Spuk

Titelbild Edvard Munch – Der Schrei (1910, Munch-Museum Oslo)

Der Sturm
Die Äste beugt
Und der Rabe singt.
So wandert das Wetter Gottes
Zu den Sternen.

Hölderlin

Geschrieben im Fieber einer Krankheit,
Januar bis April 1921.

Die Unterwelt

Ich hatte ein Gesicht. Aus meinem Unter-bewusstsein hob sich die Unter-welt nach oben. Der Acheron brauste. Charon, der Höllenfährmann, landete mit seinem Kahn. Der Kahn knirschte im Sand. Charon sprang ans Ufer. Er fluchte:

„Da lande ich in der Hölle – mit einem leeren Kahn. Nicht eine schlechte Seele wartete heute an der Überfahrt. Seit Jesus Christus dem Menschen erschienen ist, liegt mein Hand- und Höllenwerk übel brach.“

Er wühlte im Beutel, der ihm am Gürtel hing.

„Mein Beutel ist leer. Nicht ein Fährpfennig. Zum Teufel mit der Tugend der Menschen, wenn ich dabei zugrunde gehe. Ich hasse diesen Christus, ich hasse Gott, ich hasse die Güte, die Sanftmut, die Opferbereitschaft, die Wahrheit und die Liebe.“

Er schlug das Höllenzeichen und schrie:

„He, Pluto, Höllenfürst, erscheine! Charon, der Höllenfährmann, wünscht dich in dienstwilliger Ergebenheit zu sprechen.“

Es donnerte. Die Nebel der Unterwelt teilten sich. Ein Blitz riss die Dunkelheit mittendurch wie einen schwarzen Samtvorhang, und Pluto wurde sichtbar auf feurigem Thron. Charon beugte das Knie:

„Voll Betrübnis und Bitterkeit erscheine ich vor Deiner Majestät. Treu und unablässig diene ich dir seit Tausenden von Jahren. Millionen Seelen hab ich über diesen dunklen Fluss gefahren zu dir: dass sie auf ewig deine Sklaven seien. Auf der Erde herrschten deine finsteren Dämonen, deine Furien und Geister, und schickten Seele auf Seele herab. Dann aber ist ein Wunder über die Welt gekommen: Gott sandte seinen einzigen Sohn, begleitet von Scharen der silbernen Cherubim und Seraphim. Sie hatten keine Waffen in den Händen als Lilienstengel und Sonnenblumen. Aber sie schlugen deine fauchenden Furien in die Flucht. Gottes Sohn weckte das Gewissen der Menschheit. Der Mensch, so lange unserem finsteren Wesen verfallen, beginnt, Gottes Geschöpf zu werden. Mein Kahn fährt täglich weniger Seelen, und heute war er völlig leer. Es steht schlecht, Pluto, um deine, um meine, um unsere Sache.“

Pluto schüttelte sein Schlangenhaupt.

„Ich lobe deinen Eifer, Diener des Bösen.“

Und seine Stimme kreischte, wie wenn tausend Maulesel schreien. »Ihr Furien, ihr Erinnyen, ihr Dämonen, ihr Teufel und Teufelinnen, herbei! Pluto, Euer Fürst und Gebieter, ruft Euch!«
Unter Donner und Blitz erschienen die geifernden Geister und flatternden Furien.

Pluto hob das Zepter: einen Stab, aus dem Baum der Erkenntnis geschnitzt, und um den Stab ringelte sich eine lebende Otter mit einem kleinen Menschenkopf:

„Vernehmt, was ich Euch zu sagen habe. Charon, der Höllenfährmann, beklagt sich, dass sein Kahn täglich geringere Seelenfracht führe. Mit Unwillen erfahre ich, dass Euer Eifer im Dienst des plutonischen Reiches nachgelassen.“ Er schwang sein Zepter: „Hütet Euch, ihr Pflichtvergessenen!“

Ein Teufel wagte zu flüstern:

„Allzu mächtig ist die Gewalt des Guten“ –

Pluto fuhr auf:

„Nicht mächtig genug, dass wir sie nicht zu brechen vermöchten. Fahrt auf die Oberwelt. Bedient Euch jeglicher Gestalt: sei du ein Pfaffe, du ein König, du ein Philosoph, du ein Reichstagsabgeordneter, du ein Feldherr, du ein Börsenmakler, du ein Bauer, du ein Kohlenbaron, du ein Schankwirt, du ein altes Weib, du eine Dirne: scheut kein Mittel, die Menschen zu jeglicher Untat, zu Mord, Diebstahl, Raub, Krieg, Unzucht, Lug, Trug, Hass und Heuchelei zu verführen. Lehrt sie, das Unterste nach oben, das Oberste nach unten kehren. Lehrt sie das Hohe erniedrigen, das Niedrige erhöhen, dass sie verderben und ihre Seelen zur Hölle taumeln … Fahrt von hinnen. Du aber, oberster der Teufel, Satanas, verbleibe, da ich dir einen besonderen Auftrag zu geben habe.“

Die Dämonen entschwanden unter Heulen und Zischen.

Ich aber trat an Plutos Thron, neigte das Knie, über das sich der rote Mantel, der Mantel des Henkers, bauschte und sprach: »Was wünschest du, Herr der Hölle, von deinem ergebensten Knecht?«

Pluto sprach:

„Mir ist berichtet von einem Mädchen, bald Maria, bald Marianne geheißen. Sie ist über alle Begriffe schön und sanft. Ihr Wille will das Gute, aber ihre Jugend ist beschwert mit Ahnungen, Wünschen und Gedanken. Sie ist Wachs in der Hand eines entschlossenen Formers. Derart Überschwängliches haben meine Geister mir von ihr berichtet, dass mich ein heftiges Verlangen anwandelt, diese Seele zu besitzen und ganz mein eigen zu nennen. Ich gedenke, sie zu meiner Gemahlin zu erheben. Du, Satanas, sollst mein Brautwerber sein.“

Ich neigte das Knie, und der rote Mantel rauschte:

„Ich werde es an keiner Verführung und Verlockung mangeln lassen. Pluto wird seinen untertänigsten Diener loben.“

Pluto wandte sich an Charon:

„Und du, Charon, bist du’s zufrieden?“

Charon nickte:
„Ich bin’s, Fürst der Hölle. Mein Schiff wartet. Ich bin gerüstet.“

Das Haus mit den Eselsköpfen

Geboren bin ich in dem Haus mit den beiden Eselsköpfen. Es steht in einer windschiefen Seitengasse der Stadt, mit dem Giebel nach vorn.

Wenn ich den Kopf zur Dachluke herausstreckte und mein Vater hantierte zufällig auf der Straße, schrie er:

Da stecken ja drei Esel die Köpfe heraus!

Ich zuckte die Schultern und lachte unhörbar.

Ich war weder beleidigt noch gekränkt. Ich hatte von früh eine zarte Zuneigung zu den grauen, gutmütigen aber auch boshaften Einhufern.

Als einst der Esel der Molkerei geschlagen wurde, warf ich mich zwischen ihn und seinen Peiniger und fühlte die Peitsche um meine Ohren sausen.

„Verrecken sollt Ihr Menschen“, schrie ich, „insgesamt verrecken.“

Ob meine Eltern mich liebten, weiß ich nicht. Vielleicht mein Vater. Meine Mutter hasste mich, denn sie hatte keine Kinder gewollt, und ich kam ihr sehr unerwünscht. Wenn ich bei Tisch saß und sie sprach mit mir, sprach und sah sie immer an mir vorbei.

Ich kann mich nicht entsinnen, je einen Blick von meiner Mutter empfangen zu haben, und noch heute weiß ich nicht, ob sie blaue oder braune oder schwarze Augen hatte.

Ich hatte einen Hang ins Weite, in die Ferne, in die Unendlichkeit – und einen Hang zum Nächsten, zur Enge, zur Geborgenheit.

Krieger war ich und Friedlicher zugleich.

Als ich fünf Jahre alt war, ging ich vor ein Spielwarengeschäft. Dort stand ein kleiner Esel auf Rädern. Ich zog ihn an seiner Schnur hinter mir her, marschierte durch die Stadt, über die Brücke, dann die Chaussee entlang.

Die Chausseearbeiter riefen mir Worte zu und nach, die ich nicht verstand.

Die Sonne brannte.

Ich marschierte, die Räder an den Eselsbeinen klirrten.

Ich wurde von einem Bauern aufgelesen, der zur Stadt fuhr und mich von des Vaters Geschäft her kannte.

Er hob mich samt meinem hölzernen Esel auf den Wagen und brachte mich heim.

Da ließ ich den Esel vor der Haustür stehen, ging auf den Boden und legte mich auf den Torf, der in einer Ecke aufgeschüttet lag. Es war dunkel wie in der Nacht. Ich schloss die Augen. Nun war ich nur noch durch Geräusche mit der Welt verbunden. Ein Hund bellte. Ein Kater fauchte. Der Flügel einer Fledermaus rauschte. Auf dem Hof klang der Mörser, den mein Vater stampfte. Wagen rollten. Erwachsene riefen sich allerlei sinnlose Laute zu. Kinder, nicht älter als ich, lachten und weinten.

Ich lag außerhalb dieser Welt, ganz für mich allein.

Nur die beiden Eselsköpfe und der verlassene hölzerne Esel auf der Straße, mein Statthalter draußen in der Welt, waren die Mitwisser meiner stummen Geheimnisse.

Sie aber verstanden zu schweigen – wie ich.

Die Blutsbrüderschaft

Wer war mein Freund?

Der Esel von der Molkerei oder der verstaubte Kastanienbaum im Hof, der aussah, als hätte er lange auf dem Speicher gestanden, weil ihn ein Kunde bestellt und nicht abgeholt.

Wer war meine Freundin?

Irgendeine Wolke oder glitzernde Mücke oder eine weiße Welle im bewegten Strom.

Meine erste Begegnung mit einem Menschen meines Alters verlief so. Ich hatte zum Geburtstag einen Matrosenanzug und eine Matrosenmütze geschenkt bekommen. In dieser Tracht ging ich, einen kleinen aus Borke geschnitzten Kahn auf den Armen, über die Aue zur sogenannten Gänselache. Dort setzte ich mich ins Gras und ließ den Kahn schwimmen. Es dauerte nicht lange, so stand neben mir ein Junge meines Alters, aber völlig verwildert und verlaust, mit einem bösen Blick in den Kateraugen. Er plantschte mit seinen nackten Füßen im Wasser. Seine Augen streiften meine Uniform.

„Schenk mir die Mütze“, sagte er plötzlich unvermittelt.

Ich wusste nichts darauf zu erwidern und schwieg.

Da zog der Junge aus der hinteren Hosentasche, ganz wie ein Großer, ein Messer und ging auf mich los.

Ich erschrak derart, dass ich den Bindfaden fahren ließ und der Borkenkahn, den ich mit vieler Mühe geschnitzt, in einem Strudel verschwand.

Schon glaubte ich das Messer im Hals zu spüren, als ich die Stimme eines Erwachsenen hörte. Ich muss gestehen, dass ich sie, trotzdem ich gleichsam in Todesgefahr schwebte, höchst ärgerlich aufnahm. Erwachsene haben eine unleidliche Art, sich mit hochfahrender Geste in die Geschäfte und Beschäftigungen der Kinder zu mischen, die sie erstens nichts angehen und von denen sie zweitens nichts verstehen.

Ich blickte auf und sah den Schuster Leidl, einen übelbeleumdeten Menschen, wie er dem zerlumpten Jungen das Messer entriss und es in den Fluss warf. Der Junge biss ihm die Hand blutig. Aber der Schuster lächelte nur und sprach die Worte, die er immer zu sprechen pflegte und die ihm die Straßenbengels nachriefen: „Nicht böse sein …!“

Dann lächelte er, das erste Lächeln, das ich auf einem Menschenanlitz erscheinen sah und sprach:

„Was kann der Junge dafür, dass sein Vater Geld hat und der deine keins?“

Und zu mir sprach er:
„Du hast dem Jungen Unrecht getan, ohne dass du es weißt.

Gib ihm die Hand.“

Ich machte erstaunt den Mund auf und begriff ganz und gar nicht, was der Schuster meine. Der Junge war mit dem Messer auf mich losgegangen, und ich hätte ihm Unrecht getan?

Aber ich gab dem Jungen, von Zweifeln zernagt, die Hand, in die jener widerstrebend einschlug.

„Spielt nun zusammen!“ sagte der Schuster und ging von dannen.

Da saßen wir nebeneinander am Ufersand.

Ich sah ihn an, da senkte er den Kopf.

Er sah mich an, da senkte ich den Kopf.

Schließlich kam ein Gedanke über mich. Ich nahm die Mütze vom Kopf und sagte:

„Da hast du die Mütze. Ich schenke sie dir.“

Er schien in meine Aufrichtigkeit Zweifel zu setzen.

„Wenn du aber lügst? – Die Menschen lügen alle.“

„Du kannst meine Matrosenmütze haben. Ich mag sie gar nicht.“

Ein bitterer Geschmack im Munde verzog sein Gesicht.

„Also, weil du sie nicht magst, darum ist sie gut für mich.“

„Nein, nein“, ich schämte mich, „ich mag sie sehr gern, denn ich habe sie heute zum Geburtstag bekommen.“

Da nahm sie der Junge, setzte sie auf, sprach:

„Ich heiße Munk und bin der Sohn des Metzgers Munk.“

Ich nannte ihm meinen Namen, verschwieg aber den Beruf meines Vaters, der an Wucht und Wichtigkeit es mit dem eines Metzgers und Schlächters nicht aufnehmen konnte, wenn er auch mehr Geld verdiente.

„Wir wollen Blutsbrüderschaft schließen“, sprach Munk. „Verdammt“, er runzelte die Stirn wie ein Erwachsener, „da hat dieses Schwein, welches man schlachten müsste, da hat dieser Schuster Leidl mein Messer in den Fluss geworfen. Nicht böse sein, nicht böse sein“, äffte er den Schuster nach. „Nur böse sein! nur böse sein!“ brach er aus. „Das, was mein Vater den Tieren antut, den Menschen antun. Jawohl. Da kommt dieser Schuster, der sein Geschäft versoffen und seine Frau zu Tode geprügelt hat, und will unsereins Mores lehren.“

Er sagte: Mores lehren. Weiß Gott, wo er das aufgeschnappt hatte. Er ging suchend am Ufer hin.

Aus dem seichten Strandgewässer ragte Schilf. Er bog ein Rohr zu sich heran und brach es so geschickt, dass eine Spitze erschien. Mit dieser bohrte er sich ein kleines Loch in den Oberarm, bis das Blut kam.
„Da trink!“ sagte er.
Und ich trank sein Blut.
Es hatte einen faden, süßlichen Geschmack.
Hätte ich es nie getrunken!

Danach brachte er mir eine kleine Wunde bei und trank das meine. „Jetzt sind wir auf ewig verbunden, wir sind Blutsbrüder“, sagte Munk und sah mich sonderbar von der Seite an. „Besuch mich doch mal, wenn wir Schlachttag haben.“

Das Nachtpfauenauge

Es ist halb zwölf Uhr Mittag. Ich sitze an meinem Tisch. Ich habe nur einen Tisch: er ist mein Arbeits-, mein Spiel-, mein Esstisch. Die kleine gelbe Lampe brennt: mein Zimmer geht nach hinten auf den Hof und hier wird es nie Tag. Auf dem Hof stehen die seit vielen Wochen nicht abgeholten Mülleimer. Die Müllkutscher streiken. Ich darf das Fenster kaum öffnen, sonst weht der Wind eine gelbe, samumähnliche, übel duftende Wolke in mein Zimmer. Ich bin sehr früh aufgestanden heute. Sonst pflege ich bis zwei, drei, ja manchmal bis vier, fünf im Bett zu bleiben.

Das heißt: ein Bett besitze ich nicht. Dazu hat das Zimmer keinen Platz. Es ist eine Art Schlafsofa.

Es ist kalt im Zimmer. Draußen pfeift der Ostwind. Das gelbe Licht der Lampe tut mir wohl. Es erinnert mich an ein Zimmer weit unten im Süden, wo man nicht fror und wo der gleiche gelbe Lampenschirm um die Lampe hing. Maria selbst hatte ihn aus einem Fetzen Seide zurechtgeschnitten. Seitdem ist mir die Sonne zuwider und dieses gelbe Licht mir grade recht.

Bis jetzt hielt ich die Augen geschlossen. Nun öffne ich sie und sehe ein wenig verwundert mich wieder in die Welt gestellt. An der Wand ein Kupferstich: Liebesfrühling. Ein Portokassenkavalier in römischer Tunika, der sich über ein etruskisches Barmädchen neigt. Ein Bücherschrank mit einer Glastür, dahinter man die Büchertitel lesen kann. Der Schrank ist stets verschlossen. Denn die Bücher gehören meinem Wirt.

Das Zimmer riecht ein wenig nach aromatischem Essig; damit reibe ich mich früh ab, weil ich des Nachts leicht in Schweiß gerate.

Es hat vorhin geklingelt, und ich habe das Gefühl, dass irgendein Telegramm oder ein Expressbrief für mich auf dem Korridortisch liegt. Ich habe dem Mädchen verboten, mich zu stören. Soll ich nachsehen? Es ist wohl gleich. Manchmal mache ich Telegramme vier Wochen nicht auf. Vielleicht ist das Haus mit den Eselsköpfen eingestürzt oder eine Brandkatastrophe hat es verheert. Es ist mir alles gleich. Womit ich keine Banalität gesagt haben will. Sondern: es – ist – alles – gleich. Ich bin mein Schicksal, und dieses Telegramm wird mich so wenig aus dem Gleichgewicht bringen wie der Tod eines geliebten Menschen oder mein eigener Tod. Ich bin über den Tod und über mich hinaus. Ich habe zu viel gelitten. Es ist alles nur noch da, mich zu bestätigen: der Ostwind, der aromatische Essig, die gelbe Lampe, die geliebte Frau, der Tod.

Als ich Maria zu lieben begann, da wusste ich mit einer schmerzlichen, bitteren und süßen Gewissheit vom ersten Tage an: dass ich sie töten würde. Töten: ohne Absicht, ohne Bewusstsein um Zweck und Ziel. So wie Munk mich hatte töten wollen, als er mit einem Messer auf mich losging, weil ich um eine Antwort verlegen war.

Das Schicksal stellte eine Frage an mich, und ich tötete Maria – weil ich um eine Antwort verlegen war. Ich wehrte mich mit aller meiner seelischen Kraft gegen die Todeswünsche, die ich gerade in den holdesten Augenblicken der Erfüllung und Vollendung für sie hatte. Als wäre es gestern geschehen, so erinnere ich mich jener Sommernacht am Silbersee. Ein betäubender Wohlgeruch von Blumen und Sternen lag in der Luft. Die Blumen strahlten. Die Sterne dufteten. In meinen Ohren zirpen noch die sommerlichen Grillen. Wir lagen auf der Veranda, nur in die veilchenblaue Dämmerung gehüllt. Maria lächelte, dass ich ihr Lächeln körperlich spürte: „So glücklich bin ich, dass dieses Glück nicht dauern kann.“ Ich wandte den Kopf.

Der gleitende Flügel eines Nachtpfauenauges hatte mich berührt.

Der steinerne Gast

Ich zog mir meinen Mantel an und ging auf die Straße. Der erste Schnee hatte das Pflaster mit einer dünnen weißen Glasur überzogen. Die Engel im Himmel zupften Scharpie. Es gab so viele Wunden zu verbinden: in allen Welten, bei allen Wesen: dies- und jenseits. Am Halleschen Tor kaufte ich bei einer Zeitungsverkäuferin, wegen ihres roten Gesichtsausschlages Tomate genannt, eine Zeitung. Die neuesten politischen Ereignisse interessierten mich nicht, ich blätterte nur hinten im Anzeigenteil nach den Trauerannoncen, ob einer gestorben sei, der meinen Namen trüge. Ich bin abergläubisch wie ein Wilder. Der Tag fing mit einer schlimmen Vorbedeutung an. In der Tat: es war jemand gestorben. Der Direktor einer Aktiengesellschaft. Fünf Nachrufe waren abgedruckt: von der Familie, dem Aufsichtsrat, den Beamten, dem Büropersonal, der Arbeiterschaft. Fünfmal las ich meinen Namen mit einem Trauerrand umgeben. Ich nahm den Hut ab. Die Tomate meckerte: „Sie werden sich den Kopf erkälten, Herr. Es schneit.“ Ich bog in die Belle-Alliance- Straße. Der Friedhof lag mitten in der Stadt, wie eine mittelalterliche Festung von einer roten Mauer umgeben. Noch im Tode werden die Menschen kaserniert. Außerhalb der Mauern haben, im Leben wie im Tode, nur die Verfemten, die Verbrecher, die Mörder und Juden ihre Stätte. Ich klinkte das verrostete Friedhofstor, das sich ächzend in den Angeln drehte wie eine überjährige Tänzerin. Ich schritt den Hauptgang entlang. Alle Gräber hatte der Schnee mit zartem, weißem Spitzentuch bedeckt. Ihr Benedeiten! Ihr Seligen! Ihr ruht! Ich taumle, fiebere, brenne noch immer. Ihr himmlisch Kühlen! Paradiesisch Schweigsamen! Ich fühle eine Schlinge um meinen Hals, eine Schlange um meinen Hals wie ein Derwisch. Die Schlinge über das Horn des Mondes geworfen – und die Erde muss von hoch oben betrachtet tief unten aussehen.

– Ich spürte, dass ein Schatten hinter mir her war. Der Friedhof menschenleer.

„Wer bist du?“ rief ich.
„Weder Freund noch Feind“, tönte die Antwort.
Ich wagte nicht, mich umzusehen.
„Du verfolgst mich.“
„Du ziehst mich hinter dir her.“

Ich verließ die Hauptallee und trat in einen Seitengang, der bis zur Mauer führte. Dort an der Mauer lag ein Grab, das ich liebte und fürchtete. Das ich seit Monaten nicht mehr besucht hatte. Eine weiße Marmortafel wies den Namen: „Maria“, sonst nichts.

Ich setzte mich auf die Umfassung des Grabes.

Der Schnee fiel auf die Erde, durch die Erde auf den Sarg, durch den Sarg auf das Herz. Schnee fiel auf das Herz.

Der Schatten stand drohend hinter mir.

Drüben auf der Straße, über der roten Mauer, war ein Fenster offen. Eine Klavierlehrerin übte mit einem Zögling die Don-Juan-Ouvertüre.

„Hier liegt Donna Anna, Donna Maria begraben“, sagte der Schatten. Ich spürte seinen eisigen Atem im Nacken. „Du hast sie unter die Erde gebracht. Hüte dich, dass der steinerne Gast dich nicht zum Totenmahl ladet.“

Ich blickte auf.

Neben mir stand die steinerne Statue eines Roland über einem Soldatengrab. Der steinerne Ritter musterte mich feindselig. Jetzt bewegte er die Wimpern. Ich hörte seine Rüstung knacken. Sein Auge blinzelte schwer gegen das Schneelicht. Dann hob er schwerfällig und plump die Beine und stieg vom Sockel. Das Schwert in seinen beiden Armen erhoben, wankte er auf mich zu. Schreiend sprang ich auf und floh in der Richtung des Ausgangs. Am Portal hielt ich atemlos inne. Das Geklingel einer vorbeifahrenden Straßenbahn beruhigte mich. Wie lächerlich ich war. Dass ich meine Nerven schon gar nicht mehr in der Gewalt hatte. Ich fieberte. Vermutlich darum sah ich schon am hellen Tag Gespenster.

Ich sah mich vorsichtig um.

Der steinerne Gast war mir gefolgt.

Das Herz stand mir still. Ich konnte ihm nicht mehr entgehen. Er trat auf mich zu:

„Darf ich um Feuer bitten?“

Es war der Friedhofswächter, eine kurze Pfeife im Mundwinkel. Er trug einen weißen Schafspelz.

Die transparente Dame

Am gleichen Abend erlitt ich gegen zehn Uhr im Kabarett »Grüner Pinsel« ganz plötzlich jenen Blutsturz, über den die Presse ja berichtet hat – übrigens in einer Weise, die mich nicht sehr geschmackvoll berührte. Der Komiker Kontack, ein Mann mit einem Holzkopf, aber mit einem goldenen Herzen, sang gerade das populär gewordene Schiebercouplet vor einem Auditorium von Schiebern, das sich rasend gebärdete und den Refrain heiser mitbrüllte. Da geschah es.

Ich saß im Publikum. Man kannte mich nicht. Ich hatte die Hände an die Stirn gelegt und fühlte mein Blut hämmern: da sah ich zwei Augen auf mich gerichtet, von denen ich wusste, dass sie mich schon lange gesucht hatten. Vielmehr: ich sah diese Augen zuerst nicht, sondern ich spürte, dass zwei Augen im Saal die meinen sehen wollten. Wenn du hinsiehst, sagte ich mir, so geschieht etwas. Die Decke fällt ein. In Berlin bricht die Pest aus. Europa geht unter. Du bekommst einen Herzschlag. Oder du bist gezwungen, vor diesen Augen, vor diesem Publikum zu exhibitionieren. Irgendetwas Fürchterliches, Unvorstellbares würde geschehen. Denn diese Augen sind die einzigen Augen, vor denen ich nicht bestehen kann. In diesen Augen liegt: mein ganzes Leben. Meine Schuld. Meine Sehnsucht. Meine Verzweiflung, meine Liebe, mein Verbrechen.

Diese Augen sind ihre Augen.

Und es schauderte mich, wenn ich daran dachte: dass sie ja tot sei – aber ihre Augen noch am Leben sein müssten, denn diese Augen waren scharf, hell und klar auf mich gerichtet.

Augen an sich, so meditierte ich aber sofort, vermögen nicht zu leben. Augen schweben nicht in der Luft wie Schmetterlinge, obgleich diese Augen etwas Falterhaftes an sich hatten. Augen, wenn sie sehen sollen, müssen in einem Menschenkopf sitzen, müssen durch den Sehstrang und Sehnen mit dem Hirn verbunden sein. Augen sind nicht an sich da.

Diese Meditation gab mir den Mut, mit einem Ruck in ihre Augen zu sehen – und ich musste über meine Furcht, meine Beklemmung lächeln. Die Augen, in die ich sah, lächelten mir liebend und lieblich zu. Sie gehörten einer jungen Dame von etwa achtzehn Jahren, die ein paar Tische von mir entfernt saß mit einem Herrn, dessen Gesicht mir verbarg, weil es von dem breiten Rücken eines dicken Lederhändlers oder derben Butterschiebers verdeckt war. Da hörte ich, wie sie halblaut zu ihrem Partner, mit einem schnellen Blick zu mir, sagte:

Das ist er –

Der Schweiß trat mir auf die Stirn.
Was bedeutete dieser Ausspruch?

Was wusste die mir völlig unbekannte Dame, dass sie es wagen konnte – war sie eine Detektivin? Die Kriminalpolizei soll sich neuerdings modernisiert haben: vielleicht war die junge blonde Dame ein Detektiv.

