Gedicht vom August 1927
Sport
Ich liebe den Sport
Tous les sports d’ete et d’hiver
Eishockey
Eiscremsoda
Bob mit Bobby
Germans
Playing Golf in Germany Und Polo in Brioni!
Ich ritt in Baden-Baden
Um fünf Uhr früh die Oos entlang
Ich fuhr einen kleinen Steyrwagen
In Wien zuschanden
Ich segelte auf dem Wannsee
Schwamm am Lido
Und bin sogar (wenn auch widerstrebend) Den Watzmann hinaufgeklettert.
Ich kann Spagat
Rad fahren
Rad schlagen,
Ich lauf gern Eis
Aber noch lieber: Gefahren
Ich flog
Aus meinem ersten Engagement
Und mit dem Wasserflugzeug
Von Triest nach Venedig.
Motorrad rasselte ich den Feldberg hinunter
An einer scharfen Kurve
War es beinah schief gegangen
Ich tanz
Black and White bottom
Und manchem auf der Nase herum
Ich spiele
Klavier
Poker
Wasserball
Erdball
Und Theater.
Ich habe etliche Herzen
Knock-outgeschlagen.
Ski-heil!
Und um die Klischees komplett zu machen: Sie verkehrte im Haus des Außenministers Stresemann und ließ sich vom preußischen Kronprinzen Wilhelm zu Galadiners ins Schloss Cecilienhof einladen.
War sie deswegen ein verwöhnter Star, gedankenlos in jede Fotolinse lächelnd und am Morgen die Zeitungen durchsuchend nach Bildern und Zeilen über sie?
Und die Heirat mit Klabund? Kalkül – oder? …
Gründe gab es genug, aber wie den Briefen von Carola Neher zu entnehmen ist, sie liebte nicht den bekannten Dichter sondern Alfred (Fredi) Georg Hermann Henschke.
Tita Gaehme beschreibt es ganz einfach:
„… Bei aller Leichtigkeit und Lust am oberflächlichen Flanieren bekam sie früh eine Ahnung vom Schrecklichen. Sie liebte einen Todkranken unter der Gefahr der Ansteckung und heiratete ihn gegen alle Warnungen, über die sie lachte: „Und wenn ich in zwei Jahren tot bin, ich heirate ihn doch.“
„Vielleicht war es auch die ihr wie ihm wesentliche innere Unruhe gewesen, die sie reizte, ihn zu halten. Außerdem verband beide die Unruhe zum Wort“, so Guido von Kaulla.
In einem Interview, abgedruckt in der Abendausgabe des Berliner Börsen-Couriers vom 3. September 1927 sagt sie – und das drückt sicher ihre Einstellung richtig aus:
„… Es gibt keine schauspielerische Größe ohne menschliche Größe. Keinen Theaterraum ohne Tiefe. Keinen Vordergrund auf der Bühne ohne Hintergrund. Was von der Szene sofort auf das Publikum überspringt, ist der Funke der Persönlichkeit. Die großen Schauspieler sind Persönlichkeiten. Sie bedeuten an sich und in sich etwas – aber ihre Bedeutung wird ins Riesenhafte gesteigert durch das Medium der Rolle, deren sie sich bedienen, um sich vollkommen darzustellen, um vollkommen zu sein.
Private Wirkungen von der Rampe herunter gibt es gar nicht. Eine Frau, die auf der Bühne schön wirkt, ist schon etwas. Sie kann sogar im Leben hässlich sein. Man nehme eine beliebig schöne Frau und lasse sie über die Bühne gehen. Sie wird über ihre eigenen Beine und Gedanken stolpern. Sie ist aus ihrem Element gekommen, ein Fisch auf dem Land. Aber wir Schauspielerinnen sind erst auf der Bühne in unserem Element – wir stolpern nur im Leben“
Und eine Geschichte muss natürlich noch erzählt werden, die sich nach ihrer Verurteilung in Moskau am 16, Juli 1936 ereignete.
Guido von Kaulla:
Vor zehn Tagen führte man Carola vor die gleiche „Kommission“ (…) Dann aber fragte der eine Offizier ganz unvermittelt: „Wollen Sie für uns arbeiten? Wollen Sie für den NKWD arbeiten? Russische Spionin werden?“ – „Nein, niemals! Wo denken Sie hin, ich komme aus dem Zuchthaus!“ lehnte sie erregt ab. „Bitte, beruhigen Sie sich, Bürgerin Neher! Vielleicht überlegen Sie sich’s doch noch einmal?“ Man führte sie hinaus in irgendeine unbekannte Abteilung der Butirka und sperrte sie in eine Einzelzelle, in der die Zentralheizung abgestellt war.
Sie erhielt kein Essen, keine Matratze, keine Decke. Nach drei Tagen heizte man, brachte gute Speisen und reichte ihr ein Daunenkissen herein. So ging es bis zum zehnten Tag. Da wurde sie wieder vor die beiden NKWD-Offiziere geführt, die die gleiche Frage wiederholten. Carola lehnte ab: „Ich eigne mich nicht für solche Tätigkeit.“
Carola Neher war klar, was diese Ablehnung bedeutete: „Für mich ist alles verloren. Nachdem ich dieses Angebot abgeschlagen habe, werden sie mich nie mehr herauslassen, ganz bestimmt nicht ins Ausland schicken.“
Sie sollte recht behalten.
Wenn ich nach diesem Kapitel „vom Berg“ herabsteige und damit Davos verlasse, ist hoffentlich klar geworden, dass ich mit den zahlreichen Briefen – die u.a. im Staatsarchiv Graubünden aufbewahrt werden – eine andere Carola Neher darstellen wollte.
Carola Neher ist eine der besten Schauspielerinnen der Weimarer Republik gewesen – und Carola Neher war eben auch ….Katharina Karolina Neher!
Alfred (Fredi) Georg Hermann Henschke – Der „Politiker“?
Und eine Antwort ist eine Notiz über sich selbst, die Klabund 1916 in einem Verlagsprospekt gibt: „Er ist ein Träumer der Tat und ein Revolutionär der Seele.“
Wie nähert man sich einem Verwandten, wenn man seine „politischen Ansichten“ ergründen will? Denn es ist sicher aufgefallen, meine „Bewunderung“ für Fredi beruht darauf, dass mir sein Wandel vom Befürworter dieses unsäglichen Krieges zu einem konsequenten Gegner besonders wichtig ist und seine „Menschenfreundlichkeit“.
Klabund hat eine ganze Menge hinterlassen, aus dem ich eine „Gesinnung“ oder eine politische Meinung ablesen kann. Und natürlich hat auch ihn die Herkunft und der so genannte „Zeitgeist“ geprägt. Also fange ich an bei dem „jungen Henschke“ an, seinem Elternhaus und der Stadt, aus dem er kam.
Aber einen Satz voraus: Im Gegensatz zu Gottfried Benn und anderen hat Fredi immer nur positiv über das Elternhaus und Crossen geschrieben, hauptsächlich der Vater hat also an den Sohn viel von seiner liberalen Einstellung weitegegeben, oder besser geschrieben, an die Söhne.
Crossen war zur damaligen Zeit eine Garnisonsstadt – eine Beamten- und Handwerkerstadt und ab 1893 bis zum altershalben Ausscheiden des Vaters aus sämtlichen Ämtern 1933 sozusagen „Henschke-Stadt“. Den Einfluss des Apothekers Dr. Henschke habe ich schon beschrieben, aber er hatte eine maßgebliche Reihe gleichgesinnter und die bildeten „bürgerliche“ und liberale Wählergruppen, denen Antisemitismus fremd war. Einzige Partei in der Stadt war die SPD und diese verfügte über einen Stimmenanteil zwischen 15% und 25%.
Und auch die evangelische Kirche spielte eine maßgebliche Rolle in Crossen, so wurde nach der Gründung der beiden Glaubensrichtungen – „bekennende Kirche“ und „Deutsche Christen“ in Crossen trotz heftigem Widerstand die Stellungnahme der „Bekennenden“ in der Stadt verlesen.
Niemand in der Familie war Mitglied einer Partei und auch Klabund sympathisierte zwar mit den Linken in der Weimarer Republik, aber auch er trat nie in eine Partei ein – das Erbe des Vaters also?
Aber es gab sehr wohl Überlegungen von Fredi, sich einer Partei anzuschließen. In einem Brief an Max Heberle schreibt er am 12. März 1920:
„…Lieber Vater,
Ihr macht Euch übrigens fesch heraus, Ihr Passauer: alle Achtung: Handgranaten, Bomben, Gummiknüppel: das sind doch kein leerer Wahn. Was in den letzten 14 Tagen allein die entfesselte Soldateska geleistet hat: ist unglaublich. Die Reaktion marschiert nicht: sondern sie ist da. Und bis Ungarn sind nur noch ein paar Schritte.
Die Ereignisse machen mich recht nach¬denklich, und ich gehe mit mir schwanger, ob ich nicht doch, trotz aller prinzipiellen Unterschiede, der USPD oder der KPD beitreten soll: nur um gegen die Reaktion in Reih und Glied zu stehn. (…) – Gestern las ich mit großem Erfolg im Lessingbund Braunschweig. Seid beide umarmt von Euerem Fred“
Auf der Seite der Stadt Braunschweig ist zu lesen:
„…Der Lessingbund entstand mitten im Ersten Weltkrieg aus einer Arbeitsgemeinschaft zur Förderung des geistigen Lebens in Braunschweig. Initiator war der 25-jährige Dr. Hermann Grußendorf, Journalist und Regisseur am Hoftheater.
Um eine Brücke zwischen Tradition und Moderne zu schlagen, veranstaltete der Lessingbund zahlreiche Dichterlesungen, z. B. von Carl Hauptmann und Heinrich Mann, ferner Kammermusik-Konzerte mit klassischen und zeitgenössischen Werken, Aufführungen von August Strindbergs Drama Scheiterhaufen, Vorträge und Ausstellungen mit Werken von Götz von Seckendorff und deutschen Spätimpressionisten, die sich in Paris kennengelernt hatten. Die Reaktionen im Braunschweiger Publikum und in der Presse waren heftig! Sie spiegeln die politische Entwicklung im Krieg, in der Revolution und im Freistaat.“
Und eine dieser Parteien hat er auch gewählt. In einem Brief an Irene Heberle schreibt er:
„… Liebe Mutter,
ich wollte Euch heut antelefonieren, da hieß es: Passau gestört! Ihr werdet doch nicht: entweder eine Rätemonarchie oder eine Wittelsbacherrepublik „ausgerufen“ haben! Ich komme Sonntag mit dem Schnellzug Nürnberg-Passau (ich weiß nicht, wann er geht). Ich lese noch am Samstag hier. Ich fühle mich sehr wohl. (…)
Zu meinem fürchterlichen Entsetzen fällt mir eben ein, dass ich die Hauptsache der ganzen Reise vergessen habe: um dessentwillen ich eigentlich fuhr: ich vergaß – die Nationalversammlungsmarken mitzubringen … ich weiß nicht, ob ich dem Vater unter die Augen treten darf… Übrigens bitte ich den Vater, dass er mich in die Wählerlisten einzeichnen lässt, damit ich wählen kann. (USP oder KPD: der Mord an Paasche, diese bestialische Scheußlichkeit hat mich wieder ganz in Rage gebracht.) Dass Ihr mit diesen Hunden ein Bündnis abgeschlossen habt in Bayern, Ihr Demokraten mit diesen autokratischen Metzgern, das las ich gestern und glaubte es kaum. Die Demokratische Partei hat mit ihrem Anschluss an die Mittelpartei ihr Daseinsrecht verwirkt. Sie soll und muss krepieren.“
Am 6. Juni 1920 fanden Wahlen zum Reichstag statt, der dann an die Stelle der Nationalversammlung trat, daher musste Klabund in eine Wählerliste eingetragen sein.
Aus Wikipedia:
„… Hans Paasche (geboren am 3. April 1881 in Rostock, gestorben am 21. Mai 1920 auf Gut Waldfrieden im Netzekreis, Verwaltungsbezirk Grenzmark Westpreußen-Posen), war ein deutscher Marineoffizier, Pazifist und Schriftsteller. (…)
1918 gehörte er für einige Wochen dem Vollzugsrat der Arbeiter- und Soldatenräte in Berlin an. Im Mai 1920 wurde er, erst 39 Jahre alt, staatsanwaltschaftlich gedeckt als „Zusammentreffen nicht voraussehbarer unglücklicher Umstände“, von Angehörigen des „Reichswehr-Schutzregimentes“ 4 aus Deutsch Krone auf seinem abgelegenen Gut straflos ermordet.“
Hans Paasche gehörte zeitweise auch zum Umfeld von Gusto Gräser – ein Portrait ist unter “ABC…XYZ“ zu finden.
Ab dem Frühjahr 1911 erscheinen Klabunds erste Veröffentlichungen, z.B. die schon erwähnten Gedichte in der Zeitschrift „Pan“ – Herausgeber Alfred Kerr – wider die Spießigkeit des Kaiserreiches.
Aber bereits in München ist für Klabund die Richtung klar, in einem Brief an Walter Heinrich schreibt er am 25. Juni 1911:
„…Zum zweiten: Hoffentlich scheint Ihnen diese Bitte nicht aufdringlich: Sie gehen doch jetzt nach München. Könnten Sie nicht beim „Simpl“, da Sie doch sicher Beziehungen haben, mal antippen, ob er nicht eine oder die andere Novelle von mir bringen kann? Natürlich nur, wenn es Ihnen nicht contre cceur geht und Sie meine Novellen für anständig genug halten. — Der „Simpl“ ist doch beinah der einzige Weg für mich, in die Literatur zu gelangen. Vielleicht werden Sie diese meine „Eile“, in die Literatur zu gelangen, missbilligen oder falsch deuten. Soll er doch erst ausreifen! Wozu die Hast — oder dieser Ehrgeiz, sich gedruckt zu sehen! So ganz gewöhnlicher Ehrgeiz ist es doch nicht (auf meinen Namen kommt es mir nicht an, meinetwegen kann sonst was drunter stehn) — ich will nur eine Garantie haben, einen Rückhalt an mir selbst, wenn ich vor den andern stehe — da ich nicht voraussehe, wohin mein Schiff die nächsten Jahre schaukelt. Das mit dem Oberlehrer oder Doktor: wenn ich mit meinem Vater oder mit Ihnen darüber rede, dann ist es mir selbst sonnenklar; Du musst irgendetwas machen, auf den Kopf gefallen bist Du doch nicht, sei nicht so schlapp. Und vor mir selbst, allein, (ich bin 99 % meiner Zeit ganz allein, das tut auch manches dazu!) komm‘ ich nicht ins Reine: Du bist eben doch auf den Kopf gefallen — dazu, sag ich mir oft genug (ist das nur bloße Faulheit?) — Deshalb will ich auch den „Peter“ bis zum Winter fertig machen (ist er dann nichts, wird er nie was.) Ich habe Sie noch nie gefragt; heute möcht ich’s: bitte, glauben Sie, dass ich ein anständiger literarischer Charakter bin oder werde?“
Während seiner ersten Münchner Zeit lernt Klabund Erich Mühsam kennen, an Walter Heinrich schreibt er am 30. Dezember 1912:
„… ein gutes neues Jahr! Ich bin in München geblieben und diesmal gar nicht nach Hause gefahren. Um nicht in schwierige Dialoge verwickelt zu werden und auch, weil ich arbeiten wollte. (…)
— Hier verkehre ich jetzt in den „ersten literarischen Kreisen“. Den Weihnachtsabend habe ich mit Mühsam zusammen bei Halbe verbracht. Halbe ist ein entzückender Mensch — und erzählen kann er, besser als er schreibt — aber seine Tochter ist noch entzückender. Er verehrte mir, ich empfand das wohltuend unliterarisch, da ich schon die dicke Tat des Dietrich Stobäus über meinem Haupte schweben sah, eine Gänseleberpastete und eine Flasche Danziger Gold.—
Ich verdiene jetzt rasende Gelder mit meinen Versen! den November allein 70 Mark! Aber ich komm‘ doch nicht aus. Und kein Schwein will eine Novelle. Ich finde das sehr merkwürdig“.
(Max Halbe, geboren am 4. Oktober 1865 in Güttland (heute poln.: Koźliny) bei Danzig; gestorben am 30. November 1944 in Neuötting, war ein deutscher Schriftsteller. Er gehörte zu den wichtigen Exponenten des deutschen Naturalismus.)
28.09.1913
Der Embryot
Ein junger Mann und Patriot
Verdingte sich als Embryot.
Dies ist ein köstlicher Beruf,
den er erst ganz aus sich erschuf.
Da ja die Ziffer der Geburt
Nach der Statistik rückwärts schnurrt:
Um jeder Weiterung zu steuern,
Ließ er als Embryo sich heuern.
Wie manche Frau, sonst kinderlos,
Stieß ihn entzückt aus ihrem Schoß!
Als Fritz, als Klaus, als Franz, als Hans
Steht er im Buch des Standesamts.
Die Wirkung dieses Jünglings war
In höchstem Maße wunderbar.
Es zeigen der Statistik Blätter
Ihn als des Vaterlandes Retter.
Die Zeit bis zum ersten Weltkrieg? Provokation, Überzeugung? Bestimmt beides, denn die Studienzeit in München und sein Umgang in München und Berlin haben ihn – den „Crossener“ – „aufmüpfiger“ gemacht. „Der Muff unter den Talaren“ der 68, er ist vergleichbar.
Das Jahr 1914, Ausbruch eines erneuten Krieges, kurz sollte er werden, bis Weihnachten waren alle wieder daheim und der „Erzfeind“ erneut geschlagen.
Und Klabund? Er will unbedingt dabei sein und als er vom Tode des Neffen von Walter Heinrich erfährt, lässt ihn das nur kurz innehalten, genauso, wie die freiwillige Meldung seines Bruders Hans, der verwundet wird.
Und endlich das Jahr 1917 – im Februar reist er mit Brunhilde Heberle nach Monti und endlich kommt die „Wandlung“ – auch schon beschrieben.
Dietrich Nummert schreibt dazu:
„… Seit diesem Wandel flossen Verse gegen Militarismus und Nationalismus aus seiner Feder: „Vater ist auch dabei“, „Regenschirmparaden“. Und es waren bös treffende Verse, etwa im „Lied der Zeitfreiwilligen“:
„Laßt die Maschinengewehre streichen!
Ins Kabuff.
Immer feste druff.
Unsere Anatomie braucht Leichen.“ –
Klabund sprach die schmerzhaft sich formenden Erkenntnisse unzähliger Deutscher aus, gab ihnen Stimme.“
Am 3. Juni 1917 erscheint in der „Neuen Züricher Zeitung“ (NZZ) sein Brief an den deutschen Kaiser mit der Aufforderung, zurück zu treten.
Etwas naiv, dieser Brief? Sicher und bereits am 11. Juni erscheint die Antwort eines „Auslanddeutschen in derselben Zeitung:
„… Ihr Brief stammt, das zeigt der Ton, sicher aus dem guten Willen heraus, nicht nur dem deutschen Volk, sondern auch der Menschheit zu helfen, und ich kann Ihre Auffassung, dass auf dem Gebiet unserer inneren Politik manches geändert werden müsse, im Prinzip durchaus teilen. (…) Aber hören wir eine amerikanische Stimme selbst, was sie zu sagen hat, nämlich die „World“. (…) Also, Herr Klabund,. Sie sehen, eine „Abtretung“ von Gebieten fordert man in Wirklichkeit, nicht die Einführung einer Reform im Innern! (…) Und Sie schreiben: „dass alle Machtideen Schiffbruch erlitten hätten.“ „Macht“ ist eben kein „tönerner Götze“, sonst hätten die Westmächte es nicht fertigbringen können, Russland nochmal in den Krieg zu treiben, trotz der Erklärung des offiziellen Deutschlands, dass die neue Regierung in Russland nichts von uns zu befürchten habe.“
Einen Defätisten nennen ihn die „nationalen Kreise“, die Angriffe anlässlich eines Besuches in Passau durch die dortige Presse habe ich beschrieben und auch die Reaktionen aus Crossen.
Guido von Kaulla schreibt:
„… Klabund teilt bald Irene mit: er bedauere nicht, den Brief geschrieben, aber – ihn jetzt veröffentlicht zu haben; er sehe, dass der Brief falsch oder gar nicht wirke. Aber er wirke in nächster Nähe.
In einer Zeitungsbesprechung von „Kriegsbüchern“ (1917) schwärmt Klabund u.a.: „Ludwig Rubiner lässt sein „Himmlisches Licht“ (Kurt Wolff Verlag) über Europa leuch¬ten. „Rubiner, nicht gesonnen, sich den publizistischen Wind aus den Segeln nehmen zu lassen, lässt im Berner „Zeitecho“ ein recht irdisches Licht über dem unerwünschten neuen Revolutionskollegen leuchten: „Dichter Klabund druckt zu Kriegsbe¬ginn: (…) Italiens Kriegsbeginn: (…) Russlands Revolution: Klabund druckt in einer Schweizer Zeitung einen Brief an den deutschen Kaiser; demokratisch – „Schattenkaiser, bitte Reformen!“ Ob Klabund gleichzeitig in deutschen Blättern die Russen verhöhnt, steht nicht fest. (…) Wir wissen, dass die Konjunk¬turbuben nur auf die nächste Gelegenheit lauern, sich beliebt zu machen.“
In einem Brief an Rubiner beweist ihm Klabund, dass alle Unterstellungen des langen Briefes nicht den Tat¬sachen entsprechen; und er entgegnet u. a., dass es auch Chau¬vinisten der Gesinnung gäbe: Ludwig Rubiner sei einer von ihnen. Wenn er (Klabund) gefehlt habe, so liege seine Schuld in einer früheren schwächlichen Gefühlspolitik dem Kriege ge¬genüber. Er habe resigniert – sei aber niemals für den Krieg als Krieg eingetreten. Er (Rubiner) möge den unerträglichen gei¬stigen Hochmut ablegen, als hätten er und seinesgleichen die Gesinnung gepachtet; als sei es Konjunkturphilosophie, sich im Laufe von drei Jahren zu entwickeln und vielleicht gar ähnlicher Meinung zu werden wie er. Rubiner schlägt noch einmal zu: „Ihr wollt es nicht gewesen sein, ihr Geistesmetzger vom August 1914. (…): auch jetzt noch bangt ihr um das Geschäft. Aber (…) die Gemeinschaft der Zukunft wird (…) keine Kletteraffen mehr brauchen.“
Trotz alledem, meint Kurt Wafner „Es gehörte schon eine Portion Mut dazu, in der Zeit der Völkerverhetzung zum Frieden, zur Menschheitsverbrüderung aufzurufen, selbst wenn diese Töne ihr Ziel verfehlten“.
Und weiter: „Unwillen befiel Klabund, weil er sich hat vom Kriegsgeschrei betören lassen. Und Scham. Davon zeugt die im Juni 1917 verfasste „Bußpredigt“. Sie macht seine Wandlung besonders augenfällig. Darin heißt es:
„Wir schwiegen vor den Krieglingen aller Länder, die es heute noch gibt; ihnen kann man nicht ins Gewissen reden, denn sie haben keines. Aber ihr, die ihr, wie ich, längst erweckt seid – erwacht von einem üblen Traum, der wie ein Alp euch drückte – bekennt, aus falscher Scham bisher nur schweigend, dass dieser Traum ein Trugbild war … Schwört ab dem Taumel 1914! … Ein rasender Protest gegen den kriegerischen Gedanken und das kriegerische System in der ganzen Welt tut Not.“
Klabunds Vertrauenswürdigkeit war in der Schweizer Szene selbst nicht ungeteilt, insbesondere in den Kreisen der Züricher Dadaisten. Beeinflussen wird das Klabund wenig, in einem Brief an Walter Heinrich schreibt er aus Basel am 17. Dezember 1917:
„… Lieber Herr Heinrich, ich lebe zur Zeit in Basel. Mein äußerst altmodisch eingerichtetes kleines Zimmer geht auf den Rhein hinaus. Den ganzen Tag und die ganze Nacht don¬nern die Kanonen vom Elsass. Manchmal klirren die Fenster und man meint in der Front zu stehen. Ich friere den ganzen Tag. Das macht die verdammte Kohlennot. Nicht desto weniger habe ich die letzte Zeit in Locarno — nach Weihnachten kehre ich wie¬der in den Tessin zurück — und hier in Basel viel und vieles getan. Platonische Dialoge über Politik und Dichtung skizziert. (Ich bin durchaus nicht für ihre Identität: wie die allerjüngste Mode es dartun will). Ein lyrisches Portrait des Francois Villon gezeichnet. Einen „Nero“ (in Prosa) begonnen. Viele dramatische Skizzen und Experimente, davon ausgeführt: „Silvius oder der Mondsüchtige“:, ein Schauspiel (in 16 Bildern). Fast fertig: „Der Rebell“, eine chinesische Komödie. Tacitus und Suetonius, Biographie der römischen Kaiser, haben mich stark beschäftigt. Sie haben mich in meiner pessimistischen Anschau¬ung vom Ausgang dieses Krieges nur bekräftigt. Wenn auf dem Unterbau der freien römischen Re¬publik: dieses grauenhaft groteske Gebäude der römischen Kaiserzeit möglich war: diese dunkelste und ungeklärteste Episode der menschlichen Geschichte — dunkel trotz reichhaltigster Quellen — so ist eben in dieser Welt alles möglich. Aller Fortschritt erscheint vor solchem Hintergründe als phrasenhafter Bluff. Die These: Der Mensch ist gut — wird fast zur Blasphemie. —
Die Entente, soviel scheint mir sicher, krepiert. Ganz folgerichtigerweise: an einem Denkfehler. Die Idee Wilsons vorm Kongress im Winter (Januar) 1917 war der Höhepunkt der Ententepolitik. Von da ab geht’s, zuerst nicht sichtbar, abwärts. Der aus militärischen Gründen beinah vollzogene Verrat an der russischen Revolution (Kornilow!), Stockholm, die Hetze Clemenceaus gegen Caillaux — von dem ich Ihnen, falls ich in Deutschland wäre, einiges erzählen könnte — die Rede Lord Georges, Asquiths, die Föhnstimmung in der italienischen Kammer: alle beweisen sie, dass die Entente vor dem Umsturz steht: aus keinem andern Grunde, als weil sie es nicht vermocht hat, ihre Ideen in Tatsachen umzusetzen. Das Komische ist jetzt, dass die Zentralmächte die ursprünglichen Ideen der Entente — gegen die Entente zu verteidigen scheinen. (Im Übrigen wissen Sie meine Meinung über das Dynastische: die graue Wolke vor der deutschen Sonne.)“
Und am 22. Januar ebenfalls an Heinrich:
„… Lieber Herr Heinrich, ich freue mich immer, wenn Sie schreiben: Dank für Ihre Zeilen. Ich bin den letzten Monat von den fürchterlichsten Aufregungen heimgesucht worden, und Sie können sich denken (oder nicht denken) in was für Stimmung ich zuweilen bin. Es brauchte ein Buch, Ihnen meine Erlebnisse etwa während der Kriegszeit in der Schweiz zu erzählen. Sollte ich einmal dazu kommen, meine Memoiren zu schreiben, so wird das sicher mein interessantestes Werk werden — ebenso interessant für den Leser – wie aufreibend für den Autor, da er sie „erlebte“. Ich habe Wind gesät und Sturm geerntet, der mich aber nicht fortfegen soll. Ich stehe fest auf meinen zwei Beinen – Davos, Zürich, Locarno, Lugano, Basel — haben mich kennen (wenn auch nicht erkennen) lernen. Eine Wolke von Hass schwebt immer über meinem Haupte. Ich würde mein Privatleben nicht halb so wichtig nehmen — zwänge mich nicht die Außenwelt dazu. In Davos hat man es so weit gebracht, dass wenig fehlte, und man hätte eine Protestversammlung gegen mein Dasein einberufen. Es gibt sowieso viele Pensionen in Davos, die mich nicht mehr aufnehmen. Wenn Sie sich meiner erinnern, so wird Ihnen schwerlich ein Teufelskopf mit Hörnern aufsteigen, als welchen man mich aber sieht. Ruinierte Familien, verratene Freunde, ausgelöschte Mädchen, in Brand gesteckte Häuser — bezeichnen meinen Weg (on dit). Neugierig sehe ich hin und wieder in den Spiegel, aber ich entdecke nichts von alledem, nur ein leidendes Kindergesicht.
„Vilon“, „Die Nachtwandler“, „Eulenspiegel“ liegen jetzt bei Reiß. Über letzteren würde ich gern Ihre Ansicht hören. Eine technische Frage: Sie halten es doch für völlig einwandfrei, wenn ich Legenden und Anekdoten aus dem Volk in einem solchen Volksbuch derartig verwende, wie ich es getan habe? Ich habe gewichtige Anwälte: Goethe (Brief an Kestner über Clavigo) und Shakespeare (Caesar usw.) — die es nicht anders hielten, von Boccaccio gar nicht zu re¬den. Wie denken Sie? Der „Eulenspiegel“ ist mein Buch: trotz dieser Entlehnungen. (Ich habe auch aus meinen Crossener Geschichten dreimal Anleihen ge¬macht.) Übrigens bin ich auch in Literatenkreisen, z.B. Zürichs, der bestgehasste Mann. Ich will nicht kolportieren, was die (ein Wort unleserlich) Gesinnungsapostel, dieses Gesindel, über mich ver¬breiten. Der Bogen ist zu Ende. Und der Brief mag mit allen herzlichen Wünschen an Sie ausklingen. Immer Ihr Klabund.
Die deutschen Militärdiktatoren v. Hindenburg und Ludendorff rufen im Frühjahr 1917 den „totalen U-Bootkrieg“ aus und am 6. April 1917 erklärten die USA dem Deutschen Reich den Krieg, das wird ab Frühsommer 1918 an der Westfront die militärische Kriegsentscheidung herbeiführen.
Über das Kriegsende schreibt Wikipedia:
„… Russlands Ausscheiden aus dem Kriegsgeschehen nach dem Separatfrieden mit den Bolschewiki ermöglichte zwar die letztlich erfolglose Deutsche Frühjahrsoffensive 1918. Die Versorgungsmängel durch die britische Seeblockade, der Zusammenbruch der Verbündeten und die Entwicklung an der Westfront während der alliierten Hunderttageoffensive führten jedoch zur Einschätzung der deutschen Militärführung, dass die deutsche Front unhaltbar geworden war. Am 29. September 1918 informierte die Oberste Heeresleitung entgegen allen bisherigen Verlautbarungen den Deutschen Kaiser und die Regierung über die aussichtslose militärische Lage des Heeres und forderte durch Erich Ludendorff ultimativ die Aufnahme von Waffenstillstandsverhandlungen. Am 4./5. Oktober 1918 ersuchte Reichskanzler Max von Baden die Alliierten um einen Waffenstillstand.“
Endlich, am 11. November 1918 endet dieser unmenschliche und völlig sinnlose Krieg. Klabund ist nach seiner Hochzeit mit Brunhilde Heberle in Monti und Davos und diese kurze Ehe – die mit dem Tod der Ehefrau in Locarno am 30.10.1918 und dem der Tochter am 17.02.1919 endet – habe ich bereits beschrieben.
Er schreibt am 15. Oktober 1918 an Walter Heinrich:
„… Es geht uns nicht so gut, wie Sie anzunehmen scheinen. (…)
Meine Arbeit — ich hatte den Roman der proletarischen Revolution, in die Jahrhunderte zurückverlegt, zu schreiben begonnen — stockt natürlich. Der „Eulenspiegel“ ist inzwischen ausgedruckt. (Sie haben vielleicht schon ein Exemplar?) — Ich bin über die Wendung in Deutschland (welch eine Wendung* durch Gottes Fügung! — Sie kennen das alte Hohenzollernwort?) beglückt, wenngleich ich bisher nur Worte sehe. Aber erst Taten werden die neue Regierung legitimieren: Amnestie, Verfas¬sungsänderung, Neuwahl des Reichstages. Des Deut¬schen Moral hat in der Welt seit Brest jeden Kredit verloren. Sie erinnern sich meines offenen Briefes vom 3. Juni vergangenen Jahres? Ich habe Mal für Mal recht gehabt — und behalten. Aber damals siegte man ja fortwährend, und niemand ahnte die Katastrophe. Meine Thesen wurden verdächtigt, verhöhnt und verlacht.
Ich werde meine politischen Aufsätze sammeln in einem kleinen Buch! Ich hoffe, wir sehen uns im Frühling in Deutschland. Schönsten Gruß Ihr Klabund.“
In diese Zeit fällt der kaum bekannte und ebenfalls in der NZZ publizierte „Appell an Wilson“ vom 23. Oktober 1918, der am 25. Oktober in der NZZ erschien. Klabund forderte in diesem nun Gerechtigkeit gegen das deutsche Volk und den Verzicht auf extreme Bedingungen.
Appell an Wilson Von Klabund
Wilhelm II. ist seiner Zeit nicht gerecht geworden. Sie wird über ihn hinweg zu ihrem Ziele schreiten. Jetzt ist Wilsons Stunde gekommen. Die schwerste Verantwortung, die je auf einem Menschen lastete, ist heute auf seine Schultern gelegt. In seiner Hand liegt es, den Himmel auf die Hölle der Erde herabzurufen, die Menschen in Engel zu verwandeln, den ewigen Frieden als glückliche Gegenwart, glücklichste Zukunft zu beschwören. Er streiche von seiner Stirn die Wolken, die der europäische Kontinent schickt, sie zu verdunkeln und seinen Blick zu trüben. Das deutsche Volk ist aufgestanden, es ist im Begriff, seine klirrenden Ketten abzuwerfen, zum ersten Mal in neu errunge¬ner Freiheit die ewig jungen Glieder zu dehnen. Wilson wird seine ganze geistige und sittliche Kraft aufbieten müs¬sen, zu verhindern, dass man aufs neue es in Fesseln schlage, dass blinder Chauvinismus und taube Rachsucht seine besten Absichten zu Schimpf und Schanden machen. Er lasse ein irregeleitetes, aber edles Volk nicht büßen und entgelten, was eine skrupellose tyrannische Regierung an ihm und der Welt fehlte. Er entferne sich vom Standpunkt der Kapitula¬tion auf Gnade und Ungnade, die seine Note vom 15. Okto¬ber zu fordern scheint. Sie ist geeignet, ein stolzes unbesieg¬tes Volk (denn Völker sind nicht zu besiegen: nur Staaten, nur Regierungen) zum Verzweiflungskampf empor zu reißen, wenn es sieht, dass sein Gegner zwar alle Garantien fordert, die geringsten aber selber zu geben nicht gesonnen ist. Der Unterseebootkrieg soll unverzüglich eingestellt werden: als eine der Vorbedingungen des Waffenstillstandes: übernimmt aber England als Gegenverpflichtung die Einstellung der Hungerblockade? Das deutsche Volk soll die Waffen niederlegen und die offene, unbewehrte Brust einem fürchter¬lichen Feinde bieten, — der sich aber seinerseits zu einer Einstellung des Kampfes nicht verpflichtet hat und jederzeit die Hand zum Todesstoß erheben kann? Der tönerne Götze der deutschen Autokratie ist von seinem Sockel gestürzt, und keine Macht der Welt wird seine gänz¬liche Zertrümmerung mehr aufhalten. Noch ist das deut¬sche Volk erst halb erwacht, wie ein Kind, das sich den Schlaf aus den Wimpern reibt. Man gebe ihm Zeit zum völligen Erwachen: sobald es klar sehen wird, wird es unerbittliche Musterung unter den Schuldigen halten. Als Wilson dem deutschen Militarismus den Kampf ansagte, da forderte er Gewalt gegen ihn: Gewalt, Gewalt bis zum äußersten.
Der deutsche Militarismus liegt am Boden. Jetzt muss es heißen: Gerechtigkeit gegen das deutsche Volk, Gerechtig¬keit, Gerechtigkeit bis zum Äußersten! Nach beiden Seiten müssen Wilsons erhabene Prinzipien mit der gleichen Gerechtigkeit angewandt und verwirklicht werden – soll nicht Deutschland, soll nicht die Welt zugrunde gehen. Schon melden sich die Hyänen des Schlachtfeldes, und ihr heiseres Gebrüll erschüttert die Nacht.
Wilson besteht auf Volksabstimmung in Elsass-Lothringen und den von den Polen beanspruchten Provinzen des deut¬schen Reiches. Er lasse nicht zu, dass an Stelle einer polni¬schen eine deutsche Irredenta im Osten aufflammt, die nicht weniger an Kraft besitzen würde als jene. Ist es Wilson be¬kannt, dass in dem von den Polen beanspruchten Danzig ganze zwei Prozent Polen leben — gegen achtundneunzig Prozent Deutsche?
Wilsons innerpolitische Forderungen begegnen sich mit de¬nen der jungen deutschen Demokratie.
Der Feind der deutschen Demokratie ist der Entente Imperialismus. – Wird sie in Wilson den erhofften Bundesgenossen finden, der sie gegen die Exekution schützt, die die Clemeneisten wie gegen einen Verbrecher gegen das deutsche Volk in Szene setzen wollen?
Das deutsche Volk ist nicht besser und nicht schlechter als andere Völker.
Die Ablehnung eines weit entgegen kommenden Friedensangebotes, extreme Waffenstillstandsbedingungen werden zu nichts anderem führen als erst in Deutschland, danach in ganz Europa die proletarische Revolution zu entfachen. Und in der Tat: „würde das demokratische Bürgertum, das sich in Wilson am reinsten verkörpert, vor der heutigen Lage versagen, so wäre damit der offene Bankerott des bürgerlich- demokratischen Ideals erklärt“. Es hätte sich gegen die imperialistisch-kapitalistischen Anfechtungen machtlos und seine Unfähigkeit zur Realisierung seiner hohen Ideen bewiesen. Für die proletarische Demokratie wäre der Weg zur Welt frei. Zu welchem Ende: ob zu einem guten oder einem schlechten: dies bleibe dahingestellt.
Vom 21. April bis 21. Dezember 2018 veranstaltete der „Lebuser Heimatverein“ eine Ausstellung, der Titel: „Lebus vor 100 Jahren – Ende des Ersten Weltkrieges – Der Kriegsgegner Klabund und seine Wurzeln in Lebus“.
Auszüge der Vorankündigung:
„… Die Ausstellung informiert über das Leben in der Kleinstadt Lebus während des 1. Weltkrieges. Im Zentrum steht das Jahr 1918 mit seinen Umbrüchen und Turbulenzen.
Alfred Klabund (Alfred Georg Hermann Henschke), Enkel des Lebuser Apothekers Hermann Henschke wurde im Verlaufe des Ersten Weltkrieges ein konsequenter Gegner des Krieges. In einem offenen Brief an Kaiser Wilhelm II. forderte er seine Beendigung.
Viele Entwicklungen sah Klabund offenbar voraus. Im Oktober schrieb er einen offenen Brief an den amerikanischen Präsidenten Wilson, wo er einen ausgewogenen und gerechten Friedensschluss anmahnte. Leider ist im Versailler Vertrag das Gegenteil geschehen, ein Grund für den Erfolg der Nazis, deren Machtübernahme 1933 die Katastrophe des 20. Jahrhunderts komplett machte.
In dieser Ausstellung soll über das Leben und Wirken von Alfred Klabund berichtet werden und an die Zeit in Lebus vor 100 Jahren erinnern.“
„Klabund steht dem politischen Geschehen zweifelnd gegenüber. Noch sitzt er in der friedlichen Schweiz und ist auf Nachrichten angewiesen“, schreibt Matthias Wegner und weiter:
„… Er vermag sich von den Einzelheiten der deutschen Revolutionswirren kein genaues Bild zu machen, aber sein Herz schlägt ohne Ansehen ideologischer Standorte für die beteiligten Dichter. Seine Position gegenüber dem Sozialismus ist ebenso unbestimmt distanziert wie die gegenüber den liberalen Demokraten. Konkrete Politik jenseits von Moral und Gerechtigkeitssinn ist seine Sache nicht, und für die utopischen Parolen aus Moskau hat er wenig übrig. Später, am 7. Juni 1919, wird er an die nach Bamberg ausgewichene bayrische Regierung Hoffmann ein Telegramm schicken, das seine politische Naivität ebenso belegt wie seine lautere Menschlichkeit: „Keiner Partei zugehörig protestiere ich aus Gründen der Gerechtigkeit und Menschlichkeit empört gegen die Hinrichtung Levines“.
Über den KPD-Politiker Eugen Levine schreibt Wikipedia:
„… Eugen Leviné (geboren am 10. Mai 1883 in Sankt Petersburg, gestorben am 5. Juni 1919 in München) war ein Revolutionär und KPD-Politiker. Als solcher hatte er prägenden Einfluss auf die zweite Phase der Münchner Räterepublik im April 1919.
Eugen Leviné wurde 1883 in St. Petersburg als Sohn einer jüdischen Kaufmannsfamilie geboren. Nach dem frühen Tod des Vaters übersiedelte seine Mutter mit ihrem drei Jahre alten Sohn ins Deutsche Reich. Die Familie wohnte in Wiesbaden und Mannheim.
Während des Jura-Studiums ab 1903 in Heidelberg und 1904/05 in Berlin kam Leviné in Kontakt mit linken russischen Emigranten. Im September 1905 kehrte er zur revolutionären Agitation nach Russland zurück. Als Teilnehmer der russischen Revolution von 1905 wurde er dort 1906 und erneut 1908 verhaftet und schwer misshandelt.
1908 wurde Leviné von seiner Mutter freigekauft und konnte 1909 nach Deutschland zurückkehren. Er studierte Nationalökonomie und promovierte in Heidelberg mit einer Arbeit über „Typen und Etappen in der Entwicklung gewerkschaftlich organisierter Arbeiter“ zum Dr. phil. Noch 1909 wurde er Mitglied der SPD, 1913 badischer Staatsbürger. Er heiratete 1915 in Heidelberg die ebenfalls in Russland geborene Rosa Broido (1890–1979) und rettete sie damit aus der „Schutzhaft“, in die sie nach Kriegsbeginn als russische Staatsbürgerin genommen worden war. 1916 wurde ihr gemeinsamer Sohn geboren.
Während des Ersten Weltkriegs war Leviné als Dolmetscher in einem Kriegsgefangenenlager tätig und wurde anschließend zum Heer eingezogen, 1916 aber aus medizinischen Gründen wieder entlassen. Er schloss sich der USPD an und gehörte zu den Begründern des Spartakusbundes. Im Herbst 1918 reiste Leviné als Redner durch das Ruhrgebiet und wurde von Essener Arbeitern zum Reichsrätekongress delegiert. Ferner nahm er am Gründungsparteitag der KPD teil, auf dem er sich gegen eine Beteiligung an der Nationalversammlung aussprach. Anfang 1919 zählte er zum Führungspersonal der Partei.