Da begann das Publikum zu klatschen, die Dame klatschte heftig mit, indem ihre Blicke mich mehrmals leise streiften, und nun wusste ich, was sie mit ihrem mysteriösen Ausspruch gemeint hatte – ich war wirklich schon recht nervös, dass ich hinter den einfachsten, klarsten Vorgängen Doppeldeutigkeiten und Doppelsinn suchte. –

Kontack hatte ja soeben ein Couplet von mir gesungen, und dass die Dame mich, vielleicht vom Kabarett her, da ich selbst in meinen Couplets aufzutreten pflege, kannte: das war nicht gar so erstaunlich. Es kannten mich wohl noch mehr Leute im Saal, das heißt: man kannte mich ganz oberflächlich. Von meinem wirklichen und wahren Leben hatte niemand auch nur die geringste Ahnung oder Vorstellung. Ich musste im Gedanken daran, dass niemand mich kannte, laut lachen, was einige Gäste veranlasste, entrüstet „Pst“ zu rufen. Ich dämpfte mein Lachen zu einem Lächeln, das ich zu jener blonden Dame hinüberschickte und erhob mein Weinglas, um ihr heimlich zuzutrinken.

Sie bemerkte den Gruß und erwiderte ihn leicht. Ein hübsches Abenteuer, dachte ich mir. So ganz mein Geschmack. Sie ist jung, schlank, blond, und da sie weiß, wer ich bin, wird sie auf mich fliegen. Es wird keine Schwierigkeiten und langen Auseinandersetzungen geben. Dafür bin ich nicht zu haben. Es blieb bloß noch zu bedenken, wie ich sie von dem Mann am Tisch loszureißen vermöchte.

Plötzlich stand sie auf.

Ah! ein erfreuliches Zeichen. Famos, das lässt sich gut an. Sie warf mir einen Blick aus saphirblauen Augen hinter langen Wimpern zu und schritt – sie saß am rechten Tisch an der Bühne rechts – vom Bühnenlicht hell aus dem dämmerigen Zuschauerraum gehoben, an der Bühne vorbei.

Und da geschah es.

Sie hatte das Licht im Rücken.

Jetzt wandte sie mir die Vorderseite zu, nachdem ich sie einige Schritte im Profil gesehen.

Und ich sah, das Blut erstarrte und gefror mir in den Adern, die Dame völlig transparent. Ich sah durch ihre Kleider und ihr Fleisch hindurch und ich sah nur: ein Skelett und einen Totenkopf, und in dem Totenkopf brannten ihre Augen.

Ich hatte mich ursprünglich erhoben, ihr zu folgen, da fühlte ich plötzlich, wie das starre Blut in meinen Adern sich löste, ein Feuerstrom begann in mir zu rasen, im Nu hatte ich den Mund voll heißen Blutes, das aus der Tiefe meines Leibes stieg, als wäre ich ein Vulkan, und schon brach auch der Blutstrom über meine Lippen und mitten im Kabarett fiel ich der Länge nach wie ein Klotz zu Boden.

Das blutende Herz

Als ich erwachte, fand ich mich in einem dahinjagenden Auto. Ist dies etwa eine Kinoaufnahme und fährt das Auto vielleicht gar nicht wirklich und wird es vielleicht nur von zwei Männern hin und her geschaukelt, um die Illusion des Fahrens hervorzurufen?

Ich beugte mich ein wenig nach vorn.

Ich sah den Chauffeur durch das Glasfenster. Sah Häuser und Bäume und Menschen und Haltestellen der Straßenbahn vorüberlaufen.

Das Auto fuhr wirklich.

Ich lehnte mich im Polster zurück – da spürte ich eine Hand auf meinem Hinterkopf.

Ich wandte mich zur Seite:

Eine mir völlig unbekannte Dame saß mit mir im Auto. Ich wollte sprechen, da legte sie den Finger auf die Lippen zum Zeichen, dass ich schweigen solle.

Und da spürte ich auf einmal einen faden süßlichen Geschmack im Munde – wie damals, als ich mit Munk Blutsbrüderschaft getrunken hatte – und nun besann ich mich wieder: Ich hatte im Kabarett einen Blutsturz gehabt – aber was war vorher gewesen?

Ich konnte mich nicht besinnen.

Ich schloss die Augen. Schlug sie wieder auf und bemerkte, dass noch ein dritter im Auto anwesend war: ein Herr, dessen Züge ich nicht zu enträtseln vermochte, weil er im Schatten der Dame saß.

Durch einen zarten Händedruck wurde ich an ihre Anwesenheit erinnert. Ich erwiderte den Händedruck zärtlich. „Wer sind Sie, die Sie sich meiner so liebreich annehmen?“

Die Dame legte die Finger an die Lippen:

„Sprechen Sie nicht! Sie müssen sich schonen. Übrigens geht es Sie nichts an, wer Sie lieb hat.“

Und aus dem Dunkel tauchte die Stimme des Herrn:

„Hyacinthe, sage dem Herrn, er soll schweigen. Wenn er redet, wird er wieder einen Blutsturz bekommen.“

Ich schwieg, denn diese Stimme hatte einen Klang, der zum Schweigen fast zwang. Sie klang aber weder angenehm noch peinlich, weder gut noch böse, weder schön noch hässlich, sondern gänzlich irrelevant.

Ich sah aus dem Fenster.
Das Auto fuhr durch den Tiergarten.
Schnee lag auf dem Rasen und Eis hing an Zapfen von den Bäumen.
Schnee mildert den Schmerz, dachte ich, und wusste nicht, warum ich das dachte.

Schnee fällt aufs Herz wie Erde auf den Sarg und wie Tränen aufs Sterbebett.

Ich zermarterte mir den Kopf.

Einmal müssen Tränen am Sterbebett geflossen sein.

Einmal muss Erde auf den Sarg gefallen sein. Einmal muss Schnee aufs Herz gerieselt sein.
Vor meinen Augen spannen sich rosafarbene Schleier. Rote Spinnen saßen an den Punkten, wo die Fäden sich knüpften. Alles, was ich sah, war in zarte rosa Karos geteilt, wie ein Bauernlaken, wie ein Schachbrett. Schach der Dame, dachte ich.

Ich konnte nicht weiter denken. Ich war von dem Blutsturz allzu benommen.

Aber wie ich mich zu der Dame an meiner Seite kehrte: weiteten sich meine Augen vor Entsetzen.

Ich sah nichts als ihre schwarze Silhouette und in dieser schwarzen Silhouette ein rotes zuckendes Herz.

Und dieses Herz – blutete.

Schnee fiel draußen hinter dem Wagenfenster und schien in das blutende Herz zu fallen, wo die weißen Schneeflocken sich in blutrote Tränen verwandelten.

Weinte wer um mich?

„Es ist nicht wahr“, schrie ich, „ihr Herz lebt nicht mehr! es kann nicht mehr leben! da ich es in einer Winternacht im Schnee vergrub –„.

Das Herz brannte wie eine rote Ampel im schwarzen Wagen.
Der Schnee fiel: auf die Welt, auf den Wagen, auf mich.
Schwarz ist die Nacht,
und rot ist das Herz,
und weiß, so weiß ist der Schnee –

Bis an den Hals ging mir der Schnee, da sank ich in Ohnmacht.

Charité

Ich erwachte von einem Ruck.
Der Wagen hielt.
„Charité!“ schrie der Chauffeur.

„Ich nehme ihn links, du nimmst ihn rechts unter den Arm“, sagte die Dame.

Ich war so geschwächt, dass ich vor mich hinblickte, wie ich ein Bein vor das andere setzte. Wer geht da? Ich will gar nicht gehen. Es geht.

„Chauffeur, Sie warten noch!“ sagte die weder gute noch böse Stimme.
Im Aufnahmezimmer legte ich mich auf das Ledersofa.

Ein Assistenzarzt, die englische Pfeife schief im Munde hängend, trat missvergnügt auf mich zu.

„Da es fünf Minuten vor zwölf Uhr Mitternacht, mithin noch heute ist, müssen Sie den heutigen Tag noch mit bezahlen, verstehen Sie?“

Ich verstand und bewegte schwach den Kopf.

Alles schiebt heute. Alles will Geschäfte machen. Vermutlich steckt er das Geld für den heutigen Tag in seine Tasche. Wahrscheinlich wird er schlecht bezahlt. Charité – wie heißt doch das gleich auf Deutsch? Jedenfalls scheint es eine Art Medizinalnepp zu sein. Nachtbar mit Tuberkellnern. Ethik hin, Ethik her. In diesen Spermathozonen gibt’s nur eine Spirochethik.

„Zahlen müssen Sie!“ schrie der Assistenzarzt, und die Pfeife fiel ihm beinah vor Wut aus den falschen Zähnen.

Ein Wärter, mit dem Kopf eines Warzenschweines, der inzwischen herbeigeschlurft kam, nickte schadenfroh.

„Sie müssen zahlen, acht Tage voraus, pränumerando, dann können Sie aufgenommen werden …“

Barmherzigkeit! Was sind das für Menschen!
Und da wusste ich auch, was Charité hieß:
Barmherzigkeit …

Ich fasste in meine Brusttasche, um meine Brieftasche herauszuholen und die widerlichen Mahner zu beruhigen –
Die Brieftasche war fort!
Ich richtete mich erregt auf.
Ich suchte in allen Taschen.
Nichts zu finden.
Die Brieftasche blieb verschwunden.

„Aber ich habe doch meine Brieftasche im Kabarett noch gehabt.“
„Wer hat, hat“, sagte das Warzenschwein,
„und wer gehabt hat, der hat gehabt.“

„Aber –„

„Aber aber“, äffte der Assistenzarzt, „haben Sie den Herrn und die Dame gekannt, die Sie hier abgeliefert haben?“

Welchen Herrn – und welche Dame – ach – ich erinnere mich – ich sah mich um – sie waren nicht mehr da …

„Nein, ich habe den Herrn und die Dame, die so liebenswürdig waren, mir in meinem Unglück beizustehen, nicht gekannt … seit wann sind sie denn hier weg … sie waren doch eben noch hier?“

„Sie sind vor ein paar Minuten gegangen … und“, der Wärter und der Assistenzarzt brüllten vor Vergnügen, „wahrscheinlich waren sie so liebenswürdig, sich vor allem Ihrer Brieftasche anzunehmen …“

„Was heißt das?“ Ich begriff schwer in meinem Schwächezustand.

„Dass Sie vermutlich Fledderern in die Hände gefallen sind und dass man Ihnen Ihre Brieftasche … gestohlen hat.“

„Geklaut,“ sagte der Wärter mit dem Warzenkopf, „geklemmt, geganefft, stiebitzt.“

„Das ist unmöglich!“, ich entrüstete mich, so gut ich vermochte, „die Dame gehörte den ersten Kreisen der Gesellschaft an“

Der Wärter trat an das Ledersofa.

„Wenn Sie nicht zahlen können, dürfen wir Sie nicht hier behalten –„
Ich erhob mich schwach.
„Aber ich kann kaum gehen ..“«
Da sah ich den Wärter dicht vor mir:

Er hatte ein Messer in der Hand und seine weiße Schürze war blutbespritzt.
„Metzger!“ schrie ich und war mit einem Satz auf den Beinen.
Metzger! gaben die Wände das Echo zurück.
Ich stolperte an der Portierloge vorbei.
Die Tür schnappte hinter mir ins Schloss.

Frei! wieder frei! nicht im Gefängnis! nicht mehr das Bild dieses blutbespritzten Metzgers vor Augen, der wie Munks Vater aussah, wenn er vom Schlachten kam.

Ich lehnte meinen heißen Kopf an die kühle Mauer.
Tief atmete ich auf.
Aber dieses tiefe Atmen zerriss meine Brust.

Ein neuer Blutbach stürzte hervor und in die Knie sinkend, färbte ich mit meinem Blut den Schnee.

Nicht Schnee fiel aufs blutenden Herz –
Blut tropfte auf den weißen Schnee.

Der Mann mit dem Handkarren

Ein Mann mit einem Handkarren trabte vorüber.

Als er mich im Schnee knien sah, die Hände nach vorn gestützt – von weitem musste ich wie ein Hund aussehen – hielt er an:

„Nanu? Sind Sie besoffen? Sie haben wohl in der Charité zu viel Kleinkinderspiritus gesoffen? Oder haben Sie einen Sechser im Schnee verloren?“

Da erblickte er die Blutlache im Schnee.

Er schüttelte den Kopf.

„Du lieber Gott – was es doch heutzutage für hartherzige Menschen gibt. Da lässt man einen armen Schwindsüchtigen so einfach mir nichts dir nichts im Schnee verrecken.“ Er nahm mich unter meine Arme, zerrte mich hoch und verfrachtete mich auf seinen Handkarren.

Mit einem alten Überzieher, der auf dem Karren gelegen war, deckte er mich zu, und als Kopfkissen diente ein Pappkarton, der klapperte und schepperte, als er ihn unterschob.

„Wo wohnen Sie?“

Ich nannte ihm meine Hausnummer.

„Das ist ganz in meiner Nähe … hier, den Sack müssen Sie aber festhalten, dass er nicht herunterkullert.“

Und er schob neben mich auf die Karre einen ziemlich schweren Leinwandsack.

Als ich ihn wie ein Kind in meine Arme nahm, spürte ich durch die Leinwand hindurch eine eiskalte Menschenhand.

Und diese Hand war zart und schmal wie ihre Hand.

Ich war einer Übersteigerung von Gefühlen wie Schmerz, Entsetzen, Ekel, Furcht, nach den Erlebnissen dieses Abends nicht mehr fähig.

Still und steif lag ich da.

Ein eisiger Wind wehte über meine Stirn: in blitzschnellen, scharfen Stößen.

Mir war, als stände ich auf Mensur, ohne Waffe, wehrlos, und alle paar Sekunden führe mir der scharfe, spitze Schläger meines Gegners in Stirn und Wangen.

Aber kein Blut rann. Es schien in der grauenhaften Kälte sofort zu gefrieren.
Wer war mein Gegner? Wer strebte, mich unerbittlich zu vernichten?

Gott! Gott!

Vom Teufel war ich ausgesandt als funkelnde Fregatte und landete bei Gott als abgetakeltes Wrack.

Der Mann schob den Karren.
Der Wind ließ nach.

Die Wolken in den Lüften lösten sich. Immer mehr Sterne kamen zum Vorschein. Sie ordneten sich symmetrisch in goldenen Facetten zu einem riesigen Fliegenauge, das starr auf mich herniedersah.

Am Reichstagsufer hielt der Mann an.
Er horchte in die Nacht.

Das Fliegenauge war verschwunden. Wie Eisblumen glitzerten die Sterne am Himmelsfenster: dahinter Musik erklang, kaum hörbar, wie wenn in weiter Ferne Grillen zirpen.

Die Spree floss leise.

Verschlafen und fröstelnd drückten sich die Häuser aneinander.

Mit einem Ruck hatte der Mann den Sack vom Wagen gerissen und über das Geländer der Brücke gestülpt.

Ein dumpfer, stumpfer Fall auf die klatschenden Wasser. Er lauschte wieder einen Moment.
„Gut takko!“

Er rieb sich die vor Frost blauen Hände und schob den Karren auf den Straßenbahngleisen weiter.

„Sind Sie ein Verbrecher?“
Ich fragte es müde und irgendeiner Auflehnung, Aufregung oder Empörung nicht mehr fähig.
Er sprach vor sich hin als spräche er nur zu sich selbst:

„Da liegt die alte Frau im Sterbehemd aufgebahrt auf der Chaiselongue. Es hat geschneit den ganzen Tag, jetzt ist es Abend, und die Sonne stürzt und stürmt mit einem goldenen Aufschrei durch das geöffnete Fenster. Ein junges Mädchen, meine Braut, steht vor dem Spiegel und kämmt sich die langen Haare, Tränen in den Wimpern. Die alte Frau hat schneeweißes Haar. Es hat geschneit den ganzen Tag. Ihr ganzes Leben lang. Ihr Körper ist der eines jungen Mädchens: zart, schlank und von erstaunlichem Teint. Das Mädchen am Spiegel wendet sich zuweilen zu der Toten und je nachdem ihr Blick auf deren Gesicht oder Brust fällt, lächelt sie oder verzieht schmerzlich oder ein wenig böse die Lippen. So werde ich auch einmal da liegen, auf andere Weise gestorben, aber Tod ist Tod, denkt sie: in einigen Jahrzehnten – oder Jahren – oder Monaten? Wer weiß? Übermorgen ist Tanz in den Zelten und ich werde tanzen gehen.

Ich sitze am Bett und denke, wen ich schon alles sterben sah, und dass das Sterben wohl bitter, dass aber der Tod, wenn sich nach Stunden die Glieder vom Todeskampf gelöst haben, süß sein müsse. So wie die Glieder auseinanderfallen, wenn man endlich eingeschlafen ist.

Das Mädchen am Spiegel probiert ihre Frisur.
Dann wendet sie sich zu mir und sagt:

Komm, wir müssen gehen.
Ihre Stimme erstirbt, denn sie hat Furcht.

Ich drücke ihr die Hand, sehr fest, und ich bemerke, dass ich keinerlei Mitleid habe mit der Toten. Es gibt Schmerzen, die jede Fähigkeit zu einer weiteren Steigerung ausschließen und die alle Schmerzen, die andere empfinden könnten, als geringfügig ansehen lassen. Zwei Jahre sind es her, dass mein geliebtes Wesen mir dahinstarb, und was damals starb: das war Jugend, Glück, Zukunft. Hier auf der Ottomane liegt eine alte Frau, die ihre Bestimmung erfüllt hat und von der man in der Erinnerung sprechen wird: Die gute, alte Frau. Aber damals sagte man: Die schöne, junge Frau … Was damals starb, starb unter dem siderischen Zeichen. Der Genius löschte seine Fackel in der Erde. Die Sonne erlosch. –

Ein Luftzug weht durchs Fenster.

Einige Schneeflocken fallen auf das schneeweiße Haar der toten alten Frau.
Das Mädchen tritt vom Spiegel.

Sie tritt ans Bett und küsst, ein wenig schaudernd, der Toten die Stirn und dem Lebenden, küsst mir die Lippen.“

Er schwieg und schob den Karren.
Der Karren knirschte im Schnee.

Ich öffnete die Augen, die ich während der Erzählung geschlossen gehalten hatte.

„Haben Sie keine Furcht, dass ich Sie verraten könnte?“

Der andere schüttelte den Kopf.

„Als Sie da im Schnee lagen – in ihrem Blut – fühlte ich, dass Sie ein Kamerad von mir seien. Ich sah Ihre Augen einen Moment im Schein der Gaslaternen.“

„Und –?“

„Sie haben ein linkes Auge, das man nicht vergisst, wenn man einmal hineingesehen. Und dieses linke Auge – es ist das Auge über dem Herzen – verrät dem, der sehen kann, wer Sie sind.“

Ich lächelte schwach.

„Und was haben Sie in meinem linken Auge gesehen?“

„Das Bildnis einer ermordeten Frau hängt in der Pupille …“ Ich machte keinen Versuch zu einer Widerlegung dieser abenteuerlichen und phantastischen Behauptung.

Ja: konnte ich sie überhaupt widerlegen?
Ich schwieg.
Der Karren knarrte.
Die Sterne begannen wie kleine silberne Glocken zu klingen.

„Wer war das, den Sie über die Brücke warfen?“

Er drehte den Kopf in einer Spirale wie ein widerkäuender Papagei.

„Eine gute alte Frau. Neunundsiebzig Jahre. Sie wohnte in der Krausnickstraße 23. Wir warteten in ihrer Wohnung, bis sie nach Hause kam. Dann stieß ich ihr das mit Äther getränkte Taschentuch in den Mund. Sie besaß ein kleines Winkeljuweliergeschäft. In dem Pappkarton, auf dem sie liegen, sind einige Schmuckstücke, die mich interessierten: eine lederne Tasche aus schwarzer Menschenhaut, eine Halskette aus javanischen Kinderknochen, in Platin gefasst, und ein goldnes Halsband, dessen einzelne Glieder echte, verglaste Menschenaugen sind.“

Das Haus der Schmerzen

Ich war vor meiner Wohnung angelangt.

Ich stieg vom Karren und drückte dem andern die Hand, dass er mich so weit mitgenommen.
„Ich kann Ihnen leider nichts geben. Meine Brieftasche ist mir abhandengekommen.“

„0“, er bedauerte mit einer lebhaften Geste, „wir schwarzen Brüder sollten uns untereinander doch wenigstens nichts zuleide tun. Es ist unfair, einen Dieb zu bestehlen und einen Mörder zu ermorden … Solches muss der verrotteten bürgerlichen Gesellschaft vorbehalten bleiben, die ja sowieso in allen Fugen kracht. – Übrigens bin ich mit allem Nötigen wohlversehen …“

Und er zog eine Brieftasche.

„Mit wie viel darf ich Ihnen aushelfen, Kamerad?“

Er zückte einen Hundertmarkschein, drückte ihn mir in die Hand, die sich in der Verblüffung schloss, und war mit seinem Karren um die Ecke verschwunden.

Ich hörte seine Stimme noch wie ein Echo mehrmals in mir nachklingen. Beim letzten Male erkannte ich diese Stimme. Ich hatte sie lange Jahre nicht mehr gehört.

Kein Zweifel, der Mann mit dem Karren war Munk gewesen. Ich ging oder ich schwankte bis an meine Haustüre und zog den Hausschlüssel.

Ich steckte ihn ins Schloss.
Er passte nicht.
Ich probierte wiederum.

Zum Teufel, man wird doch nicht in der Nacht plötzlich das Schloss abgeändert haben?

Ich betrachtete mir den Schlüssel. Kein Zweifel: es war mein Hausschlüssel.
Da vernahm ich aus dem Haus eine Stimme:

„Her-rein. Na Puppe. Na komme doch. Na komm Köpfchen kraulen.“

Es war die Stimme, die ich geschworen hatte, nie wieder anzuhören. Die Stimme, die die fürchterlichen Ereignisse meines Lebens mit ihrem hohlen und albernen Geplapper begleitet hatte.

Ich taumelte ein paar Schritte zurück und sah nach der Hausnummer. Ich hatte unbewusst dem Mann mit dem Karren die Adresse meiner früheren Wohnung angegeben. Es war das Haus der Schmerzen, das Haus, in dem ich mit ihr gewohnt hatte.

„Köpfchen kraulen … Maria“ … kreischte der Papagei. Mit übermenschlichen Kräften machte ich kehrt und rannte, stolperte, schlich die halbe Stunde bis zu meiner jetzigen Wohnung. Immer fürchtete ich, es wäre jemand hinter mir her: die Polizei, der Papagei, der Mann mit dem Karren, der Herr aus dem Auto, der Wärter mit der blutbespritzten Schürze aus der Charité, der Komiker Kontack, Pluto mit seinem Schlangenhaupt und seinem Otterszepter. Ich warf mich in meinem kleinen engen Zimmer, das nach hinten auf den Hof geht und in dem es nie Tag wird, in meinen Kleidern auf das Schlafsofa, nachdem ich hastig abgeriegelt und abgeschlossen hatte.

Das Bild

Als ich aufwachte, brannte die gelbe Tischlampe. Ich hatte vergessen, sie am Abend abzudrehen.

Das gelbe Licht tat mir wohl.

Draußen war trüber, grauer Tag. Nur spärlich sickerte das Tageslicht zwischen den Gardinen in das einfenstrige Hinterzimmer. Es roch nach aromatischem Essig.
Ich sah nach der Uhr: halb zwölf Uhr Mittag.

Ich seufzte tief und wie erlöst auf.
Ich war bei mir zu Hause.

Bei der Uhr blinkte der bläuliche Mondstein, und die kleine indische Katze aus gelbem Marmor stand daneben. Und unter der Lampe: von ihrem Lampenschirm mit einem blassen Heiligenschein umgossen: ihr Bild.

Wie zum Schutz hielt ihre Hand die weiße Rose vor sich an der Brust. Das blonde Haar war hoch aufgesteckt. Die Lippen, halb geöffnet, ließen die zarten Zähne sehen. Aber die Augen – ihre guten Augen sahen mich böse an.

Was bedeutete das?

War es nicht wahr, dass sie mir verziehen hatte?
War ihre Vergebung – Komödie gewesen?

Hatte sie mir nur scheinbar verziehen, um mich jetzt umso grauenvoller zu martern: wie man zu Zeiten der Inquisition die Delinquenten durch unzählige Gänge und Dutzende von Türen entfliehen ließ – und erst, als hinter der letzten auf freiem Felde das Gefühl der endlichen Freiheit sie dunkel zu berauschen begann: der Henker plötzlich vor ihnen rot aus dem Boden spross wie gigantischer Mohn? Erinnerungsfetzen aus den Begebenheiten der letzten Nacht flogen vor meinem Bewusstsein vorüber wie Wolken im Wind.

Und ich erinnerte mich:
dass ihre Augen gestern Nacht mich gesucht hatten; dass ihre Augen, die Augen einer Toten, in dieser Welt, auf dieser Erde noch lebten … mich zwangen, in sie zu sehen, in ihnen mich selbst zu spiegeln – und mich zur Rechenschaft ziehen wollten.

Warum hatte ich den Mann, der das Armband mit den Menschenaugen gestohlen hatte, nicht gebeten, es mir zu zeigen? War es nicht möglich – dass ihre Augen darunter waren? Warum hatte ich mir die Adresse dieses Mannes nicht notiert?

Ich hätte ihm das Armband abkaufen sollen … Unsinn … dies war natürlich Unsinn … Mörder pflegen ihre Visitenkarten nicht jedermann zu überreichen.

Ich blickte noch einmal zum Bild herüber.
Die Augen glänzten wie zwei Mondsteine.

Der Mondstein, den sie mir als Talisman gelassen hatte, war ihr geheimes Symbol gewesen.
Ich blickte in die Augen.

Sie hatten mich treu bewahrt.
Ich sah mich.
Überall war ich – ich – ich.

O wie ich mich hasste, wie ich begierig war, mich aus dem Gedächtnis der Menschen, aus dem ihren und aus dem meinen auszulöschen.

Ich griff nach dem Bild.

Die Lippen schienen sich zu bewegen und mich deuchte, sie sprächen die Worte, die Schuster Leidl immer gesprochen hatte:

„Nicht böse sein –„

Ich öffnete den Rahmen, nahm die Photographie heraus und schnitt mit der kleinen Schere, die auf dem Tisch lag, dem Bild die Augen aus dem Kopf.

Der Brief

Es klopfte.

Ich fuhr zusammen, verbarg das Bild im Bett.

„Wer ist da?“

Es war das Dienstmädchen Elise.
Ich ging zur Tür und öffnete.
Sie brachte das Frühstück und die Post.
Ich kroch sofort wieder in die Kissen.
Mir war unsagbar elend zumute.

Ich fühlte meinen Puls. Zweifellos hatte ich Fieber. Es war das vernünftigste, im Bett zu bleiben. Dieser verdammte Blutsturz gestern Abend. Man hält auch gar nichts mehr aus.

Unter den Briefen waren Geschäftsbriefe, darunter einer, ob ich für 8000 Mark im Monat am Kabarett »Fledermaus« in Königsberg gastieren wolle. Das Engagement ging nun auch zum Teufel, und ich hätte die 8000 Mark so gut brauchen können, Herrgott, nicht mal einen anständigen Anzug hat man mehr.

Ein anderer Brief: ein Lehrer aus Schmachtenhagen, Kreis Krossen, bat mich um ein Autogramm. Der Lessingbund in Braunschweig, die Sternwarte in Mannheim, die Literarische Gesellschaft in Nürnberg und die Bücherstube Esplanade in Hamburg fragten an, ob ich bei ihnen lesen wolle »aus meinen Werken«. Aus meinen Werken. Diese Couplets, die ich da verfertige, nennt man also Werke. Mir wird übel. Wenn diese Gesellschaft und diese Gesellschaften wüssten, was alles mein Werk ist, aus dem ich nicht lesen werde, weil ich es selbst nicht zu entziffern vermag.

Ich schreibe Hieroglyphen.
Schließlich fand ich noch einen Privatbrief:

„Herrn ……t“

Wahrscheinlich von einem Mädchen, der Orthographie zufolge. Und ich öffnete:

Berlin,……..Krankenhaus Station 2, Zimmer 20.

Teile Ihnen hierdurch mit, dass Fräulein Marianne hier im Krankenhaus liegt. Fräulein Marianne hätte selbst geschrieben, hat aber hohes Fieber. Besuchszeit: Mittwoch, Sonnabend und Sonntag 2–3.

Mit bestem Gruß
für Fräulein Marianne
Die Unterschrift war unleserlich.

Meine Augen begannen wieder, sich rosa zu verschleiern. Ich besann mich vergebens, wie ich zu diesem Brief käme und wer dieses Fräulein Marianne sein solle. Ich hatte viele Frauen lieb gehabt, vielleicht war Fräulein Marianne unter ihnen. Vielleicht erinnerte sie sich meiner, da es ihr schlecht ging. Ich würde ihr 50 Mark schicken, natürlich. Gott, von 50 Mark kann man selbstverständlich keine Sprünge machen heutzutage, aber sie soll wenigstens meinen guten Willen sehen.

Da durchfuhr es mich, wie eine Ahnung, blitzschnell: Station 2, das ist die Station, wo die Wöchnerinnen liegen. Diese Ahnung trog mich nicht, gewiss nicht.

Ich, selber eine Ausgeburt der Hölle, von Pluto, dem Höllenfürsten in eigener Person teuflisch gesegnet und geweiht, hatte wieder einmal ein Kind in die Welt gesetzt, ein elendes Kind in diese gottverfluchte Welt, in diesen eitrigen Abszess einer (vielleicht vorhandenen) wahren Welt.

Aber wer war die Mutter?

Marianne … Marianne … ich wiederholte völlig sinnlos dreißigmal den Namen, ohne dass er mir bekannter oder vertrauter geworden wäre. Ich hatte das letzte halbe Jahr geliebt wie nur je in meinem Leben.

Weil ich mich von ihr befreien wollte.

Und sicher war auch der gestrige Blutsturz eine Folge dieser wahnwitzigen Ausschweifungen: denn, nicht genug gesättigt von einer Frau, hatte ich an manchen Tagen zwei, drei Frauen umarmt. Im Auto. Im Hausflur. Im Tiergarten. Ich hatte mir selten die Mühe gemacht, sie mit nach Hause zu nehmen. Es war unmöglich, ihre Namen, ja auch nur ihre Gesichtszüge zu behalten. Vor einigen Wochen lernte ich auf einer Abendgesellschaft eine Dame kennen, die nach dem Essen, als wir uns in eine Ecke des Wintergartens zurückgezogen, eine Vertraulichkeit mir gegenüber an den Tag legte, die mich entzückte, aber befremdete. Erst nach einer Weile begriff ich, d. h. ich erinnerte mich: ich hatte mit der Dame einmal eine Nacht geschlafen, es aber völlig vergessen.

Wer war die junge Mutter im Krankenhaus?

Kontoristinnen, Schauspielerinnen, junge Damen der sogenannten Gesellschaft,

Dienstmädchen, Plätterinnen, Chansonetten, fünfzehnjährige Mädchen, verheiratete Frauen und Mütter zogen in langer Reihe an mir vorüber: Wer war es?

Ihre Gestalten waren schattenhaft, undeutlich ihre Gesichter, ihre Namen hatte ich vergessen, nur manchmal blitzte ein Name auf wie: Lotte, Lilly, Anny, Grete – nur eines wusste ich:

Dass ich sie alle geliebt hatte, nicht wie man Puppen oder Glasperlen, sondern wie man Sterne und Tiere und Blumen liebt.

Der Albino

Es klingelte.
Ich schreckte empor.
Die Polizei?

Ich hörte das Dienstmädchen im Korridor verhandeln: „Aber der Herr liegt noch im Bett –„

Eine Stimme, deren Wohllaut mich bezauberte, erwiderte: „0, das macht nichts – lassen Sie uns nur bitte herein.“

Es klopfte und herein traten
die Dame und der Herr von gestern Abend.

Die Dame trug einen Sealpelz und einen kleinen schwarzen Hut. Sie konnte, nach den Gesichtszügen zu urteilen, die sie hinter einem feinmaschigen Schleier verdeckte, in dem auf der linken Wange eine Libelle eingestickt war – kaum zwanzig Jahre zählen. Sie hatte einen Fliederstrauß in der Hand, den sie mir lächelnd auf die Kissen legte.

Der Herr hinter ihr war korrekt im Zylinder erschienen, den er jetzt ablegte. Er tat auch seinen Nerzpelz ab, und ein etwas altmodischer Gehrock kam zum Vorschein.

Jetzt trat er auf mich zu. Ich sah zum ersten Mal sein Gesicht, seine Augen.
Es war ein Albino.

Seine Augen waren rot wie die gewisser Kaninchensorten. Er trug einen Fransenbart wie Schuster Leidl.

Sein Haupt- und Barthaar war schneeweiß, obgleich ich sein Alter auf höchstens vierzig Jahre schätzte.

„Wir haben in der Charité angeklingelt. Sie waren nicht mehr da. Nun, wie geht es? Sprechen Sie nicht laut – Sie dürfen nur leise sprechen – die Lunge muss geschont und möglichst stillgelegt werden – bleiben sie auf dem Rücken liegen – so – ich werde einmal ein wenig perkutieren und auskultieren – so gut es geht, ohne Sie anzustrengen.“

Er schlug die Bettdecke zurück.

Der Flieder fiel zu Boden.

Die Dame hob ihn gleichgültig auf und steckte ihn in die Wasserkaraffe auf dem Waschtisch.
Der Albino klopfte meinen Brustkasten ab und ich weiß nicht, warum ich mir seine Manipulationen gefallen ließ. Wer hat denn den Doktor bestellt?

„Rechts starke Dämpfung – das scheint eine alte Stelle zu sein – haben Sie eine Kaverne gehabt? Von dort aus muss der Bluterguss stattgefunden haben.“

Er griff in die Brusttasche und zog ein zusammenlegbares Stethoskop hervor. Er schraubte es zusammen und setzte es mir auf die Brust:

„Wie gewöhnlich atmen – nicht anstrengen – flüstern Sie mal: neunundneunzig – nochmal – neunundneunzig – neunundneunzig –„

Er erhob sich.

„Sie können in diesem engen und finsteren Raum, der weder genug Licht noch Luft hat, nicht länger bleiben. Sie müssen in ein Sanatorium oder Krankenhaus – unterbrechen Sie mich nicht – Sie brauchen Ruhe, Pflege, und eine Schwester“ – damit streifte sein Blick die blonde Dame – „muss immer um Sie sein. Ich habe das Sanitätsauto gleich mitgebracht. Es wartet unten vor der Tür.“

Ich wusste nicht, was ich sagen sollte.
Das Rotauge sah mich durchdringend an.
Die Dame trat ans Bett und nahm meine Hand.

„Sie müssen etwas für sich tun. Ich kann es nicht mit meinem Gewissen vereinbaren, Sie so hilflos und verlassen hier liegen zu lassen.“

Aber, als ich ihre Hand fühlte, die eiskalt in meiner heißen Fieberhand lag wie eine Totenhand, da kam es wieder über mich: „Lassen Sie mich – lassen Sie mich allein – Sie wissen nicht, wem Sie Ihre Hilfe angedeihen lassen – wem Sie Ihre schöne und gute Hand geben. Beugen Sie sich nicht zu nahe über mich, dass der Pesthauch meines Atems Sie nicht trifft. Blicken Sie mir nicht ins Auge. Sehen Sie nicht in mein linkes Auge, das Auge über dem Herzen. In meinen Augen wohnt das Grauen. Ein Händedruck von mir ist giftig wie ein Stich eines Skorpions.“

Der Rotäugige stand da, die Hände auf dem Rücken gekreuzt.

„T. B. C. mit psychogener Ursache. Eine Analyse nicht nur des Sputums, sondern vor allem der Seele täte not.“

Die Dame neigte sich über mich, dass ich ihren Atem spürte, und der duftete süß wie Oleander oder Mandel oder Hyazinthe. „Mein lieber Mensch, seien Sie unbesorgt, fürchten Sie nichts. Und wenn Sie ein Verbrecher, und wenn Sie ein Mörder wären: ich würde Sie dennoch pflegen. Ich würde Sie nicht weniger lieb haben und nicht weniger gut zu Ihnen sein. Was geht das mich an, wer und was Sie sind? Ich habe kein Recht, danach zu fragen, sondern nur die Pflicht, Ihnen zu helfen.“

Ich hatte mich halb in den Kissen emporgerichtet.
Mein Herz schlug rasend: vor Seligkeit.

Wenn Erlösung möglich war, so war sie nur möglich, weil diese Frau lebte.

Der Albino griff noch einmal in seinen Gehrock.

„Hier ist übrigens Ihre Brieftasche. Sie haben sie gestern Abend im Auto verloren.“

Die Tür sprang auf.

Zwei Sanitäter traten mit einer Tragbahre herein. Hinter ihnen das Dienstmädchen Elise, Tränen im Auge, die Hände ringend und wringend.

Ich wurde auf die Tragbahre gelegt.

Das rote Auge faszinierte mich. Ich wagte nicht aufzubegehren und fühlte mich auch plötzlich sterbensschwach.

Ich wurde durch den Hausflur getragen.

Neugierige Hausbewohner, alte Frauen, ein junges Mädchen in einer schottischen Bluse, ein lahmer Zollinspektor, einige Kinder warteten schon.

Der Zollinspektor hob seinen Krückstock, wobei er sich wie Friedrich der Große vorkam, und krähte:

„Das hat er von seinem Lebenswandel. Nun hat er die Auszehrung.“

Schaudernd hüllten die Frauen sich in ihre Kopftücher und Schals. Das junge Mädchen lächelte hilflos und verlegen. Die Kinder sahen mit offenen Mündern auf mich, und eines sagte:

„Kuck mal, der ist tot. Komm wir wollen sterben spielen.“

Der wunderliche Wald

Den ganzen Weg hielt Hyazinthe meine Hand.

Das Sanitätsauto hatte Milchglasscheiben, so dass man nicht sehen konnte, wohin es fuhr. Auch roch es nach Kreosot, Lysoform und Karbol, dass mir zuweilen übel wurde.

Mir schien es, als ob das Auto sich gar nicht von der Stelle bewege, als ob es immer auf einem Fleck ratterte.

Aber nach einer halben Stunde hatte ich das Gefühl, als ginge es durch eine Wald.

Wenn wir nur an keinen Baum fahren.

Mit einem Ruck, der mich aus den Kissen emporwarf, hielt das Auto.

Der Chauffeur öffnete den Wagenschlag.

„wir haben eine Panne bekommen. Sie müssen aussteigen.“

Der Albino und Hyacinthe stiegen aus.

Ich erhob mich von der Bahre. Nur mit einem Hemd bekleidet, stieg ich aus dem Wagen.
Der Albino und Hyacinthe waren verschwunden. Ich machte mir keine Gedanken darüber.
Finsternis ringsum.

Ich ging ein paar Schritt und ging wie auf Gelee oder auf einer aufgeblasenen Luftballonhülle.

Vielleicht ist die Erde ein Luftballon, der im Äther schwebt? Ich sah empor und sah einige Sterne. Eins – zwei – drei – ich begann sie zu zählen.

Die Sterne erinnerten mich an Automobillichter. Ich suchte die Lichter des Sanitätsautos im Dunkel.

Sie waren erloschen.
Das Auto war wie von der Erde verschluckt.
Es herrschte eine schwüle, drückende Atmosphäre.
Die feuchte Wärme benahm mir fast den Atem.

Noch war es dunkel, ich tastete mich vorwärts, aber vor mir brach schon die rosafarbene Ahnung des künftigen Tages durch ein tiefes Kobaltblau.

Ich tastete mich – mein Tastsinn sagte mir: von Baum zu Baum. Aber diese Bäume mussten Bäume besonderer Art sein:

Es mussten fließende Bäume sein, die aus einer schweren, dicken Flüssigkeit bestanden, denn meine Hände griffen immer wie in Honig.
Endlich wurde es, blitzartig schnell, Tag.

Ich schritt auf weichem, dampfendem Erdreich durch einen sonderbaren Wald.
Riesige Fächerpalmen wölbten sich über mir.

Kirchturmhohe Bäume standen da – Wellingtonien und Eukalyptus – und von den Stämmen floss unaufhörlich ein goldner Strom von Harz hernieder. Kakteen krallten sich in Himmel und Erde.

Eine adlergroße Libelle schwebte über meiner Stirn.

Ihr Kopf hatte etwas Mädchen-, etwas Madonnenhaftes, und fast schien es mir, als wäre es Marias Kopf.

Madonna immaculata!
Libellula immaculata!

Du Goldgeflügelte verweile einen Augenblick!

– Vor meinen Augen schrumpfte die Libelle zu ihrer natürlichen Größe zusammen und schwebte schillernd und irisierend.

Ihren Kopf konnte ich nicht mehr erkennen.

Mir schien es jetzt, als wäre es die Libelle, die auf dem Schleier der blonden Dame eingestickt war.

Ich trat in eine Lichtung.

Ein wildes Pferd erhob sich, als ich näher kam, aus einer Kute. Es galoppierte wiehernd davon und ich sah und hörte, dass es zwölf Hufe hatte, an jedem Fuß drei.

Affen schaukelten sich auf Lianen.
Sie bemerkten mich gar nicht, denn ich marschierte zwischen den Riesentieren und Riesenbäumen wie ein Hirsch- oder Rosenkäfer.

„Die Erde“, so dachte ich ziemlich unmotiviert, „gehört dir, du bist zwar ein Zwerg, aber du hast so etwas wie ein Gehirn, vermagst zu denken, logische Schlüsse zu ziehen, und die Riesentiere und Riesenbäume mit List und Scharfsinn zu überwinden.“

Durch die Bäume schimmerte ein weißer, schneebedeckter Berg. Er stieg wie eine Schwertlilie aus dem Sumpf. Je näher ich ihm kam, desto mehr Spuren menschlicher oder menschenähnlicher Füße schienen auf ihn zuzuführen. Plötzlich wurden, wie in einem Kino, auf der weißen Wand des Berges schwarze Buchstaben sichtbar:

Mount Everest, das Wunder von Tibet.

Himmlischer Vater, schrie ich, laß mich das Wunder erleben!

Und ich schritt und schritt fürbass. Immer wunderlicher offenbarte sich die Landschaft. Fauna und Flora gingen ohne Abgrenzung ineinander über und man hätte nicht sagen können: dies ist ein Tier, oder: dies ist eine Pflanze. Es gab Bäume, deren Zweige waren Schlangen, und Sonnenblumen, die das Antlitz von Rochen trugen. Riesenraupen krochen des Weges, aus deren Schuppengliedern Veilchen blühten, und Fliegen flogen, die hatten statt ihrer Facettenaugen geschliffenen Diamanten. Ein Löwe wandelte auf steinernen Füßen, sein Schweif war aus Weizenhalmen.

Ich kam an Wasserfällen vorbei, an denen Mühlen standen tibetanischer Art. Nicht zum Getreidemahlen waren sie errichtet, es waren riesige Gebetsmühlen, in denen unaufhörlich das Wasser Gebete plapperte. Und Harfen hingen in den Bäumen, in denen der Wind sang.

Je höher ich stieg, desto unerträglicher gebärdete sich das Klima. Es war gleichzeitig brennend heiß und eiskalt. Ich hatte Frostbeulen an den Füßen und meine Stirn glaubte, einem Sonnenstich zu erliegen.

Herr, schrie ich, wann werde ich den Gipfel erreicht haben?
Ich sah die Fußspuren, die zum Berge führten: keine führte zurück.
Die Mühlen plapperten.
Die Winde sangen.

Aus dem Gebüsch vor mir stieg eine Nachtigall auf. Ich sah sie singend ihre dunkle Bahn im strahlenden Äther ziehn, mein Herz weitete sich und ich wusste: wer der Nachtigall Weg durch unwegsame Lüfte führt, der wird auch meinen Weg zum guten Ende leiten.

Und ich schritt und schrie und sang in die Sonne. – Aus Feuersteinen, die am Wege lagen, verfertigte ich mir, indem ich sie gegeneinander rieb oder aufeinander zerschlug, eine Keule und ein Messer.

Mit diesen Eolithen wollte ich meinen Weg schon machen.

Eine Hyazinthe duftet und eine Nachtigall beginnt zu schlagen

Ich packte die Keule fester.
Da hörte ich eine Stimme, eine holde, mir schon vertraute Stimme:

„Aber Sie tun mir ja weh!“

Ich blinzelte gegen das Licht, das in meine Augen drang.
Ich hielt Hyacinthes Hand krampfhaft gepackt.

Ihre Hand, das war die Keule, mit der ich meine Feinde hatte zerschmettern wollen.
Ich lag in einem hellen, weiß angestrichenen Krankenhauszimmer in einem breiten, bequemen Bett.

Ich lag weich wie in Wolken in weißen, nach frischer Wäsche duftenden Kissen.
Hyacinthe hatte Schwesterntracht angelegt.

Sie trug die weiße Haube, unter der ihr Gesicht noch verführerischer, bezaubernder hervorstrahlte wie der Mond unter einer weißen Wolke.

Um den Hals trug sie ein Kreuz.
Aber kein Mensch war an dieses Kreuz geschlagen.
Es standen darauf die Worte:
Licht! Liebe! Leben!
Ein süßer Duft durchströmte das Zimmer.

„Wonach duftet es so süß?“
Ich fragte es leise und meinte, es müsse wohl ihr Atem sein.
Sie zeigte auf den Krankentisch am Bettende.
Da stand eine weiße Hyazinthe.
Ich erschrak, aber anders, wie zuvor.
Es war ein freudiger, ein lieblicher Schreck.
Ich tastete nach ihrer Hand.
„Wie soll ich Sie nennen?“

„Nennen Sie mich nur, wie es meiner Tracht ansteht, nennen Sie mich: Schwester.“

„Nach welcher Himmelsrichtung liegt mein Zimmer, Schwester?“

„Wollen Sie die Sonne steigen oder sinken sehen?“

Ich wehrte ab.

„Ich hasse die Sonne. Der Mond ist mein Gefährte. Die Nacht meine Freundin. Ich kann es nicht ertragen, wenn sich die Sonne in silbernen Messern spiegelt.“

Die Schwester strich mir über die Stirn.

„Das Zimmer liegt nach Norden.“

Ich seufzte erleichtert auf.

„Wie herrlich muss es am Nordpol sein – kalt – kalt – die Welt ist dort so kalt wie mein Herz – und dann: ewige Dämmerung …“

Eine Nachtigall begann irgendwo zu schlagen.
Ich lauschte ihr verzückt, bis mein Entzücken in leise Angst überging.
Es war Januar – wie konnte im Januar eine Nachtigall singen?
Auch Hyacinthe hatte lauschend den Kopf erhoben.
Dann lächelte sie:

„Sie brauchen sich nicht zu verwundern oder zu beunruhigen: es ist das junge Mädchen von der zweiten Abteilung, das sich für eine Nachtigall hält –„

„Ein Mädchen, das sich für eine Nachtigall hält?“
„Sie hat im Kindbettfieber Wahnvorstellungen bekommen, und diese Wahnvorstellungen haben sie noch nicht verlassen. Sie glaubt mit ihrem Gesang den Vater ihres Kindes, das Nachtigallenmännchen, herbeilocken zu können.“

Ich schloss die Augen und erblasste.
Ich erinnerte mich des Briefes aus dem Krankenhaus.
Wenn ich es war, den die Nachtigall rief?

War ich ihr nicht schon begegnet, als ich im wunderlichen Wald wandelte?

Die Schwester saß auf ihrem Stuhl und stickte an einem Kinderhäubchen.

„Finden Sie nicht, dass sie wie eine wirkliche Nachtigall singt? Professor Ziegelbert, der bekannte Ornithologe, der ebenfalls hier im Hause wohnt, behauptet, dass sie bis ins kleinste den Nachtigallenruf richtig wiedergebe, obwohl sie in der Steinwüste Berlins, aus der sie nie herausgekommen, doch niemals eine Nachtigall hätte singen hören können …“

Yenkadi

Jeden Morgen punkt elf Uhr erschien der Albino.

Er ließ sich meine Temperaturtabelle geben und runzelte die Stirn oder rülpste bedächtig.

„Gestern Abend 38,9, heute Morgen 38. Das ist viel zu viel. Verdauung gehabt?“ Die Schwester antwortete statt meiner:

„Jawohl.“
„Pyramidon?“
„0,6.“
„Dionin?“
„Dreimal 0,02.“
„Nachtschweiß?“
„Zweimal das Hemd gewechselt.“

»Der Patient erhält hauptsächlich flüssige und geléeartige Speisen in möglichst kaltem Zustand: eisgekühlte Milch, Mondamin, Hühnergelée.“

„Jawohl.“
„Blut?“
„Noch im Auswurf vorhanden.“

„Falls sich der Anfall erneuert: Eisblase auflegen und dreimal 25 Tropfen Liquidsaft.“
„Jawohl.“
„Das Sputum ist untersucht?“
„Gaffky 5.“
„Schön. – Auf Wiedersehen.“

Der Albino gab mir die Hand und tätschelte mir täppisch die Stirn. –

Da ich nicht lesen durfte, besorgte die Schwester mir Klebstoff, Glanzpapier in allen Regenbogenfarben und eine Schere.

Und ich begann auszuschneiden:

Zuerst Ornamente der verschiedensten Art, die klebte ich weiß auf schwarz, oder grau auf rosa, oder blau auf gold.
Dann entstand ein Negergötze, den hing ich an die Wand über meinem Bett und betete ihn an und nannte ihn:

Yenkadi.

Es war ein weißer Götze: weiß auf schwarz.

Denn die schwarzen Menschen haben weiße und die weißen Menschen haben schwarze Götzen.

Yenkadi aber ist ein Wort vom Senegal, das besagt:

Hier ist es gut! Hier lässt uns Hütten bauen!

Hier ist das Paradies!

Der Albino lachte über Yenkadi, als er ihn neben der Klingel überm Bett hängen sah.

„Drücken Sie nur nicht einmal aus Versehen auf Yenkadi anstatt auf den Klingelknopf. Sonst stürzt vielleicht der Himmel ein …“

Schwester Hyacinthe aber sah zuweilen mit fragenden Augen auf den Götzen, als wisse sie mehr von ihm oder als erbitte sie eine Antwort.

Und ich ging zur freieren Gestaltung meiner Papierbilder über. Gold, Blau, Silber, Schwarz, Rot, Grün, Gelb schlang und verschlang sich in chaotischen Flecken, Dreiecken, Prismen, Kreisen, Arabesken, und die Gebilde, die sich bildeten erinnerten an phantastische Insekten, Libellen und Tiefseefische oder an Urtiere, wie ich ihnen bei meinem Gang durch den wunderlichen Wald begegnet war. Ein Elefant war darunter, der trug an Stelle der Stoßzähne zwei Sägefische, an Stelle der Ohren zwei riesige Quallen, an Stelle des Schwanzes einen Aal. Und seine Augen waren zwei Seesterne.

Ich schnitt aber auch ein Gemälde, das bestand aus lauter Zeitungsausschnitten wie: „Die Schiebertante aus Amerika! Damen sparen Geld! Gelber Hund entlaufen! Maul- und Klauenseuche! Wir retten Ihre Haare! Inventurausverkauf: Universum 1921.“

Solche Bilder waren sehr merkwürdig anzusehen. Auch schnitt ich Köpfe von Männern ab und setzte sie auf Frauenleiber und umgekehrt. Ein Staatsmann bekam die schönen Beine einer Tänzerin. Deren Kopf wurde einer Hyäne angesetzt. Der Hyänenkopf aber einem General.

So spielte ich Schöpfer.
So spielte der Teufel lieber Gott.

Morphium

Der Inhalator zischte. Weißer Mentholdampf floss singend aus gläserner Trompete. In Tropfen hing er sich an die Decke des Zimmers, die sich feucht mit ihm besternte. Auf verstellbarem Bettisch schob die Schwester den Apparat an mich heran, dem sie ein Kissen in den zerfallenen Rücken stülpte. Unregelmäßig, von Hustenanfällen unterbrochen, sog ich die heiße Wolke in die Mundhöhle und stieß sie wieder aus. Meine Brille beschlug sich. Das Zimmer löst sich lächelnd. Wie ein weicher Watteballon wirbelte die Schwester im Reigen entrahmter Bilder, torkelnder Thermometer, entstielter Rosen, inhaltsloser Bücher, aus denen die Druckerschwärze fortgewischt war. Leere Seiten schlugen sich selbsttätig um.

„Zehn Minuten“, sagte die Schwester, „es ist genug“.
Ich sank aufatmend zurück.

Die Tür öffnete sich geheimnisvoll und unhörbar, wie eine Rosenblüte, und der Albino wurde sichtbar. Er wölbte sich bis ans Bett. Sein brauner Anzug schepperte, als wäre er von Blech. Der weiße Bart hing ihm wie eine spitze Zuckertüte am Kinn. Seine roten Augen fielen wie Franzosenkäfer auf die Bettdecke.

Mit sicherer Faust packte er den Puls.

„Wie geht’s?“

Vor meiner Brille verdampfte die Feuchtigkeit: verklärter zeigte sich die Welt. Die Bilder einiger schöner Frauen, die ich geliebt, staken wieder im Rahmen. Eine hielt den Kopf in die Hand gestützt, als wäre ihr die Erde zu schwer, sie ohne Stütze auf dem Haupt zu tragen. Eine andere blinzelte heiter mit den Olivenaugen. Eine aber hielt zwei Kinder auf dem Arm: ein hell gekleidetes, zartes Mädchen und einen blonden Buben im Matrosenkleide. Sie aber, die Mutter, sah selber noch wie ein Kind aus und schien das dritte der Geschwister.