Von der Berliner KPD-Zentrale wurde Leviné Mitte März 1919 nach München geschickt. Dort hatte sich nach dem Mord an Ministerpräsident Kurt Eisner die Stimmung radikalisiert, die Ausrufung einer Räterepublik stand bevor. Leviné sollte die Führung der Münchner KPD und die Redaktion der Parteizeitung „Münchner Rote Fahne“ übernehmen.
Im April 1919 wurde Leviné nach dem von Rotgardisten vereitelten, gegen die Räteregierung gerichteten Palmsonntagsputsch Anführer der zweiten, kommunistischen Münchner Räterepublik. Nach der blutigen Niederschlagung der Revolution in München am 2. Mai tauchte er zunächst unter, wurde aber am 13. Mai verhaftet und Anfang Juni in München vor Gericht gestellt. Aus seiner Verteidigungsrede vor Gericht stammt der bekannte Satz: „Wir Kommunisten sind alle Tote auf Urlaub.“ Am 3. Juni 1919 wurde er wegen Hochverrat zum Tode verurteilt und am folgenden Tag im Gefängnis Stadelheim erschossen.
Als Schlusswort nach Levinés Verurteilung ist der Satz überliefert: „Wir haben alle versucht, nach bestem Wissen und Gewissen unsere Pflicht zu tun gegen die Internationale, die kommunistische Weltrevolution.“
Außerhalb von Parteien zu agieren, sei seine Position – beschreibt Matthias Wegner so:
„…Seine Entschlossenheit, mit den Mitteln der Dichtung — und nur mit diesen — in die politischen Geschehnisse einzugreifen, hat neue Schubkraft erhalten. Dabei ist er alles andere als ein Egozentriker. Er ist an seiner Mitwelt geradezu brennend interessiert und beansprucht in der neuen Republik einen Platz unter den Dichtern, die mit der Welt von gestern gebrochen haben. Und er lässt sich „von nichts abbringen, was ich als richtig erkannt habe. Ich habe mich auch durch Not nicht von meinen Plänen ablenken lassen … ich war immer sehr sicher meiner selbst.“ Selbstmitleid oder gar das Kokettieren mit der eigenen Schwäche sucht man bei Alfred Henschke vergebens.“
Es waren aufgewühlte Tage für Fredi und Kurt Wafner schreibt:
„… Im Jahr 1919 wütete der konterrevolutionäre Terror der Freikorps und der Noske-Truppen besonders stark. Am 15. Januar brachten Freischärler Rosa Luxemburg, und Karl Liebknecht um; am 21. Februar streckten sie den bayerischen Ministerpräsidenten Kurt Eisner mit drei Schüssen in den Hinterkopf nieder; am 1. Mai wurde Gustav Landauer, anarchistischer Schriftsteller und Beauftragter für Volksaufklärung, bestialisch ermordet.“
Nochmal zurück zum Gefängnisaufenthalt – Anonym erscheinen in einer Wiener Zeitung diese Zeilen: „Ein Rohling von Transportführer sagte, man hätte „diesen roten Halunken auf der Fahrt einfach verlieren müssen, hoffentlich bekäme er sein Teil in Nürnberg.“
Und Guido von Kaulla beschreibt die Situation während des Gefängnisaufenthaltes von Klabund so: „Eine aufgepeitschte Soldateska hätte damals dem „roten Klabund“ das Schicksal Gustav Landauers bereitet, wenn nicht ein vernünftiger Offizier auf Grund der energischen Intervention für den wirklich unschuldigen Dichter auf Schritt und Tritt seine Sicherheit verbürgt hätte.“
Über Gustav Landauer aus Wikipedia:
„… Gustav Landauer (geboren am 7. April 1870 in Karlsruhe; gestorben am 2. Mai 1919 in München-Stadelheim) war ein deutscher sozialistischer Schriftsteller. Er vertrat unter Einfluss Peter Kropotkins den kommunistischen Anarchismus und war Pazifist (vgl. auch Anarchopazifismus). Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts war er einer der wichtigsten Theoretiker und Aktivisten dieser Ideologie im deutschen Kaiserreich.
Als Kriegsgegner stand Landauer von Anfang an in Opposition zum Ersten Weltkrieg (1914–1918). Während der revolutionären Ereignisse zum Ende des Krieges und unmittelbar danach war er an einflussreicher Stelle an der Münchner Räterepublik im April 1919 beteiligt. Nach deren gewaltsamer Niederschlagung wurde er von antirepublikanischen Freikorps-Soldaten in der Haft ermordet.“
Zu den wichtigen Gegnern der jungen Republik zählte Oswald Arnold Gottfried Spengler, Wikipedia schreibt:
„…Oswald Arnold Gottfried Spengler (geboren am 29. Mai 1880 in Blankenburg am Harz, gestorben am 8, Mai 1926 in München), war ein deutscher Geschichtsphilosoph, Kulturhistoriker und demokratieskeptischer politischer Schriftsteller.
Als politischer Schriftsteller brachte Spengler seine antidemokratische Gesinnung in kleineren Schriften zum Ausdruck. Er hoffte, dass der Weimarer Republik durch einen Diktator ein Ende gesetzt werde, der imstande sei, die großen innen- und vor allem außenpolitischen Herausforderungen in einem Zeitalter der „Vernichtungskriege“, das er in seinem „Untergang des Abendlandes“ prophezeit hatte, erfolgreich zu bewältigen.
Spengler wird zur nationalistischen und antidemokratischen „Konservativen Revolution“ gerechnet, lehnte aber den Nationalsozialismus und namentlich dessen Rassenideologie ab. Sein Ideal sah er eher in Benito Mussolini verwirklicht, dem Diktator des faschistischen Italiens.“
Gegen ihn protestiert 1920 Klabund in der Weltbühne – 1922 schließt er sich dem „Bund neues Vaterland“ an, einer betont pazifistischen Vereinigung und letztendlich opponiert er erneut in der „Weltbühne“ 1924 „gegen Verleger, die Autoren bei der Mark-Stabilisierung prellen, und gegen den Außenminister Stresemann, der leichtfertig das Verhalten von Deutschen im Ausland verunglimpft. Er protestiert wider das Zuchthaus-Urteil gegen Fechenbach, den ehemaligen Sekretär von Eisner: „Der Schriftsteller Fechenbach ist von einem unzuständigen Gericht wegen eines nicht begangenen Verbrechens, das selbst im Falle der Begehung verjährt gewesen wäre, mit einer ungeheuerlichen Strafe belegt worden, ohne dass ihm das Rechtsmittel der Appellation oder der Revision zur Verfügung stünde.“ (…) – Der (damals noch) rechtsorientierte Redakteur H. G. Brenner bezeichnet Klabund einmal als „Individualitätstrottel“ Keine schlechte Bezeichnung für einen Mann, der nicht auf „Zivilcourage“ zugunsten aalglatter Cleverness verzichten will -: nicht zugunsten von Weltklugheit auf Anstand – und damit auf Würde, schreibt Guido von Kaulla.
Der „Bund Neues Vaterland“
Aus Wikipedia:
„… war die bedeutendste deutsche pazifistische Vereinigung im Ersten Weltkrieg und wurde am 16. November 1914 gegründet. Er ging aus dem seit Anfang Oktober 1914 bestehenden, von Lilli Jannasch geleiteten, Verlag „Neues Vaterland“ hervor und hatte seinen Sitz in Berlin (Tauentzienstraße Nr. 9). Vorsitzende des Bundes waren Kurt von Tepper-Laski und Georg Graf von Arco. Zu den Mitbegründerinnen gehörte Elisabeth Rotten.
Der Bund versuchte während des Krieges durch persönliche Kontaktaufnahme seiner Mitglieder mit Regierungsvertretern sowie mit internationalen Friedensorganisationen für den schnellen Abschluss eines Friedens zu wirken. Er verschickte entsprechende Denkschriften an einen ausgewählten Kreis. Von Januar bis Mitte März 1915 publizierte der Bund hektographierte Mitteilungen, die von den Militärbehörden verboten wurden. Ab September 1918 erschienen sie wieder in neuer Folge. Ferner wurden, bis zum Verbot 1915, im Rahmen einer Publikationsreihe sechs Broschüren veröffentlicht. In seiner „Kritischen Denkschrift an den Reichskanzler“ vom 20. Juni 1915 gegen die Annexionseingabe der sechs Wirtschaftsverbände vom 20. Mai 1915 nahm der Bund am klarsten Stellung gegen den Krieg und mögliche Annexionen. Im Bund wurden Themen wie die Stärkung der deutschen Demokratie, die Rolle des Parlaments und die Modernisierung des Wahlrechts diskutiert.
In seinen Satzungen stellte sich der Bund die Aufgabe, „die Diplomatie der europäischen Staaten mit dem Gedanken des friedlichen Wettbewerbs (…) zu erfüllen und eine politische und wirtschaftliche Verständigung zwischen den Kulturvölkern herbeizuführen“. Am 7. Februar 1916 untersagte das Oberkommando in den Marken auf Grund des Belagerungszustandes dem Bund für die Dauer des Krieges jede weitere Betätigung. Lilli Jannasch, die als Geschäftsführerin des Bundes wirkte, wurde am 31. März 1916 verhaftet und in „Schutzhaft“ genommen. Am 8. Juni 1916 wurde in kleinem Rahmen eine Ersatzgruppe unter dem Namen „Vereinigung Gleichgesinnter“ gegründet. Das Betätigungsverbot für den Bund wurde erst im Oktober 1918 aufgehoben.
Ende 1918 gab sich der Bund ein neues Grundsatzprogramm, in dem es hieß: „Der Bund Neues Vaterland ist eine Vereinigung, um ohne Verpflichtung auf ein bestimmtes Parteiprogramm an dem Aufbau der deutschen sozialistischen Republik auf demokratischer Grundlage und darüber hinaus an dem großen Werke der Völkerverständigung mitzuarbeiten.“ In den folgenden Jahren kam es zur Freundschaft mit der Französischen Liga für Menschenrechte. Unter ihrem Einfluss benannte sich der Bund am 20. Januar 1922 in „Deutsche Liga für Menschenrechte“ um und wurde mitbegründende Organisation der „Fédération internationale des ligues des droits de l’Homme“.
Die Mitgliederzahl betrug bis 1922 etwa 200 und stieg danach auf über 1.000 an. Mitglieder des Bundes waren u. a. Albert Einstein, Ernst Reuter, Leopold von Wiese, Kurt Eisner, Hellmut von Gerlach, , Stefan Zweig, Harry Graf Kessler, Clara Zetkin, Hans Delbrück.
Die Deutsche Liga für Menschenrechte besteht auch heute noch, sie hat seit 1961 ihren Sitz in München und ist mit der Internationalen Liga für Menschenrechte, Sitz Berlin, nicht identisch.“
Aus Wikipedia:
„… Kurt von Tepper-Laski (* 8. August 1850 in Stabelwitz, Kreis Breslau; † 5. Februar 1931 in Berlin) war ein deutscher Offizier, Sportreiter, Schriftsteller, Journalist und Pazifist.
Als Rittmeister im Deutsch-Französischen Krieg von 1870/71 ausgezeichnet, nahm er aus Protest seinen Abschied, als er wegen seiner Weigerung, eine Wache vor einer jungen Prinzessin strammstehen zu lassen, strafversetzt werden sollte. Künftig engagierte er sich für die deutsch-französische Verständigung und den 1900 mit Bruno Wille und Wilhelm Bölsche gegründeten Giordano Bruno-Bund. 1906 unterstützte er die Gründung des Deutschen Monistenbundes (DMB). 1913 finanzierte er ein Treffen deutscher und französischer Journalisten in Brüssel. 1914 beteiligte er sich an der Gründung des Bundes Neues Vaterland, der sich gegen die Kriegspolitik des Kaiserreichs stellte und übernahm dessen Vorsitz.
Er sprach sich, einen europäischen Krieg voraussehend, für einen Sturz der Hohenzollernmonarchie und die Gründung einer sozialdemokratischen Republik aus, dachte angesichts der Kriegskreditebewilligung des Reichstages vom 4. August 1914 sogar an Selbstmord. Auf der Konferenz europäischer Pazifisten in Den Haag im April 1915 scheiterte er zusammen mit Walther Schücking mit seinen diplomatischen Bemühungen, Friedensverhandlungen mit England aufzunehmen. Im November 1915 wurde Tepper-Laski wegen Landesverrats angeklagt.
1919 zog sich Tepper-Laski aus gesundheitlichen Gründen aus der Politik zurück.
Aus Wikipedia:
„… Elisabeth Friederike Rotten (* 15. Februar 1882 in Berlin; † 2. Mai 1964 in London) war eine deutsche Reformpädagogin und Friedensaktivistin.“
Antisemitismus
Am Sonntag fällt ein kleines Wort im Dom,
Am Montag rollt es wachsend durch die Gasse,
Am Dienstag spricht man schon vom Rassenhasse,
Am Mittwoch rauscht und raschelt es: Pogrom
Am Donnerstag weiß man es ganz bestimmt:
Die Juden sind an Russlands Elend schuldig!
Wir waren nur bis dato zu geduldig.
(Worauf man einige Schlucke Wodka nimmt…)
Der Freitag bringt die rituelle Leiche,
Man stößt den Juden Flüche in die Rippen
Mit festen Messern, dass sie rückwärts kippen.
Die Frauen wirft man in diverse Teiche.
Am Samstag liest man in der „guten“ Presse:
Die kleine Rauferei sei schon behoben,
Man müsse Gott und die Regierung loben …
(Denn andernfalls kriegt man eins in die Fresse.)
„Wenn das meine jüdische Großmutter wüsste!“, lautete einer der „Lieblingssprüche“, den Klabund immer dann benützte, wenn es um den für ihn völlig unverständlichen Antisemitismus ging. Matthias Wegner schreibt:
„… Klabund verweist in seiner Empörung über den Antisemitismus auf russische, nicht auf deutsche Verhältnisse. (…) hat er, der Freund vieler jüdischer Zeitgenossen, voller Abscheu registriert, dass dieses Gift auch im Deutschland der Weimarer Republik seine nachhaltige Wirkung entfaltet.“
In seiner „Geschichte der Weltliteratur in einer Stunde“ meint Klabund in einem Kapitel „Juden und Christen“:
„Unsere heutigen Antisemiten und Judenfresser, die altdeutschen Bramarbasse, wissen gar nicht, wie sehr sie gerade … Juden sind.“ Christus habe Jahwe, dem Gott der Rache, den Garaus gemacht, indem er auf indische Vorstellungen von der Menschenliebe zurückgegriffen habe, aber die Antisemiten hätten daraus noch immer nichts gelernt.“
Matthias Wegner:
„… Allzu konkrete Einmischungen in das tägliche politische Geschehen meidet Klabund. Das unterscheidet ihn von den meisten anderen seiner Dichter und Brettl-Freunde. Klabund hat nicht den überscharfen Blick Walter Mehrings, der mit stoischer Wachsamkeit und zunehmender Verzweiflung die Unterhöhlung der Demokratie und den Antisemitismus an sehr genauen Beobachtungen seiner Umwelt festmacht. Klabund zählt, trotz seiner bissigen Arbeiten für das Kabarett, nicht zum Kreis der politischen Kritiker um Tucholsky und von Ossietzky.“
Und Evelyne von Beyme schreibt:
„… Stetig präsent blieben Klabunds Anklagen gegen Krieg und Antisemitismus sowie die Darstellung des proletarischen Elends in seinen Gedichten („Die Harfenjule“, 1927).“
Und nochmal Matthias Wegner:
„… Der plebejische Häftling in Landsberg ist ihm ebenso ein Gräuel wie alles verstockt Konservative. Aber auch zu den Verfechtern der Linken hält er Distanz. Mit Karoline Neher teilt er die Vorliebe für eine radikale Liberalität der Sitten und Gesinnungen. Er wird es bis an das Ende seines kurzen Lebens so halten.“
Klabund hat genug getan, um bei der politischen Rechten eine Reizfigur zu werden, „Kaiser Wilhelm Brief“, seine angeblichen Verstrickungen in und um die „Münchner Räterepublik“, und seine Freundschaft mit Erich Mühsam, wie die zu so vielen anderen jüdischen Künstlern, nicht zu vergessen seine respektlose satirische Kabarett-Arbeit, es reichte zu der Feststellung: „In der „Neuen Zürcher Zeitung“ hat man mich antisemitisch angepöbelt … man glaubte, ich sei ein Jude … ausgerechnet ich“ Bei der Uraufführung seines Stückes „Die Nachtwandler“ am 7. Mai 1920 in Hannover reagieren Teile des Publikums in seiner Anwesenheit mit Krawallen und Parolen wie „Nieder mit den Juden“. „Es zeichnet Klabund aus, dass er den Antisemitismus in Gedichten und Stellungnahmen aufs Schärfste bekämpft hat“, schreibt Guido von Kaulla.
An Irene Heberle schreibt er am 4. Februar 1920:
„… Liebe Mutter,
– In der „Neuen Zürcher Zeitung“ bin ich als „Jude“ (!!!) attackiert worden: so was! Der Antisemitismus ist eine nette Sache, wenn er sich gegen Nicht Juden richtet. –
Zurück zur „jüdischen Großmutter“ und die verursacht nicht nur im Elternhaus in den 30 er Jahren einigen Ärger, obwohl es sie nie gegeben hat, sondern auch Fredi wird „sozusagen posthum in die Ecke gestellt, in der er sich sicher ganz wohl gefühlt hätte. Denn einer dieser braunen „Schmierfinken“ ordnet ihn wider besseres Wissen dort ein, wo „literarische Schmutzfinken“ hingehören.
Guido von Kaulla schreibt dazu:
„… Der deutsch-völkische Literarhistoriker Alfred Bartels hatte 1922 in seinem Buch „Die deutsche Dichtung von Hebbel bis zur Gegenwart“ Klabund den jüdischen Schriftstellern zugeordnet. Weil er seit den rüden Versen im „Pan“ bei der antisemitischen literarischen Rechten als eine Art literarischer Schmutzfink eingestuft wird. Klabund protestiert.
Daraufhin Bartels korrigierend: „Er hat immerhin eine jüdische Großmutter“. Doch Dr. Henschke versicherte dem Biographen: man müsse schon bis Adam und Eva zurückgehen, um Bartels Meinung begründet zu finden. Und diese Meinung (Tucholsky formuliert das in der linksradikalen „Weltbühne“) „stammt übrigens lustiger weise von einer Lieblingsredensart des Dichters, der in seiner christlichen Arglosigkeit zu sagen pflegt: „Wenn das meine jüdische Großmutter wüsste!“ -.
An Zuträgern, etwa aus dem von Klabund in Berlin bevorzugten „Russischen Cafe“ in der Nürnberger Straße, kann es nicht gefehlt haben. Als die durch knallfredisches allzu naives Blödeln entstandene jüdische Großmutter von ihm bei Bartels widerlegt wird, ändert Bartels in: „Die jüdische Großmutter, die er sich einmal zugelegt hatte, hat er dann wieder bestritten.“
Bartels will aber weiter Vorbehalte anbringen. 1928 schreibt er – und nimmt auch Bezug auf Kürschners Literaturlexikon – im Teil „Die neueste Zeit“ seiner Literaturgeschichte: „Eine Sonderstellung nimmt Alfred Henschke, der sich Klabund nennt, (…) ein, der in Verbindung mit Kerrs „Pan“ einmal in einen Gotteslästerungsprozess geriet. Er schrieb (…) und während des Kriegs „Klabunds Soldatenlieder“ (1914) und noch allerlei Kriegerisches, das nicht mehr im Kürschner steht. (…) „Der Kreidekreis“, (…) dass man ihm seinen Erfolg denn wohl gönnen kann. (…) „Litaipe“ (…) auf dessen Übertragungen Karl Florenz Anspruch erhob.
Keineswegs – denn Florenz (nota-bene Japanologe, nicht Sinologe) erboste sich über die Handlungsveränderung gegenüber der Vorlage bei „Kirschblütenfest“, ähnlich, wie Dr. Kurth sich über die O-sen-Umcharakterisierung ärgerte.“
Und Guido von Kaulla weiter:
„… Die Vokabel „jüdisch“ taucht zuweilen auch bei Henschke-Klabund auf. 1910 lässt er im „Tagebuch eines Knaben“ erzählen: der erste Herr im Geschäft seines Vaters (Apotheke) sei Jude, aber er möge ihn sehr gern.
Jude – aber ohne jedes „aber“, ist auch Julius Gebhardt. Als 1912 mit dem „Condor“ die erste Anthologie frühexpressionistischer Lyrik vorliegt, glossiert Fredi bei Unus, dass in dem lyrischen Angebot überwiegend Juden vertreten seien.