Mein Blick fiel auf die gelben Rosen. Sie wiegten sich lebendig auf ihren Stielen. Das Thermometer, das der Arzt mir aus der Achselhöhle zog, zeigte eine klare Zahl.

Das Leben war zuweilen so qualvoll bündig und bestimmt. „39,1“, sagte der Albino zur Schwester, die sich entschuldigend in den Hüften drehte.

Ich blickte auf den Arzt. Ein guter Mann! Wie er rundlich gleich einem Ballon im Raume schwebte! Er war gewiss gewillt, den Brand zu löschen, die Mauern zu stemmen, dass das Haus nicht bröckle. Nunmehr krempelte er die Ärmel auf. Rötliche Haare sprossen, heidekrautartig, am Unterarm hervor.

Er trat zum Tisch, entfaltete ein Etui. Wusch die Spitze des Injekektionsapparates mit Eau de Cologne.

Die Schwester schlug die Bettdecke zurück, und der Albino sagte: „Na also, strecken Sie mal das rechte Bein aus.“

Schmerzlos fuhr mir die Spitze ins gelbliche Fleisch, das sich über der injizierten Flüssigkeit winzig bauchte. Der Albino wusch sich und entschwebte. Die Schwester bedeckte mich mit dem Plumeau. Dann hörte man sie auf dem Gange mit dem Assistenten zwitschern.

Im Zimmer unter mir gelegen begann ein Grammophon zu rasseln. Ein Onestep, den Gelächter begleitete.

Ich richtete mich auf, ich rutschte aus dem Bett und stand mit schwankenden Knien im Zimmer. Ich war aus mir herausgetreten, und willig reihte ich mich in den Reigen der Dinge und ihnen gleichberechtigt ein. Ich trat neben die langgestielten Rosen auf dem Waschtisch, gleichen Wesens bedacht. Die Zentralheizung wärmte nicht mich, nur sich. Ich heizte mich selber. Die Bilder an den Wänden gaben sich schwesterlich zu erkennen: nicht als leibliche Frauen, als Bilder im Rahmen, gleichwie ich ein Bild in hölzern vergoldetem Rahmen war, oben und unten gehalten und gestützt und schächerhaft an die Wand genagelt. Immer kamen auf einen Christus Millionen Schächer.

Das Grammophon klingelte lustig wie eine Straßenbahn. Den Wagen dieser Töne betrat ich träumerisch zu ferner Fahrt. Ich hob die Füße, mit den Händen musste ich die Hose meines violetten Pyjama halten, dass sie nicht falle und mich am Schreiten hindere. Immer höher stieg ich und bestieg die Wendeltreppe, die mich auf das Verdeck des Wagens führte. Dort ließ ich mich nieder und sah die Stadt steil unter mir. Rauch lag moosig über den Fabriken. Benzingeruch erfüllte die sonnige Luft. Der Fluss glänzte im beglückenden Bewusstsein des Ziels, nach dem es ihn strömend trieb. Kräne bewegten sich wie eiserne Arme auf und nieder. Bald zeigte ein Arm zum Himmel, bald zur Erde. Bald zum Fluss. Glocken klangen von allen Kirchen. Im Chor ihrer Gesänge erhob ich mich vom oberen Verdeck, grad als der Autobusschaffner mir das Billet hinreichte, und schritt, den Kopf zurückgeworfen, strahlend quer durch die Luft.

Das Wunder

Ich sah den Potsdamer Platz und eine bunte Menge sich auf ihm bewegen. Es war der Potsdamer Platz des Jahres 1921, aber die Menschen, die ihn bevölkerten, die aus Auto, Straßen- und Untergrundbahn stiegen, trugen griechische Trachten und Togen.

Ein Dominikanermönch brach sich durch die Menge Bahn, erhob laut seine Stimme und rief:
„Gott grüße Euch!“

Da blieben viele Menschen in ihren alexandrinischen Gewändern wie vor einem Straßenhändler mit Zigaretten oder Orangen stehen, und einer, es war ein Jüngling, sprach:
„Er grüße dich, ehrwürdiger Greis – falls es derselbe Gott ist, den du und wir meinen.“

Der Mönch erwiderte:

„Welches ist denn Euer Gott?“

Der Jüngling sprach:

„Es ist der Gott, dessen Tempel du dort stolz und steinern ragen siehst.“

Und er zeigte auf das Kaufhaus Wertheim und das Café Vaterland.

Der Mönch sprach:

„Es gibt nur einen einigen Gott: den Allmächtigen, Allgütigen, Allweisen – und ist kein anderer Gott neben ihm.“

Der Jüngling lächelte:

„Dein Alter verbietet mir, dich zu belehren, wie ich es täte, wenn du jünger wärst. Laß dir aber sagen, dass ich viele Götter kenne: den von Berlin, den von Yokohama, den von Moskau. Der von Moskau oder Yokahama hat keine Macht über uns; so wird also auch dein Gott, Fremdling – denn als ein solcher gibst du dich durch deinen Tracht zu erkennen – nichts für oder gegen uns vermögen.“

Der Mönch sprach:

„Es ist nur ein Gott, geoffenbart durch seinen Sohn, der vom Himmel zur Erde herniederstieg.“

Da drängte ich, der ich das Gespräch bis hier verfolgt hatte, mich durch den Kreis und schrie zum Mönch herüber:

„He, du schmutziger Affensohn, sieh zu, dass ich dich nicht an deinem unreinlichen Bart packe und scher dich weiter mit deinen kindischen Lügen.

Die magst du den hirnverlassenen Söhnen deines verkommenen Volkes vorreden, aber nicht den Jünglingen von Berlin, die durch die Schule der Weisheit gegangen. Hier ist die Erde – da ist der Himmel: ei, so laß doch deinen Gottessohn vom Himmel herniedersteigen. Ich sehe keine Leiter und keine Treppe, auf der ein solches möglich wäre.“

Da lachte die Menge.

Der Mönch aber kniete nieder, gerade unter der Normaluhr.

„Herr, Herr, sieh mich im inbrünstigen Gebet vor dir knien. Laß mich nicht zum Gespött deiner Feinde werden. Erleuchte sie mit der Fackel deiner Weisheit und tu ein Zeichen und Wunder, dass deine Kraft und Stärke und die Wahrheit meines Glaubens und meiner Rede geoffenbart sei. Herr, Herr, steig vom Himmel nieder und kehre ein in unsere Herzen …“

– Da öffnete sich der Himmel.

Eine Treppe schien von ihm zur Erde herniederzuführen, auf der ein schöner Jüngling, die Arme segnend gebreitet, langsam herniederstieg. Es stieg die Treppe bis zur Erde, wo er plötzlich unter den Menschen verschwand und nicht mehr gesehen ward. Und eine Stimme schlug wie Donner aus den Wolken:

„Satanas – fahre von hinnen.“

Und ich floh, die Hände vor das Gesicht gepresst, seitwärts.

Ich hörte noch die Schreie und Rufe der Menge:

„Wo ist der Gott, dass wir ihm huldigen? Er stieg vom Himmel zur Erde – und verschwand.«
Da tönte die Stimme des Mönches wie ein Klöppel, der gegen eine Glocke schlägt:
»Er ist mitten unter Euch …“

Die Mondnacht

Ich erwachte unter Beklemmungen.

Der Mond schien fahl in das Zimmer und bestrahlte den weißen Götzen auf schwarzem Grund, dass er wie Radium leuchtete. Seine aus zwei Streichholzkuppen bestehenden Augen glotzten, und er stemmte seine Arme, als wolle er das Bild verlassen und zu mir herniedersteigen.

Da begann ich mich vor meiner eigenen Schöpfung zu fürchten. Yenkadi war schon immer in meiner Seele gewesen. Yenkadi war nur jetzt ans Licht getreten – weil er es wollte. Yenkadi hatte meine Taten und Untaten mitangesehen. Yenkadi kam, um Rechenschaft von mir zu fordern. Yenkadi sprach:

Ich war schon, ehe du warst, und ich werde sein, wenn du nicht mehr bist. Erinnerst du dich, als du geboren warst und zum erstenmal die Augen aufschlugst: stand ich, Yenkadi, nicht da und beugte ich mich nicht über dich? Was ist aus dir geworden, dass du mich Jahre und Jahrzehnte vergissest – bis du mich eines Tages aus weißem Glanzpapier schneidest – und siehe, ich bin wieder offenbar! Aber ich war immer in dir und war allgegenwärtig. Ich ging durch den Wald, als du Maria zum erstenmal im Farnkraut umarmtest. Warum riefest du nicht meinen Namen, den Namen deines Gottes: Yenkadi: es wäre dir vieles erspart geblieben.

Ich schlug dir die Vorhänge zum Brautbett zurück. Du aber achtetest meiner wiederum nicht. Und in jener Nacht der Nächte, da das Blut zu fließen begann: du schwiegst und riefest nicht:

Yenkadi! Yenkadi! –

Ich fühlte kalten Schweiß auf meiner Stirn.

Ich wollte schreien, aber ich vermochte nur zu röcheln: Schwester! Schwester!
Im Mondlicht stand Schwester Hyacinthe vor mir und neigte sich über mich, wie einst Yenkadi über meine Wiege. Sie hatte die blonden Haare gelöst und stand im weißen Hemd da.

Und als ich sie stehen sah:
Da sah ich, dass nicht sie es war.
Es war Maria.

Im Totenhemd stand sie da, so silbern bleich. Die Binde hatte sie vom Kinn gelöst und trocknete mir den Schweiß von der Stirn.

„Warum fürchtest du mich? Und dich? Ich bin bei dir alle Tage und Nächte.“

Ich hob die Arme in den Mond. Der Mond und sie: das war all eines. „Bin ich nicht wahnsinnig geworden vor Sehnsucht nach dir, du Glänzende, du milder Strahl, du kühles Kind? Bist du wieder da, mich zu erlösen und meiner Liebe eine Sinn und meinem Leben einen Zweck zu geben?

Komm! Komm in meine Arme! Komm zu mir ins Bett! Kühle mit deinen kühlen Brüsten mein brennendes Herz, mit deinen Schneelippen meine brennenden Augen! Halte die Fackel meines Schicksals stets fest in deiner guten Hand! Liebe mich! Geliebte Schwester!“

Sie saß an meinem Bett und strich mir über die Stirn.

„Ich darf nicht, mein heißer Junge: du hast Fieber! Und wenn ich dich lieben würde und du bekämst in meinen Armen einen neuen Blutsturz – was würde der Arzt sagen? Und wie würde ich diesen verbrecherischen Leichtsinn verantworten vor mir?“

„Engel!“ schrie ich. „Ich habe dich gemartert – und du, du liebst mich dennoch und liebst mich über alle Begriffe und Maßen.“

Sie drückte einen sanften Kuss auf meine Lippen:

„Schlaf, Liebling, du musst schlafen. Du darfst auch nicht mehr sprechen. Du sollst doch gesund werden.“ Und sie begann leise zu singen:

„Schlaf in süßer Ruh,
Schließ die Augen zu.
Höre, wie der Regen fällt,
Wie des Nachbars Hündlein bellt.
Hündlein hat den Mann gebissen,
Hat des Räubers Kleid zerrissen.
Räuber eilt der Pforte zu.
Schlaf in süßer Ruh.“

In der Nachbarschaft bellte ein Hund.
Die kühle Hand auf meiner Stirn tat so gut.
Ganz leise schlug irgendwo eine Nachtigall.

Sie schlug noch wie streifendes Weidengebüsch in meinen strömenden Traum.

Das Totenfest

Heute war das Fest der Toten. Einmal im Jahre verlassen sie das Totenreich auf dem Grund des Meeres, wo sie zwischen Korallen, Seesternen, Rochen, Austern, Aalen und Spinnen hausen. Sie steigen aufwärts wie gläserne Quallen und wenn sie an die Meeresoberfläche gekommen sind, erheben sie sich plötzlich geflügelt in die Lüfte und ziehen wie weiße Reiherschwärme nach dem Festland, wo sie aus den Wolken niederstürzen und die Gestalt annehmen, die sie trugen, als sie noch unter den Lebenden weilten. – Ich, der Grillenhändler Hen-Yo, hatte alles zum Empfang meiner liebreizenden Gattin Ise vorbereitet. Der Hausaltar war mit weißen Rosen geschmückt. Siebzehn Kerzen hatte ich davor entzündet. Denn meine Frau, meine Geliebte, meine Freundin hatte nur ein Alter von siebzehn Jahren erreicht. An der Geburt des ersten Kindes war die Zarte, Gebrechliche gestorben: sie hatte das Kind mit sich hinüber in das Totenreich genommen. Dort schlief es traumlos unter einem Kristallgestrüpp und die Mutter wachte steinern über seinen Schlaf. Die grünen Wogen zogen über sie beide dahin. – Vor dem Altar waren Näpfe mit Reis, Früchten, kleinen Kuchen aufgestellt. Denn Ise würde hungrig sein von der langen Reise durch Wasser und Wind. Der Teekessel summte. Drei Tassen waren bereitgestellt: zwei größere – sie waren noch winzig genug – und eine kleinere. Ich saß, den spitzen Kopf in die breite Hand gestützt, und wartete. Draußen am Türpfosten flatterte auf langem Papierstreifen ein Gedicht im Winde. Ich hatte es selbst gedichtet und auf das Papier getuscht: silberne Zeichen auf schwarzen Grund. Komm wieder Ise! sang das Gedicht. – Es war dunkel geworden. Die flackernde Kerze warf zitternde Schatten über den kleinen, tönernen, grünglasierten Gott, der in der Altarnische mit verschränkten Beinen saß, die Hände erhoben, dass die Handflächen wie blasse Lotosblüten nach auswärts sahen. Er machte eine strenge, abweisende, unbarmherzige Miene und schien im Halbdunkel zu grinsen. Die Bewegung seiner Hände deutete, bedeutete wohl: Laß deine törichte Hoffnung fahren, Hen-Yo! Ich, der Gott deiner Ahnen und dein Gott, der von dir wusste, ehe du warst und von dir wissen wird, wenn du nicht mehr bist, sage es dir. Ise wird nie wiederkommen. Sie wird nie wiederkommen, wie sie niemals da war. Sie ist nur ein Bild, eine Einbildung deiner Phantasie, der es an bunter Beweglichkeit nie gefehlt hat. Du hast sie geträumt. Du hast sie ersehnt. Und deine Sehnsucht hat ihr einmal schwingende Gestalt gegeben. Du bist zu schwach, sie noch einmal zu schaffen. Träume einen neuen Traum! Noch besser: schlage das Gong! werde wach! Verwese dein Wesen nicht! Du hast noch viel zu tun im Leben. Hast du zum Beispiel heute Abend schon für deine Grillen gesorgt? – Ich erhob mich. Ich trat an die Reihen zierlicher Holzkäfige, darin Hunderte von Grillen saßen. Jede Grille hatte einen Käfig, denn man durfte nicht zwei zusammensperren. Sie hassten einander und hätten sich gegenseitig auffressen. Selbst Männchen und Weibchen konnte man nicht lange zusammenlassen. Sonst fraß das Weibchen als das stärkere das Männchen auf. Ich besaß nur ein einziges Weibchen, das ich zufällig einmal mit einem Männchen im Zustand der Umarmung gefangen hatte. Im allgemeinen ließ ich die Weibchen laufen. Denn nur die männlichen Grillen sind Handelsobjekt. Nur sie zirpen. Meine Methode, Grillen zu fangen, war übrigens sehr einfach. Ich brauchte nur einen Grashalm dazu. Mit diesem fuhr ich in die Grillenlöcher, und die Grillen, die das Kitzeln mit dem Grashalm nicht vertragen können, kamen heraus und wurden leicht meine Beute. – Aus den Nachbarhäusern schollen durch die dünne Bambuswand Klagegesänge und monotone Gebete. Einige der Grillen begannen zu zirpen. Andere fielen ein. Ich fiel vor dem Altar auf die Stirne. Ich betete das große Totengebet, danach das kleine, danach sang ich die Litanei nach der Melodie der Herbstmusik. Als ich geendet hatte, sah ich vor mir im Schein der Kerzen auf einer weißen Hyazinthe eine schwarze Grille sitzen. Ich musste aus Versehen einen Käfig offengelassen haben. Ich nahm die Grille auf meine Hand. Es war das Weibchen, aber, o Wunder, sie begann zu zirpen und als ich genauer hinhörte, hörte ich sie sprechen, fein und leise: „Ich bin Ise. Ich bin immer in meiner zweiten Gestalt bei dir gewesen. Wir Toten können zweierlei Gestalt annehmen: weilen gleichzeitig im Totenreich und im Reich der Lebenden. Doch wissen die Lebenden davon nichts. Nur einmal im Jahre geben wir uns ihnen zu erkennen, wenn sie das Fest der weißen Hyazinthe mit uns feiern. Ich bin immer bei dir gewesen. Du hast es nur nicht gewusst. Jeden Morgen und Abend hast du mir Futter gebracht: frisches Quellwasser und zarte, grüne Miere. Ich bin dein einziges Grillenweibchen und du hast meiner zärtlich achtgehabt. Heute sollst du deinen Lohn empfangen.“ Ich sah, wie die schwarzen Rückenschalen der Grille sich hoben wie Torflügel eines Kerkergewölbes und aufbrachen: und aus dem Gefängnis des Tierleibes schwebte schillernd, leicht wie Wind und durchsichtig wie Glas: Ise, wie ich sie einst gesehen, da sie noch lebte. Meine Erinnerung beschrieb sie so zauberhaft, wie sie vor mir stand. Sie trug ein blaues Kimono mit Sonnenblumen bestickt und auf dem Arm hielt sie den Knaben, der zu schlafen schien. Wir hockten nieder vor dem Altar. Dreimal beugten wir vor dem glotzenden Gott die Stirn auf den Boden. Mein Herz zitterte vor Seligkeit wie eine Winde im Wind. Ich schenkte Tee ein. Ich bot Reis, Süßigkeiten, kandierte Früchte. Ich vermochte nicht zu sprechen. Meine Lippen lagen wie Steinplatten aneinander. Der Gott im Hintergrund hatte sich in sich selbst zurückgezogen. Seine grünen Augen glänzten. Er meditierte. – Als wir schweigend Tee getrunken hatten, legte Ise das Kind dem Gott auf die Arme. Dann wandte sie sich mir zu, umarmte mich schwach und zog mich auf das eheliche Lager; die Matten lagen in der Ecke noch wie einst. Wortlos versanken wir in Seligkeit. In unsere Liebe klang das Zirpen der Grillen. Endlich fand ich Worte: „Bleib bei mir, Ise! Geh‘ nicht wieder von mir! Ich ertrüge es nicht!“ Ise schüttelte den Kopf, die hohe blonde Frisur, in der lange gelbe Schildpattkämme steckten, neigte sich: „Ich kann nicht bei dir bleiben, Hen-Yo, als Wesen deiner Art. Als Grille wohl, oder als Stern oder Wolke. Bleibe du bei mir, Hen-Yo. Geh‘ mit mir über die Regenbogenbrücke. Finde den Weg, der uns auf ewig vereint.“ Ich sprach: „Ist es nicht das gleiche, ob du bei mir bleibst oder ich bei dir?“ Ise sah mich groß an. Ihre Augen hatten jetzt Farbe und grünlichen Glanz des göttlichen Auges. Sie schwieg. Die Kerzen brannten herunter. Die Mitternacht, die Stunde des Abschiedes der Toten, rückte näher. Ise sprach: „Hast du alles für meine Heimfahrt gerüstet, wie es Sitte ist seit altersher?“ Da seufzte ich tief auf, Tränen im Auge: „Ich habe getan nach dem Gebot der Götter und Ahnen.“ Und ich schob die Schiebetür auf, die nach dem Garten ging. Der Garten grenzte an den Fluss. In einer Laube lag auf einem Mahagonitisch ein weißes Papierschiffchen, mit einer dünnen Kerze als Mast. Schon war der Fluss besät und besternt mit solchen Schiffen, auf denen die Seelen der Toten wieder heimwärts, stromabwärts fahren in das große Meer. Tausende und aber Tausende glitten in der stillen Strömung. Die Kerzen blinkten. Die Klagegesänge am Ufer schollen ihnen nach. Da sprach Ise: „Du hast ein Boot am Steg liegen, mit dem du zuweilen zum Fischfang fährst. Fahre du selbst mich wieder zu den Toten und bleibe bei mir! Nimm mich mit in dein Boot!“ Da ließ ich das Papierschiffchen ohne Kerze im Fluss dahintreiben, wo es an ein anderes stieß, Feuer fing und versank. Ich löste die Kette, Ise, das Kind auf dem Arm, sprang in das Boot und setzte sich in den Bug. Ich band die heilige Kerze an den Mast, entzündete sie und ergriff das Steuer. Und leise glitt der Kahn abwärts, dem Meere zu.

Wenn die kleine Glocke klingt. – Die Tür ohne Klinke

Ich fand mich am Morgen wieder an den Strand meines Bettes geworfen.

Hyacinthe hielt das Bild Marias in der Hand.

Sie betrachtete es mit zärtlicher Aufmerksamkeit.

Aber die Figur im Bild und sie selbst schienen mir einander so ähnlich zu sein, dass ich nicht wusste: sah das Bild sie – oder sah sie das Bild an?

Bis ich mich wieder erinnerte, dass das Bild ja nicht sehen könne: da es keine Augen habe.

Denn ich hatte ihm die Augen ausgestochen.

Vor Wut. Vor Empörung. Vor Angst. Vor Bosheit.
Und ich empfand Scham und Grauen vor mir selbst.

„Was für eine wunderbare Frau muss dies gewesen sein!“ sagte Hyacinthe, „gefestigt in sich. Harmonisch gewölbt wie die Kuppel des Michel Angelo zu Sankt Peter in Rom, aber reich geschmückt wie ein Tabernakel des Bernini. Sie lächelt ernst: Madonna des Cimabue. Sie blüht, eine weiße Rose auf schwarzem Grunde, Schwester des Yenkadi. Man müsste ihr ein Grabmal errichten wie das kolossalische Grabmal der Cecilia Metella an der Appischen Straße vor der Porta San Sebastiane in Rom. Sie trägt das Zeichen der heiligen Drei auf der Stirn: war Mutter dir, Kind und Geliebte.“

Yenkadi an der Wand bewegte zu mir die Lippen: Wenn die Drei wieder eines wird, wie die Drei einmal eines war – dann bist du erlöst.

Hyacinthe sprach:

„Ich bin nicht reich genug, dies alles zu sein. Aber ich liebe dich.“

Ich richtete mich auf:

„Wann wirst du mir gehören, wie du es mir geschworen hast?“

Sie strich sich das Haar aus der Stirn, das wild aus der Haube quoll:

„Wenn die kleine Glocke klingt …“

Dann küsste sie mich sanft auf die Stirn:

„Du musst vor allem gesund werden, lieber Mensch.“

Sie sah mir lange in die Augen.
Ich wurde unsicher.

„Was siehst du mich so prüfend an?“
„Weil ich gern in deine Augen sehe.“

Ich wurde unruhig:

»Das ist nicht wahr. Du willst etwas entdecken. Du forschst nach etwas. Du siehst nicht: du spähst wie ein Jäger auf der Jagd. Wie ein Raubvogel nach seinem Opfer.“

„Aber Kind, wie komisch du bist!“

„Wenn ich komisch bin, warum lachst du nicht, wie ich über mich lache?“ Ich bekam einen exaltierten Lachkrampf. „Ich finde mich in der Tat recht komisch.“

„Du musst dich beruhigen.“

„Du siehst immer so sonderbar in mein linkes Auge. Was siehst du da?“

„Aber deine beiden Augen sind mir gleich lieb.“

„Nein, du siehst immer in mein linkes Auge, das Auge über dem Herzen. Was siehst du darin?“

Sie sah mich groß an:

„Mich!“

Da fiel ich in die Kissen zurück.

„So – wirst – du – auch – ihr – Schicksal – erleiden …“

Ich richtete mich wieder auf:

„Aber hast du es nicht vielleicht verdient, he?“

Ich wurde böse und bissig.

„Der Mondstein, der neben der indischen Katze und dem Bild ohne Augen liegt, ist seit einigen Tagen trüb. Und die Marmorkatze hat einen Sprung bekommen. Weißt du, was das bedeutet?“

Sie schüttelte den Kopf.

„Dass du mich betrügst! Alle deine Liebesschwüre sind Lüge! Du verweigerst dich mir ja auch. Du betrügst mich –„

„Aber Kind, mit wem?“

Ich schrie:

„Mit dem Albino!“

Sie lächelte traurig:

„Liebling …“

Ich richtete mich höher:

„O, ich habe einen Beweis. Ich habe es erst heute entdeckt. Warum hat die Tür dieses Zimmers keine Klinke? Und das Fenster keinen Riegel?

Ich will es dir sagen: ich liege hilflos hier im Bett und vielleicht haltet Ihr mich künstlich krank: weil Ihr fürchtet, dass ich Euch folgen und Euch in Eurem schändlichen Treiben überraschen könnte. 0, ich durchschaue Euch. Zeig‘ deine linke Hand. Warum ist sie zur Faust geballt? Nein, du willst mich nicht schlagen (obgleich deine geheimste Sehnsucht vielleicht danach giepert, mich zu schlagen, zu stechen, zu martern): aber der Drücker der Tür ist darin – und wer den Drücker nicht hat, der kann die Tür von innen nicht öffnen. Ich bin Euer Gefangener. Wehr- und hilflos bin ich Euch preisgegeben.“

Ein Weinkrampf erschütterte mich.

Hyacinthe strich mir übers Haar mit einem leichten Kuss. Ich fühlte ihren Arm.

Die Hyazinthe auf dem Krankentisch duftete.

„Weine dich aus, Liebling, weine dich aus. Du fieberst.“

Amor und Psyche

„Die psychoanalytische Heilmethode,“ sagte der Albino, „ist der reine Humbug. Heckmeck. Weil sie den biologischen Unterbau völlig außer Acht lässt. Meinen Sie, dass ein Mann mit homosexueller Veranlagung, wenn man ihm seine verdrängten Komplexe nachweist und wenn man das unterste Bewusstsein wirklich zu oberst gekehrt hat: dann wirklich geheilt ist? Er wird Ihnen was husten. Er bleibt genauso homosexuell, wie er war. Man muss ihn operieren. Drüsenoperation. Darauf kommt es an. Acht Tage später zeugt er schon mit einer wahren Begeisterung das erste Kind. Betrachten Sie die Versuche von Professor Steinach an Ratten. Er hat männlichen Ratten weibliche Geschlechtsdrüsen eingesetzt und umgekehrt. Und automatisch stellte sich das „Seelenleben“ um. Eine männliche Ratte nahm weibische, eine weibliche nahm männliche Manieren und Neigungen an. Ich bin Marxist. Die Psyche entspricht hier der Kultur im allgemeinen. Die Psyche ist nur der Oberbau auf der physischen, die Kultur der Oberbau auf der wirtschaftlichen Grundlage.“

Ich wagte einzuwerfen:

„Die Psychoanalyse scheint mir zur Erkenntnis künstlerischer Vorgänge immerhin nicht mehr entbehrlich.“

Der Albino runzelte die Stirn. Seine roten Augen wurden noch röter. „Gehen Sie mir mit der Kunst. Sowie Sie aufstehen können – zeigen Sie mal Ihren Puls: ausgezeichnet; und die Temperatur? Famos – wie gesagt, ich gestatte Ihnen dann Besuche in der Abteilung römisch drei. Da finden Sie auf ein paar Quadratmeter Raum Goethes, Schillers, Böcklins, Manets und Monets, Pindars und Hölderlins, Kokoschkas und Picassos so viel Sie wollen. Und der gesamte übrige kulturelle Oberbau ist reich vertreten: Loyolas, Hexen, Mönche, Sphinxe, Teufelsbeschwörer, Samurais, Wallensteiner, Höllenfürsten – was Sie wollen. Sogar der liebe Gott ist persönlich anwesend und erteilt Audienz von 2-4. Leider ist die medizinische Wissenschaft noch nicht so weit: aber eines Tages wird sie so weit sein: alle diese Burschen und Frauenzimmer brauchten nur irgendwo operiert zu werden, dann würden sie die brauchbarsten Menschen. Ich bin für Operieren und Einspritzen. Das ist die ganze ärztliche Weisheit. Chirurgie! Chemismus! Wenn Sie so weit sind, spritze ich Ihnen Tuberkulin ein, dass Ihnen Hören und Sehen vergeht.“

Schwester Hyacinthe lachte über sein grimmiges Gesicht. Sie wusste, man durfte dem Albino nicht mit Psychoanalyse kommen: dann wurde er wild. Das war sein Komplex. Als er aus dem Zimmer war, lachte auch ich.

„Siehst du“ – Hyacinthe duzte mich und ich sie nur, wenn wir allein waren –, „heut ist ein wunderschöner Tag. Heut hast du zum ersten Male gelacht! Und aufstehen darfst du auch! Du bekommst einen Stock mit Gummispitze, einen Drücker, um die Tür zu öffnen und dann kannst du im Hause Besuche machen.“

„Ich höre immer noch die Nachtigall singen. Ich muss zuerst zu ihr gehen – ob es mir gelingt, sie aus dem Käfig zu befreien –„

„Vorläufig sitzt du selbst noch im Käfig“, neckte Hyacinthe.

Die Ader auf meiner Stirn schwoll an.

„Nun, nun“, sie küsste die Ader, die unter ihren Lippen dahinschwand.

„So schlimm war’s nicht gemeint …“

Die Trinität

Es klopfte.

Hyacinthe öffnete.

Und herein trat eine sonderbare Prozession.

Voran schritt ein würdiger Greis in weißem Wattebart mit strahlend schönen Augen. Er trug einen weiblichen Morgenrock aus rotem Flausch, auf dem Haupt eine spitze Kaufmannsdüte, die mit goldenen Sternen beklebt war. In der einen Hand hielt er einen Käfig, in dem eine weiße Lachtaube untergebracht war, an der anderen Hand einen schönen Jüngling in römischer Tunika, dem ein hölzernes Kreuz auf den Rücken geschnürt war.

Hinter dem Kreuz schritt ein Wunderrabbi in schwarzem Kaftan, der geheime Gebete murmelte und seinen Oberkörper ekstatisch hin und her warf. Ein alter preußischer General, Exzellenz, humpelte am friderizianischen Krückstock, links von einem Herrn vom Adel, der ein Waldhorn trug, rechts von einem harlekinisch geschminkten Tänzer gestützt.

Ihnen folgte ein neugebackenes Brautpaar auf dem Fuße, sie den Myrthenkranz, er den Zylinder auf der Stirn.

Er bewegte sich auf Krücken vorwärts.
Ihre Knie zitterten.
Er zählte 105, die Braut 91 Jahre.

„Liebling“, flüsterten ihre zahnlosen Lippen.
„Mein Süßes“, echote der Greis.

Er rückte die Brille zurecht:

„Mir scheint, du bist heute gar zu dekolletiert. Ich werde eifersüchtig.“
„Und du kokettierst mit der Schwester …“
„Deine reizvollen Formen sollten nicht für jedermann sichtbar sein.“
„Dein Blick, dein Herz mir allein gehören.“
„Sehnst du dich nach mir?“
„Unsäglich.“
„Wann wird der Tag der Hochzeit, wann wird die Hochzeitsnacht sein?“
„Bald, Engel, bald.“

Sie traten seitwärts wie in eine Kulisse ab, und ein Mann in einer Soutane aus Sackleinewand kam zum Vorschein. Es war der Mönch vom Potsdamer Platz.

Er übergab mir sofort seine Visitenkarte, darauf stand zu lesen:

Salvatore Ciavolino, Bauchredner und Teufelsbeschwörer, Mitglied der Loge Axmadora, hält sich für den geehrten Herrschaften zum Teufelsbeschwören bestens rekommandiert und empfohlen.

Ein Mann in violettem Samtjacket schlich sich herzu und überreichte mir ein in violette Seide gebundenes Buch. In Silberdruck las ich den Titel:

A bis Z

Konversationslexikon der Geheimwissenschaften.

Ich schlug das Buch auf und blätterte – weiße, unbedruckte Blätter glotzten mir entgegen.
Das Buch war leer.

Der Theosoph aber ließ sich vernehmen:

„Einst wird kommen der Tag! Treten Sie dem „kommenden Tag“ bei: D. K. T. Aktiengesellschaft zur Förderung geistiger und wirtschaftlicher Werte. Seele und Geschäft: das gilt bei uns gleichviel. Das Geschäft ist unsere Seele, und die Seele ist unser Geschäft. Kaufen Sie eine Aktie! Schon sind zehn Millionen gezeichnet. Zeichnen Sie eine weitere Million! In unserem Besitz befinden sich eine Zigarrenfabrik, eine Nährmittelfabrik, eine Schirmfabrik, ein erstklassiges Hotel, in dem sogar Gottvater persönlich abzusteigen pflegt, eine Rasierseifenfabrik, eine Sägemühle, eine Druckerei mit Verlag kommunistischer und monarchistischer Schriften, ein Tempel, ein Exportgeschäft, ein Trappistenkloster … Probieren Sie unsere metaphysische Rasierseife! Sie werden fabelhaft eingeseift werden. Machen Sie einen Versuch mit unserer Zigarrenmarke Nirwana. Jeder Versuch führt zu dauernder Kundschaft.

Nirwana macht Ihnen den blauesten, den violettesten Dunst vor, den Sie sich nur vorstellen können …“

„Herr“, schrie ich erbost, „hören Sie auf, gehen Sie schleunigst in Ihr Trappistenkloster!“

Der würdige Greis mit der Düte auf dem Kopf trat auf mich zu:

„Mein Name ist Gottvater. – Dies hier“, er wies auf den Jüngling an seiner Seite, „ist mein geliebter Sohn, wie er sein Kreuz zur Richtstätte schleppt. Dies mein tertium comparationis,“ er zeigte auf die Taube, „der Heilige Geist in eigener Person, der bekanntlich geflügelt und eine Taube ist.“

Die Lachtaube im Käfig begann zu gurren und zu lachen, und ihr Gelächter artete in einen Lachkrampf aus.

Gottvater runzelte die Stirn:

„Der Heilige Geist ist wieder einmal vorlaut. Er macht sich über die Schöpfung lustig. Aber was kann man mehr verlangen von einem unvernünftigen Tier? Der Heilige Geist sch… ja sogar.“

Er musterte missbilligend den Boden des Käfigs.

„Immerhin, was soll ich machen? Es ist der einzig echte, der einzig wahre Heilige Geist, mit ihm und meinem lieben Sohn,“ er tätschelte den Jüngling, mit dem er in einem homosexuellen Verhältnis zu stehen schien, bin ich erst komplett als Trinität. – Wir sind gekommen, einem fremden Gott zu huldigen, der in diesem Raume weilen soll!“

Er sah sich suchend im Zimmer um.

Ich deutete auf Yenkadi, der weiß auf schwarz von der Wand leuchtete.

„Dort ist der Gott. Stumm, reglos – aber gewaltig und unbeirrbar regiert er seine Welt.
Sein Name ist Yenkadi.“

Die Trinität verbeugte sich ehrfürchtig.

Die Taube wackelte mit dem Sterz und zwängte ihren Schnabel durchs Gitter des Käfigs.
Gottvater verneigte sich, wie er es einst in der Tanzstunde gelernt haben mochte: altmodisch, als trüge er einen Gehrock: und als wäre Yenkadi sein Bürovorstand.
Der Jüngling lächelte schön:

„Ich bin der Weg, die Wahrheit und das Leben.
Niemand kehrt zum Vater denn durch mich.“

Der Teufelsbeschwörer imitierte eine Aveglocke: Bim – bim – bim.

Gottvater, die Taube in der Hand, Gottsohn, der Theosoph, das Brautpaar knieten nieder und bekreuzten sich.

Der Wunderrabbi dawwinte.
Der Tänzer tanzte.
Die Exzellenz salutierte.

Der Herr von altem Adel blies auf dem Waldhorn den Choral: „Lobe den Herrn.“

Dämmerung sank ins Zimmer.
Auch Hyacinthe hielt die Hände gefaltet.
Yenkadi leuchtet weiß auf schwarzem Grund.
Da faltete auch ich die Hände.

Dictator mundi

Munk besuchte mich eines Tages zu meiner nicht geringen Verwunderung. Er schien einen langen Weg von der Gänselache über die Krausnickstraße bis in mein Krankenzimmer zurückgelegt zu haben, denn er kleidete sich mit einer aufdringlichen widerlichen Eleganz, die zu seiner bisherigen proletarischen Existenz in striktem Gegensatz stand.

Er duzte mich sofort.

„Ich habe in der Zeitung von deiner Erkrankung gelesen. Unsere gemeinsamen Schulerinnerungen ließen es mir als meine Pflicht erscheinen, mich nach dir umzusehen.“

Ich dachte an einen Pfingstausflug in den Birkenwald. Wir schüttelten Maikäfer: wie fielen sie klamm von den Bäumen: die Bäcker und Schuster und Fürsten und Kaiser: wenn wir die Bäume schüttelten – vor Sonnenaufgang.

Munk entledigte sich seiner zitronengelben Handschuhe. „Ich habe die Welteiche und die Wodaneiche geschüttelt: vor Sonnenuntergang. Da sind sie vom Stengel gefallen: die Kornfürsten, die Kohlenbarone, die Eisengrafen, die Kaiser. Ich war erster Vorsitzender eines revolutionären Klubs. Wenn ich mit der Faust auf den Tisch schlug, wackelten die Gläser und die Paläste der Großen begannen zu wackeln. Wir rebellierten. Wir sangen die Marseillaise. Ich beschloss, dass die Sonne sich künftig wieder um die Erde zu drehen habe. Man beschloss demgemäß.

Ich inaugurierte die freie Liebe, indem ich in vorgerückter Stunde auf dem Sofa bei Vater Grumbkow am Grünen Weg am lebenden Objekt der Kellnerin Maria den Coitus interruptus exemplizierte. Dennoch schwängerte ich sie. Unbefleckt also empfing sie und gebar Christian, meinen Sohn und Widerpart. Er ist jetzt siebzehn Jahre alt und in dieser Anstalt untergebracht, wo er zu einem gewissen Gottvater in einem merkwürdigen Verhältnis zu stehen scheint. Er hat sich den Titel Gottsohn beigelegt.“

„Ich habe ihn vor ein paar Tagen kennengelernt. Er hat einen sehr sympathischen Eindruck auf mich gemacht.“

Munk wieherte.

„Sieh einer an!“

Er zündete sich eine Zigarre „Marke Nirwana“ an, ohne mir eine anzubieten:

„Er ist ein gefährlicher Bursche. Suspekt und antirevolutionär. Er sitzt hier in Schutzhaft.“

Ich hüstelte in dem Zigarrenrauch:

„Aber was hat er denn getan?“

„Das ist es eben: er hat nichts getan. Das ist sein Verbrechen in dieser aktivsten aller Zeiten. Sie will vorwärts rollen: und er fällt ihr in die Räder.“

„Du sprichst so große Worte. Was ist denn aus dir, was bist denn du geworden?“

Munk schlug die Zigarrenasche auf den Bettvorleger:

„Dictator mundi. Wo lebst du? Hast du nie etwas von mir gehört?“

„Nie, seitdem wir uns damals aus den Augen verloren – obgleich ich von dir geträumt habe, du mein alter ego. Du bist also Dictator mundi – ich bin nur ein cursor mundi geworden …“

Munk öffnete den Mund wie ein Rochen:

„Ich bin erstaunt und in meiner angeborenen Eitelkeit gekränkt. Es gibt jemanden, noch dazu mein alter ego, der mich nicht kennt, zu dem das Echo meiner Wirksamkeit nicht gedrungen.“

„Verzeih: ich lese keine Zeitungen – wie du.“
„Sondern?“
Ich schwieg einen Augenblick:
„In den Sternen und aus der Hand.“
Munk streckte mir seine Metzgerpranke hin:
„Willst du mein Schicksal mir aus der Hand lesen?“

„Zeig deine Hand – nein, nicht die rechte, die linke: sie ist unbeherrschbar …“

„Ich beherrsche die Welt – und mich. Ich bin der erste Diener meiner Utopie.“

„Zum Merkur – das ist der Gott der Kaufleute – laufen starke Linien. Du bist reich.“

Munks Metzgerantlitz glänzte ölig.

„Ich wohne im ehemaligen kaiserlichen Prunkschloss Sanssouci. Ich bin an sämtlichen Staatsbetrieben, ob sie nun florieren oder nicht, mit 15 Prozent vom Umsatz beteiligt.“ „Der Venusberg zeigt vorwiegend männliche Tendenzen in starker Betonung.“

Munk verneigte sich geschmeichelt:

„Im Seitenflügel des Schlosses sind fünfzig Zimmer für die fünfzig schönsten Mädchen aus den Völkern Europas reserviert, aus jeder Nation eine. Keine ist über achtzehn Jahre alt und alle waren Jungfrauen, ehe ich sie berührte. So ehren die Völker den Wohltäter der Menschheit. Ich habe den wahren Völkerbund effektuiert. Ich befruchte die Jungfrauen, jede ein Symbol ihrer Nation. Italien geht schwanger. Russland hat Zwillinge geworfen. Mutter und Kind befinden sich wohl. Deutschland ist bereits im zehnten Monat, und noch keine Anzeichen einer baldigen Geburt zu diagnostizieren.“

„Die Lebenslinie verläuft im Zickzack … verflicht sich mit hundert anderen Linien, bricht ab, setzt wieder ein. Gewalt und Greuel und Mord beflecken sie – wie die meine …“

Munk ließ die Hand sinken. Dann breitete er beide Hände aus: „Ich liebe die Menschheit!“

Ich wagte die Frage:

„Und wie äußert sich das?“

„Ich habe die Menschheit zu ihrem Glück – gezwungen.“

„Womit?“

»Mit Bürgerkrieg, Hungersnot, Seuchen, Grippe, Maschinengewehr, Standgericht, Schutzhaft und Galgen.«

„Du erwartest einen Aufschrei? Entsetzen oder Hymnus? Auch du bist nur ein … Mensch.“

„Zwanzig Millionen sind in Krieg und Revolution draufgegangen. Was tuts? Es gilt das Glück der Menschheit.“ „Wer ist das? Die Menschheit? Ich kenne sie nicht. Ich kenne dich. Ich kenne mich. Du sprichst von der Menschheit, dass du sie liebst.

Aber liebst du auch nur einen Menschen?“

„Der einzelne braucht meine Liebe nicht. Sie gilt der Gesamtheit, die ich organisiere, paragraphiere, dekretiere, sozialisiere, kommunisiere. Ich dekretiere: Glück. Und hundert Millionen sind glücklich. Ich nehme die Feder zur Hand: Paragraph 7314 der intermundanen Gesetzgebung: die Armut und das Verbrechen existieren nicht mehr. – Der Paragraph wird vom allgemeinen obersten zentralen Legislativ- und Exekutivkomitee bestätigt.“

„Du spielst Gott, armer Teufel.“

Munk knöpfte sich wieder seine zitronengelben Handschuhe zu: „Wenn ich dir einmal aus alter Freundschaft behilflich sein kann: bitte. Eine Stelle als Assistent im Ministerium der schönen Künste: wie wär’s? Wie? Sechsstündige Arbeitszeit. Teilnahme an den großen künstlerischen Meetings und Diskussionen. Besuche bei unseren großen politischen Dichtern. Aufstellung von Themen. Bruder Mensch, der Bruderbund der Menschheit, das ewige Glück, der ewige Friede, der Mensch ist gut – das sind so die beliebtesten, die sich noch ad libitum variieren lassen. Wenn man es nur den Menschen gehörig in die Ohren brüllt, so glauben sie’s schon. Der Mensch ist glücklich, wenn er – glaubt.“

Ich widersprach:

„Es gibt nur eine chemische Lösung der sozialen Frage. Sie ist die einzig mögliche, weil einzig natürliche. Beim Fressen, Saufen, Huren kann man dem Menschen, so wenig wie einem anderen Lebewesen, mit Ethik oder Pseudoethik kommen. Schon produzieren wir auf elektrischem Wege Stickstoff aus der Luft. Sobald es uns einmal wie der Pflanze gelungen ist, aus anorganischen Stoffen organische zu schaffen, ist die soziale Frage gelöst…“

Hyacinthe betrat mit dem Abendessen das Zimmer.

„Gestatte, Hyacinthe, dass ich dir vorstelle:

Munk, Diktator der Welt, ein Schulfreund von mir.“

Munk glotzte:
„Sehr erfreut!“

Hyacinthe lächelte:

„Du musst jetzt Abendbrot essen. Es gibt Eier, Milch und Schinken.“

Munk erhob sich und klappte mit den Hacken.

„Der Appetit regt sich – und vielleicht auch der Sexus. Da bin ich überflüssig. Ich gehe. Mein Staatsauto wartet an der Straßenbiegung. Vergiss nicht, mir über meinen Sohn Christian gelegentlich zu berichten, der die Welt von innen heraus bessern und erlösen will und darüber ein wenig irrsinnig geworden ist. Man kann ihr nur von außen beikommen. Die Seelen müssen organisiert werden. Ich halte den „Kommenden Tag“ für eine recht gescheite Gründung, die ich prinzipiell unterstützte. Der Herzschlag muss rationiert werden. Ich bin für ein Taylorsystem des Gefühls.“

Er schwenkte seinen steifen schwarzen Hut:

„Mein Fräulein!“

Und zu mir:

„Gute Besserung!“

Visite

Der Tänzer, der General, der Herr von Adel wohnten in einem kleinen Saal neben meinem Zimmer. Der Albino gestattete mir eines Tages einen Besuch bei ihnen. Ich ließ mich vom Wärter in einem Sessel hinübertragen. Der Tänzer marschierte wie ein preußischer Grenadier durch den kleinen Saal. Eins, zwei. Eins, zwei. Der Herr von Adel spielte auf dem Waldhorn den Hohenfriedberger Marsch. In einer Ecke stand der alte weißhaarige General Exzellenz und nahm die Parade ab. Er hatte eine blaue Friedenslitewka an und rote Biesen an den grünen Zivilhosen. Er hatte sich die roten Biesen aus abgelegtem Fahnentuch verfertigt und selbst angenäht. Der Tänzer hielt plötzlich inne und nur sein Schatten marschierte noch weiter. Der Herr von Adel setzte das Horn ab. Der General hüpfte, als galoppiere er mit einem Pferde unter sich die Schlachtfront einer Division ab. Dazu wieherte er, um die Illusion eines feurigen Araberhengstes hervorzurufen, den er zwischen seinen Schenkeln wähnte. Plötzlich zügelte er sich und hielt Kritik ab. „Meine Herren“, schrie er, und sein Gesicht glänzte krebsrot wie seine Biesen, „meine Herren, der Parademarsch heute war eine Schweinerei …“ Der Tänzer war mit sich beschäftigt. Er tat, als ob er einen Telefonhörer von der Wand nahm und sprach in die Wand hinein: „Fräulein … Fräulein … bitte verbinden Sie mich mit dem nördlichen Friedhof … Ist dort nördlicher Friedhof? Ach, wollen Sie nicht so gut sein und die verstorbene Frau Gela Krestinski an den Apparat rufen? Bitte ja? Süße, bist du da? Ich liebe dich, liebe dich mehr denn je … Du frierst? Es war so kaltes scheußliches Wetter, gell? Soll ich dir eine Decke schicken … die bunte Seidendecke aus Italien?“ Er schluchzte unhörbar. Der Herr von Adel, der nur das Wort Italien gehört hatte, spielte auf seinem Waldhorn „Du mein Sorrent!“ Dem General tropften dicke Tränen aus den Wimpern. Die Türe, die innen keine Klinke aufwies, sprang leise auf, und ein Mann in blauweißgestreiftem Kittel erschien mit einem Tablett. „Meine Herren, das Essen!“ Der Herr von Adel, verfressen wie immer, stürzte sich auf die dampfenden Schüsseln. Der General, noch gieriger wie er, aber disziplinierter, folgte gemessen. Nur der Tänzer blieb am Fenster stehen. Er schrieb mit spitzem Finger „Gela“ auf das Fensterglas. Draußen, im Schnee, tanzte ein Rabe. Der Tänzer versuchte, das stelzende und hüpfende Tier zu imitieren. Er schritt die ersten Figuren seines Rabentanzes, der später, nach langen Jahren, zu seinen berühmtesten Tänzen zählen sollte. „Herr Krestinski“, sagte der Mann im blauweißgestreiften Kittel, „das Essen wird kalt!“ Dann zuckte er die Achseln und ging. Der Herr von Adel kaute mit dicken Backen. Der General zermalmte mit knirschenden Kiefern ein gebratenes Huhn samt Knochen und Knöchelchen. Der Tänzer tanzte noch immer am Fenster mit seinem Partner, dem Raben.

Der Saal der Mütter

Von Hyacinthe gestützt, machte ich mich auf, den Saal der Mütter zu besuchen.
Wir schritten durch ein Gewirr von Gängen, als wären wir in eine jener Jahrmarktsbuden geraten, die den Namen Labyrinth führen.

Schreie wiesen den Weg.
Sie nahmen an und zu wie Ebbe und Flut.
Endlich waren wir angelangt.
Saal 28.
Über dem Saaleingang zwei Sprüche:
Was Gott tut, das ist wohlgetan,
und
Lasset die Kindlein zu mir kommen!

Hyacinthe öffnete die Tür.

Da lagen in langen Reihen die unehelichen Mütter, immer acht in einer Reihe; an den Fußenden der Betten standen kleine Kisten, da lagen, quietschend und kreischend, ihre Kinder: rot wie Krebse oder blass wie weiße Mäuse. Zuweilen wergelten zwei in einer Kiste. Auf der einen Seite des Saales schloss sich ein Operationssaal, auf der andern grenzten die einige einbettige Zimmer an. In einem von diesen sang die Nachtigall.

Ich klinkte leise auf.

In dem Zimmer lag, selber noch ein halbes Kind, ein kaum sechzehnjähriges Mädchen.

Es war Marianne.

Die Augen hatte sie geschlossen.

Zwei dicke lange blonde Zöpfe hingen aus dem Bett heraus bis fast auf den Fußboden.

Das Kind in der kleinen Kiste schlief.
Man hörte seine regelmäßigen Atemzüge.
An ihrem Bett saß der Teufelsbeschwörer.

Er hielt einen Moment in seinem lateinischen Phrasenschwall, der ihm von den Lippen Floss, inne und wandte sich mir zu:

„Sie ist vom Teufel besessen! Die Nachtigall, die aus ihr singt, das ist der Teufel!“

Dann begann er wieder, den Teufel zu beschwören:

„Propter quam causam ingressus es in corpus huius virginis?“

Und eine dumpfe Stimme, die aus dem Mädchen zu sprechen schien, antwortete:

“Amoris causa.“
“Per quod pactum?“

Die Stimme im Mädchen zögerte:
„Per animal.«

Der Teufelsbeschwörer drang in sie:
„Qualis?“
„Luscinia.“
„Quis misit?“

Die Stimme im Mädchen zögerte wiederum.

„Markus.“
Ich hielt den Atem an.
Markus ist mein Vorname.
Der Teufelsbeschwörer frug weiter:
„Dic cognomen!“

Die Stimme schwieg. Sie schien den Namen nicht verraten zu wollen.

Er wiederholte die Frage:
„Die cognomen!“

Da sprach sie leise meinen Namen …
Der Teufelsbeschwörer sprang vom Bett auf.
Er reckte das Kreuz gegen mich:

„Ach! dass es doch endlich an den Tag kommt! Entsetzlicher! Du bist der Teufel in eigener Person! Satanas! Dich hat Pluto, der Höllenfürst, ausgesandt, dies Mädchen zu verlocken und zu verderben. Erinnerst du dich, wie du vor seinen Thron tratest, das Knie beugtest, über das der rote Mantel sich bauschte und Pluto sprach: Mir ist berichtet von einem Mädchen, Marianne geheißen. Sie ist über alle Begriffe schön und sanft. Ihr Wille will das Gute, aber ihre Jugend ist beschwert mit Ahnungen, Wünschen und Gedanken. Sie ist Wachs in der Hand eines entschlossenen Formers. Mich wandelt ein heftiges Verlangen an, diese Seele zu besitzen und ganz mein eigen zu nennen. Da neigtest du das Knie, und der rote Mantel rauschte: Ich werde es an keiner Verführung mangeln lassen. Pluto wird seinen untertänigsten Diener loben. – Von dir, von dir ist die Unselige besessen. Du sandest ihr die Nachtigall. Unbewusst hat sie deinen Namen genannt, den aus Scham allzulange ihre Lippen verschwiegen, gezwungen von der feierlichen Beschwörung. Und dieses Kind, das hier in der Wiege liegt, im tiefsten Schlafe ahnungslos, unwissend des Schicksals das ihm bevorsteht: es ist ein Teufelskind, es ist dein Kind …“

Hyacinthe war erbleicht von dem Fanatismus seiner Rede. Er schwang das Kreuz gegen mich.

Ich brach am Bett, vor der Wiege, zusammen:

„Ja, ich gestehe es, ich schreie mein Geständnis heraus: ich bin der Teufel. Ich habe die Schönheit und Güte gemordet, die Keuschheit und Sanftmut geschändet. Ich bin nicht wert, dass dieses Wesen mich geliebt, nicht wert, dass mich Maria in ihren Händen hielt, dass Hyacinthe um meinetwillen erbleicht und errötet …“

Der Teufelsbeschwörer schwang das Kreuz von neuem:

“Adora Deum tuum, creatorem tuum!“
Und ich sang inbrünstig:
„Adoro, adoro …“

Beständigkeit schließt auf das Tor

Ich betete an der Wiege in mich versunken, wie ich seit Kinderzeiten nicht mehr gebetet hatte.