Im „Josua“-Roman verficht Klaus Tomischil (in dem Züge von Erich Mühsam zu erkennen sind) die Ansicht: „Der Antisemitismus, wie ihn die Politik gezeitigt hat, ist eine große Unwahrheit. Er richtet sich gar nicht gegen das Judentum an sich, sondern gegen das Judentum als Geldmacht, also als Träger der materialistischen Weltanschauung. Man gibt ihn bloß nicht zu: den blassen Neid. (…) In fünfzig Jahren gibt es in Deutschland keine Juden mehr, wenn man ihnen möglichst schnell und plötzlich die bürgerliche Gleichberechtigung mit den Deutschen verleiht.“
In der „Literaturgeschichte“ sagt Klabund unter anderem: „Ein Wort hier über das typisch Deutsche und das typisch Jüdische in der heutigen deutschsprachigen Dichtung. (…) Die Quintessenz dieses Lebens liegt im Sein schlechthin, die Quintessenz jenes Lebens im Wollen.“ Und: (Jahwe) -: „Er ist der Gott der Rache, (…) und unsere heutigen Antisemiten und Judenfresser, die alldeutschen Bramarbasse, wissen gar nicht, wie sehr sie gerade… Juden sind, (…) Er (Jahwe) kennt keine Toleranz: wie sind die holländischen orthodoxen Juden mit dem größten Juden, der nach Christus gelebt, mit Baruch Spinoza umgegangen!“
Klabund schätzt Franz Werfel sehr hoch ein: die Lyrik bis 1919 – denn als Epiker steht Werfel damals erst am Anfang. Heine – „deutscher Jude, geistig handelnd“. Und „zum Thema Antisemitismus“ berichtet er nach dem Blutsturz aus dem Sanatorium Anfang 1921: die, die sich wirklich nobel gezeigt hätten, seien fast alle Juden. Niemals hat Klabund denn auch — weder privat noch öffentlich – in diesen Dingen jene prononciert prochronistisch nationalsozialistische Einstellung wie etwa der nachmalige aktive Kommunist Johannes R. Becher, der in seinem autobiographischen Roman „Abschied“ von einem Mitschüler immer nur per „Jüdchen“ spricht.
In der „Weltbühne“ schreibt „Ignaz Wrobel“ und der war Kurt Tucholsky, am 23, März 1922 über Adolf Bartels:
„… Man verstehe mich nicht falsch. Die Tatsache, dass Bartels ein Gegner der Juden ist, scheint mir noch kein Hindernis für die Möglichkeit, eine gute Literaturgeschichte zu schreiben, und ich kann mir sehr wohl denken, dass es durchaus lohnend und fesselnd zugleich wäre, die Rolle der Juden in der deutschen Literatur antisemitisch oder philosemitisch oder unvoreingenommen aufzuzeigen.
Was an Adolf Bartels reizt und ihn zum Clown der derzeitigen deutschen Literatur werden lässt, ist seine Unbildung, seine Leichtfertigkeit und eine Oberflächlichkeit, die eigentlich ganz undeutsch ist. Wenn er nicht einen so erbärmlichen Stil schriebe, könnte man auf einen rumänischen Halbwissenschaftler tippen, der die falsch verstandenen Forschungsergebnisse der Pariser Universität vor den staunenden Landsleuten, flüchtig und schlecht gruppiert, ausbreitet.
Die Judenriecherei dieses Mannes darf grotesk genannt werden. Ohne sich über die sehr verzwickte Problematik des Juden auszulassen, unterstellt er, primitiv und kenntnislos, den Unwert jedes Juden und fertigt wertvolle Schriftsteller mit der Konstatierung ihrer jüdischen Abstammung ab, ein Verfahren, das man den chauvins und dem Sir Bottomley mit Recht verargt, wenn sie auf boches und huns fahnden.
(…) Die deutsche Revolution vom neunten November 1918 ist, wie jetzt feststeht, von den Unabhängigen Sozialdemokraten unter größtenteils jüdischer Führung mit russischem Gelde gemacht worden. Das steht jetzt fest, nachdem die am Leben gebliebenen geschlagenen Führer Zeit und Luft gewonnen haben, solche Unwahrheiten zu ihrer Entschuldigung drucken zu lassen. Auf ähnlicher Höhe bewegen sich alle allgemeinen und politischen Ausführungen. Gustav Landauer, zum Beispiel, ist nicht einfach bei der Münchner Revolution „umgekommen“, sondern von Leuten in Stücke geschlagen worden, die, wenn sie lesen könnten, Herrn Bartels läsen.
Das Allerlustigste aber ist, dass dieser Hakenkreuzpolichinell seinen leicht angekümmelten Antisemitismus nur im Verlag Haessel, dem man dies nicht vergessen soll, froh in die Winde brüllt.“
Den Aufstieg der „Rechten“ habe er falsch eingeschätzt, meint Guido von Kaulla und da hat er recht – obwohl – Fredi befand sich in „allerbester Gesellschaft“ – Kaulla schreibt:
„…- das würde er bei längerem Leben als Fehleinschätzung der politisch treibenden Kraft der Hitler-Bewegung erkannt haben. Die politische Sprengkraft des dort tätigen Antisemitismus hat auch er nicht gespürt. Ebenso wenig wie das Beherrschen der Technik der Machtausübung bei den Bürgerkriegshandlungen der Zeit von 1918 bis 1921 und bei den sogenannten Fememorden. Noch 1925 glaubt er, dass ironisches Widerlegen der Thesen der „Deutsch-Völkischen“ sie politisch in Schach halten könne.“
Ein gutes Beispiel dieser Fehleinschätzung ist Fredis Reaktion auf den Angriff der „Nationalsozialistischen Freiheitspartei“ (NSPAP), die ihn der Gotteslästerung zieh, als er 1925 das Gedicht „Die heiligen drei Könige“ veröffentlichte.
Dazu Guido von Kaulla:
„… Deren Landtagsabgeordnete hatten ihn der Gotteslästerung geziehen wegen einiger drastischer Verse, die sich, genau besehen, auf einen Brauch am Heiligendreikönigstag beziehen. Klabund antwortete da u. a.: „- eines wird immer erst am anderen, an seinem Gegensatz recht sichtbar. Wie ja auch die Nationalsozialistische Freiheitspartei notwendig ist, damit man sieht, dass es auch gescheite Leute auf der Welt gibt.“
In der Weltbühne erschien ein „offener Brief“ an diese „Herren des reinen Germanentums“.
Offener Brief an die nationalsozialistische Freiheitspartei Deutschlands
Meine Herren!
Sie erweisen mir die Ehre, sich in einem Antrag mit meiner bescheidenen Person zu beschäftigen. Ein Gedicht von mir: „Die Heiligen Drei Könige“ hat, so erklären Sie, Ihr religiöses Gefühl verletzt, und Sie rufen gegen dieses Gedicht, Kanonen gegen einen Sperling, den Staatsanwalt auf. Ich bin, so darf ich wohl sagen: entzückt, dass es in dieser stumpfen, dumpfen Zeit noch Menschen gibt, die durch ein Gedicht, ein Kunstwerk also, im tiefsten Herzen erregt und erschüttert werden.
Die Aufgabe der Kunst ist ja grade, die Seele zu bewegen und aufzuwühlen. Zu bewegen, wie der Wind die Blüte bewegt. Aufzuwühlen, wie der Sturm das Meer aufwühlt. Während der heutige Mensch allen möglichen mechanischen Reizen wie Radio, Rassenhass, Boxsport, Theosophie, Weltkrieg und Jazz leicht zugänglich ist, verhärtet und verkrustet sich sein Inneres immer mehr, und es muss schon allerlei geschehen, bis er vor einem Kunstwerk, positiv oder negativ eingestellt, sich elektrisch oder explosiv entlädt.
Was also, meine Herren von der Reaktion, Ihre Reaktion auf mein Gedicht betrifft, so bin ich durch sie sehr beglückt. Was aber nun die Folgerungen angeht, die Sie aus Ihrem erregten Zustand zu ziehen belieben, so muss ich vor allem meiner höchsten Verwunderung darüber Ausdruck geben, dass Sie, meine Herren vom Hakenkreuz, in deren Reihen dem altgermanischen Wodanskult das Wort geredet wird, für die das Paradies in Mecklenburg liegt und die sich über den schlappen Christusglauben so oft offenkundig lustig gemacht haben – dass Sie, meine Herren Heiden, die allenfalls für Wodanslästerung zuständig wären, dass ausgerechnet Sie für den von Ihnen immer über die Achsel angesehenen Christengott eintreten und über Gotteslästerung wehklagen.
Und was ist das für eine „Gotteslästerung“? Ich kann in dem fraglichen, inkriminierten Gedicht weit und breit keine Gotteslästerung finden – dagegen finde ich bei Ihnen, die sich so gern als Deutscheste der Deutschen bezeichnen, eine geradezu hanebüchene Unkenntnis deutscher Volksbräuche. Denn das Gedicht „Die Heiligen Drei Könige“ bezieht sich gar nicht, wie von Ihnen wohl angenommen, auf die drei Weisen aus dem Morgenland, sondern auf einen am Heiligendreikönigtag in vielen Gegenden Deutschlands geübten Brauch: da ziehen nämlich, als Heilige Drei Könige karikaturistisch kostümiert, drei Burschen im Dorf herum, um mit mehr oder weniger ruppigen Versen bei den Bauern Bier und Schnaps zu schnorren. Diese Verse sind derb, frech, witzig – aber gotteslästerlich?
Du lieber Gott! Ich glaube, du hast deine rechte, recht göttliche Freude an ihnen. Denn du bist ja kein nationalsozialistischer Abgeordneter. Du hast ja sogar den Teufel geschaffen, weil dir in deiner ewigen Güte gar nicht wohl war und du eine Art Gegengewicht brauchtest. Ja, ohne den Teufel wärst du eigentlich gar nicht denkbar, gar nicht vorstellbar. Gott und Teufel, Tag und Nacht, Mann und Weib – eines wird erst am andern, an seinem Gegensatz recht sichtbar. Wie ja auch die Nationalsozialistische Freiheitspartei notwendig ist, damit man sieht, dass es auch gescheite Leute auf der Welt gibt.
Diese, wozu hoffentlich auch der Staatsanwalt gehört, mögen der Partei klarmachen, sofern man den Dunklen etwas klarmachen kann: dass, wenn ein zwar derbes, aber harmloses Gedicht wie „Die Heiligen Drei Könige“ eine Gotteslästerung sein soll (was dem einen sein Gott, ist dem andern dem Teufel), Goethes „Faust“ von Gotteslästerungen nur so strotzt, dass Goethe auch ein Gedicht von den Heiligen Drei Königen geschrieben hat, „Epiphanias“ betitelt, das für den Antrag auf Gotteslästerung vielleicht noch in Betracht kommt.
Neben Goethe auf der Anklagebank zu sitzen, würde sich zu einfach besonderen Ehre schätzen
Ihr ergebener Klabund
Nachschrift
Um Weiterungen vorzubeugen: ich bin kein Jude! Ich habe keine jüdische Großmutter! Ich bin auch kein Mischling! Ich heiße nicht Krakauer und bin auch nicht aus Lemberg. Ich heiße schlicht mit bürgerlichem Namen Alfred Henschke. Und mein Großvater hat als Erzieher des ehemaligen Kaisers sein Bestes dazu beigetragen, dass wir den Krieg verloren, aber statt dessen die Nationalsozialistische Freiheitspartei gewonnen haben. Das nächste Mal wird es uns hoffentlich umgekehrt gehen.
„Die antisemitischen Publikationen hält er für nur kurios, parodiert sie denn auch „knallfredisch“, schreibt Guido von Kaulla und die folgenden Zeilen von Klabund sind dann ein weiterer Beweis für seine Fehleinschätzungen – „Eine Gefahr scheint ihm nicht im Herannahen — und ebenso Millionen anderen nicht“ (Guido von Kaulla).
Klabund:
„… Es wäre ein Irrtum, anzunehmen, Christus sei Jude gewesen. Diese unwahre Tendenzmeldung, die den Stempel der Lüge schon an der Stirn trägt, ist von interessierter jüdischer Seite geflissentlich verbreitet worden. Christus hieß Krischan und war seinerzeit als Hilfsmelker in einer ostpreußischen Molkerei Stallupönens angestellt. Wir verdanken diese lichtvolle Entdeckung, die auf gewisse Zeiterscheinungen einen grellen Schlagschatten wirft, dem bekannten Rassenforscher und Antisemiten Lizentiat Kohn, dessen Name auf immerdar im Walhall deutscher Geister leuchten wird, wenn diese Erde längst ein Staub der Asche geworden. Der Sammelruf Kohns zur deutschen Einheitsfront darf nicht ungehört verhallen. Front gemacht, heißt es, wider welsche und mosaische Verdrehungskünste. Lizentiat Kohns gediegene Schrift betitelt sich: „Christus – Krischna – Krischan“ und ist im Hakenkreuzverlag, Schrimm 1923, erschienen.“
Matthias Wegner sieht meine „Fehleinschätzungen“ und Klabunds politische Einstellung etwas anders, er schreibt:
„… Klabunds Einstellung gegenüber den revolutionären Zuständen im Nachkriegsdeutschland blieb zwiespältig. Er fühlte sich trotz mancher Sympathien für einige Revolutionäre keiner Partei und keiner Ideologie verpflichtet, doch war seine Witterung für die Gefahren von rechts und seine Abscheu vor jeder Art von Antisemitismus inzwischen aufs Äußerste verfeinert. Allein seine später von Hanns Eisler vertonte und von Ernst Busch grandios gesungene „Ballade des Vergessens“, in der er die Vorboten eines neuen Krieges eindringlich beschwor, besticht durch die Vorausahnung des Kommenden. Anders als etwa Kurt Tucholsky oder Walter Mehring gehörte Klabund dennoch nicht zur politischen Linken. Er sah sich auf Seiten der Schwachen und Machtlosen, als Einzelgänger. Parteiprogramme blieben ihm fremd, er empfand sich als Poet und emphatischen, (neu‘)romantischen Verkünder allumfassender Menschen- und Naturliebe.“
Einspruch, Klabund beschäftigte sich sicher nicht besonders mit den Programmen der „Rechten“, wenn doch, dann wie schon geschildert. Deren krude Vorstellungen z.B. des Antisemitismus und eine folgende Umsetzung waren unvorstellbar. Das heißt nicht, dass Antisemitismus unbedeutend war im Kaiserreich und der Weimarer Republik, aber diesen auf so eine extreme Spitze zu treiben wäre nicht möglich gewesen. Erinnert sei an den gerade verlorenen Krieg, in dem die jüdische Bevölkerung zahllose Opfer gebracht hatte. Und erinnern möchte ich daran, dass jüdische „Frontkämpfer“ eine Verfolgung im III. Reich als nicht gegeben sahen.
Ganz anders aber sah es mit den Programmen der „Linken“ aus – mit denen hatte sich Klabund sehr wohl beschäftigt. Einerseits weil er in „diesen Kreisen“ verkehrte und andererseits hätte er diese sicher nie gewählt, wenn er nicht gewusst hätte, auf was er sich einließ.
Briefe an seinen Schwiegervater zeugen von diesem Interesse. Bereits am 16. Januar 1919 schreibt er aus Locarno-Monti:
„… Lieber Vater,
ich sandte Dir die gesamte Bolschewikiliteratur aus meinem Besitz. Da sie zum Teil verboten, zum Teil überhaupt nicht mehr aufzutreiben ist, bitte ich Dich, sie mir aufzuheben: ich gedenke nämlich, sobald ich zur Ruhe komme, eine kleine „Psychologie des Bolschewismus“« zu schreiben und benötige dafür die Schriften. Bitte quittiere mir ihre Ankunft. Ich sandte Dir:
Lenin u. Trotzki, Krieg und Revolution
Trotzki, Von der Oktoberrevolution bis zum Brester Frieden
Trotzki, Arbeit und Disziplin werden die Sowjetmacht retten
Lenin, Der Kampf ums Brot
Lenin, Der Kampf um die Sowjetmacht
Viator, Die äußere Lage Russlands
Tschitscherin, Der rote und der weiße Terror
Kossowski, Um den Bolschewismus
Burzew, Seid verflucht Ihr Bolschewiki
Erlebnisse der Russlandschweizer in Russland
Seitdem die Sowjetmission aus Bern ausgewiesen ist, hat auch ihr Verlag (Promachos) aufgehört. Die Bücher haben also schon ungeahnt schnell nicht nur effektiven sondern auch bibliophilen Wert erlangt. Ich sende Dir nun noch das anarchokommunistische Programm Kropotkin’s (russischer Anarchist, Geograph und Schriftsteller, der von den Bolschewiki ermordet sein soll); er ist noch weiter links als die Bolschewiki, soweit ich bis jetzt urteilen kann.
Die letzte zusammenhängende Schrift Lenins, ein ganzes Buch, das sein System enthält: „Staat und Revolution“ war grade angekündigt, als die Berner Mission hinaus musste. Es wäre wohl das Interessanteste gewesen: Lenin hat sich im Lauf des Jahres nach rechts entwickelt. (Eine naturgeschichtliche Notwendigkeit: jede Regierung wird nach und nach konservativ.) – Schade, dass ich bei der Sitzung, wo Unterleitner sprach, nicht dabei war. Ich habe mit großem Interesse Deine Ausführungen gelesen … vielleicht hätte ich auch zum Wort gegriffen. (Vermutlich würde ich zu abstrakt sprechen für das Publikum.) – Übrigens ist das Spartacusprogramm im Druck erschienen mit Gegenargumenten im Verlag von Hermann Bousset, Verlag der Jugendlese Berlin S.W. 61. – Eure Mithilfe bei meinem Bücherkatalog ist mir erwünscht: ich sende Euch mein „Arbeitsprogramm“ und Ihr werdet sehen, dass Euch auch einiges zu helfen möglich ist.“
Und vom 4. März 1919 ist ein Brief an den Verleger Gerhard Merian erhalten:
„… Sehr geehrter Herr Merian,
ich möchte auf Ihren Brief einiges erwidern.
Die internationale Idee der Humanität, die Idee des Völkerbundes usw. kann gar nicht dadurch entweiht werden, dass sie von einer kapitalistisch-imperialistischen Sippe heuchlerisch interpretiert wird. Wie diese Idee Deutschland zerschlagen hat, so wird auch die Entente mit unfehlbarer Sicherheit daran krepieren.
Es ist bedauerlich, dass das deutsche Bürgertum, nachdem es 4 Jahre lang belogen worden ist, noch immer weiter von seiner „sozialistischen“ Regierung und ihrer Presse belogen wird. Niemals ist eine bösartigere und verlogenere Kampagne geführt worden als z. B. gegen Eisner, diesen wahrhaft reinen und guten Menschen und Politiker. Nicht Eisner, sondern die Hetze gegen ihn hat dem deutschen Ansehen wieder einen schweren Stoß versetzt.
Der Auslanddeutsche hat die Möglichkeit einer Regierung Scheidemann etc. nie begriffen. Dass sie Tatsache werden konnte, ohne dass das Volk dagegen in seiner Gesamtheit rebellierte, beweist, wie im Unklaren man in Deutschland ist, erstens über die Leute um Scheidemann, zweitens über die Stimmung der gesamten übrigen auch sozialistischen Welt.
Die Politik der Proteste wegen Vergewaltigung etc. ist vollkommen verfehlt. Das deutsche Volk weiß bis heute noch nicht, was für Ungeheuerlichkeiten das alte Regime im Namen Deutschlands auf sich geladen hat. (Zu dem Ungeheuerlichsten gehört die Mitschuld und das Mitwissen um die Armeniermetzeleien, die 2 Millionen Menschen eines alten Kulturvolkes hingeschlachtet haben.) Protestieren darf nur der, der bereit ist, die gleichen Forderungen an sich selber zu richten.
Je toller die Entente es treibt, umso schneller wird sie zusammenbrechen. Der Friede wird entweder ein sozialistischer Friede sein – oder er wird nicht sein.
Ich will Ihnen einige Namen nennen (Ich habe im November 18 versucht, in der deutschen Presse darauf hinzuweisen und den Vorschlag gemacht, aus ihnen die Friedensdelegation zu wählen. Die Presse hat meinen Vorschlag refüsiert, dumm wie immer.), die Deutschlands Ansehen in der Welt gefördert und gehalten haben: Lichnowsky, Foerster, Eisner, Muehlon, Harden, H. Mann, Bernstein, Schlieben.
Ihr ergebener Klabund“
Und auch an Irene Heberle endet ein Brief mit den Zeilen: „Es scheint die Zeit zu nahen, dass man sich ernsthaft die Frage vorlegt, ob man nicht trotz aller prinzipiellen Unterschiede, die einen vom offiziellen Parteiprogramm der KPD trennen, aus Gründen des revolutionären Protestes zu Spartakus übertreten soll. Euer Fred“
Geht es noch klarer? Und ich erinnere mich, dass im Deutschen Bundestag die so genannte „Armenien-Resolution“ am 2. Juni 2016 mit einer Gegenstimme und einer Enthaltung endlich verabschiedet wurde. Dieser Völkermord, an dem das Kaiserreich eine Mitschuld trug, wurde von Klabund vor 99 Jahren thematisiert.