Als ich mich aus dem Gebet wieder aufrichtete – auch seelisch aufrichtete – da waren der Teufelsbeschwörer und Hyacinthe verschwunden.

Ich setzte mich auf den Bettrand und nahm die Hand des schlafenden Mädchens in meine Hand.

Ich weiß nicht, wie lange ich so saß.
Mit einem Mal wurde das Kind unruhig.

Es wachte auf, bewegte die Beine, verzog das kleine Gesicht, als hätte man es in Essig getaucht, und weinte leise vor sich hin.

Im Augenblick war auch die Mutter wach.

Sie sah mich mit großen erstaunten Augen an und es war, als ob sie aus einem tiefen Traum erwache.

Durch das halb geöffnete Fenster wehten Frühlingslüfte.
Sie sah mich noch einmal an – und erkannte mich.
Wortlos schlang sie die Arme um mich.
Das Kind weinte.

Sie machte sich los:

„Gib mir das Kind, Liebster, es hat Hunger.“
Ich hob das zappelnde Bündel aus der Wiege.
Sie streifte das Hemd von der linken Brust.

Von einem magischen Glücksgefühl durchschauert legte ich ihr das Kind an die Brust.

Auf den Zehenspitzen verließ ich Mutter und Kind, als beide, müde vom Empfangen und Gewähren, eingeschlafen waren.

Ich ging am Zimmer des Teufelbeschwörers vorbei, ich erkannte es an dem Zeichen des Kreuzes, des Fisches, der Taube, und ein unzähmbares Verlangen peinigte mich, ihm gute Nacht zu sagen, da ich fürchtete, dass die Nacht für mich sonst eine böse werden möchte.
Ich klopfte.

Erst beim dritten Klopfen öffnete sich die Tür und eine Stimme sprach:

Wer einmal klopft, dem schweigt mein Herz,
Wer zweimal klopft, dem lauscht mein Ohr,
Wer dreimal klopft, der wird erhört.
Beständigkeit schließt auf das Tor.

Und ich sprach:

Es hat mein Finger nicht geklopft,
Es hat mein Herz ans Tor geklopft.
Die Stimme erwiderte:
Tritt ein und schwing den Hammer nur,
So will ich gerne Amboss sein.
Ich trat vollends ein.

Der Teufelsbeschwörer ging mir mit ausgestreckten Händen entgegen: „Sei mir gegrüßt, Bruder, von dem der Bann gewichen, und sei bedankt, dass du kommst!“

Er führte mich an seinen gehobelten Tisch.
Da lag ein zweites Gedeck neben dem seinen: ein Zinnteller mit Brot, ein Zinnkrug mit Wasser.

„Setz dich nieder, Bruder, und nimm teil an meinem Mahl. Ich bin immer für einen Gast gerüstet. Du willst wissen, wie ich wurde, der ich bin – da du auf dem Wege zu werden, der du bist – so vernimm: mein Pfad war einst krumm und dornig wie der deine. Mein Name ist Fra Salvatore Ciavolino. Ich war der Sohn eines Neapler Conditors und begann damit, meinem Vater Süßigkeiten zu stehlen. Früh ward ich in ein Dominikanerkloster getan, wo ich dazu verwandt wurde, den Dominikanern ihre Liebesbriefe auszutragen. Das Geld, das ich von den Frauen empfing, benutzte ich, mir die Liebe von Küchenmägden zu erkaufen. Als eine Geliebte mich mit einem Bersagliere betrog, da wechselte ich von den Dominikanern zu den Franziskanern, wurde Mönch, Pater und endlich Fastenprediger. Ich bezauberte ganz Neapel: durch meine Eloquenz, die der des Demosthenes ebenbürtig, durch meine Jugend, meine Schönheit. Die Frauen zumal waren es, die mir ins Netz meiner Blicke gingen, aber auch zarte Knaben, denen ich im Beichtstuhl den geheimen Sinn des Lebens deutete, wie ich ihn damals verstand. Ein zweifacher war ich nämlich: des Tags ein frommer und demütiger Mönch, und des Nachts ein frecher und geiler Bock, der in den Bordellen herumhüpfte und es nicht verschmähte, sich zur männlichen Dirne zu prostituieren. In Laster und Lüge verfloss mein Leben – bis eines Tages ich gerettet wurde, wie auch du gerettet wurdest… Confrater.“

Ich hielt den Atem an.

„In einem Bordell der oberen Stadt war es, wo am Fronleichnam die heilige Jungfrau selbst als Hure mir ihren Leib preisgab und mich erlöste, indem sie vor mir, dem Niedersten der Niederen, im Staube kniete. Da brach eine Tränenstrom aus mir, der schwemmte alle meine Laster hinweg. Ich beschwor den Teufel in mir und ging in das dritte Kloster: hierher …“

Er kniete vor mir nieder:

„Erteile mir deinen Segen und ziehe in Frieden deines Weges.“

Vom Sinn

Die Nacht durch las ich in einer Epistel, die mir der Teufelsbeschwörer mitgegeben. Er hatte sie in Schönschrift peinlich und akkurat geschrieben, den Titel aber in Rundschrift:

Vom Sinn.

„Der Sinn ist Vater und Mutter aller Dinge.
Er erzeugt und gebärt in eins.
Er hat weder Anfang noch Ende.
Er sinnt ewig.

Gemäß seiner Eigenschaften:
gemäß seiner Ein-heit, Ein-falt, Ein-samkeit
– seine Ein-heit wird gedacht, seine Ein-samkeit geschaut,
seine Ein-falt gefühlt von den Gläubigen – ist er nicht
gewillt, ein zweites, anderes zu wollen.
Er will nur sich selbst.
Also handelt er auch nicht.
Also tut er auch nichts.
Sondern: er sinnt ewig sich.
Er sinnt: nicht nach, nicht vor: er sinnt.

Die Seelen nehmen teil am Sinn.

Sie sind sinn-voll. In dem Sinne: dass ihr bestes in ihm beruht, während ihr Bösestes noch außer ihm „lebt“.

Der Sinn ist, mathematisch gesprochen, einer flammenden Kugel zu vergleichen, gleichsam der Sonne.

Die Seelen sind kleineren Kugeln zu vergleichen, die von der großen Kugel ihr Licht empfangen, gleichsam den Sternen.

Wie die Sterne eines Sonnensystems einmal in der Sonne versinken werden, so müssen die Seelen, wenn sie erlöst sein wollen, einmal im Sinn untergehn.

Seele und Sinn sind exzentrische Kugeln, die sich immer mehr konzentrischen Kugeln nähern. Zuerst schweben die Seelen, nur schwach beglänzt, außerhalb der großen flammenden Kugel.

Dies lässt sich mathematisch so darstellen: (Abb. 1)

Sie nähern sich, indem sie sich besinnen, immer mehr dem großen Sinn. Sehen wir von dem, was wir unser Dasein nennen, auf die Erscheinungen, so befinden wir uns mit obiger Darstellung unserer seelischen Beziehungen zum Sinn noch in der Präexistenz. Die Geburt tritt ein im Augenblick der Berührung der großen, unstofflich zu denkenden, gleichsam gasartigen Kugel durch eine der kleinen Kugeln.

Vom Augenblick der Geburt an beginnt die Seele nach und nach sich „ihres Sinnes“ bewusst zu werden. Sie tritt in den Kreis des Sinnes. Am Anfang liegt ihr größter Teil als Kugelsegment noch außerhalb des ›Sinnes‹ im halben Dunkel (Abb. 2). Je mehr es der Seele gelingt, dieses Segment hinüber in die helle Kugel zu ziehen, desto mehr wird sie sich ihrer sinnvoll bewusst. Sie wird vom Sinn erleuchtet. Im Augenblick des Todes tritt die zweite Erleuchtung ein. Es beginnt die dritte Existenz, das dritte leibliche Leben (das erste leibliche Leben liegt vor der Geburt, das zweite ist dieses Dasein). Diese zweite Erleuchtung zeichnet sich mathematisch folgendermaßen ab: (Abb. 3).


Die kleinen Kugeln schweben, aber noch immer als exzentrische Kugeln, innerhalb der großen Kugel. Diese dritte Existenz nimmt mit einem dritten Tod ihr Ende (die Geburt ist die erste, der sogenannte Tod der zweite Tod): wenn die kleine Kugel und die große Kugel konzentrisch werden, d. h., wenn sie denselben Mittelpunkt haben, d. h., wenn die Seele im Sinn aufgegangen ist. (Abb. 4.)

Es ergibt sich aus dem Gesagten leicht, dass „Seele“ und „Bewusstsein“ nicht zu identifizieren sind. In der Präexistenz ist die Seele sich ihrer noch nicht bewusst, weshalb wir auch keinerlei Erinnern in dieses Dasein mitgenommen haben. Dennoch aber ist sie schon da. Auch in diesem Leben wird die Seele sich ihrer erst allmählich und zaghaft bewusst. Der größte Teil ihres (seelischen) Lebens spielt sich aber auch noch in diesem Leben außerhalb des Bewusstseins, gleichsam im Oberbewusstsein, ab. Im Augenblick des Todes, da sie in den Kreis des Sinnes eintritt, wird sie sich ihrer ganzen Kraft zum ersten Mal bewusst werden. Sie wird sich auf ihr Selbst besinnen, um endlich, wenn sie ganz „durchsonnt“ ist, ins Herz der Welt einzugehen: beseligt und erlöst.

Dies ist der Sinn des Sinnes:

Die Seele wird wie ein Bumerang aus dem Mittelpunkt geschleudert, um sinn-voll zu wirken, und kehrt – aber, wie der Bumerang nur, wenn sie ihr Ziel getroffen! – zum Mittelpunkt zurück.

Wirkt sie unsinnig, so wird sie draußen im dunklen Raum um die große Kugel schweben, nur schwach beglänzt. Da aber auch die sinn-loseste Seele von ihrem Ursprung her noch einen Funken Sinn in sich trägt, so wird auch sie einmal den Kreis berühren dürfen.

Ziel und Umsturz der Seele sind der Sinn.

Der kleine Funken ist das Gewissen.

Das Gewissen zeigt der Seele, ob sie ihre Planetenbahn recht begeht. Allein das Gewissen bezeugt die Tatsache der Unsterblichkeit, der Ewigkeit der Seele. Nicht das Wissen, denn dies ist ans Hirn, an etwas Leibliches gebunden, wie denn der Intellekt etwas Unwesentliches ist. Das Wesentliche ist dies: sinn-voll erleuchtet zu sein. Das aber heißt: gutgläubig, sanft, zart, rein sein: die große Liebe haben.

Es wäre sinn-los, und das wäre ein logischer Falschschluss, denn der Sinn kann nicht sinnlos, kann nicht: er-nicht-sein – (da das Ziel der Seele die Seligkeit ist: im Sinn, in Gott zu ruhn) – wenn es mit diesem schmerzenreichen Leben zu Ende wäre. Dieses Leben wäre eine Lüge, eine Blasphemie Gottes selbst, wenn es nicht sinnvoll wäre im Hinblick auf das unendliche Ziel. Wozu ist der Schöne schön, wenn er gerade schön genug, um auf der Bahre zu ruhn? Wozu ist der Gute gut, wenn er gegeißelt und gepeitscht dafür wird? Warum sollte der Böse nicht böse sein, wenn er dafür ein leichtes Leben erntet und dieses Leben ja im Nichts versinkt? Nein: das Gute ist immanent und das Schöne ist immanent. Nur das Böse wird von den um sich selbst rotierenden Kugeln abgestoßen.

Wie die Kugeln der Seele sich mit der großen Kugel vereinigen, so können sie auch untereinander sich schneiden und ineinander aufgehen. Ihr Leuchtendes, ihr Gutes zieht sich gegenseitig an, ihr Dunkles, ihr Böses stößt sich ab. Vereinigen sich zwei Seelen völlig, d. h. werden sie aus exzentrischen zu konzentrischen Kugeln: so kann dies nur bewirkt werden durch die Magie der großen Liebe. Diese Liebe kann nur eine sinn-volle Liebe sein. Denn bei Zuneigung oder Verständnis würden sich die Kugeln nur schneiden.

Die sinnvolle Liebe antizipiert den Vorgang der endlichen Vereinigung der Seele mit dem Sinn und sie ist das schönste und herrlichste Sinn-bild Gottes, des Sinnes überhaupt.“

Hier ließ ich das Blatt sinken.
Ich vermochte eine Träne nicht zu unterdrücken.
Ich dachte an Maria, an Marianne, an Hyacinthe: an die holde Trinität des Eros.

„Die Seele wird sinn-voll durch Erkenntnis.
Die Liebe beruht auf Erkenntnis.
Die höchste Liebe auf höchster Erkenntnis.
Das Gewissen ist der Gradmesser der Erkenntnis.
Die Seele will in sich (nicht außer sich) gut werden.
Der Sinn der Seele geht nach dem Sein – nicht nach der guten Tat.
Denn diese geschieht stets im Angesicht der Leute.
Also dass noch der beste Täter sich eitel spiegelt.

Keinerlei äußere Anfechtung: Mord oder Vergewaltigung: vermag der Seele auch nur das geringste anzuhaben.“

Ich hatte Maria ermordet, Marianne vergewaltigt: ihre Seelen aber waren geblieben sanft, zart, rein, gutgläubig, denn sie hatten die große Liebe. Ich aber hatte nur den großen Hass.
Die Seele ist innen.

Sie beruht „auf sich“, und also „auf dem Sinn“. Das, was sie umgibt, ist ihr Leib. Und dieser Leib ist für sie Luft, wie die Luft die Erde umgibt. Ihr Kern ist unverwundbar. Dieser Leib ist Luft für sie. Gerade gut genug, um wie ein Vogel darin zu schweben. Da dieser früher nicht da war, so wird er später, logisch gedacht, auch nicht da sein. Was einen Anfang hat, hat ein Ende.

Aber die Seele ist unendlich und unanfänglich.

Der Dolch des Feindes stößt wie durch einen Ätherleib, ins Leere, wenn er den Weisen töten will. Des Tigers Kralle findet kein Fleisch an ihm. Je mehr wir den Sinn gewinnen (der einzige Gewinnst, der Dauer hat), um so unbewusster werden wir unseres Körpers, um so bewusster wird sich die Seele. Spinoza sagt: Die Glückseligkeit ist nicht der Lohn der Tugend, sondern die Tugend selbst. Die Seele ist das einzig Wirkliche an uns. Und ihre Werke nur und ihre Wirkung nur wird dauern.

Das Gewissen fordert unerbittlich die Vervollkommnung. Und wer seine Stimme nicht hört oder hören will, dessen Seele wird noch lange mit den dunklen Kugeln schweben.
Der Weise aber kann die erste Glückseligkeit schon hier erlangen, wenn er gewissen-haft lebt. Das Reich dieses Lebens kann nur in der höchsten Erkenntnis des Sinnes: der Liebe erreicht werden: wenn zwei Seelensterne ineinander aufflammend sich zu einem reineren Feuer emporläutern, zu einem einzigen Gestirn, das jauchzend dem „Mittelpunkt“ zuschießt.“

Der Tag ist gekommen

Ich hatte eine schlaflose Nacht über dem aus Mathematik und Mystagogie, aus kindischer Torheit und greisenhafter Wahrheit so wunderlich gemischten Manuskript des irren Mönches verbracht. Ob ich es wollte oder nicht: ich fühlte mich von vielen seiner Worte tief berührt. Sie trafen pfeilgerade mein Schicksal.

Die Morgendämmerung brach an.
Ich erwartete mit Sehnsucht Hyacinthe.

Als sie zur gewohnten Stunde nicht zu mir kam, wurde ich unruhig.
Ich klingelte nach dem Bademeister.
Er zuckte die Achseln.
Ich klingelte dem Dienstmädchen.
Sie spielte verlegen mit der Schürze.
Vielleicht sei der Schwester nicht wohl …

Endlich, pünktlich zu seiner Zeit, trat der Albino ein. Sein Gesicht lief über wie übergekochte Milch, in der die roten Augen wie Tomaten schwammen.

Er war völlig halt- und fassungslos.

Ich ging auf ihn zu – die Verzweiflung gab mir Kräfte – und schüttelte ihn an den Schultern.

„Wo ist Hyacinthe?“
Meine Stimme zitterte.
Er sah mich starr an:
„Beruhigen Sie sich, sie ist da.“
Er ging, die Hände auf dem Rücken gekreuzt, auf und ab.
Ich fiel schwer in einen Stuhl.

Ich fühlte, dass etwas geschehen war, entsetzlicher vielleicht, als alles, was ich bisher erlebt.
Der Albino blieb mit einer automatischen Bewegung vor meinem Stuhl stehen.

Er fühlte zerstreut meinen Puls.
Er sah mir wieder starr in die Augen.

„Sie sind an allem schuld. Sie haben auch Hyacinthe auf Ihrem robusten Gewissen, Herr.“

Ich wurde aschfahl.

„Was reden Sie da? So reden Sie doch weiter, Doktor, spannen Sie mich nicht auf die Folter: lebt – Hyacinthe – nicht – mehr?“

Er schwieg einen Moment.
„Sie lebt nicht mehr – und lebt dennoch.“
Ich brachte kein Wort über die Lippen.

Er erzählte:
„Sie kam gestern mit einem irren Lächeln aus dem Zimmer der Nachtigall. Als sie den ersten Männersaal durchschritt, wo man gerade das Essen reichte, blieb sie plötzlich in der Mitte stehen und riss sich in Nu alle ihre Kleider vom Leib, halb tanzend, halb schreitend drehte sie ihren nackten Leib. Ihr Gesicht war himmlisch verklärt. Sie breitete die Arme aus, als böte sie sich allen dar und sprach:

Dies ist mein Leib! Nehmet und esset alle davon!

Steif wie die Ölgötzen saßen die Patienten in ihren Betten. Sie hielten den Atem an und niemand wagte sich zu rühren. Dann begann sie den Saal zu durchschreiten und stimmte einen Gesang an:

Yenkadi! Wie süß ist das Leben und Himmel überall auf Erden! Kommt zu mir alle, die Ihr mühselig und beladen seid! Werft ab Euern Kummer, Euere Schmerzen, Euere Krankheit mit Eueren Kleidern. Yenkadi will Euch nackt! Denn die Gottheit ist nackt und die Schönheit ist nackt und die Wahrheit ist nackt.

Yenkadi!
Der Tag ist gekommen!
Das Licht schon erglommen!
Die Nacht schon zerronnen
Vom Strahle der Sonnen!
Yenkadi!

Und sie schritt singend, psalmierend durch alle Männersäle.

Und die Männer warfen die blauen Krankenhemden ab und folgten ihr in langer Prozession wie Prozessionsraupen und alle sangen schließlich das Lied, das sie sang:
Yenkadi!

Der Tag ist gekommen!“

Der Albino hatte sich an seiner eigenen Erzählung entzündet. Seine Augen schienen Blut zu tropfen. Plötzlich brach er ab, wie wenn ein Kapellmeister eine Symphonie mittendrin abklopft, und blieb wieder vor mir stehen:

„Die Symptome, die Hyacinthe zeigte, pflegen zuweilen bei hysterischen Frauen nach sittlichen Attentaten auf sie und nach Notzuchtsversuchen aufzutreten.“

Er trat noch einen Schritt näher an mich heran:

„Haben Sie versucht, Hyacinthe zu vergewaltigen?“

Ich stützte den Kopf in die Hand. Er wurde mir so schwer wie eine Bleikugel. Ach, wenn ich doch keinen Kopf hätte, wie der Skorpion: aber einen Stachel wie er, mich zu wehren.

War ich irr? Oder er? Was wollte dieser rotäugige Medizinalnarr?

„Gehen Sie zum Teufel!«, ich sprang auf, »oder zum Teufelsbeschwörer, Herr! Wissen Sie nicht, dass ich Hyacinthe liebe?“

Der Albino grinste:

„Auch ich liebe Hyacinthe, vermutlich länger als Sie. Ihre Verteidigung ist läppisch.“

„Erzählen Sie weiter“, schrie ich, „was hat Hyacinthe – was hat man ihr noch getan?“

Der Albino:

„Sie führte die Prozession der Nackten bis durch die Klostergänge. Sie wissen: unsere Anstalt ist ein ehemaliges Zisterzienserkloster. Sie sah scheußlich aus, die Prozession, das kann ich Ihnen versichern: alle diese nackten, rachitischen, skrofulösen, aufgeschwemmten oder spindeldürren Leiber – ich sah sie hinter der Milchglasscheibe meines Büros versteckt, denn ich befürchtete Aufruhr, Rebellion, Revolte.“ Er hielt inne und gluckste vor sich hin wie ein aufgelassener Wasserhahn:

„Nun, damit war es wieder einmal nichts. Der Aufstand ist bereits niedergeschlagen. Aber, um ordnungsmäßig fortzufahren: Hyacinthe war himmlisch, englisch, göttlich anzusehen. Es war ein lauer Frühlingsabend. Sie führte die Prozession auf den Hof, da sie alle Türen, die ins Freie führten, verschlossen fand. Es wäre ein verdammter Spaß geworden – das Renommée meiner Anstalt und mein Ruf als doctor seraphicus psychopathicus heidi – wenn die Prozession auf dem Potsdamer Platz gelandet wäre. Im Hof bestieg Hyacinthe den Neptunsbrunnen, die Dämmerung und das Dunkel sanken hernieder. Sie lag in der Muschel des Brunnens wie eine weiße Perle. Die Prozession der Nackten lagerte sich um sie. Ich beobachtete, wie von der Nacht beeinflusst ihre Exaltation nachließ. Sie entschlummerte. Und mit ihr entschlummerten die Hunderte. –„

Er hielt inne.

„Leise stieg ich über die Schläfer und nahm die Schlafende in meine Arme.“

Ich ballte die Faust.

„Sie schlief so sanft. Und ihre Schönheit war die einer griechischen Göttin. Ich trug sie in das Warmwasserkabinett und legte sie dort auf das Ledersofa. Ich gab ihr noch eine Spritze Skopolamin zur Beruhigung. – Der Prozession, die führerlos geworden war, wurden wir dann leicht Herr. Wir trieben sie mit Peitschen in die Säle zurück.“

Er schnaufte sich die Nase.

„Wollen Sie Hyacinthe sehen?“

Humpelnd folgte ich ihm durch die Klostergänge. Er schloss mit seinem Geheimschlüssel, der in alle Schlösser passte, das Warmwasserkabinett auf. In dem kleinen weißkacheligen Bassin spielte Hyacinthe.

Sie ließ das Wasser über ihre Schultern rieseln, hielt sich mit beiden Händen die Brüste, klatschte dann plötzlich in die Hände.

Als sie uns sah, lachte sie laut, ein Gelächter, das mein Herz mit Messern zerschnitt.

Dann bespritzte sie uns mit Wasser:

„Ihr Faune! Lasst mich zufrieden! Geht in den Wald und spielt mit den Zentauren.“

Der Albino flüsterte:

„Sie erkennt uns nicht. Sie hält sich für eine Nymphe. Nun: vielleicht ist’s nur eine akute Psychose, eine Art Nymphomanie, die wieder abklingt. Sie hat jahrelang mit Geisteskranken zu tun gehabt. Zuletzt noch mit Ihnen.“

Wir verließen das Kabinett.

Ich musste mich halten, ihm nicht in seine widerliche Kaninchenfratze zu schlagen.
„Ich verbitte mir diese Diagnose bei mir.“

„Nun“, er wehrte ab, „ich meinte ja auch nicht, dass Sie geisteskrank seien – obgleich eine Meningitis tuberculosa auch etwas für sich hat – sondern sagte nur: das Hyacinthe zuletzt mit Ihnen zu tun gehabt und Sie gepflegt hat. Mit welchem Erfolg: das sehen wir ja. Sie sind gesund – aber sie ist wahnsinnig geworden.“

Wir hielten vor meiner Tür.
Sie knallte ins Schloss:
Ich war wieder allein.

Die kleine Glocke klingt

Am nächsten Morgen brachte der Bademeister mir einen mit Bleistift geschriebenen Brief.
Er wog sonderbar schwer in der Hand.

Es war eine mir unbekannte Damenhandschrift.

Ich stutzte, erbrach ihn –

Eine Metallmarke vom Kriminaldienst der Polizei fiel heraus, darauf war diese Nummer gestanzt:

Nr. 13

und auf der andern Seite:
Morddezernat des Kgl. Polizeipräsidiums.
So hatte also meine Stunde geschlagen.
Die Polizei war mir auf den Fersen.
Nun, ich war bereit und gefasst.

Als die Nachtigall durch das Fenster geflogen war, als ich Marianne, die selber noch ein halbes Kind war, das Kind an die jungfräulichen Brüste gelegt, als der Teufelsbeschwörer den Teufel in mir beschwor, da hatte ich den Entschluss gefasst: mein Verbrechen an Maria zu sühnen, mich selbst dem Gericht zu stellen, und die Strafe, die die Gesellschaft über mich verhängen würde, in Demut und Würde zu ertragen.

Und ich las den Brief:

„Lieber Mensch!

Ich bin nicht der, für den du mich hältst. Als ich am Bett der kindlichen Wöchnerin Dein schrankenloses Bekenntnis vernahm und Deinen Willen zur Buße; ja, Du warst die Buße selbst: die Sünde ohne Sünde – da fühlte ich auf einmal brennend meine unlöschbare Schuld.

Ich war Deine Schwester gewesen, und ich hatte Dich betrogen vom ersten Tage meines Schwesterntums an, ja, noch vorher. Ja, noch mehr: ich hatte Dich belogen mit meiner Liebe, Dir meine Liebe vorgeheuchelt und vorgespielt, und das schlimmste getan, was ein Mensch dem andern anzutun vermag. Ich glaubte, meine Pflicht zu tun gegenüber Gott und den Menschen – und ich genügte nur dem Gebot einer verrotteten und verkommenen Gesellschaft, die sich von den armseligen und bemitleidenswerten Schächern und Verbrechern, die sie selbst erst gezüchtet und großgezogen, dadurch befreit, dass sie ihnen Bluthunde auf die Spur hetzt. Ach, der Abschaum der Menschheit sind die, die diese Blut- und Polizeihunde ableiten und ausschicken.

Ich war ein solcher Bluthund, eine solche Bluthündin, auf deine Spur gehetzt, weil die Gesellschaft, durch Denunziation aufgestachelt, deinen Kopf forderte.

Ich sollte Dich überführen; revolutionärer Umtriebe sowie des Mordes an Deiner Frau.

Ich sollte Beweise schaffen, Indizien, gleichviel, Deinen Tag und Deine Nacht, Deine Träume und Deine Fieberphantasien ausspionieren. Ich sollte mich Dir, ging’s anders nicht, hingeben und mit vergifteten Küssen Deine Lippen lösen.

Du bist ein Mörder – vielleicht – aber ein Mörder ohne Tat. Der Mord, der geschah, geschah ohne einen Täter. Es sei denn, dass Gott es war. Er ließ es zu, dass Kain den Abel erschlug und dass man seinen Sohn ans Kreuz nagelte.

Ich aber bin ärger als ein Mörder.

Ich habe Dich betrogen mit meiner Liebe – bis ich Dich eines Tages wirklich lieben lernte.
Man forderte Deinen Kopf – ich fand Dein Herz.

Ich sollte Judith spielen. Aber ich bringe mich um meinen eigenen Kopf. Denn ich spielte sie schlecht und Holofernes wird noch lange den seinen auf den Schultern tragen.

Als ich meine unsühnbare Schuld Dir gegenüber erkannte, da stürzte ich aus dem Zimmer, in dem ein leidendes Menschenweib lag wie ich, in dem der Teufelsbeschwörer Dich beschworen hatte, ein abgeschmackter Charlatan und tiefsinniger Weiser zugleich – wie wir alle. Da stürzte ich heraus, mein Herz zerbrach und mein Hirn ergriff ein hitziges Fieber.
Das Fieber hat mich heute verlassen.

Ich weiß, was ich zu tun habe.
Ich war irregeleitet.
Du hast mich auf den rechten Weg gebracht.
Hab Dank.

Komm ein letztes Mal zu mir auf Zimmer 13 heute Abend, wenn die kleine Glocke klingt.
Hyacinthe.“

Und eine Visitenkarte lag in dem Brief, die war mitten durchgerissen. Ich legte die Hälften zusammen und las:

Eva Zumbusch,
Detektivin,
vom Kriminaldienst Abt. III.

– Die Tränen, die ich weinte, waren Freudentränen.

Ich hatte eine Schwester und Geliebte verloren – und in reinerer, edlerer Gestalt wiedergefunden.

Ich wartete den ganzen Tag auf das Glockenzeichen.

Abends gegen neun begann die kleine Glocke zu läuten. Und ich ging durch die nur halb beleuchteten Gänge.

Mein Körper warf bedrohliche Schatten, vor denen ich mich fürchtete, an die Wände: Teufelsfratzen, Gorillas, Riesenkänguruhs, Höhlenmenschen, Tiere aus dem wunderlichen Wald.

Ich klinkte leise an Nr. 13, ohne zu klopfen:

Da lag Hyacinthe, still und blond und schön wie je. Ein unirdisches Lächeln blühte auf ihrem blassen Antlitz wie eine weiße Hyacinthe. Es duftete nach Hyacinthen.

Ich ging auf den Zehenspitzen auf sie zu: „Hyacinthe“« flüsterte ich, „du hast mich gerufen, da bin ich …“

Sie antwortete nicht. Nur ihr Lächeln antwortete.
Ich fasste ihre Hand, die über den Bettrand hing.
Sie war kalt wie damals, als ich sie im Sanitätsauto in der meinen hielt.
Ich küsste ihre Lippen: zum ersten und letzten Mal.
Unaufhörlich bimmelte die kleinen Totenglocke.
Draußen, im Park, sang eine Nachtigall.

Der entlarvte Gott

In derselben Nacht war, wie ich später erfuhr, Marianne mit ihrem Kind aus dem Haus entflohen.

Der Wärter hatte leichtfertigerweise das Fenster ihres Parterrezimmers mit seinem Patentschlüssel zu schließen vergessen.

War sie die Nachtigall gewesen, die im Parke sang, als die Totenglocke läutete?

Als ich verzweifelt in mein Zimmer zurückkehrte, hatte das Bild ohne Augen wieder seine Augen bekommen.

Es waren die Augen von Maria und Hyacinthe: ich wusste sie nicht mehr zu unterscheiden, da sie beide nicht mehr im Leben glänzten.

Der Mondstein, der die letzten Tage trübe geschienen hatte, strahlte wieder rein und klar.
Auch der Riß aus der kleinen indischen Marmorkatze war verschwunden.

Mein Blick fiel auf Yenkadi.

Und ich höhnte ihn:

Yenkadi! Yenkadi! Wir haben das Paradies auf Erden! Wie glücklich leben wir Menschen – ohne Schmerz – ohne Herz – ohne Not – ohne Tod – so selig leben wir dahin. Tag und Nacht ist eines, und Sonne und Mond sind die Fackeln unserer Feste. Wir lieben einander in Unschuld. Unsere Lippen reden kristallene Wahrheit. Unsere Hände verschlingen sich ineinander zum losen Reigen und unser Gesang lobpreist die Brüder und Schwestern: die heilige Hyacinthe und das fromme Kaninchen mit seinen sanften roten Augen, die süß singende Nachtigall und Maria: den Kranz der Sterne.

Yenkadi, schrie ich, ich habe dich geschaffen, Gott, und du hast mich verraten am ersten Tag, da du dich bewähren solltest. Wo ist denn deine Allmacht, he, du großmäuliger Götze? Wo deine Allgegenwart? Deine Allwissenheit?

Hyacinthe ist gestorben.

Du hast ihren holden Lebensodem verfliegen lassen, als wäre es dünner Opferrauch, wie er auf Deinen Altären zum Himmel steigt: aus dürrem Reisig, von kindischen Zauberern und unwissenden Medizinmännern, deinen fatalen Priestern, entzündet. Hyacinthe lächelt noch im Tode.

Du aber grinsest wie Prinz Karneval am Ascherdienstag. Marianne ist entflohen mit ihrem Kinde – meinem Kinde – Du hast es zugelassen.

Nun muss ich sie suchen in der Welt.
Du bist entlarvt, du leere Fratze, papierener Prahler.
Die indische Katze ist mächtiger als du.

Ich will an deine Stelle Marias Bild hängen mit den Augen Hyazinthen und zu ihr beten: der zwiefachen Göttin. Du aber: sei verflucht und verstoßen, verlacht und gänzlich vernichtet.
Ich riss Yenkadi von der Wand, entzündete ein Streichholz – in einer Sekunde ging er in Flammen auf.

Die Gerichtssitzung

Nur ich wusste, dass Hyacinthe sich selbst gerichtet hatte. Aber meine Schuld wurde durch ihre Sühne nicht aus der Welt geschafft, wenngleich sie zu glauben schien, sie habe durch ihren Opfertod wie einst Christus auch die meine auf sich genommen.

Man hielt mich für ihren Mörder.

Das Motiv, das mich geleitet hatte, war ja durchsichtig genug: ich hatte entdeckt, wer Hyacinthe eigentlich war; eine Spionin, ein Spitzel, wie eine Zecke mir auf den Nacken gesetzt.

Und ich hatte die Zecke aus meinem Fleisch gerissen, zu Boden geworfen und sie zertreten.

Kurz bevor ich das Zimmer Nr. 13 betreten hatte, war der Wärter noch darin gewesen, hatte ihr einen Wärmflasche gebracht und sie wohlauf gefunden.

Der Albino war vor Schmerz halb wahnsinnig.
Er hatte Hyacinthe geliebt.

„Mörder!“ schrie er und ballte die Faust gegen mich.

Dann rollte er die roten Augen wie Murmeln, schlug einen Purzelbaum wie ein fünfjähriges Kind und begann auf den Händen zu gehen.

Als er wieder auf seinen Füßen stand, lachte er albern:

„Warum soll ein Irrenarzt nicht einmal irrsinnig werden? Man muss sich nur dessen bewusst bleiben, dass man temporär irrsinnig ist. Ein Spezialist für Lungenleiden kann doch auch lungenleidend werden und ein Geschlechtsdoktor einer Urethritis gonorrhoica anheimfallen. Lachhaft. Alter schützt vor Torheit nicht und das Leben nicht vorm Tode. Kleiner Schäker«, er kitzelte mich unter dem Kinn.

„Kieks – – – kleiner Mörder …“

Ich war bereit, mich dem Spruch jedes Gerichtshofes zu unterwerfen.
Der Gerichtshof trat alsbald zusammen.
Die Verhandlung fand in der Anstaltskirche statt.
Den Vorsitz führte Gottvater.

Es saß vor dem Altar, eine spitze mit Sternen beklebte Zuckertüte auf dem Kopf, und hatte sich, um sich ein gewichtiges Ansehen zu geben, ein Hornbrille aufgesetzt. Über ihm schwebte, im Käfig, der durch ein Gestänge mit einer Säule verbunden war, der Heilige Geist: die Lachtaube, die die heilige Handlung zuweilen durch ein unziemliches Gelächter unterbrach.

Im Halbkreis um Gottvater die Beisitzer: Gottsohn, Munks Sohn, der schöne Jüngling; der Teufelsbeschwörer, der Theosoph, der Tänzer, der General, der Herr von Adel, der Wunderrabbi, das alte Brautpaar.

„Liebling“, flüsterten die zahnlosen Lippen.
„Mein Süßes“, echote der Greis.

Die Verteidigung wollte erst der Teufelsbeschwörer übernehmen. Aber ich war mir selbst zu meiner Verteidigung genug. Es konnte sich nicht um eine Freisprechung, es konnte sich nur um eine Rechtsprechung handeln.

Die Anklage vertrat, von der Kanzel herab, der Albino. Er konnte kein heftiges Wort finden, das ich nicht selbst noch aggressiver formuliert hätte, kein Argument gegen mich, das ich nicht selbst noch logischer und schärfer gefasst hätte. Der Fluss seiner Rede plätscherte monoton.

Manchmal nur schwoll er zu Kaskaden und Wasserstürzen, dann hörte ich interessiert zu.

Ich saß auf einer Betbank vor dem Altar.

Durch die bunten Glasfenster, durch die gläsernen Leiber der Heiligen spielte die Sonne. Der erste schöne Tag seit vielen Wochen.

Und der Albino erhob wieder seine Stimme:

„Und so beantrage ich gegen den Angeklagten wegen Simulierung eines nicht vorhandenen Geistes- und Leibeszustandes – ich halte auch seinen sogenannten Blutsturz für ein abgeschmacktes Mittel, eine Versuch, seinen irdischen Richtern zu entgehen, um hier in unserem Bezirk Zuflucht und Schutz zu suchen – wegen Führung eines falschen Namens, Gotteslästerung, begangen durch Anbetung des heidnischen Gottes Yenkadi, Verführung einer Minderjährigen (der Fall Marianne) sowie des zwiefachen Mordes: an seiner Ehefrau Maria und an der Detektivin Eva Zumbusch, genannt Hyacinthe: auf zwiefachen Tod durch des Henkers Richtbeil, die ewige Verdammnis, Zahlung von Alimenten (Fall Marianne) und Aberkennung der bürgerlichen Ehrenrechte zu erkennen.“

Gottvater nickte beifällig mit dem Kopf.
Die Taube lachte.
Die Sonne strahlte.
Der Wunderrabbi dawwinte.

Der Teufelsbeschwörer blickte bekümmert drein – auch der schöne Jüngling hatte eine Träne im Auge.

Ich erhob mich von der Bank.

Das Geständnis

Wenn ich, meine Herren Geschworenen, hier ein offenes Wort und freimütiges Bekenntnis ablege und auch die psychologischen Gründe meiner Schuld und meines Schicksals klarzulegen und manche Fäden, von Gott oder dem Teufel geknüpft, zu entwirren trachte, so geschieht dies nicht, um Milde und Gnade von Ihnen zu erbetteln. Milde und Gnade stehen mir nicht zu. Im Gegenteil möchte ich um Ihr unbestechliches und unerbittliches Urteil bitten. Ich fordere Gerechtigkeit: für mich und die Gesellschaft und die Gemeinschaft der Menschen, die ich geschändet und in Furcht und Elend gestürzt habe. Ich fordere Gerechtigkeit, und wenn Sie alles für mich und wider mich abgewogen haben – es gibt aber nur ein wider mich – so fällen Sie den Spruch, der nicht anders lauten kann, als: schuldig, schuldig und dreimal schuldig.

Vielleicht wäre alles anders gekommen, vielleicht wäre mein Leben in Ruhe und Seligkeit verflossen – Spinoza sagt, die Seligkeit ist nicht der Lohn der Tugend, sondern die Tugend ist schon die Seligkeit an sich – hätte sich nicht gegenüber meinem Elternhaus, dem Haus mit den zwei Eselsköpfen, eine Fleischerei und Metzgerei etabliert und wäre ich nicht durch einen lächerlichen Zufall mit dem Sohn des Metzgers, Munk geheißen, bekanntgeworden in einem Alter, das für das sensibelste und empfänglichste gilt. Ich schloss mit Munk Freundschaft und Blutsbrüderschaft und ging zuerst, von Munk gerufen, nur aus kindlicher Neugier, in den Metzgerladen, wo ich die toten, ausgeweideten Kälber und Schweine betastete und auf dem Hof mehr erstaunt als erschreckt zusah, wenn ein riesiger Ochse unter dem Hammer des Metzgers zusammenbrach. Dann aber tauchte ich einmal wie aus Spielerei meinen Finger in warmes Blut und leckte ihn ab. Und da war es um mich geschehen. Am selben Tag sah ich zufällig ein kleines Schlächtermesser in der Sonne blitzen. Es lag, noch blutbefleckt, auf einem Fensterbrett, wo es ein Metzgerbursche aus Vergesslichkeit liegengelassen haben mochte. Noch zögerte ich. Hinter meiner Stirn donnerten die Schläfen. Das Herz schlug mir bis zum Halse. Obgleich ich erst dreizehn Jahre alt war, fühlte ich, nein wusste ich, dass die größte Entscheidung meines Lebens bevorstand. Ein Sonnenkringel hüpfte wie ein Teufelsauge immer um das Messer herum. Ich sah mich scheu um, ob jemand in der Nähe weile. Dann riss ich das Messer mit einem schnellen Griff an mich und steckte es in die Jacke.

Meine Untaten begannen, indem ich einem zahmen Kaninchen, das ich zu Hause hatte und das ich innig liebte, mit dem Messer kleine Wunden beibrachte. Die Zuckungen des armen Tieres ergötzten mich und erfüllten mich nur noch mit innigerer Zuneigung zu dem zarten Wesen. Oft wurde ich von seinen Schmerzen bis zu Tränen gerührt. Dann küsste ich die Wunden, die sich von seinem weißen Fell purpurrot abhoben und trank das frische heiße Blut. Und eines Tages vermochte ich meiner letzten Sehnsucht nicht mehr zu widerstehen.

Es war ein Sonntagnachmittag. Mein Vater und meine Mutter waren ausgegangen. Ich war zu Hause geblieben, indem ich Kopfschmerzen vorschützte. Ich blinzelte träge in die Sonne – bei allen meinen Untaten war das schönste Wetter und immer schien die Sonne; ich finde es lächerlich und der Wirklichkeit nicht entsprechend, wenn sensationslüsterne Skribenten in ihren nichtssagenden und langweiligen Schauerromanen ihre Verbrechen immer um Mitternacht oder bei Sturm und Gewitter in einer romantischen Kulissenwelt geschehen lassen. Die Sonne scheint über Gerechte und Ungerechte. Dies nur nebenbei. Ich blinzelte also in die Sonne, bis ich ein rotes Auge bekam und da – sah ich wieder das Messer in der Sonne glänzen. Ich ergriff das Messer, schlich in den Kaninchenstall auf dem Hof, zog das Kaninchen an seinen langen beiden Ohren heraus – es hatte noch Kohlblätter im jappenden Maul – und während mir schon die Tränen kamen und meine Liebe fast aufschrie, mein Gewissen sich in vorweggenommener Reue wand und krümmte, stieß ich mit dem Messer zu, dem Kaninchen in den Nacken. Ein Blutbach sprang im Bogen heraus, den ich mit meinem Munde aufzufangen trachtete. Und ich trank und trank das rote Blut, bis ich betrunken war und halb ohnmächtig in einer Hofecke hinter der Regentonne niedersank.

Der Abendtau erweckte und ernüchterte mich. Mit einem widerlichen Geschmack im Munde erwachte ich. Ich fuhr mir über meine Stirn. Ich ekelte mich vor mir selbst. Was war nur geschehen? Da sah ich neben mir das tote Kaninchen liegen und das blutbefleckte Messer. Und mit einem Male wusste ich alles. Schluchzend warf ich mich über die kleine Tierleiche. Ich herzte und küsste sie wie ein Kind. Dann trug ich sie heimlich in den Gemüsegarten und grub mit den bloßen Händen ein Grab im Kartoffelacker. Ich steckte das Messer als ein Grabkreuz hinein und schwor, niemals wieder einen Mord zu begehen. Mit verklebten und verweinten Augen ging ich hinauf in die Wohnung. Die Eltern waren noch nicht zurück. Ich zog mich aus, legte mich ins Bett und verfiel in ein hitziges Fieber, das wochenlang andauerte.

Als ich genas, glaubte ich, auch von meinem verbrecherischen Wahnsinn genesen zu sein. Ich sah offen und frei in die Sonne, kein Messer war mehr da, das in ihr glänzte. Den Fleischerladen betrat ich kein einziges Mal mehr, so sehr mich mein Freund Munk (mein Feind Munk) auch lockte. Ich lernte eifrig in der Schule, wurde das, was man einen guten Schüler nennt und verließ als primus omnium, mit einer Prämie „Antikes Heldentum“ versehen, das Gymnasium. Ich studierte, ohne zu irgendeinem Berufe besondere Lust zu verspüren, Jura, und nichts Außergewöhnliches ereignete sich in meinem Leben. Ich wurde bei der Burschenschaft Teutonia aktiv, und mein Dasein war das übliche: Studium, Paukboden, einige Verhältnisse, Früh- und Dämmerschoppen, ein wenig Theaterbesuch am Abend. Ich stand auf der Mensur meinen Mann und konnte ein gewisses Wohlgefühl nicht unterdrücken, wenn ich das Blut meines Gegners fließen sah. Schon auf der Kneipe zeigte sich mein poetisches, satirisches und musikalisches Talent in allerlei anzüglichen Liedern und Couplets, die ich bei festlicher Gelegenheit, Stiftungsfesten, Kommersen usw. unter allgemeinem Beifall zum besten gab, indem ich mich selbst am Klavier begleitete. Ich machte den Referendar, den Doktor, wurde bei der Teutonia inaktiv, avancierte zum Assessor.

Da lernte ich eines Tages auf einem Pflichtbesuch bei einem Justizrat zufällig dessen siebzehnjährige Tochter kennen, ein schlankes, blondes, blauäugiges Geschöpf, von außerordentlichem äußerem und seelischem Charme. Ich hatte kaum einen Blick in diese blauen Augen getan, als ich wusste, dass zum zweiten Male das Schicksal vor mir stand.

Ich wurde von einer unsagbaren Leidenschaft zu dem schönen Mädchen ergriffen, das meine Liebe erwiderte. Ich hielt um ihre Hand an und ehe ein Jahr vergangen war, waren wir ein Paar. Unsere Seligkeit kannte keine Grenzen. Wir bewohnten ein kleines Haus ganz für uns. Ich war in die Kanzlei meines Schwiegervaters als Teilhaber eingetreten. Die Arbeit war nicht übermäßig anstrengend, wir konnten unser junges Glück von Grund auf genießen.

Da bemerkte ich eines Tages, wie meine junge Frau zuweilen abwechselnd rot und blass wurde und wie sie (es war im Sommer) in ihr Taschentuch zu hüsteln begann.

Ich war sehr besorgt, wollte zum Arzt schicken, aber sie lachte mich aus.

Eines Morgens entdeckte ich ein Taschentuch, das sie beiseitegelegt hatte: kleine kreisrote Blutflecken.

Ich griff mir an Herz.
Mir wurde erst schwarz, dann rot vor den Augen.

Ich presste das Tuch an meine Lippen und küsste die Blutstropfen.

Es war kein Zweifel, meine Frau litt an Lungenbluten. Ich liebte – und liebe noch heute – meine Frau über alles in der Welt. Ich schloss sie mit inbrünstiger Zärtlichkeit in meine Arme, und diese Zärtlichkeit war nicht erlogen oder geheuchelt. Ich schlug ihr vor, den Arzt zu konsultieren, aber sie lachte mich aus, wegen solcher Kleinigkeiten – das geht vorüber – und im Grunde, in meinem Unterbewusstsein freute mich diese Antwort. Dieses wollte nicht, dass der Arzt käme. Ein entsetzlicher Gedanke hatte Besitz von mir genommen, der mich mit seinen Polypenarmen nicht mehr losließ. Ich wünschte insgeheim, Maria – so hieß meine Frau – möge sich in meinen Armen verbluten, sie solle, wie einst Christus den Gläubigen, ihr Blut für mich hingeben. Und ich wünschte ihr Blut wie beim Abendmahl zu trinken. Es deuchte mich, dies nur könne die letzte Erfüllung ihrer und meiner Liebe sein. Und so wurde ich zum Vampir, zum Mörder aus Liebe, zum Mörder ohne Tat.

Ich liebte sie in den Wochen, die folgten, immer rasender, immer verzückter.

„Liebster“, lächelte sie zuweilen mit ihren Augen, die wie feuchte blaue Enzianblüten waren, „ich bin so glücklich, dies Glück kann nicht von langer Dauer sein. Ich fühle, ich werde sterben müssen – und ich sterbe gern.“

So war also mein Todesrausch schon in ihr Unterbewusstes eingegangen. Sie wollte sterben – weil ich es wollte.

Ich wusste, das heißt mein Bewusstsein wusste es nicht, aber mein Unterbewusstsein wusste es, dass bei ihrem körperlichen Zustand meine heiße sinnliche Liebe sie töten müsse, dass ihr zarter nymphenhafter Leib meine Bocksprünge nicht werde ertragen können – und ich liebte sie dennoch nur immer wilder, und sie gab sich immer seliger mir zu eigen.

Und eines Tages geschah es.

Mitten in einer wilden Umarmung brach ihr das Blut aus dem Mund in einem heißen Strom, das Blut floss über meinen nackten Leib, und ich trank von ihren Lippen ihr Herzblut. Meine Lippen blieben an den ihren haften, Blut klebte sie aneinander.

Als der Rausch in einer seligen Müdigkeit abebbte, spürte ich, dass Maria’s Lippen erkalteten, ich riss meine Lippen los, ich sah entsetzt ihre aufgerissenen Augen: ich hielt eine Tote im Arm.

Ich hatte Maria mit meiner Liebe gemordet.
Der Arzt stellte Erstickungstod im Blutsturz fest.
Ich wusste es besser.

Ich fiel, wie einst beim Tod des Kaninchens, in hitziges Fieber; als das Begräbnis stattfand, lag ich in halber Ohnmacht und hörte nur die Glocken in meine Dämmerung dröhnen.

Ich kam nach Wochen zu mir.

Der Arzt stellte die gleiche Krankheit wie bei meiner Frau bei mir fest: Schwindsucht.

Ich ging zur Erholung ins Ausland.

Ich gab meinen Beruf auf und ließ mich zuerst von meinen Schwiegereltern unterstützen. Auch entsann ich mich meiner auf der Bierkneipe erprobten Fähigkeiten, verfertigte aktuelle Couplets und erntete damit Lorbeer und Geld. Während des Krieges sang ich Kriegs-, während der Revolution Revolutionslieder. Ich drehte mich wie ein Wetterhahn nach dem Wind. Ich bekam infolgedessen einen Namen. Viele Namen. Ein Kritiker verglich mich einmal höchst schmeichelhaft mit Bellmann, dem großen schwedischen Sänger. Ich ließ mich auch von allerlei Männern und Frauen aushalten und schändete und beschmutzte das Andenken von Maria. Ich bekam anonyme Briefe mit der Adresse: an den Zuhälter … – und die Absender hatten nicht so unrecht. Aber keiner wusste, dass ich Schlimmeres begangen, dass mein Gewissen mit Zentnergewichten beschwert war, dass ich mein Liebstes auf der Welt – gemordet hatte, und dass meine wahre Adresse hätte lauten müssen:

An den Mörder …

Und nun, meine Herren Geschworenen, geben Sie Ihr Urteil ab. Ich erwarte mit Sehnsucht Ihren Spruch – und den Tag, da im Frührot mein Kopf in die Sägespäne rollen wird. Meine offenen Augen werden mit Wollust das Blut aus meinem eigenen Halsstumpf schießen sehen –

Das Urteil

So meine Rede.

Die Geschworenen zogen sich zur Beratung zurück.

Nach einer kleinen Viertelstunde schon verkündete Gottvater als Obmann der Geschworenen das:

Nichtschuldig!

Er hatte die Bibel aufgeschlagen, rückte die Hornbrille zurecht und las monoton:

„4. Buch Mose Kapitel 35 Vers 25: Die Gemeinde soll den Totschläger erretten vor der Hand des Bluträchers.“

Ich fiel wie vom Donner gerührt und vom Blitz erschlagen auf meiner Bank zusammen.

Ich – nicht schuldig?

„Gottloser Gott!“ schrie ich, „bestochene Schufte, bestochen von meiner bestechenden Dialektik, Meineidige Eures Schöffeneides, durch ein offenes Schuldbekenntnis käuflich –, wer hat Euch geheißen, so schamlos das Recht zu beugen? Ich bin ein Mörder und verlange mein Recht. Eure Pflicht ist’s, mir dies zu geben. Ich bestehe darauf, abgeurteilt und hingerichtet zu werden.“

Mir kam der Schaum der Wut vor die Lippen. Gottvater aber lächelte milde. Er klappte die Bibel zu, die Brille zusammen und sah mich mit seinen strahlend schönen Augen an:

„Selbst freut Sünde
Selbst ist schlecht.
Selbst scheut Sünde
Selbst ist recht.
Selbst ist Kiesel oder Glas
Selbst ist Liebe oder Haß
Selbst ist Topf oder Töpfer,
Selbst ist Mörder oder Schöpfer
Selbst ist trübe oder rein
Selbst ist All, doch auch all-ein.
Selbst ist gut
Selbst ist böse
Selbst ist Blut
Selbst ist Gekröse
Selbst kann nur sich selber leben
Selbst kann nur sich selbst erheben
Selbst kann nur sich selbst erkennen
Selbst nur in sich selber brennen
Seid getrost: ihr Gut- und Bösen:
Selbst kann nur sich selbst erlösen!“

Weinend brach der schöne Jüngling über seinem Holzkreuz zusammen:

„So habe ich mich umsonst der Menschheit geopfert!“

Gottvater sprach:

„Jenem“, und er wies auf mich, „hast du nicht genützt, dies lag auch nicht in deiner Kraft oder Macht – dir selbst hast du genug getan …“

Schreiend und gestikulierend wurde ich abgeführt, der Teufelsbeschwörer gab mir die Hand zum Abschied, der Albino klopfte mir gönnerhaft auf die Schulter: „Ich habe es immer gesagt, Sie sind ein Lämmchen an Unschuld. Alles Gute und hoffentlich nicht auf Wiedersehen – für Sie hoffe ich das. Grüßen Sie die Welt draußen.“

Wider meinen Willen wurde ich vor das Tor geführt und der Freiheit wiedergegeben.

Der erste Gehversuch

Da stand ich allein im ungeheuren Raum und wusste nichts mit meiner Existenz anzufangen. Der Raum wölbte sich über mir wie eine Kuppel des Michel Angelo, gigantisch in seinen Maßen, streng in seinen Gesetzen, vollendet und doch endlich. Ein Riese musste mit seinem Kopf dröhnend an das Gewölbe des Himmels schlagen.