„Zürich, Elitehotel, 28. Juni 1919
Liebe Mutter,
ich bin für einige Tage in Zürich. Ein Leipziger Verleger hatte mir nach Locarno telegrafiert, dass er mich sprechen wolle. Gegen Ersatz der Reisespesen bin ich dann hierhergefahren und wir haben zusammen konferiert. Es handelt sich um laufende Mitarbeit an einer Serienbücherei für Volksaufklärung im politischen, wirtschaftlichen, literarischen Sinne. Ich werde wahrscheinlich eine „Deutsche Literaturgeschichte“ für ihn schreiben. Außerdem vielleicht eine Kinderbibel (die Bibel für Kinder im Alter von 10-13 Jahren). Das sind Aufgaben, die mich gewiss locken. Aber Zeit Zeit Zeit! – (…)
Ich fahre morgen wieder nach Locarno zurück. Die Großstadt ermüdet mich. Wenn ich überhaupt all das erledigen soll, was ich bis zum Winter machen müsste, muss ich (wenigstens) den Dreizehnstundentag bei mir einführen. – Der „Friede“ ist gestern unterzeichnet worden. Kein Mensch hat sich hier drum gekümmert: in dem richtigen Gefühl, dass dieser „Friede“ nicht einmal eine Etappe auf dem Leidenswege bedeutet, den wir beschritten haben. – Die vielen Unruhen in Deutschland sind alles spontane lokalistische Aktionen: ich sehe das ganz deutlich. Sie schaden der wirklichen revolutionären Bewegung nur: aber die Massen, unterernährt und fanatisch erregt, gehorchen ihren Führern nicht mehr: den Mehrheitssozialisten und Unabhängigen längst nicht mehr, aber auch nicht mehr den Spartacusführern. Seid beide umarmt von Eurem Fred“
Der Friedensvertrag von Versailles wurde am 28. Juni 1919 unterzeichnet.
Aus Wikipedia:
„… Die Kant-Gesellschaft e. V. ist eine wissenschaftliche Gesellschaft, die 1904, zu Immanuel Kants 100. Todestag, von Hans Vaihinger in Halle gegründet wurde. Zweck der Gesellschaft ist die Förderung und Verbreitung des Studiums der Kantischen Philosophie.
Dazu gibt sie die 1896 ebenfalls von Hans Vaihinger gegründete Zeitschrift Kant-Studien und deren Ergänzungshefte heraus. Außerdem organisiert sie alle fünf Jahre einen Kongress und veranstaltet ein umfangreiches Vortragsprogramm.
Im Laufe der drei ersten Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts entwickelte sich die Gesellschaft zu einer der einflussreichsten und mitgliederstärksten philosophischen Gesellschaften der Welt. 1938 wurde sie aufgelöst, die Kant-Studien erschienen jedoch noch bis 1944 (herausgegeben von Kurt Metzners Pan-Verlag) und ab 1953 wieder unter der Herausgeberschaft von Gottfried Martin. 1969 erfolgte durch ihn auch die Neugründung der Kant-Gesellschaft in Bonn. Sie setzt laut Satzung „die Arbeit der nicht mehr existierenden alten Kant-Gesellschaft e. V. Halle… fort“.
Wikipedia:
„… Hans Vaihinger (* 25. September 1852 in Nehren bei Tübingen; † 18. Dezember 1933 in Halle (Saale)) war ein deutscher Philosoph und Kant-Forscher. Im „Überweg“ wird Vaihingers Philosophie als „Idealistisch-pragmatischer Positivismus“ unter einer eigenen, vom Neukantianismus abgegrenzten Rubrik behandelt.“
„Ich bin Mitglied von allerlei Gesellschaften geworden, darunter der Kantgesellschaft, lebhaft applaudiert von Vaihinger, ihrem Vorsitzenden, dem Als-ob-Phänomenologen. Den ersten anti-kantianischen Aufsatz habe ich schon publiziert, betitelt: „Laotse und die Kantgesellschaft“, schreibt Fredi am 16, Februar 1920 an Ernst Levy. Und diese Kant-Gesellschaft, die es heute noch mit Sitz in Bonn gibt, zählte wahrhaftig nicht zum „rechten Spektrum“.
In der „Weltbühne“ startet eine Kampagne „Meidet Bayern!“: als Reaktion auf zunehmende Schikanen gegen Reisende – vor allem – Juden, in Bayern. Der erste Artikel der Serie, verfasst von Kurt Tucholsky alias Ignaz Wrobel, erschien am 27. Januar 1921. Und Klabund schreibt nach Passau: „Liebe Mutter, Die Münchner werden unerträglicher von Jahr zu Jahr. (Wohl unter dem Einfluss der „Münchner Neuesten“, die ich ohne Einschränkung das unsauberste, unanständigste Blatt nennen möchte, das in Deutschland erscheint. Der „Völkische Beobachter“ ist eine reinliche Angelegenheit dagegen. Wer nur die „Neuesten“ liest, muss verblödet und verhetzt werden.)
Alfred Henschke war ein gläubiger Mensch – kein Wunder bei der mütterlichen Familie mit vielen Pfarrern – aber als heftige Kritik an der Kirche – der katholischen Kirche – verstehe ich seine Erzählung des „Kinderkreuzzug“. Darin heißt es:
„… Ich rufe dich zum Kreuzzug gegen alle Laster, gegen Trägheit, Lüge, Mord, Neid, Bösheit. Nimm den Heerruf der Kreuzfahrer in deiner Seele auf: Herr Gott, erhöhe die Christenheit! Stoß in den Abgrund die Heiden! Herr Gott, gib uns das wahre Kreuz wieder!-
Der Engel löste sich im Nebel auf, den die Morgensonne durchbrach. Die Hunde bellten. Der Leitbock schnupperte und senkte die Hörner. Ich trieb die Tiere auf die Weide, schnitzte mir aus Weidenholz eine Flöte und blies ein lustiges Lied in den Junimorgen des Jahres 1212.“
Wann Klabund den „Kinderkreuzzug“ schrieb, ist für mich nicht genau klärbar. „Zu finden ist er im Band 8 Aufsätze und verstreute Prosa. – Berlin: Elfenbein Verlag, 2003. Dort wird auf das „Lesebuch. Vers und Prosa“ (Copyright-Vermerk von 1926, tatsächlich aber Ende 1925 erschienen) verwiesen, dem der Text entnommen wurde. Enthalten sind laut Quellenhinweis im Anhang jedenfalls Texte, die zwischen ca. 1908 und 1925 entstanden“, schreibt man mir aus dem Deutschen Literaturarchiv Marbach.
Klabunds „Kinderkreuzzug basiert auf einer wohl wahren Geschichte. Wikipedia schreibt dazu:
„… Der Kinderkreuzzug (lateinisch peregrinatio puerorum) war ein Ereignis, bei dem im Frühsommer des Jahres 1212 Tausende von Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen aus Deutschland und aus Frankreich unter der Leitung visionärer Knaben zu einem unbewaffneten Kreuzzug ins Heilige Land aufbrachen. Der Zug scheint sich bereits an den Ufern des italienischen Mittelmeers aufgelöst zu haben.
Der Name Kinderkreuzzug ist eine Übersetzung des in den Quellen oft verwendeten Begriffes peregrinatio puerorum. Sowohl peregrinatio (Kreuzzug) wie auch puer (Kind) lassen jedoch mehrere Deutungsmöglichkeiten zu. (…)
Die Teilnehmer des Kinderkreuzzugs waren nicht, wie der Name impliziert, ausschließlich Kinder, sondern zu einem großen Teil Jugendliche und Gruppen von Erwachsenen. Es handelte sich bei ihnen überwiegend um Angehörige niederer sozialer Schichten.
Eventuell beruht die Vorstellung eines Kinderkreuzzuges auf einem sprachlichen Missverständnis. Das lateinische Wort „puer“ kann nicht nur als „Kind“ oder „Knabe“ übersetzt werden, sondern auch als „Knecht“. Damit waren vor allem jüngste Kinder von Bauernfamilien bezeichnet, die oft höchstens eine Arbeit als Hirten oder Taglöhner fanden und so eine arme ländliche Unterschicht bildeten. Diese Interpretation des Namens ist von mehreren neueren Forschungen zum Teil bestätigt worden.
Andere Forscher weisen auf eine Bedeutungsverschiebung des Begriffes puer hin, die im 13. Jahrhundert eingesetzt hatte und in Beziehung zu der neuentstandenen freiwilligen Armutsbewegung steht.
Weniger umstritten als der Begriff Kind ist die Bezeichnung Kreuzzug. Der Begriff Kreuzzug wird im Deutschen erst ab dem 17. Jahrhundert verwendet. In den Quellen zum Kinderkreuzzug werden die Begriffe peregrinatio (Pilgerfahrt), iter (Weg) und expeditio (Feldzug) verwendet.
Diese Begriffe mit der Angabe des Zieles Jerusalem und dem Hinweis auf das Tragen des Kreuzzeichens (crucisignati) ist durchaus die gängige zeitgenössische Bezeichnung für Kreuzzug. Obwohl die Teilnehmer des Kinderkreuzzuges unbewaffnet waren und kein päpstlicher Kreuzzugsaufruf vorhergegangen war, wird die Bezeichnung Kreuzzug in der Forschung als zutreffend betrachtet. (…)
Die Sagen- und Legendenbildung zum Kinderkreuzzug hat schon sehr früh eingesetzt. In dieser Hinsicht sind vor allem drei Chronisten aus dem dreizehnten Jahrhundert von Bedeutung. Es handelt sich um Alberich von Trois-Fontaines, Matthäus Paris und Vinzenz von Beauvais. Ihre Berichte zum Kinderkreuzzug sind sehr mythenumwoben und wurden in der späteren Historiographie stark rezipiert. Da sie als „Zeitzeugen“ gelten, wurden ihre Einträge bis weit ins 19. Jahrhundert als glaubwürdig betrachtet und oft unbesehen kopiert.
Nach Alberich zog der Kreuzzug der kleinen Kinder (expeditio infantium) von Vendôme nach Paris. Als sie zu 30.000 zusammen waren, zogen sie nach Marseille, um das Meer zu überqueren und gegen die Sarazenen zu kämpfen. Die Kinder seien von zwei schlechtgesinnten Kaufleuten und Kapitänen, Hugo Ferreus („der Eiserne“) und Wilhelm Porcus („das Schwein“), auf sieben große Schiffe gelockt worden. Nach zwei Tagen seien sie in einen Sturm geraten und zwei der Schiffe seien vor Sardinien gesunken. Papst Gregor IX. (1227–1241) habe später diesen Kindern zu Ehren eine Kirche der Neuen Unschuldigen auf der Insel San Pietro gestiftet. Die restlichen fünf Schiffe seien nach Bejaia und Alexandria weitergefahren, wo die Kinder den Sarazenen als Sklaven verkauft worden seien. Unter diesen Sklaven hätten sich auch vierhundert Kleriker befunden. Nicht genug, noch im selben Jahr seien die Kinder weiter nach Bagdad verkauft worden, wo achtzehn von ihnen als Märtyrer gestorben seien. Achtzehn Jahre nach dem Kinderkreuzzug (1230) hätten sich immer noch siebenhundert Kinder, jetzt im Mannesalter, als Sklaven in Alexandria befunden.“
In „Die Welt“ erscheint am 22. August 2003 ein Artikel – „Hippies, Sklaven oder Bettler“ Die Ahnen der Kindersoldaten? Neue Studien versuchen, die mittelalterlichen „Kinderkreuzzüge“ zu entschlüsseln.
Der Autor Philipp Haibach verknüpft diese Kinder mit den heutigen Kindersoldaten und schreib;
„… Der Zynismus der Erwachsenen liest sich heute in einem anderem Licht: 300 000 Kinder werden nach Angaben von Unicef weltweit als Kämpfer missbraucht. Liberia, Burundi, Kongo, Somalia, die Philippinen Sri Lanka, Uganda, Sudan heißen die Länder, die ihre Kinder zum Morden zwingen. Doch was wie eine grausige Entwicklung des dritten Jahrtausends erscheint, hat uralte Wurzeln, die immer wieder mörderische Blüten hervorbrachten. Zum Beispiel die „Kinderkreuzzüge“. Die Quellen sind dünn. Wenige Zeilen finden sich im fast 10 000 Seiten umfassenden „Lexikon des Mittelalters“. (…) Die greifbaren Fakten sind schnell referiert: 1212 sammelten sich im Rheinland und in Frankreich Tausende von Kindern, um nach Palästina zu ziehen. Aus Deutschland sollen sich 25 000, aus Frankreich etwa 30 000 Kinder auf den Weg gemacht haben, um mit friedlichen Mitteln das Heilige Grab befreien, das die Kreuzfahrer längst an die Muslime verloren hatten. (…)
Und viele schafften es sogar in die italienischen und französischen Häfen. Über ihr weiteres Schicksal ranken sich die Mythen: Gelangte überhaupt ein einziger nach Jerusalem oder ereilte die wenigen Überlebenden das Schicksal der bei früheren Kreuzzügen mitgezogenen „Armen“: Sklaverei, Vergewaltigung und Prostitution? (…)
Die zentrale Frage bleibt bis heute ungeklärt. Was trieb die jungen Menschen an, in ihr Verderben zu rennen? (…)
Der Sachbuchautor Thomas Ritter (…) vermutet die Macht eines geistlichen Ordens hinter den Kinderkreuzzügen. Darauf deute der gleichzeitige Beginn der Kreuzzugspredigten in Frankreich und Deutschland hin.
In seinem (…) Buch „Im Namen des Herrn – Die Kinderkreuzzüge im Jahr 1212“ (…) schließt Ritter sogar den Einfluss aus Rom nicht aus, wo man bestrebt war, etwas gegen die „Kreuzzugsmüdigkeit“ zu tun.“
Nationalsozialismus
Immer noch ist in einigen Veröffentlichungen zu lesen, auch Klabund sei der Bücherverbrennung der Nazis zum Opfer gefallen. Es wäre eine Ehre gewesen, aber diese Behauptung stimmt nicht.
Guido von Kaulla schreibt:
„… Als 1933 die NSDAP zur Macht gelangt, gehören aber keineswegs Klabunds Bücher zu den Opfern der Bücherverbrennungen, denn nur lebende — weiterhin produzierende – Autoren sollten durch diesen Bücher-Flammentod gebrandmarkt werden. Keineswegs also waren seine Bücher als solche auf dem Index der verbotenen Bücher.
Er gerät nur dadurch buchhändlerisch ins Hintertreffen, dass auch seine Werke, soweit sie in einem „unerwünschten“ Wiener Verlag erschienen und erscheinen („Borgia“, „Rasputin“, die zusammengefasste „Literaturgeschichte“, die „Gesammelten Werke“) eben deswegen automatisch im „Altreich“ keine buchhändlerische Verbreitung mehr erfahren.
Im „Verzeichnis der Schriften, die 1933 bis 1945 nicht angezeigt werden durften“ (Ergänzung 1 der Deutschen Nationalbibliographie. Leipzig. 1949) ist Klabund nicht genannt. In dem Verzeichnis der polizeilich beschlagnahmten und eingezogenen sowie der für Leihbüchereien verbotenen Druckschriften herausgegeben von der Bayerischen Politischen Polizei, ist Klabund denn auch nur mit den Buchtiteln des „nichtarischen“ Verlages enthalten. In der „Liste des schädlichen und unerwünschten Schrifttums“, herausgegeben von der Reichsschrifttumskammer (mit dem maßgebenden Stand vom Oktober 1935) ist Klabund sogar nur mit dem „Borgia“-Roman vertreten. „Reichsdeutsche“ Verlage, die noch vertragsgemäß Klabundiana im Angebot haben (Insel, Heyder, Reclam) dürfen weiterhin ausliefern.
Klabunds Mutter schreibt denn auch am 20. 8. 1942 an den Biographen: „Es wird Sie gewiss interessieren, dass hier in der Buchhandlung von R. Zeidler die Klabund-Bücher (mit Ausnahme von dem Roman Borgia) wieder ausliegen und verkauft werden dürfen.“
Wenn also damals in manchen öffentlichen Bibliotheken auch andere – zuweilen auch: alle – Klabund-Werke mit dem Stempel „Sekretiert“ versehen und damit aus dem Bibliotheks-Verkehr gezogen wurden, so hat das seine Ursache gehabt teils in 150-prozentigem Bonzentum und teils in der List von Bibliothekaren, die so diese Bücher vor gesetzlosem Zugriff schützen und zugleich für die Zeiten aufheben wollten, in denen der braune Spuk zu Ende sein würde. Mit Erfolg.“
Matthias Wegner:
„… Zwar findet sich der Name Klabund noch nicht auf den „Schwarzen Listen“ der Bücherverbrennungen vom 10. Mai 1933, aber 1935 tauchen der Autor und sein Roman „Borgia“ erstmals in einer von der Reichsschrifttumskammer herausgegebenen „Liste 1 des schädlichen und unerwünschten Schrifttums“ auf. Im „Verzeichnis Jüdischer Autoren“ des „Amtes Schrifttumspflege bei dem Beauftragten des Führers für die gesamte geistige und weltanschauliche Erziehung der NSDAP und der Reichsstelle zur Förderung des deutschen Schrifttums“ von 1943 wird Klabund als jüdischer Autor stigmatisiert und im gleichen Jahr mit mehreren Titeln in der „Bibliothek der Antijüdischen Aktion“ genannt. Da zudem die Werkausgabe wie zu Lebzeiten auch einige seiner mehr als siebzig Bücher in einem als „nichtarisch“ etikettierten Wiener Verlag erschienen war, war ihre Verbreitung bis 1945 so gut wie unmöglich. Und zu den Verdrängungsmechanismen der Jahre danach passte Klabunds sowohl emphatisch elegische als auch ironisch freche Dichtung eben so wenig wie die vieler einstmals gefeierter und dann vertriebener Dichtergrößen der Weimarer Republik.“
Wäre es nach dem Willen der „Braunen Machthaber“ gegangen, hätte man die Spuren dieses „Jüdischen Dichters“ doch vernichtet. Es bestanden Pläne das Ehrengrab in Crossen einzuebnen. Dazu ist es nicht mehr gekommen. Einen Grund habe ich in der Familiengeschichte der Henschkes schon beschrieben: Am 24. November 1936 stirbt Dr. Alfred Henschke. Er wurde neben seinem Sohn begraben und diese beiden Gräber ließen die „Nazis“ in Ruhe, der Respekt vor seiner Persönlichkeit in der Stadt war Schutz genug.
Das Grab gibt es nicht mehr, der Bergfriedhof wurde zerstört, als die neuen Machthaber rechts der Oder die Stadt übernahmen. Aber man findet Fredi wieder in Krosno Odrzanskie – in einem Park sitzt er auf einer Bank und …. liest, aber er schreibt nicht mehr.
Wenn andere sich mit meinem Tun befassen,
Dann sieht der eine Schatten und der andere Licht,
Der hält gerecht, der ungerecht Gericht.
Man soll mich lieben oder soll mich hassen –
Ein Drittes will ich nicht.
Klabunds Tod – Und was erinnert uns an ihn?
Rückblick, Mitte Juli 1928 plagt Klabund hohes Fieber, er muss nach Davos. „Also trat er seine letzte Reise an – zum Haus Stolzenfels, zur Familie Poeschel. Der Arzt stellte eine schwere Lungenentzündung, aber auch eine Hirnhautentzündung fest.“ (Wafner)
Fredi ahnt sein nahes Ende und schreibt an die Eltern in Crossen Anfang August:
„… Liebste Eltern, herzlichsten Gruß aus Davos! Ist es Euch nicht möglich, sagen wir innerhalb 8 bis 10 Tagen nach Davos zu kommen? Ihr sitzt von Berlin bis Landquart (1 Stunde nach Davos) im selben Wagen (Schlafwagen). Ich lade Euch herzlichst ein. Euer Fredi.“
Am 14. August stirbt Klabund, Guido von Kaulla:
„… Am 13. August abends gegen 10 Uhr beginnt Klabund hinzuscheiden – er findet Erlösung durch eine Schwäche der letzten Stunden. Dr. Staub hatte das Ende nicht so rasch erwartet, so dass die Eltern nicht mehr rechtzeitig herbeitelefoniert werden können und erst am 15. August eintreffen. Carola bittet Dr. Poeschel inständig, nicht aus dem Zimmer zu gehen – sie nicht allein zu lassen in ihrer Angst – der Angst eines naturhaften Menschen vor dem Ende, dem Tode. Am Bett Klabunds, der niemand mehr erkennt, stehen in der Sterbestunde Carola Neher, Dr. Erwin Poeschel und eine Nachtschwester. Am Morgen des 14. August 1928 – um halb fünf Uhr – ist Klabund sanft entschlafen.“
Die „Davoser Zeitung“ Nr. 191 veröffentlicht diese Anzeige: „Standesamt. Todesfälle: Den 14. August: Henschke genannt Klabund Alfred, Dr. phil. Schriftsteller von Crossen a. d. Oder, geb. 4. Nov. 1890, Gatte der Carola geb. Neher.“
Und im Anzeigenteil derselben Zeitung: „Die Kremation von Klabund findet Donnerstag nachmittags halb fünf Uhr hier statt.“ –
Im „Crossener Tageblatt“ vom 20. 8. 1928 heißt es: „Hunderte von Depeschen aus ganz Deutschland und darüber hinaus waren bei der Witwe von Freunden, Künstlern, Pressevertretern, Theaterdirektoren eingegangen.“
Klabund beschreibt seinen Wunsch, verbrannt zu werden:
„… Ich möchte, dass man meine Asche über das Meer hin‘ streut. Dann werde ich wie Jonas in einem Walfischbauch landen oder eine Flunder wird mich verschlucken und ein dicker Herr aus Königsberg wird mich eines Tages zum Nachtmahl zu sich nehmen. Aber vielleicht gelange ich auch ungefährdet bis auf den Grund des Meeres, ja: vielleicht auf den Grund allen Seins“.
Wohl auf Wunsch der Familie soll die Urne in Crossen beerdigt werden und diese Beerdigung verzögert sich, man ist sich über die Form im Rat der Stadt nicht einig.
Zurückgekehrt nach Berlin schreibt Carola Neher nach Davos:
„…Liebe Frau Poeschel,
ich danke Ihnen sehr für Ihren letzten lieben Brief. Sie sind sehr gut zu mir.
Denken Sie, die Beisetzung ist noch nicht gewesen in Crossen, immer war sie wieder verschoben, ich habe solche Angst davor. Diese Bürgermeister und Stadtverordneten-Trottel streiten sich jetzt um den Platz, was sagen Sie? Monilein hätte sich totgelacht!
Ich konnte nicht arbeiten. Ich bin 2 x bei den Proben ohnmächtig geworden und der Arzt hat mir vorläufig jede Arbeit verboten. Am liebsten wollte ich sofort wieder nach Davos fahren. Aber Sie gehen jetzt weg und Thea geht weg und da lohnt es sich nicht und es ist auch zu weit in diesem Falle. Haben Sie das Bild bekommen von Moni?
Auf Wiedersehen, liebe Freunde, alles Gute wünscht Ihre Carola Neher.“
Was Carola Neher in ihrem Brief anklingen lässt – die Diskussion in der Stadt – „Diese Bürgermeister und Stadtverordneten-Trottel streiten sich jetzt um den Platz, was sagen Sie? Monilein hätte sich totgelacht!“, beschreibt Guido von Kaulla:
„… In Crossen hält man es zunächst gar nicht für selbstverständlich, dem Dichter ein Ehrenbegräbnis zu geben. Die Bürgerschaft ist immer noch gespalten in ihrer Wertung. Aber die hohe Achtung, die seinem Vater – einem Manne mit frühen demokratischen Auffassungen – in der Stadt entgegengebracht wird, überwindet schließlich alle engstirnigen Hürden und führt zu dem einstimmigen Beschluss: am Nachmittag des 9. September die Beisetzung in einem von der Stadt Crossen an hervorragender Stelle auf dem Bergfriedhof geschaffenen Ehrengrabe stattfinden zu lassen.“
Der Bergfriedhof war ganz im Sinne von Klabund, in einer seiner Geschichten erzählt er einmal:
„…Friedrich der Große hat den Crossener Fischern und Schiffern abgeraten, sich weiterhin unten in der Oder- und Boberniederung anzusiedeln. Er riet ihnen, auf die Berge zu gehen. Aber die halsstarrigen Crossener blieben fest. Erbost schrie sie der ärgerliche alte Herr an: „Bleibt wo ihr seid und versauft in eurer Dummheit!“ Nun, sie sind nicht ersoffen, die guten Crossener; auch nicht in ihrer Dummheit, sie sind immer noch recht lebendig, und hin und wieder schicken sie einen rechten Unruhestifter in die Welt, allerlei wunderliche und aufgeregte Leute, wie den alten Konrektor, der als erster am lenkbaren Luftballon herumexperimentierte, den Philosophen Rudolf Pannwitzer und den Schreiber dieser Zeilen. Über ihn ist sogar schon einmal ein Artikel erschienen unter der Überschrift: „Der Stern von Crossen“, der ihn mit nicht geringem Stolz erfüllte. Denn er ist ein Crossener, mit Freude und Wehmut denkt er seiner Heimat. Und wenn er einmal begraben werden sollte, was hoffentlich noch lange Weile hat, dann soll man ihn auf dem Bergfriedhof neben dem General Friedrichs des Großen begraben. Und ewig wird vor seinen klaren, verklärten Augen das Odertal liegen: die Aue, die kleine Stadt und ganz im Hintergrund der Kämpfenberg. Und im Baedeker wird sein Grabdenkmal neben dem Barockdenkmal des Generals einen Stern bekommen. Den Stern von Crossen.“
Ob er tatsächlich neben diesem General gelegen hat, weiß ich nicht, aber der Bergfriedhof ist es doch geworden – Guido von Kaulla:
„… Am Nachmittag des 9. September 1928 findet die Beisetzung der Urne im Ehrengrabe der Stadt Crossen auf dem Bergfriedhof statt. Am Grabe liegen rote und weiße Rosen – eingedenk der Worte Klabunds: „Ich stamme irgendwo aus der Mark. Ich bin ein Preuße. Und meine Farben, die ihr kennt, sind schwarz und weiß. Schwarz, das ist die Nacht. Und weiß, das ist der Tag. Ich bin Tag und Nacht.
(…) Immer wieder muss ich mit heißer Klinge die klingenden Kämpfe in mir zu Ende fechten. Den Kampf der roten und der weißen Rose. Wenn ich einmal verblutet dahinsinke, soll man mir weiße und rote Rosen aufs Grab werfen. Das soll geschmückt sein wie ein Brautbett und ein liebendes Paar soll wie Goldregen darauf niederstürzen. Und noch im Tode werde ich das neue Leben segnen.“
Carola Neher kann erst mit viertelstündiger Verspätung aus Berlin kommen. Sie ist sehr verweint, beschreibt Guido von Kaulla die Feier.
In den Crossener Heimatgrüßen erschien im Heft 4 des Jahres 1978 dieser Artikel:
Vor 50 Jahren starb der Dichter – Totenfeier auf dem Bergfriedhof mit einer Rede Gottfried Benns
Wer heute als Besucher an Oder und Bober über den von den Polen in einen Park verwandelten Crossener Bergfriedhof geht, hat auch als Ortskundiger Mühe, die Stelle zu finden, an der die Asche des Dichters Alfred Henschke-Klabund der Erde anvertraut wurde. Wesentliche Bezugspunkte wie die den alten Teil des Gottesackers abgrenzende gemauerte Erbbegräbnisreihe und die Friedhofskapelle fehlen. Nur nach dem Wegeverlauf kann man ungefähr bestimmen, wo zwischen den Bäumen unter wenig gepflegtem Rasen die Urne ruhen muss. Das bei der Beisetzung am 9. September 1928 von Bürgermeister Küntzel gegebene Versprechen, dass die Stadt das Ehrengrab von Generation zu Generation behüten und pflegen wolle, kann also der politischen Umstände wegen nicht eingehalten werden. Umso mehr fühlen wir noch lebenden Crossener uns aber verpflichtet, dazu beizutragen, dass Leben und Werk Klabunds unvergessen bleiben.
Einen solchen Beitrag will ich in diesen Tagen, da sich der Tod Alfred Henschkes am 14. August 1978 zum 50. Male jährt, dadurch leisten, dass ich hier in den „Heimatgrüßen“ zwei Freunde und Gönner Klabunds. die an dem Begräbnis teilnahmen, zu Wort kommen lasse.
Der erste ist Fred Hildenbrandt (gestorben 1963). Dieser schrieb einen Tag nach dem Begräbnis im „Berliner Tageblatt“, dessen Feuilletonchef er damals war, unter der Überschrift „Totenfeier für Klabund“:
„Es wird der kleinen Stadt Crossen immer zur Ehre gereichen, dass sie den Lebenslauf eines ihrer Söhne mit solchem liebevollen Interesse verfolgte, dass sie ihm, da dieser Lebenslauf so plötzlich abbrach, über das Grab hinaus alles an Ehren erwies, deren sie fähig war.
Gestern Nachmittag wurde die Urne mit der Asche Klabunds in Crossen auf dem alten Friedhofe beigesetzt. Feuerwehr sperrte ab. Viele Einwohner hatten sich eingefunden. In der kleinen Kapelle sprach der Pastor die Gebete, worauf die Urne wenige Schritte weiter an das mit Blumen bedeckte Grab getragen wurde. Eine Abordnung von Schülern, in blauen Anzügen und mit derselben Mütze, die Klabund getragen hatte, ließ durch einen Kameraden ein Gedicht vortragen.
Darauf sprach der Bürgermeister von Crossen, im Frack und mit allen Orden, und aus seiner Rede konnte man entnehmen, wie hier schon zu Lebzeiten ein deutscher Dichter geliebt und gefeiert worden ist. Er übernahm im Namen der Stadt das Grab und versprach, dass diese Stätte von Generation zu Generation gepflegt und behütet werden solle. Nach ihm hielt Dr. Gottfried Benn eine wundervolle Andacht für seinen toten Freund, für den Menschen, den Leidenden und den Dichter, eine der herrlichsten Reden, die je an einem Grabe laut geworden sind. Kränze wurden niedergelegt, darunter der Kranz der Stadt Crossen: „Ihrem großen Sohne“, ein Kranz der Deutschen Bühnengenossenschaft, ein Kranz der Funkstunde, einer der Deutschen Buchgemeinschaft, einer im Namen Max Reinhardts für das „Deutsche Theater.“
Ein Männerchor sang Lieder. Mit tiefster Bewegung standen die Eltern am Grabe, und sie mögen nicht nur einen Trost der Worte mitgenommen haben, sondern einen wahrhaften Trost des Herzens.“
„Die Stadt Crossen war die erste, die es vorzog, einen Dichter in solcher Weise zu ehren, sie hat ein Beispiel aufgestellt, indessen in anderen Städten Boxer, Läufer und Männer und Frauen der Muskeln überschwänglich gefeiert werden, fand sie es richtig, einen dünnen, muskellosen, jünglingshaften, rekordlosen Menschen zu feiern, der zum Geiste gehört. – Ehre der Stadt Crossen.“
Und weiter:
„… In die große Stille des Friedhofes hinein, in dessen Zypressen ein leichter Wind wühlte, ertönte der Klagegesang eines Freundes für einen Freund, eines Dichters für einen Dichter, gehalten in der einfachsten Sprache eines bettübten Herzens.“
Dieser Freund ist Gottfried Benn – seine Grabrede für Klabund:
„…Ist nicht alles nur Ton, darin wir spielend nach Göttern suchen. H. Mann
Bei dieser Feier, die die Stadt Krossen ihrem verstorbenen Sohne weiht, habe ich als des Toten ältester Freund und märkischer Landsmann unter den schriftstellernden Kollegen die Aufgabe und die Ehre, einige Worte zu sprechen.
Ich sehe hier versammelt in erster Linie die landschaftliche und genealogische Verwandtschaft des Verstorbenen, die Eltern, an denen er so hing, die Gattin, die er so sehr liebte, die Stadt, zu der er zählte, und wir wollen dies alles in uns aufnehmen und verehren, da es Klabunds Heimat war. Aber eine andere Verwandtschaft drängt herbei, eine andere Vater- und Bruderschaft macht ihr Recht geltend, heute hier zu sein, eine große Gemeinschaft aus vielen Städten, aus Berlin, aus München und über Deutschlands Grenzen hinaus aus vielen Zentren des abendländischen Lebens bekundet ihr Verlangen in dieser Stunde – ich meine die Gemeinschaft derer, die der Menschheit zu dienen glauben, in dem sie dem Worte dienen, ich meine die Gemeinschaft der Künstler, Dichter, Schriftsteller und Literaten, die den Härten des Lebens nichts anderes entgegenzusetzen haben als ihren Glauben, ihr Talent und ihr Leiden, und zu denen der Verstorbene sich bekannte in den Jahren der Bedürftigkeit wie in den Jahren des Ruhms. Im Namen dieser will ich sprechen.
Da habe ich zunächst das Bedürfnis, der Stadt Krossen einen Dank abzustatten. Es ist schön, dass sie es ermöglichte, dass Klabund auf diesem Friedhof ruht. In Norddeutschland, von wo er hergekommen ist, in dieser Stadt, die er oft besungen hat, am bewegendsten heute für uns in jener Ode an Krossen, in deren Schlussversen er diese jetzige Stunde beschreibt und sieht, die Stunde: „in der auf seinen kleinen, kindlich-kümmerlichen Leib die Erde fällt, die ihn gebar, an der Grenze Schlesiens und der Mark, wo der Bober in die Oder, wo die Zeit mündet in die Ewigkeit“ — ich sage, ich möchte mir die Freiheit erlauben, der Stadt zu danken, dass sie es sich nicht hat nehmen lassen, ihren Sohn, diesen, unseren Kameraden, der nur ein Künstler war – nur Narr, nur Dichter, wie es im „Zarathustra“ heißt -, mit allen Ehren des Lebens und der Öffentlichkeit zu sich zurückzuholen. Die Dichter sind die Tränen der Nation – es ist vielleicht für Deutschland nicht schlecht, wenn die anderen hören, dass eine Stadt die Zeit und die Innerlichkeit besaß, diesen Tränen der Nation ihre Aufmerksamkeit und ihre Ehrfurcht zu bezeugen.
Aus diesem Tal also, das wir heute durchfuhren, stammte Klabund. Diese Hügel, dieser Strom. Als er sie zum ersten Male verließ, als Junge, um auf eine andere Schule zu kommen, begegneten sich unsere Wege. Wir waren beide auf derselben Schule, dem Friedrichs-Gymnasium zu Frankfurt an der Oder, auch in derselben Pension in der Gubener Straße, und wir dachten oft daran zurück. Wir trafen uns immer wieder in München und Berlin, unser letztes Weihnachten feierten wir zusammen, und als Klabund am 30. Mai dieses Jahres Deutschland zum letzten Mal und für immer verließ, trat er die Reise mit seiner Frau von meiner Wohnung aus an.
Ich kannte ihn in den Zeiten, wo er noch nichts war, und in den Zeiten des Glanzes seines Namens. Die schönsten Jahre waren wohl die, als er, bald nach dem Krieg, in Berlin in einer kleinen Straße des Südwestens wohnte, in einem kleinen Zimmer, das nur ein Fenster hatte und kein Bett; er schlief auf einem Sofa und, wenn man vormittags ihn besuchte, lag er auf diesem Sofa ganz bedeckt von Manuskripten, Zeitungen, Briefen und Journalen und arbeitete rastlos und fieberhaft, wie er sein ganzes Leben lang tat. Es waren die Jahre der zweiten Periode seiner Gedichte, seiner Romane und die Jahre, in denen ihm der Gedanke an den „Kreidekreis“ kam. Es waren auch Jahre der Krankheit, und ich ging oft zu ihm als Arzt. Manchmal nannte ich ihn in Freundschaft Jens Peter, das waren die Vornamen des großen dänischen Romanschriftstellers Jens Peter Jacobsen, dem er äußerlich ähnelte, und der an der gleichen Krankheit litt und starb. Oft auch sah ich Veilchen in seinem Zimmer, die Lieblingsblumen Chopins, seines anderen Krankheitskameraden. Einmal lasen wir zusammen die letzten Worte Chopins, die er an seinem Todestage schrieb, sie lauteten: „Meine Versuche sind nach Maßgabe dessen vollendet, was mir zu erreichen möglich war“ – das Abschiedswort eines wahren Künstlers, der das Fragmentarische des Individuellen erlebt hatte, ein Wort von Stille und Zurückhaltung, wie es auch Klabund hätte geschrieben haben können, dessen Wesensgrundzug alle die Jahre hindurch der einer tiefen brüderlichen Bescheidenheit war.
Die zarte, nie zu einer völligen Reife erwachsene Gestalt unseres toten Freundes tritt vor unseren Blick. Der schmächtige Mann, und auf seinen Schultern trug er eine Last, die schwer zu tragen war. Ich meine nicht die Krankheit, ich meine die Berufung. Gegen eine Welt der Nützlichkeit und des Opportunismus, gegen eine Welt der gesicherten Existenzen, der Ämter und der Würden und der festen Stellungen, trug er nichts als seinen Glauben und sein Herz. Es gibt den Wahlspruch eines alten französischen Geschlechts, der Beaumanoire, der im Grunde der Wahlspruch aller Künstler ist: „Bois ton sang, Beaumanoire“ -trinke dein Blut, Beaumanoire“; das heißt für den Künstler, du leidest, hilf dir selbst, du bist deine eigene Erlösung und dein Gott; du bist durstig, du musst dein Blut trinken, trinke dein Blut, Beaumanoire! Und dieser hier trank sein Blut jede Stunde seines Daseins, wie es das innere Gesetz seines Lebens und seines Sterbens ihm befahl.
Diese schmächtige Gestalt – und die Unendlichkeit der Welt. Das Aufgestiegene und das Versunkene, Dinge, die wir erleben, und Dinge, die wir ahnend erschließen, zusammenzufassen, zusammenzuströmen zu einem Wort, zu einer Wahrheit jenseits jeder Empirie. Durch die Geschichte aller Zeiten und Völker gehen diese Figuren, auf deren oft kranken Schultern ehre geheime Sendung liegt. Es ist schwierig, darüber zu reden in einer Stunde des Heute, die durchklungen ist vom Sausen der Propeller und vom Arenageheul einer Boxerzivilisation, dass es einst eine andere Menschheit gab und wieder geben wird und eine andere Menschheitsstunde. Ich weiß nicht, ob Ihnen gegenwärtig ist, wie die Forschung dabei ist, die viertausend Jahre Menschheitsgeschichte, die wir bis heute übersahen und an deren Ende wir gehören, zurückzustellen vor jenen zehntausend Jahren, die vorher waren, da eine andere Art Menschheit mit anderen Kräften der Seele sich gestaltete und wuchs.
Diese Zeitspanne, die wir als die geschichtliche bezeichnen, als die geistige Bewusstwerdung, als den sogenannten Aufstieg aus der primitiven Gemeinschaft, scheint zu verblassen und klein zu werden vor den weiteren Zeiträumen, die die eigentliche produktive Periode des humanen Geschlechts zu umschließen scheinen, eines Geschlechts unter heiligen Zeichen und mit einem magischen Gesicht. Die Forschung spricht in diesem Zusammenhang von jenen rätselhaften „Leuten vom Fremdboottypus“, deren Schiffe noch in den Darstellungen der ältesten mesopotamischen Kulturdenkmäler gefunden sind, um dann für immer spurlos zu verschwinden. Aber sie sind nicht verschwunden, meine ich, sie gingen weiter durch die Jahrtausende und durch die Völker, diese rätselhaften „Leute vom Fremdboottypus“, bis in unsere Tage, und retteten die Erbmasse des Urgesichts.
Er, dessen Asche in dieser Urne ruht, hatte das Fragwürdige und das Vage des Gesandten. Keine Sicherheit, keine Beweisbarkeit der Existenz. Die Realität, von einer zivilisatorischen Menschheit geschaffen und behauptet, keines Blickes, keines Lächelns wert. Immer nur gegen sie angehen, immer nur sie umbiegen zu einem Zug von Masken, zu einem Wurf von Formen, ein Spiel in Fiebern, sinnlos und das Ende um jeden Saum. Ach, diese ewige Entwicklung, welch eine kommerzielle Kontinuität! Die Seele hat andere Tendenzen, sie hat eine Schichtungs- und Rückkehrtendenz zu jener Erbmasse, zu jenen Träumen, zu jenen Tränken aus ihrem alten Blut: die Wirklichkeit und die Entwicklung, die Kausalität und die Geschichte, alles nur Masse, alles nur Ton, darin sie spielend nach Göttern sucht.
Unser Freund hier suchte nach Göttern in allem Ton. Nichts konnte ihn beirren in der Freiheit dieses Drangs. Und wenn ich an seine Urne etwas zu schreiben hätte, wäre es ein Satz aus einem der großen Romane von Joseph Conrad, über die ich oft in der letzten Zeit mit dem Verstorbenen sprach. Ein Wort, das die Verwirrungen des Menschenherzens und der Menschheitsgeschichte raunend erhellt: „dem Traum folgen und nochmals dem Traum folgen und so ewig – usque ad finem.“ (bis zum Ende) Mit diesem Satz nehme ich Abschied von unserer fünfundzwanzigjährigen Freundschaft und im Raunen dieses Satzes ruhe ewig Klabund.“
Fred Hildenbrandt sorgte dafür, dass diese Totenrede auf einer Schallplatte festgehalten wurde.
Nach der Trauerfeier schreibt Carola Neher in einem Brief an das Ehepaar Poeschel:
„… Liebe Poeschels,
vielen Dank für Ihre liebe Karte aus Nauheim. Wie viel Sie an mich denken! Wie hab ich das verdient? Es geht mir besser jetzt aber ich spüre doch, dass der liebe Gott sehr mit mir abgerechnet hat, indem er mir mein Monilein genommen hat. (…)
Die Grabrede von Benn war tatsächlich sehr schön. Er ist ein selten gescheiter und interessanter Mensch. Ich bin mit ihm befreundet und habe eine große Stütze an ihm.
Was Ihr Mann in der Davoser Revue schrieb, habe ich gelesen und fand es sehr schön. (…) Viele herzliche Grüße, ganz Ihre Neherchen“
In der ersten Ausgabe der „Davoser Revue“ nach Klabunds Tod erscheinen am 15. September 1928 die Nachrufe von Erwin Poeschel, Martin Platzer und Jules Ferdmann, Klabund Gedichte und das Märchen von Sankt Jemand und Sankt Niemand, in denen noch einmal die enge persönliche Verbundenheit des Dichters mit Davos zu spüren ist, mit den Menschen, der Landschaft, dem Ort seiner Krankheit, seiner Erholung und seines Todes.
Klabund
Von Erwin Poeschel, Davos
Den ungezählten Berichten, die das Werk dieses Dichters wogen, als die Kunde von seinem Tode ging, einen weiteren hinzuzutun ist hier nicht unseres Amtes. Aber es wäre nicht recht, wenn ungesagt bliebe, dass Klabund denen, die hier eine Weile seines Lebens mit ihm verbrachten, nicht allein der Dichter war, der dem Erbe deutscher Poesie ‚einen eigenen Klang, ein Wort, das nur er sagen konnte, beisteuerte. Was er dichtete, darum wissen viele, was er als Mensch war, nur die- ihm begegneten. Und wenn man nun, nachdem die erste Erschütterung verebbt ist, unter denen, die ihn kannten, sein Bild beschwört, so wird man inne, dass nicht nur seine Verse, sondern auch seine menschliche Wirkung weiter dauert, ja, dass man an ihn denken und von ihm reden kann, als habe er gar nicht unser Ufer verlassen. Die Erinnerung an ihn ist mit einer Innigkeit ohnegleichen lebendig, ja sie ist von einer Heiterkeit umgeben, die von dem Teil Schwermut, der ihr beigegeben ist, nicht getrübt, sondern nur tiefer durchleuchtet wird. So ist der Zauber seines Wesens stärker gewesen als der Tod. Als die schwarzen Flügel seine Stirne schon tief beschatteten, brach in manchen Momenten noch sein Lächeln durch die Dämmerung, dieses Lächeln, das immer war, als ob ein Vorhang zerrisse, das einen jugendlichen Charme und eine bestrickende, wesenhafte Liebenswürdigkeit atmete, der nicht zu widerstehen war. Wenn Frauen ihn verstanden, so war es nicht von ungefähr. Denn er hatte ein höfliches Herz und einen zärtlichen Sinn. Hilfreichen Sinnes versagte er sich nie dem, der ihn brauchte, und so viele etwas bei ihm suchten, so wenig forderte er. Wie er den Menschen Treue hielt, so war er anhänglich auch an unsere Landschaft, von deren Zauber noch einer seiner Briefe sprach, bevor er nun zum letzten Mal wiederkehrte.
Er hatte den vollen ungebrochenen Sinn für die Fülle und die Schönheit des Lebens bis an sein frühes Ende. Was das Schicksal mit ihm vor hatte, hat er mit diesem zeitigen Tod erfüllt: er sollte als ein Sinnbild der Jugend in die> Geschichte der Literatur unserer Zeit eingehen und in unserer Erinnerung bleiben. Wie er in seiner Dichtung das Direkte und Agressive, aber auch das Schwärmerische des jungen Menschen hatte, der sich im Gezweige panischer Naturverbundenheit mit Pflanze, Tier und Sternen verbrüdert wiegt, so stand er auch als Mensch immer dort, wo Leben sich regte, wo Zukunft sich ankündigte, wo Wirkung war und rascher Umsatz der Kräfte. So galt er uns als Bürgschaft, dass es eine Jugend gab, die Wesen war und nicht Lebensalter. Er war offen, locker und bildsam, bewahrte aber in sich einen Bezirk, den er verschloss, und aus diesem Kern seines Wesens erhielt seine Wanderschaft in dieser Welt den Eindruck des Notwendigen, war nicht ein sinnloses Dahin- und Dorthinfallen, sondern Weg und Umweg zu sich selbst. Er war noch ein wirklich echter Nachfahr eines Günther, einer Eichendorff-schen Figur auch vielleicht, aber mit dem harten und bisweilen dissonanten Klang, der in unserer Zeit ist. Denn er konnte Lebensverhältnisse so gestalten als seien es Verse.
Wohl kaum ein Dichter durfte – wie er einem Band seiner Werke den Titel geben: „Das heiße Herz“. Als sein Körper schon der Auflösung nahe war, da schlug dieses Herz noch mit der Kraft der gesunden Tage, in denen es der starke Motor eines heftigen Lebens war. Zwar kam seinem Erlebnisdurst ein starker Antrieb aus der tiefen Kenntnis von der Unersetzlichkeit und Einmaligkeit des Lebens, wie sie einer bedrohten Existenz immer gegenwärtig ist, er war aber doch Ausdruck einer im Innern ungebrochenen Vitalität und nicht etwa hektische Berauschung. Und um dieses starken unsentimentalen Triumphierens des Lebens willen griff er an unser Herz. Leben, Aufnehmen, Schauen, so lang es Tag ist und Arbeiten, bevor es dämmert. Denn das: die Verpflichtung an das Wort war doch schließlich das Band mit dieser Welt. „Ich würde sterben, hätt‘ ich nicht das Wort.“ Jetzt aber ist wirklich die Stunde da, deren Ahnung uns schon damals mit Schwermut erfüllte, als er sagte: „.Wenn ich gehe zu Gott Trag ich in Händen das Wort… Nimm es zurück. — Und schaff leicht mir die Hände und leer.“
Klabund
Von Martin Platzer, Davos-Wolfgang
Das Leben schien dir wie ein buntes Spiel,
Du freutest gern dich seiner grellen Farben —
Im Schreiten selbst schon lag dir Glück und Ziel,
Aus allen Blumen bandst du deine Garben!
Du hülltest dich in mancherlei Gewänder,
Denn Wandlung war dir deines Dichtens Sinn,
Herr warst du und Vermittler vieler Länder
Und nahmst die Dirne wie die Göttin hin!
Man schalt dich frech, weil du ein sichrer Meister
Der Formen warst und nichts dir heilig schien,
Vernahm nicht,‘ wie aus losem Spuk der Geister
Die Qualen einer wunden Seele schrien!
Denn Aufschrei warst du, Flucht vor letztem Ringen!
Und Maske war dir jenes kühle Lächeln
Des Wissens um das Nichts in allen Dingen —
Maske und Sieg im letzten Atemfächeln!
Klabund, Mensch und Dichter
Von Jules Ferdmann
Goethe sagte einmal: „Man muss oft etwas Tolles unternehmen, um nur wieder eine Zeitlang leben zu können. In meiner Jugend habe ich es nicht besser gemacht, und doch bin ich noch ziemlich mit heiler Haut davongekommen.“
So wie Goethe in seinen jungen und nicht selten auch in seinen späteren Jahren, machten es auch Byron und Puschkin, um nur bei ganz Großen zu bleiben. Die objektive Kritik übersieht diese Seite ihres Lebens und ihres Werkes nicht, lässt sich aber in ihrem Gesamturteil dadurch nicht beeinflussen.
Nicht anders darf sie auch bei der Betrachtung des Dichters Klabund verfahren. Auch er hat öfters in seinem Leben etwas Tolles unternommen. Körperlich geschwächt, ist er doch seelisch mit heiler Haut davongekommen. Noch jung, mitten in langsamer seelischer Umwälzung und Umwertung aller Werte, ist er von uns weggegangen. Seine Fehler zu verschweigen wäre ebenso unrichtig, wie seine Verdienste zu verkleinern. Wir erfüllen ihm gegenüber unsere letzte Pflicht, indem wir unparteiisch und gerecht, sine ira et studio, über ihn nachdenken.
Klabund war — besonders in früheren Jahren — ein Liebling der Boheme. Seine Couplets wurden in den Kabaretts vorgetragen, um seine Gedichte und Skizzen rissen sich sensationslustige Blätter und seichte Magazine. Er saß oft in den Tavernen, umgeben von Bohemiens, die gern auf seine Kosten zechten. Seine großen Augen blitzten bisweilen heiter und verwegen, aus seinem Munde ertönte unerwartet ein kindliches Lachen, er sagte hastig ein witziges Wort, oder er sprang von seinem Platze auf, um, nicht gerade sehr gewandt, sich auf dem Tanzboden zu wiegen oder irgend einen Streich zu machen, denn er, der Autor von „Bracke“, war und blieb ein Schalk. Aber meistens saß er still mit erstauntem Ausdruck in den Augen, halbgeöffnetem Mund und seitwärts geneigtem großen, runden Kopf. Er hörte nicht auf, seine Umgebung mit raschen Blicken zu beobachten, während sein Geist irgendwo weit herumschweifte. Bald war er auch dieser Träumereien müde, dann nahm er ungeniert eine Zeitung zur Hand und, mitten in seiner lärmenden Gesellschaft, vertiefte er sich mit Eifer in die Lektüre. Seine Tischgesellen interessierten ihn offenbar sehr wenig, er duldete sie, sehnte sich vielleicht nach ihnen in den Stunden, wo ihn das Gefühl der Einsamkeit übermannte‘, aber er liebte sie nicht und schätzte sie nur sehr gering.
Im Gegensatz zur Mehrzahl dieser Leute war er ein rastloser Arbeiter, ein Mann, dessen vielseitige und genaue Kenntnisse Achtung einflößten. Er verlor nicht gern seine Zeit mit leerem Geschwätz und schwieg, um seinen eigenen Ausdruck zu gebrauchen, „wie ein Parlograph, in den man alles spricht, der alles treu bewahrt“ (Marietta). Er schwieg, und, das bunte Treiben eines Kabaretts beobachtend, dachte er … an gute alte Zeiten der Menschheit, die zu idealisieren er immer geneigt war. Hören Sie zu, an was er dachte:
„Friede war auf Erden, denn die Erde war friedlich, und der Mensch war friedlich, und friedlich war der Himmel und des Himmels Sohn. Man sprach nicht um zu sprechen. Man sprach Gedachtes. Das Leben war einfach und ernst. Die Heiterkeit wohnte im Herzen und nicht in den Schenken“… („Die zwei Reiche“).
Klabund trug viele Gegensätze in sich. Träumerischer Romantiker und überzeugter Idealist hatte er jedoch viel Verständnis für die Dinge des praktischen Lebens, viel Ordnungssinn und Organisationstalent. Da stand er wiederum im ausgesprochenen Gegensatz zu der Boheme.
Graf von Wind erwartet in seinem Roman „Franziskus“ einen jungen Maler aus München:
… „Hoffentlich hat der junge Mann erträgliche Manieren und reine Fingernägel. Mit den obligaten langen Haaren und dem Samtjackett werden wir uns schon abfinden müssen.“ Der junge Maler, der eines Morgens von der Münchener Akademie kommend im Schlosse eintraf, enttäuschte den Grafen auf das wunderlichste und angenehmste. Er trug weder einen Florentiner Hut noch ein schwarzes Samt-Jackett. Auch schienen seine Fingernägel eitel gepflegt und manikürt.
Beim Essen bewegte er das Besteck mit einer vollendeten Sicherheit und Anmut. „Sonderbar, unsere neue deutsche Jugend! sagte der Graf. Sollte man in ihm noch einen Künstler vermuten? Ist er nicht ein eleganter junger Herr? Man könnte ihn bei Hofe vorstellen, und er würde sich nicht im Ton vergreifen. Weiß Gott, ich habe ein wenig Angst vor dieser Jugend. Sie ist mir zu sicher. Sie kann zu viel. Ich will mich hängen lassen, wenn unser Maler nicht schießt, jagt, fischt und reitet wie ein Edelmann. Und dabei malt er noch!“
Im Bilde dieses jungen Malers ist Klabund selbst zu erkennen. Er konnte viel, trug aber sein Können durch keine Äußerlichkeiten zur Schau. Kurzgeschorene Haare, unauffälliger Anzug, freundliche, korrekte Manieren. Charakteristisch für ihn war auch sein großes Interesse für Reiten und Fischen, Bob- und Schlittenrennen. An den Eishockey-Spielen konnte er sich nicht satt sehen. Als es dem Norweger Roald Larsen während der Davoser Eislaufkonkurrenzen des letzten Winters gelang, den Weltrekord von 43,4 auf 43,1 Sekunden zu verbessern, geriet Klabund vor Begeisterung außer sich. Er hielt alle seine Bekannten auf dem Eisplatz auf und wiederholte:
— „Ein Weltrekord in 43,1 Sekunden! Ist es nicht wunderbar!“
Es wäre jedoch gefährlich gewe¬sen, Klabund bei Hofe vorzustellen, denn er konnte sich leicht im Ton vergreifen. ,,Er wusste (so äußerte sich Goethe über Günther, mit dem Kla¬bund oft verglichen wird) sich nicht zu zähmen und so zerrann ihm sein Leben, wie sein Dichten“. Denkt man an die Taktlosigkeiten, die sich Kla¬bund in seinen Schriften zuschulden kommen ließ, an die wilden Übertreibungen und an die vielen abstoßend zynischen Stellen, so kann man zuerst kaum begreifen, wie sich diese Mängel mit seinem großen Kunstsinn und seiner großen Lebensklugheit ver¬einigen lassen können.
Bei näherer Betrachtung sieht man, dass er zu diesen Fehlern nicht nur durch seinen leidenschaftlichen Charakter („Immer wieder, sagt er in seiner Selbstbiographie, „muss ich mit heißer Klinge die klingenden Kämpfe in mir zu Ende fechten“), sondern auch durch die Absonderlichkeiten seiner künstlerischen Aufgabe verleitet wurde. Klabund wollte nämlich für die verschärften Widersprüche in unserem Leben, für Himmel und Erde, die wir in uns tragen, äquivalent verschärfte Ausdrücke finden. Der Tonfall seiner Sprache erinnert oft an Jazzband, an diese sonderbare Mitarbeit der zarten Geige mit dem schril¬len Saxophon und dem andauernden Trommelschlag. Als kranker Mensch, der an dem Widerspruch seiner Genussgier und seiner gelähmten körperlichen Kraft schwer zu tragen hatte, war Klabund besonders prädisponiert, zu einem der typischsten Dichter unserer Jazzbandzeit zu werden. Klabund könnte die Worte wiederholen, die Cronegk in seinem Gedicht „Günthers Schatten“ Günther in den Mund legt:
„0 tadle mich nicht mehr!…
Verführung und Beschwerden
Verderbten mein Genie. Gib alle
Schuld der Zeit, Den Sitten unsrer Welt“…
Wir zitierten einige Worte Goethes über Günther und möchten nun dieses Zitat aus „Dichtung und Wahrheit“ fortsetzen:
„Ein entschiedenes Talent, begabt mit Sinnlichkeit, Einbildungskraft, Gedächtnis, Gabe des Fassens und Vergegenwärtigens, fruchtbar im höchsten Grade, rhythmisch bequem, geistreich, witzig und dabei vielfach unterrichtet; genug, er besaß alles, was dazu gehört, im Leben ein zweites Leben durch Poesie hervorzubringen, und zwar in dem gemeinen wirklichen Leben. Wir bewundern seine große Leichtigkeit, in Gelegenheitsgedichten alle Zustände durchs Gefühl zu erhöhen und mit passenden Gesinnungen, Bildern, historischen und fabelhaften Überlieferungen zu schmücken“..
Alles das lässt sich ohne weiteres auch von Klabund sagen. Die Leichtigkeit, mit der er dichtete, wurde sogar oft überschätzt. Er sagte uns einmal, dass er an seinen Werken viel mehr arbeite, als allgemein angenommen wird. Er arbeite sie im Kopf vollständig aus und schreibe sie erst dann schnell hin. In seinem „Lesebuch“ findet sich übrigens ein darauf bezogenes schönes Gleichnis, das wir hier, da dieser Punkt uns nicht unwichtig erscheint, anführen möchten.
„Seth sprach:
Heute sah ich dem Maler Ma zu, der mit fünf schwarzen Pinselstrichen in fünf Sekunden die Illusion eines binsenbestandenen See-Ufers, über den ein Reiher zieht, auf Papier zauberte. Ich gestehe, dass mir sein Bild gefiel. Aber was für eine oberflächliche, unrnste, leicht-sinnige und leicht-fertige Kunst, die im zehnten Teil einer Minute schon ihr Resultat gibt und vergibt.
Li schwieg.
Er führte Seth in Ma’s Atelier.
Seth erstaunte auf das Höchste.
Im Atelier lagen tausende von Blättern herum, und alle zeigten: ein binsenbestandenes Seeufer, über den ein Reiher zieht.
Li sprach:
Ma hat fünf Jahre lang nichts gemalt als das binsenbestandene Seeufer, über den ein Reiher zieht. Er hat fünf Jahre gebraucht, um in fünf Sekunden mit ein paar Pinselstrichen ein Bild der Vollkommenheit zu geben, wie es das binsenbestandene Seeufer zeigt, über den ein Reiher zieht.
Wer weiß, wieviel Aeonen das höchste Wesen brauchte, um in einer Sekunde das zu schaffen, was wir das Leben nennen?“ —
Klabund ist einer der typischsten Dichter unserer Zeit nicht nur deshalb, weil er in seinem Leben und in seinem Schaffen so widerspruchsvoll war, sondern auch dadurch, dass er die Zeit und Raum überwindende Entwicklung der modernen Technik in seinen Werken wiederspiegeln zu lassen suchte. Klabund verstand, ungewöhnlich kurz und kondensiert zu schreiben. Sein Stil war energisch, lapidar, aphoristisch. Manche seiner besten Sachen schließen auf einigen Seiten ein ganzes Reich der Erlebnisse ein. Aber die gleiche Tendenz, die in dieser Hinsicht positiv und reformatorisch wirkte, führtet ihn oft in einer anderem Beziehung auf Irrwege: Klabund wurde verleitet, manche komplizierten Dinge und Gedankengänge zu simplifizieren. In dieser vereinfachten Art schrieb er u. a. seine witzige und stellenweise sehr bemerkenswerte „Deutsche Literaturgeschichte in einer Stunde“ und „Geschichte der Weltliteratur“, ebenfalls in einer Stunde.
Klabund unterscheidet hier zwei polare dichterische Typen: die Pathetiker und die Erotiker. „Schiller, das besagt: Kampf, Forderung, Dornenweg, Verblendung und Erlösung, Gottesminne, Jenseits. Goethe, das heißt: Sein, Genuss, selbst des Schmerzes, Blumenpfad, Sonnenblendung, Glanz und Erfüllung:
Menschenminne, Diesseits. Klabund gehört zu keinem dieser Typen: als Erotiker trug er zu viel von dem Romantischen und Jenseitigen in sich, als Pathetiker war er zu sehr an die Erde gebunden. Man kann aber sagen, dass er eher zu dem Goethe-Typ zu zählen ist, wenigstens in dieser Formulierung: „Sein, Genuss, selbst des Schmerzes („Es ist so süß, — lesen wir im „Franziskus“ — krank zu sein, wenn draußen der sanfte Schnee fällt“…), Blumenpfad, Sonnenblendung, Glanz und Erfüllung“…
Klabund will vor allem Mensch sein. Nichts Menschliches — sei es Schlechtes, sei es Gutes — will er von sich fern halten. In seinem Eulenspiegelroman „Bracke“ sagt er: „So oft ein Mensch auf dem Wege ist, zu sich selber zu kommen, fliegt die Eule von der linken Schulter Gottes, einen Spiegel in den Krallen, zu ihm hernieder: dass er darin sich betrachte und bekenne, belächle und beweine, leicht- und tiefsinnig. Weshalb dieses Buch benannt ist: der Eulenspiegel, und jeder in ihm findet etwas, das ihn ergötze oder erschüttere, nachdenklich oder zum reinen Klang stimme“.
Der Standpunkt des Eulenspiegels ist der Standpunkt der reinen Betrachtung. Klabund beobachtet im Eulenspiegel die Wandlung der Schicksale der Menschen und stellt sich jenseits von Gut und Böse, Liebe und Hass. Auf einen wesentlich anderen Standpunkt stellt er sich in manchen anderen Werken, dort unterscheidet er zwischen Gut und Böse, dort liebt und hasst er. Die Polarität dieser beiden Standpunkte beherrscht das gesamte Schaffen Klabunds; eine synthetische Vereinigung dieser Standpunkte hat er kaum erstrebt.
Klabund war ein kritischer Kopf. In seiner „Deutschen Literaturgeschichte“ hielt er über die junge Generation, der er selbst angehörte, ein strenges Gericht. Er sagt dort: „Der junge Mensch zwischen 1911 und 1918 fiel von einem Extrem ins andere: aus der Ekstase in die Verzweiflung, und umgekehrt. Er liebte allzu vage die Menschheit, ohne noch recht vom Menschen zu wissen. Er ist weitsichtig: aber in der Nähe vermag er nichts zu sehen. Er will alles — und erreicht nichts“. Und weiter: „Ich glaube nicht an die dauernde Überzeugungskraft brutaler Gewalt, von welcher Seite immer sie sich äußern mag. Der chinesische Denker Laotse sagt einmal: Das Zarteste überwindet das Härteste.“
Über die Bedeutung seiner eigenen Werke hat er sehr bescheiden geurteilt. In der Skizze „Das Schreibmaschinenbureau“ verfasste er für sich selbst folgende Grabschrift:
„Er war ein Mensch, nicht weniger, nicht mehr. Er starb, bevor er starb. Möge er leben, nachdem er lebte. Millionen gehen mit einem leeren, weißen Zettel zu Grab. Bleibt nur ein Wort von ihm für die Ewigkeit, so lebt er unsterblich im Liede des menschlichen Leides“…
Ein solches Wort hat Klabund in seinen lyrischen Gedichten gesprochen. Die schönsten von ihnen hat er seiner ersten Frau Irene gewidmet. Viele seiner kleinen Erzählungen sind ebenfalls von bleibender Bedeutung. Man muss auch das Verdienst Klabunds, nach den Motiven des Ostens zu dichten, vollkommen anerkennen. Denn es kommt bei einem Dichter nicht darauf an, woher er die Sujets seiner Werke genommen hat; es bleibt sich gleich, ob er sie der Heldensage, der religiösen Überlieferung, dem Volkslied, dem Leben entnommen hat, — die Hauptsache ist, was er daraus gemacht hat. Viele Schönheiten enthalten weiter der Eulenspiegelroman „Bracke“, der Roman eines Soldaten „Moreau“ und vor allem der Roman eines Zaren „Pjotr“. Trotz mancher historischer Fehler ist „Pjotr“ eine sehr große Dichtung. Mit genialer Intuition hat Klabund den Charakter des großen Reformators erkannt und das Hohe und Niedrige in ihm mit erstaunlicher dramatischer Kraft und psychologischer Eindringlichkeit gezeichnet. Dieser Roman beweist vielleicht am besten, mit welcher dichterischer Einfühlungskraft Klabund begnadet war. Mit seinen lyrischen Dichtungen und seinem „Pjotr“ wird Klabund im Liede des menschlichen Leides weiterleben. Durch die weiten Felder dieses Leides ist er seinen eigenen Blumenpfad gegangen.
Gedichte von Klabund
FRÜHLINGSGEWÖLK
Frühlingsgewölk. Die Stare
Singen schön.
Die ersten Regentropfen trillern
Am Dach.
Die Wetterfahne weht
Nach Süden.
Die kleine Wiese
Weiß viel.
Träum ich die Tanne?
Träumt die Tanne mich?
Es lebt und stirbt Sich leicht.
EPIGRAMM
Langsam ringt sich der Geist aus der Hülle des Unbewußten,
Und der Nebel gemach ballt sich zur festen Gestalt.
Wie ein Falter im Mai die Puppe bricht und die Schwingen
Zaghaft prüft und entzückt treibende Kräfte verspürt:
Mählich beginnt er den Flug, nicht weiß er das Ziel oder Ende,
Rings betäubende Luft, Taumel reißt ihn dahin.
ZUSPRUCH
Alles, was geschieht,
Ist nur Leid und Lied.
Gott spielt auf der Harfe Trost sich zu.
Welle fällt‘ und steigt.
Ach wie bald schon neigt
Sich dein Haupt im Tod. Dann lächle du.
AN IRENE
Du wehst um meine Wangen,
Du lächelst aus dem Licht.
Ich bin von dir umfangen
Im herbstlichen Gedicht.
Ich bin von dir umrundet,
Ich bin von dir umhallt.
Ich bin mit dir verbündet:
Gestalter und Gestalt.
Ich bin von dir umgeben,
Ich bin von dir umkreist.
Mein Sterben und mein Leben
Sind Geist von deinem Geist.
Märchen Sankt Jemand und Sankt Niemand
Von Klabund
Sankt Jemand und Sankt Niemand, zwei Pilgrime, begegneten einander auf der Landstraße des Lebens.
Sankt Jemand sprach: Wo kommst du her, Bruder? Du bist so gar betrübt.
Sankt Niemand sprach: Ich komme aus dem Nichts und schreite ins Leben.
Und du? Du siehst gar fröhlich drein?
Sankt Jemand sprach: Ich gehe aus der Welt, das Scheiden wird mir leicht. Ich wandle ins Nichts.
Sankt Niemand sprach: Bruder, die Sonne steigt auf und versinkt. Der Mond nimmt zu, nimmt ab. Frühling, Sommer, Herbst und Winter, wechseln wie Tod und Leben. Du stirbst. Ich werde geboren. Wenn ich einst sterbend dahinsinke, wirst du wieder den Pilgerstab aus meinen Händen nehmen. Heilig ist das Leben. Heilig ist der Tod. Jemand ist heilig und heißt Sankt Jemand. Niemand ist heilig und heißt Sankt Niemand. Gott hält die Wage in seiner Hand: die Wage der Gerechtigkeit. Da schwebt in der einen Schale das Leben, in der andern der Tod. Sie wiegen gleich. Und also besteht nur die Welt. Und also sind nur du und ich. Ich war nicht ohne dich. Du wärst nicht ohne mich. Leb wohl. Stirb wohl. Wir begegnen uns immer wieder.
Sankt Jemand und Sankt Niemand gaben einander die Hand zum Abschied. Der eine schritt bergauf, der andere bergab. Sie sahen sich noch mehrmals um. Endlich verschwanden sie zu gleicher Zeit: der eine hinter einem Felsen der Höhe, der andere tief im Tal. Die Sonne versank, und leise begann das Horn des Mondes im Abend zu tönen.
In der Weltbühne erschien am 21. August 1928 ein Nachruf von Carl von Ossietzky:
Klabund
Et meure Paris et Helaine
quiconques meurt, meurt à la douleur …
François Villon
„Während grade in einigen Zeitungen über die Zukunft oder die Zukunftlosigkeit der Lyrik disputiert wird, stirbt der letzte freie Rhapsode, der Letzte aus dem alten Geschlecht dichtender Vaganten, dem das Versemachen so sehr Element war, dass es diesen gebrechlichen Leib für lange Jahre allein an die Erde zu binden schien.
Seine Begabung war unruhig und zuckend; in Beweglichkeit und Maskenkunst ohne Grenze. Es floss immer in einem schmalen Bändchen alles durcheinander: Heine, Rimbaud, Exoten, Rudolf Baumbach, Wedekind, Eichendorffs Mondscheinlyrik und Dialektwitz; Pathos, Melancholie und Biertischzote. Aus dem Einfall wurde blitzschnell Rhythmus, Wort, Refrain. Und über allem schwebte die einschmeichelnde Libertinage (Ausschweifung, Liederlichkeit) des Namens Klabund.
Er hatte keine Zeit und wusste es. Vieles von dem eilig Hingedichteten wird verwehen, trotzdem mehr übrigbleiben als von den meisten bändereichen Lyrikern seit Heinrich Heine. Vielleicht auch „Moreau“; gewiss „Bracke“.
Von seinen siebenunddreißig Jahren waren zwanzig eine rohe, handgreifliche Auseinandersetzung mit dem Tode. Ewige Flucht ins Sanatorium, Flucht vor dem kühlen Luftzug, Erbeben vor einem kleinen Kratzen im Halse, das den nächsten Anfall anzeigt. Das ist ein unmissverständliches Schicksal. Die Herren Poeten pflegen sonst immer sehr allgemein „am Leben“ zu leiden. Die Herren Lyriker namentlich pflegen von früher Jugend an mit dem Tod auf gutem Versfuß zu stehen, seinen Namen unnütz zu führen, um doch bald solide zu heiraten, und kleine Kinder und dicke Romane zu zeugen. Im Fall Klabund war das Leiden grausam deutlich lokalisiert.
Unter seinen vielen Schriften gibt es einen kleinen, wohl ganz vergessenen Band: „Deutsche Literaturgeschichte in einer Stunde“, der vor acht Jahren in einer Serie herausgekommen ist, die sonst bitter ernsten Bildungszwecken diente. Da wird über verstaubte Größen der Literaturgeschichte, die kein Scherer sonst ungeschoren lässt, so freundlich und kurzweilig abgehandelt wie hier:
„Heinrich Laube (aus Sprottau, 1806-1884) schlug die dramatische Pauke, dass einem Sehen und Hören verging. Sein Graf Essex war das erste Theaterstück, das ich als Knabe auf der Schmierenbühne einer märkischen Kleinstadt sah. Niemals mehr hat ein Drama solchen Eindruck auf mich gemacht. Ich sehe noch immer den schlotternden Essex im Kerker sitzen und höre auf einem vom Bäcker geborgten blechernen Kuchenteller zwölfmal die Stunde des Gerichtes schlagen. Alle Schauer jagen mir im Gedächtnis daran über den Rücken, und ich drücke den vereinigten Geistern von Laube und Essex pietätvoll und gerührt die Hand.“
Klabund (Alfred Henschke aus Crossen, 1891-1928) wird in die Literaturgeschichte und Nachschlagewerke eingehen. Möge er Federn finden, die so anmutig die Erinnerung an sein kurzes, krankes, melodienreiches Leben wahren.“
Eine der „trauernden Stimmen“ ist Eugenie Schwarzwald:
„Ach du liebe knabenschmale Gestalt, gütig-schüchterner Kinderblick, sanft-heisere Stimme – unerträglich zu denken, dass ihr nicht mehr seid. So jung er ging, sein Ziel hat er doch erreicht. Früh schon hat man auf ihn gehört, ihn gedruckt. Er verstand, Interesse zu wecken, zu überraschen, zu verblüffen, er wurde gelesen, aufgeführt. Aber was ist das alles gegen die Gedichte, von denen jedes ein Blutstropfen von ihm ist.
(…) Ein großer Liebender ist uns gestorben. In dem Sarg, der die zarten Glieder des jungen Alfred Henschke aus Crossen umschließen wird, begraben sie ein Herz mit, der merkwürdigsten Gefühle fähig, und einer Wärme, die man glaubt, nicht entbehren zu können. So überläuft es einen eiskalt am heißesten Augusttag.“
Alfred Kerr, sein früher Unterstützer, schreibt:
„… Ich weiß nicht, weshalb unsereins immer fest geglaubt hat, er könne trotz einer lebensbedrohlichen Krankheit achtzig Jahre werden. (…) In dem Maler Menzel, als er hochbetagt schied, fand man bei der Sektion uralte, glücklich vernarbte Stellen der gleichen Krankheit.) Klabund hatte kein Glück. Nur das Glück, ein Dichter zu sein.“
Bernhard Ludwig Diebold (geboren am 6. Januar 1886 in Zürich, gestorben am 9. August 1945 in Zürich), der Schweizer Dramaturg, Literatur- und Theaterkritiker und Autor:
„… Er dichtete auf Verschwendung hin wie jene unbedenklichen Meister früherer Zeit — die Komponisten von achtzig Symphonien, die Dramatiker von tausend Stücken, die Maler der Wände von Kathedralen.
(…) Er starb im Sterbealter der Mozart und Raffael. (…) Hölderlin, Goethe, Heine, Rückert, Novalis, Eichendorff trug er in seiner Seele in die Welt der Technik und der bürgerlichen Auflösung. Er hat seine Seele nicht verraten. Er hat sich seiner Sentimentalitäten nicht geschämt.“
Und Klaus Mann findet die Zeilen: „Der Zauber, der seiner privaten Person eigen war, wird in diesen Versen und Fragmenten wirksam bleiben, solange man deutsch liest und singt.“
Der Schriftsteller und Dramatiker Hanns Johst schreibt einen „Brief zum Gedächtnis“:
„… Lieber Klabund, ich trat aus dem Museum zu St. Ulrich in Regensburg, ich hatte mich gerade bemüht, eine etwa 2000 Jahre alte Grabschrift zu entziffern und diese Worte gefunden: Den Göttern der Unterwelt. Lucius Aurelius Tacitus Torquatus lebte 34 Jahre lang. Diesen Stein setzten dem Teuersten die Mutter Arcentia, sein Weib, die Süße… (…) … und kaufte mir, Du kennst sie selbst nur zu gut diese Angewohnheit, mit etwas Springlebendigem Bangnis zu verjagen, und kaufte mir eine Zeitung. Sie teilte mir knapp und unwiderruflich Deinen Tod mit. Plötzlich war es Nacht. Wir gingen Arm in Arm durch leere Straßen von Düsseldorf. Wir stritten uns um politische Dinge und warfen einander vor, dass wir beide nichts davon verstünden. Und wir ließen das Gerede von links und rechts, den Streit um des Kaisers Bart. Du sagtest mir Deine letzten Gedichte, wie Du sie gerade verschenkt hattest, an ein schönes Mädchen, an eine Sonnenblume, an einen Luftballon. Und auf einmal sagtest Du die Ballade vom deutschen Landsknecht: „0 Deutschland unser, das Du bist im Himmel! / Wir fühlen tausendfach Dein Weh./ Und deiner Söhne grauestes Gewimmel / Ist Stein zu Deiner ewigen Statue.
Ich umarmte Dich und rief: Noch einmal, und rief es immer wieder: Noch einmal! Eine französische Patrouille vertrieb uns von der Straße. (…) Und plötzlich zerstob die Nacht wiederum und ich fand Dein Gesicht im Gewühl des Münchner Hauptbahnhofes. Du ruhtest aus wie ein verlorengegangenes Gepäckstück, für Dich allein im Durcheinander von Menschen, die sich durch Züge hetzen ließen. Ich sprach Dich an. Dein Gesicht lag schräg über den Schultern, ein wenig verlegen und sehr hilflos. Ein kleines Mädchen hatte Dir gerade Dein Billet zweiter Klasse nach Rom geklaut. (…) Du fuhrst mit mir vierter Klasse nach Starnberg und lächeltest schon wieder. Und abermals zerfiel der Bahnhof zu lauter dunklen Flocken, es wurde ganz still und eng um uns. Du saßt an meinem Flügel und spieltest meiner Frau im Zwielicht der herbstlichen Stube über meinem See mit einem Finger Melodien vor. Melodien aus Hafenkneipen (…) und sangst Reime dazu, die halb aus der Fremde waren und zur Hälfte Dir gehörten. (…) Lyrisch sein, heißt für einen Mann sehr tapfer sein müssen, so kam es, dass Dein Gesicht immer in einer heimlichen Bereitschaft war, das leise Geständnis aller Deiner guten Worte offenen Auges und klarer Stirn, mit Leib und Seele zu vertreten.“
Der Pädagoge, Journalist und Schriftsteller Fritz Droop erinnert sich:
„…Wir trafen uns nach dem Theater im Garten des Durlacher Hofes. (…) Klabund erzählte uns von neuen Plänen. (…) Es war ein heißer Sommerabend, und weiße Motten flogen in das Licht der Bogenlampen über uns. Wir schauten oft hinauf; bald lag über dem Tisch der Schatten stummer Resignation. Denn Klabunds Gesicht war geisterbleich. Wir fühlten, was er dachte; keiner sprach ein Wort. Klabund aber zog ein Blatt Papier hervor und schrieb mit festet Hand:
Alles, was geschieht,
Ist nur Leid und Lied.
Gott spielt auf der Harfe Trost sich zu.
Welle fällt und steigt;
Ach wie bald schon neigt
Sich dein Haupt im Tod. Dann lächle Du!
Und Evelyne von Beyme schreibt über Klabunds Tod:
„…Als Klabund am 14. August 1928 in Davos (Schweiz) der Schwindsucht erlag, starb mit ihm nicht nur einer der meistgespieltesten Bühnenautoren Deutschlands, sondern auch einer der größten, unermüdlich auf Verbesserung abzielenden Sozialkritiker seiner Zeit.
Stetig präsent blieben Klabunds Anklagen gegen Krieg und Antisemitismus sowie die Darstellung des proletarischen Elends in seinen Gedichten („Die Harfenjule“, 1927).“
Zitieren will ich auch aus einem Brief von Carola Neher an Irene Heberle:
„… Innigsten Dank für Ihren liebevollen Brief. Sie haben mir sehr zu Herzen gesprochen. Ich bin sehr unglücklich und zuinnerst einsam. Der einzige Mensch, der mich kannte und verstand, den ich liebte und verehrte, ist fort. Nichts mehr in meinem Leben kann diesem Glück gleichkommen, das ich durch ihn empfunden.“
Eine heitere Erinnerung habe ich auch noch gefunden, wer sie erzählte, weiß ich nicht:
„… Klabund hatte sein chinesisches Theatermärchen „Der Kreidekreis“ geschrieben. Endlich kam er zu Geld. Es regnete Tausendmarkscheine an Tantiemen. Klabund zog nach Berlin und siedelte ins feinste Hotel — ins „Adlon“ —- über. Er wohnte in der sechsten Etage.
Um diese Zeit pflegte Klabund das Romanische Cafe sehr intensiv zu besuchen. Dort verkehrte die hohe Literatur und alles, was beim Theater Rang und Namen hatte.
Klabund, der schmal und jungenhaft wie ein Primaner aussah, setzte sich – mit einem Schauspieler verabredet — an einen Tisch. Wer nicht kam, war der Schauspieler. Dafür setzte sieh eine reizende junge Dame an seinen Tisch. Beide nahmen kaum Notiz voneinander. Die junge Dame las in einem Buch, Schließlich beugte sich Klabund seitwärts und sagte leise: „Wie hübsch, dass Sie in einem Buch von mir lesen?“ Das Mädchen blickte kaum auf, „Von Ihnen?“, sagte sie, „Sie sind der Dichter? Pöh!“ Stand auf und verschwand.“
Ein gewisser Peter Panter, hinter dem sich Kurt Tucholsky verbarg, hat bereits vor Klabunds Tod eine Kritik der „Harfenjule“ geschrieben – die ist in dieser Biographie zu lesen. Darin heißt es u.a.: „Die meisten freilich sind Notentexte; sie pfeifen, brüllen, schreien und orgeln nach Musik. Das ist eines von den Heften, das ich einmal – in achtzig Jahren (…) zur Nachkontrolle lesen möchte. Mindestens zwanzig dieser Lieder werden dann noch frisch sein. Und das ist sehr viel.“
Guido von Kaulla fasst Klabund so zusammen:
„… 1928, zu Beginn seines achtunddreißigsten Lebensjahres, kann Klabund auf ein stattliches Werk, über 1500 Gedichte (von höchst unterschiedlichem Gewicht), zahllose Nachdichtungen, Romane, Theaterstücke, Essays und Artikel zurückblicken. Alle Versformen hatte er ausprobiert, die leichten des Chansons und der Brettl-Lyrik ebenso gut wie die klassischen Muster der Dichtkunst sind dem „lyrischen Schriftstellereibesitzer mit langjährigem Dampfbetrieb“ (angeblich hat Klabund sich selbst einmal so genannt, in Wahrheit dürfte diese Formulierung auf einen Spötter zurückgehen) schwerelos von der Hand gegangen.
Auch die Anhänger der Esoterik haben ihn übersehen, dabei kommt seine Neigung zu Mystik und Magie ihren Vorstellungen oft entgegen. Dass er in Vergessenheit geriet, mag an der fahrigen Unscharfe mancher Texte, vor allem der Romane, liegen. Die Brettl-Lyrik kann sich mit der von Kästner oder Tucholsky, Mehring oder Ringelnatz messen. Es liegt aber gewiss auch auf profane Weise daran, dass sich nach seinem Tode niemand systematisch und ausdauernd der Pflege von Klabunds Nachlass annehmen konnte oder wollte. (…)
Zu den häufigsten Motiven in Klabunds Dichtung gehört der Tod. In seiner vagantenhaft aufsässigen Lyrik wird der Tod verspottet, in seinen volksliedhaften Chansons dient er, zumeist mit beißendem Humor, als überraschende Pointe. In den elegischen, klagenden Versen wie etwa in den Irene-Gedichten wird er traurig beschworen oder hymnisch verklärt.
„Klabund war ein Tonfall“, erinnert sich später ein Freund, der Schriftsteller Hans Sahl. „Ein Lautenlied, gesungen in einer sternklaren Nacht von einem Sterbenden, dessen Tage gezählt waren.“
Ein „Totenlied für Klabund“ schrieb Carl Zuckmayer:
An Deine Bahre treten,
Klabund, in langer Reih,
Die Narren und Propheten,
Die Tiere und Poeten,
Und ich bin auch dabei.
Es kommen die Hamburger Mädchen
Samt Neger und Matros.
Wo werden sie jetzt ihre Pfundstück
Und all die Sorgen los?
Es kommen die englischen Fräuleins,
Wie Morcheln, ohne Kinn,
Wo sollen denn die Armen jetzt
Mit ihrer Unschuld hin?
Es kommt am Humpelstocke
Der Leierkastenmann
Und fängt aus tiefster Orgelbrust
Wie ein Hund zu heulen an.
Es kommt der Wilhelm Fränger
Die Laute in der Hand
Aus seinen Zirkusaugen rinnt
Statt Tränen blutiger Sand,
Es kommen alle Vögel
Und zwitschern ohne Ruh,
Sie decken Dich wie junge Brut
Mit flaumigen Federn zu.
Es kommt ein Handwerksbursche
Mit rotem Augenlid,
Der kritzelt auf ein Telegramm-Formular
Dein schönstes Liebeslied.
Es kommt auf Beinen wie ein Reh
Ein dünner grauer Mann
Der stellt die Himmelsleiter
Zu Deinen Füßen an.
Wilhelm Fraenger (geboren am 5. Juni 1890 in Erlangen, gestorben am 19, Februar 1964 in Potsdam) war ein deutscher Kunsthistoriker und Volkskundler.
Fehlt noch der „Literaturpapst“ Marcel Reich-Ranicki, der schreibt am 30. August 1968 in der „Zeit“ über Fredi:
„… Damals, in der Weimarer Republik, war der Name Klabund in aller Munde. Heute ist er fast vergessen.
Gewiss, einiges von der Prosa und der Lyrik dieses ungewöhnlichen Dichters lebt noch im halb wehmütigen und halb ironischen Gedächtnis der Leser der älteren Generation. Aber sie scheinen, sofern man derartiges beobachten kann, nicht gerade darauf erpicht zu sein, sich erneut mit seinen einst so erfolgreichen „Romanen der Erfüllung“ und „Romanen der Leidenschaft“ zu befassen oder mit den Chansons und Brettlliedern der „Harfenjule“.
(…) Seine Dichtungen wurden mehr gelesen und gesungen als besprochen und häufiger rezitiert als analysiert. Und die dünnen, meist sehr attraktiv ausgestatteten Bände, in denen sie gesammelt waren, gehörten nicht ohne Grund zu den bevorzugten Geschenken einer ganzen Generation von Verliebten.
Doch jetzt (…) – lässt sich die simple Frage nicht mehr umgehen: Was taugt eigentlich Klabund heute?
Wie Franz Werfel, Kurt Tucholsky und Walter Hasenclever wurde auch er 1890 geboren. Aber er hat mit ihnen nicht nur das Geburtsjahr gemein.
Wie Werfel war er ein Träumer und Genießer