So wenig es eine ewige Zeit gibt, die Ewigkeit, so wenig gibt es einen unendlichen Raum, die Unendlichkeit, dachte ich. Wir leben in einem Weltenraum, der 999 Millionen Sonnensysteme umfasst; in einem von diesen Systemen spielen wir auf der Erde unsere jämmerliche Rolle: Schmierenschauspieler, die sich als Könige und Propheten mit goldenen Flittern und bunten Fetzen auftakeln. Wir sollten unsere Nase einmal über das Mikroskop beugen und den Wassertropfen beobachten: da ziehen wie die Sterne im Weltenraum Infusorien und Rädertiere die gleiche Ellipsenbahn. Und jeder Erdkrümel zeigt den gleichen Pendelgang an. In der Pflanze wandert der Protoplast mit Kern und Körnern unermüdlich. So wandert auch der Mensch wie Stern, Infusorie und Protoplast und jede Zelle des Menschen in ihrem Kreise wieder für sich sie gleiche Wunderbahn. So wandert die Seele: und sieht vom Stern auf den Erdkrümel, und sie bekommt Schwindelgefühle. Und blickt vom Rädertier im Erdkrümel zum Menschen empor, und ihr wird seekrank.

Wehr- und hilflos war ich der wilden Welt wieder preisgegeben.

Keine Mauern waren mehr da, die mich behüteten. Kein kleines Fenster, das das Licht abblendete und nur gedämpft und gefiltert in meine kranken Augen ließ.

Unerträglich brannte die Sonne. Ich musste jeden Augenblick die Augen schließen.
Ich machte kehrt und läutete am Anstaltsportal.

Der Kopf des weißhaarigen Portiers mit seiner alten zerschlissenen Soldatenmütze zuckte wie ein phantastischer Schlangenkopf aus dem kleinen Fenster.

„Was wollen Sie?“

Ich kniete nieder:

„Nehmen Sie mich wieder in meine Zelle auf – die mich beschützte – vor der Welt – vor mir selbst.“

Der Portier feixte.
„Sind Sie verrückt? Sie sind entlassen. Die Irren-, Krankenhäuser und Gefängnisse sind überfüllt. Wir können keine überzähligen und überflüssigen Kostgänger brauchen.“ Sein Mund zog sich wie ein Ochsenmaul breit:

„Stehlen Sie ein Fahrrad oder schlagen Sie jemand tot und dann kommen Sie wieder!“

Das Fenster klirrte.
Ich taumelte durch die Straßen.

Die Leute sahen mir nach, wie ich mich an den Häusern entlangtastete und Furcht hatte, über einen freien Platz zu gehen.

Einige Ladenmädchen, die aus dem Geschäft kamen, lachten. Aber da traf sie ein Blick von mir, dass sie erschraken.

Was sollte ich tun? Was sollte ich denken? Ich wusste es nicht.
Die Dämmerung stieg wie grauer Nebel aus dem Pflaster auf.
Ich gelangte in einen öffentlichen Park.
Ich suchte die dunkelste Bank und setzte mich.
Ich weiß nicht, wie lange ich gesessen hatte, als eine zarte Stimme neben mir fragte:

„Willst du mich lieben?“

Ich sah auf und sah die Silhouette eines Mädchens.
Ich sah weder ihr Gesicht noch ihr Alter.

„Ich kann nicht mehr lieben, Mädchen. Ich habe allzu sehr geliebt.“

„O“, sie lachte leise, „wenn es weiter nichts ist.“

Sie tastete nach mir und begann zu spielen.

Dann setzte sie sich zärtlich auf mich, hüpfte ein wenig und liebte mich, als wäre ich eine Frau und sie ein Mann. Ich ließ es schweigend geschehen.

Ein wenig passives, physiologisches Glück – was weiter? Hatte ich noch einen Willen zum Glück?

Sie setzte sich neben mich und brachte ihr Gesicht dicht an das meine:

„Glaubst du nun, dass du noch lieben kannst?“

Ich schwieg.

„Warum schweigst du?“

Sie sah, dass ich einen kurzgeschorenen Kopf hatte.

„Wo kommst du her?“

Ich schwieg.

„O, ich weiß es, wo du herkommst. Du kommst aus dem grauen Haus. Ist das wahr oder nicht?“

Ich schwieg.
„Du brauchst mir gar nicht zu antworten, ich weiß es bestimmt. In diesem Park sitzen immer auf den dunkelsten Bänken die, die eben aus dem grauen Haus entlassen sind, das ein paar Straßen von hier liegt. Sie wissen noch nicht, was sie mit sich anfangen sollen. Sie suchen das Dunkel. Aber – ich zeige ihnen im Dunkel einen Stern. Den Stern der Hoffnung.“

Ich fand das, was sie sagte, reichlich sentimental und schwieg noch immer.

Sie machte eine Pause, dann:

„Bist du ein Zuhälter? Willst du der meine werden? Ich brauche einen starken Kerl. Und schwach bist du im grauen Haus nicht geworden.“

Sie prüfte meine Muskeln.
Ich brach das Schweigen.

„Ich bin ein Mörder.“

Ich fühlte, wie sie stutzte.
Dann pfiff sie leise durch die Zähne.

„O lala, das hätte ich dir gar nicht zugetraut. Da bekomme ich ja allen Respekt vor dir. Ich war mal mit einem Mörder verlobt, der hieß Munk. Und ich habe auch ein Kind von ihm, das heißt Christian, der schönste Mensch, den du dir vorstellen kannst. Er ist jetzt siebzehn Jahre alt und leider etwas blödsinnig. Wie lange hast du denn Knast geschoben?“

„Ein Jahr.“

„Totschlag mit mildernden Umständen?“

„Nein.“

Sie stutzte wieder.

„Dann hast du dem Vater Philipp Ade gesagt, ohne ihn zu fragen?“

„Nein – ich bin freigesprochen worden.“

Sie lachte.

„Junge, Junge, hast du ein Glück. Das müssen wir feiern. Hast du Geld?“

Ich schüttelte den Kopf.

„Macht nichts. Ein paar Kröten habe ich noch. Geben wir sie dem „Blauen Affen“ zu schlucken.“

Der blaue Affe und der grüne Vogel

Der blaue Affe war ein Kellerlokal, ich weiß nicht mehr in welcher Straße.

Sie hatte sich eingehängt und es war klar, dass sie stolz auf mich war, dass sie mit mir renommierte.

Ein freigesprochener Mörder als Liebhaber – das ist keine kleine Sache.

Sie flüsterte mit dem Wirt hinter der Theke, einem Kerl, feist und groß wie ein Nilpferd und mit Tigerpratzen.

In der Budike saßen Männer und Frauen, die mich alle schief musterten.

Die Männer sahen alle aus wie ich und die Mädchen wie die, die sich in mich eingehakt hatte.

„Alle Achtung!“

Der Wirt kam und schüttelte mir die Hand. Er flüsterte mit den Gästen. Es waren größtenteils Hehler, die ihr Hehlgut unter den Mänteln verbargen: Schals und Schuhe, die ihnen an Bindfaden um den Hals hingen.

Und in langer Reihe, zeremoniell, gingen sie alle an mir vorüber und schüttelten mir die Hand.

Einer, der letzte, stellte sich höflich vor:

„Sally Kofferträger, genannt Schlaume.“

Die Vorstellung geschah mit solcher Würde, er sprach seinen Namen so prononciert aus, als ob ich ihn nie vergessen dürfe, dass ich ihm den Gefallen tat, mich kollegial mit ihm zu unterhalten, woran ihm einiges gelegen schien. Vielleicht hatte er es noch nicht bis zum Mörder gebracht. Vielleicht wollte er mal gelegentlich ein Ding mit mir drehen.

„Nun, wie geht’s?“ fragte ich.
Er zuckte die Achseln:
„Haben Sie die heutige Zeitung gelesen?“
Ich verneinte.
Er zog ein Blatt aus der Tasche und zeigte auf eine Notiz:

Fabelhafter Einbruch durch zwei Stockwerke mit Zentrumsbohrern und Schmelzapparaten.

„Nun – und?“

Er tippte auf seine Brust, die in einem grünwollenen Sweater steckte:

„Das waren wir!“
Er blähte sich wie ein Puter.
„Und der Erfolg?“
Er dämpfte seine Stimme:

„Ihnen gesagt: gleich null. Dreihundert Mark lagen im Geldschrank. Hundert für jeden: Wir waren zu dreien. Pech, was? Aus Wut nahm ich den grünen Vogel mit, der in dem Zimmer, wo der Geldschrank stand, auf einer Stange saß.“

Ich stutzte:
„Was für ein grüner Vogel?“
Er deutet mit der Hand nach rückwärts:
„Ich habe ihn dem Wirt geschenkt.“

Auf den Zigarrenkisten hinter dem Büffet saß Lora, mein Papagei.

Sally Kofferträger, genannt Schlaume, war in meiner früheren Wohnung eingebrochen.

Ich war weit entfernt, ihm das übelzunehmen.

Der riesige technische Aufwand an Schmelzapparaten und Zentrumsbohrern hatte sich schlecht bezahlt gemacht.

Als ich zu dem Papagei trat und ihm den Kopf kraulte, erkannte er mich; er rollte seine Augen, dass man nur das Orangegelb in ihnen sah und kreischte:

„Her–ein. Na, Puppe. Na, komme doch.

Köpfchen kraulen.“

Die Stimme des Vogels hatte alle Schrecknisse für mich verloren.

Er schien den Namen Maria vergessen zu haben, weil er ihn so lange nicht mehr gehört hatte.

Das Mädchen lachte.

Der Wirt schlug sich auf seinen Bauch.

Ich musste lächeln. Aber eine Träne hing an meinen Wimpern.

»Maria!« sagte ich zu dem Vogel, seinem Gedächtnis nachzuhelfen.

Er sah mich schief an, rollte seine Augen und schwieg.

Das Haus in der Hölle

„Ich habe keine Bleibe.“
„Das laß meine Sache sein.“

Das Mädchen hüllte sich in ihren Schal.
Ich folgte ihr.
Wir gingen durch mehrere Straßen kreuz und quer.
NO stand an irgendeinem Straßenschild.
Wir bogen in einen dunklen Hausgang.
Die Haustür stand offen. Die Hoftür.
Wir überquerten drei Höfe.

Im dritten Hinterhause stolperten wir in ein Kellerloch hinab. Das Mädchen klinkte die unverschlossene Tür auf. Dann nahm sie mich bei der Hand.

„Vorsicht! Dass du keinen weckst! Sie liegen hier überall wie Leichen am Boden. Du musst deine Füße wie ein Tänzer setzen.“

Ein atemberaubender Gestank füllte die Höhle.
Wir durchschritten zwei Räume.
Im dritten machte das Mädchen halt.

„Hier ist meine Schlafstelle.“
Sie begann sich zu entkleiden.
Ich tat desgleichen.

Schon fühlte ich ihre kleinen Mädchenbrüste in meinen Händen.
Und dumpf sanken wir in einer Ecke auf die Streu. –
Längst musste es Morgen sein, aber im Raum schwebte noch immer eine kaum durchdringliche Dämmerung.

Oben floss durch schmale Ritzen schmutziges Licht.

Da musste eine Art Fenster sein. Schließlich unterschied ich, dass das sogenannte Fenster mit Packpapier vernagelt war – wahrscheinlich, damit niemand vom Hof hereinsehen konnte.
Ich blieb acht Tage bei dem Mädchen.

In den beiden Vorderräumen wimmelte es von Kindern und Ratten. In einer Ecke lag ein durch Bleiweißvergiftung erblindeter älterer Mann. Auf seinem Bauche saß ein einjähriges Kind und spielte mit seinem roten Bart. Eine syphilitische Dirne verweste in einer anderen Ecke. Sie hatte ein Spiel Karten vor sich ausgebreitet. Sie spielte mit dem Coeurbuben und Coeurkönig und sagte „Süßer!“ zu ihnen; als sie mich bemerkte, sagte sie mir aus den Karten wahr:

„Eine Verlobung steht ins Haus. Ein Brief trifft ein. Hüten Sie sich vor einer schwarzhaarigen Person. Eine weite Reise ist in Aussicht.“

Die Kinder kamen nie ans Licht, nie ans Freie. Sie hatten keine Hemden, keine Hosen, keine Kleider. Nur Fetzen hingen von ihnen herunter. Sie waren noch nie über den dritten Hof hinausgelangt, und ich musste ihnen Märchen erzählen, die begannen:

„Es war einmal ein Kind, das hatte ein schneeweißes schönes Hemd und jeden Tag Brot, sich satt zu essen …“

„Es war einmal ein Stern, der verbreitete Licht und milde Wärme über die Erde, und alle Menschen, die in seinem Strahl gingen, glänzten in Gold und Silber, und dieser Stern hieß Sonne …“

„Es war einmal ein Wald, das ist ein unübersehbares Heer von Bäumen, wie draußen im ersten Hof einer steht, aber Tausend aber Tausende nebeneinander …“

„Es war einmal ein Vogel, der war wie ein Sperling anzusehen, grau und unansehnlich, aber er kreischte nicht wie eine verrostete Türangel, sondern er sang wie ein Engel im Himmel selber. Dieser Vogel wird Nachtigall geheißen …“

Die Kinder sperrten die entzündeten Augen auf und zogen die verschorften Lippen breit.

Und der Älteste sprach:

„Was du erzählst, das ist ja alles nicht wahr. Aber es sind schöne Märchen. Erzähle weiter …“

Wenn ich im Dunkel auf der Streu lag und die Läuse und Wanzen krochen auf mir herum, hin und wieder sprang mir auch eine Ratte übers Bein, da dachte ich dem Schicksal dieser Kinder nach.

Und ich begriff nicht, dass ihre Eltern sie nicht sammelten in fürchterlicher Parade zu Tausenden in ihrer Blöße, und mit ihnen stumm und wild durch die Straßen der Reichen zogen: ihnen voran, das Holzkreuz auf dem Rücken, Christian, der schöne Jüngling und Sohn der Maria, die in dem dritten Erdloch ihre Schlafkammer hatte: Christian, der sich für Gottes Sohn hielt, und doch nur der blödsinnige Sohn eines Mörders und einer Hure war. Er hatte noch den besten Beruf für sich erwählt, denn kein anderer Beruf stand den Kindern des höllischen Hauses sonst offen als der eines Diebes, eines Zuhälters, eines Hehlers, Räubers und Mörders.

Die Chinesin

Eines Abends, als ich nicht wusste, was ich mit mir und der Welt anfangen sollte, fand ich in der Nähe des Krögels vor einer Schenke sonderbare farbige Papierstreifen und Laternen hängen. Ich trat näher, sah ein blasses Mädchen (auf einem dieser Papierstreifen), das zu einem furchterregenden Krieger zärtlich aufblickte. Und zwischen beiden lief einen mir unverständliche Schrift. Es handelte sich um das Aushängeschild einer chinesischen Gaukler- oder Schauspielertruppe. Ich trat durch einen schmalen feuchten Gang. Es öffnete sich ein Saal: und auf der primitiven, kulissenlosen Bühne sah ich dasselbe Schauspiel, das ich schon auf dem Plakat gesehen: ein blasses Mädchen kniete vor einem furchterregenden Krieger, der ein Schwert schwang, zärtlich nieder. Sie erhob sich in diesem Moment, trippelte an die Rampe, und fast schien es, als sage sie es mir, was sie dann in einem unverständlichen Idiom in das Publikum seufzte und zwitscherte und lächelte. Und obgleich ich ihre Sprache nicht kannte, verstand ich alles; sie versuchte mir klarzumachen, dass sie jenen furchterregenden Mann mit dem Schwerte liebe, dass er der Henker sei, der sie auf Befehl des Mandarinen töten müsse, dass sie aber gern von seiner Hand sterbe und dass sie ewig als Vogel am Morgen, als Schmetterling am Mittag, als Fledermaus nachts um seine Stirn schwirren werde. Dann trippelte sie zurück, kniete nieder, der Henker schlug wortlos zu – – ein Schrei des Entsetzens im Publikum, ich fiel kalkweiß an eine Säule; der Kopf rollte über die Bretter, Blut spritzte über sie, der Vorhang fiel. Natürlich war es irgendein Gauklerstück. Aber ich war so benommen, dass ich auf den Hof trat. Ich dachte daran, wie ich einst das Kaninchen, wie ich Maria getötet hatte. War ich nicht der Henker gewesen, der auf der Bühne sein Krummschwert schwang – nicht auf Befehl des Mandarinen: auf Befehl des eigenen Herzens?

Da stand die kleine Chinesin am Bühnenausgang und sah in den Mond, der hoch im Raume hing. Sie sah so bezaubernd, so unirdisch aus, als sie den Kopf zu mir wandte und mich wortlos wie ein Tier, gefühl- und gedankenlos betrachtete. Ich trat näher und richtete ein paar englische Worte an sie. Sie schüttelte den Kopf. Ich wusste nicht, was ich tun sollte, das Herz schlug mir bis in den Hals. Ich ergriff ihre Hand, und wie sie eben vor dem Henker, kniete ich vor ihr nieder. Und ich küsste diese zarte, gebrechliche Hand: leise.

Drinnen klang ein Gong. Sie entschlüpfte. Ich war allein. Ich ging nach Hause.

Schlaflos lag ich in meinem nach Teer riechenden Zimmer neben dem Mädchen und im Dunkel sah ich die kleine Chinesin, wie sie vor dem Henker, der ihr Geliebter war, kniete. Damals erdachte ich mein erstes chinesisches Gedicht. Es war ganz kurz, das, was die Japaner Hokku nennen:

Du liebst den Henker.
Täglich mordet er dich.
Ewig fließt dein Blut.
Du aber lächelst.

Am nächsten Abend war ich wieder zur Stelle. Als ich eintrat, spielten sie eine kleine Komödie: ein Student liebt die Verkäuferin einer Parfümeriehandlung. Er kann ihr seine Liebe nicht gestehen, da immer eine abschreckend hässliche alte Frau, die Inhaberin des Ladens, dabei ist. Endlich gelingt es ihm, dem Fräulein – es wurde von meiner kleinen Chinesin dargestellt – einen Zettel zuzustecken: heut Abend im Tempel da und da! Sie lächelt Gewährung. Zweites Bild: soll den Tempel darstellen. Der Student beim Zechen mit einem alten Bonzen. Er erwartet sein Fräulein. Sie kommt nicht. Die beiden Zecher werden müde. Sie schlafen Arm in Arm ein. Da erscheint, mit einer kleinen Papierlaterne, das Fräulein. Sie beugt sich über die Schläfer. Ihr Gesicht verzieht keine Miene. Sie streift einen ihrer Pantoffel vom Fuß und legt ihn dem Studenten in den Schoß. Entschwindet mit ihrer Laterne wie ein Glühwurm. Der Student erwacht, reibt sich die Augen, findet den Pantoffel und ist untröstlich. Vorhang. Ich trat auf den Hof. Da stand die kleine Chinesin wieder. Ich überreichte ihr einen Busch Mimosen, den ich in einer Blumenhandlung für sie entwendet hatte. Sie schien zu lächeln. Dann ergriff sie meine Hand für eine Sekunde. Als ich am nächsten Abend wieder kam, sah ich die bunten Papierstreifen und Lampions nicht mehr. In dem Saal, wo gestern noch das hübsche Märchen von dem Pantoffel sich abgespielt hatte, schwoften Kommis, Arbeiter, Soldaten und wilde Weiber.

Ich ging zum Wirt, der dick hinter seiner Theke thronte. „Wo sind die Chinesen?“

„Abgereist heute früh. Übrigens sind Sie der, der gestern dem Star des Ensembles den Mimosenstrauß brachte?“

Ich bejahte herzklopfend.

„Ich habe etwas für Sie.“

Er gab mir ein kleines Paket.

In einer Ecke bei einem Glas Hellen öffnete ich. Zwei winzige Pantoffeln lagen darin und ein Zettel, auf dem geschrieben stand: „Mai Lung Fang grüßt Sie. Mai Lung Fang diktierte diese Worte einem Freund für Sie. Mai Lung Fang liebt Sie, wie Sie Mai Lung Fang. Mai Lung Fang liebt die Kunst und die, welche die Kunst lieben. Friede und Glück sei mit Ihnen!“

Ich stürzte zur Theke.

„Wissen Sie nicht die nächste Adresse von Mai Lung Fang? Wohin ist sie?“

Der Wirt krauste die Stirn:

„Mai Lung Fang? Mai Lung Fang? Das war doch der junge Chinese, der die reizenden Mädchenrollen spielte? Und täuschend ähnlich. Ein entzückender Bursche! Wer’s nicht wusste, konnte ihn nicht von einem Mädchen unterscheiden. Denken Sie, hier war ein junger Matrose, der sich sterblich in Mai Lung Fang verliebte, weil er sie für ein Mädchen hielt …“

Er prustete wie ein Seehund.

Ich spürte im Herzen einen leisen Stich.

Es war scheußliches Wetter geworden. Der Regen klatschte an die Scheiben. Und im Rhythmus der rollenden Tropfen formte sich mir ein anderes Hokku:

Der Regen rinnt.
Ich liebte ein Phantom.
Die Wolken wehen –
Wohin weht mich mein Schicksal?

Der Boxkampf

Als ich allein durch die Straßen trieb wie ein Blatt im Herbstwind, wehte es mich in eine Ecke vor eine Plakatwand. Da las ich in schreienden Farben, schwarz und weiß auf rot:

Sensationell!

Heute Boxmatch, Großkampftag, im Großen Schauspielhaus an der Weidendammer Brücke!
Der Entscheidungskampf um die Weltmeisterschaft
um die Weltherrschaft, zwischen Munk dem Europameister, genannt Dictator mundi, und dem asiatischen Meister Mai Lung Fang, genannt die chinesische Wildkatze.
Versäume niemand, der weltgeschichtlichen Entscheidung beizuwohnen.

Das wollte auch ich nicht versäumen und begab mich durch eine Nebentür des Großen Schauspielhauses in das Artistenzimmer, wo ich Munk, der seine Muskeln spielen ließ, in einem großen Monolog antraf, der recht gut auch für die Arena selbst sich zum Vortrag geeignet hätte:

„Ich steige persönlich in die Schranken. Niemand soll sagen, dass ich feige bin. In mir verkörpert und vergeistigt sich der Kontinent. Die große Stunde schlägt. Die Frage ist: Europa oder Asien? Die weiße oder die gelbe Rasse? Schinderhannes und Schopenhauer, um zwei Polaritäten zu benennen – oder Laotse und Lihungtschang? Schnaps oder Opium? Wem gehört die Zukunft, die Ewigkeit heißen wird? Meine Muskeln sind gestählt. Ich bin trainiert. Ich habe Laotse gelesen. Mit seinen eigenen Waffen will ich ihn schlagen, den Gelben. Mir kann keiner. Zwei Monate berührte ich kein Weib. Ich berste vor Zeugungskraft. Verantwortung strafft mich. Schon hör ich sie singen, die Champions von Gleiwitz, Nancy, Warschau, Czernowitz, Malmö und Napoli: ave Caesar, morituri te salutant …“

Ich stand neben dem Toilettenspiegel und schwieg.
Munk nahm keine Notiz von mir.
Der Manager stürzte aufgeregt herein.

Munk fragte gönnerhaft: „Wie steht’s?“

Der Manager: „Ausgezeichnet. Ich komme die Binden und Handschuhe zu prüfen.“

Munk steckte seine lederumkleideten Fäuste:
„Faust und Blut und Herz sind eins.“

Der Manager strahlte: „Der Sieg scheint gewiss“

„Scheint?“
„Wie die Sonne scheint.“
„Man wettet?“
„5:4.“
„Zu wenig. Liebt mich das Volk nicht mehr?“

Munk stampfte mit den Füßen.
Der Manager begütigte:

„Es liebt Sie unaussprechlich. Aber es schätzt beim Boxkampf die Qualitäten als Boxer.“

„Ich trainierte zwei Monate.“

„Der Chinese hat den Weltmeister Carpentier knock-out geschlagen – in sieben Minuten.“

„Die Schande der weißen Rasse zu rächen, trat ich auf.“ »Europa vernahm es schaudernd und – bewundernd.

Niemand wurde so häufig wie Sie in den illustrierten Blättern abgebildet. Nun gilt es, alle Kräfte zu sammeln. Keine Abschweifung. Boxen ist einen Angelegenheit der egozentralen Weltanschauung. Ich oder du, heißt’s hier. Nicht: ich und du.

Sie müssen ihn knock-out schlagen.“

Christian, Munks Sohn, stürzte in die Garderobe.

„Vater – ich beschwöre dich – was tust du – er wird dich zerschmettern.“

Munk sah in den Spiegel:

„Wer ist das Jüngelchen? Ach, mein Sohn –„

Der Manager wurde nervös.

„Ich bitte, sich nicht zu derangieren. Ich habe hunderttausend Mark auf Sie gesetzt.“

Munk:

„Keine Furcht, mein Lieber. Ich habe Nerven wie Schiffstaue. Was willst du, Sohn? Monatelang kümmerst du dich nicht um mich –„

Christian schüttelte die blonden Locken:

„Ich habe immer an dich gedacht –„

„Sentimentalitäten. Wer wirklich denkt, handelt.“

„Dein Bild hängt über meinem Bett. Gottvater weiß es.“

„Lachhaft. Ein nacktes Hürchen wäre passabler und passender.“

„Ich liebe dich.«
»Pfui Teufel. Ich dich nicht.“

Christian hob fromm die Hände:

„Laß mich für dich in die Arena steigen. Der Chinese wird dich töten.“

Munk brauste auf wie Selterswasser:

„Unsinn – hier: probier mal meinen Bizeps.“

Christian sprach leiser:

„Du bist stark. Aber ich bin schwach.“

„Ein blutarmes Bürschelchen. Ich bin die Kraft, die Wildheit und die Würde. Ich trotze. Mein Saft schwillt. Wie ich dich gezeugt habe, bleibt mir ein Rätsel. Ich hatte schon zwölf Kulmbacher hinter mir. Und ich wollte dich nicht: du Nichts, du Kaum, du Ach …“

Der Jüngling lächelte traurig:

„Ich bin die Schwäche. Die Schwäche siegt. Rohr biegt sich. Die Eichen – fallen. Die Wolken wehen im Sturm – die Türme bersten.“

Munk zog die Stirn kraus:

„Symbole tangieren mich nicht.“

Der Jüngling wurde eindringlicher:
„Du hast nur dein Leben, deine Position. Unterliegst du, so ist deine Macht zu Ende, dein Leben zu Ende. Das Gelächter des Volkes wird dich bis Teheran scheuchen. Du willst herrschen. So bleibe. Herrschen ist dein Glück. Ich opfere mich gern für dich. Aber es wäre wohl kein Opfer: denn ich kann nicht unterliegen.“

Munk probierte einen Stoß am Ball, der von der Decke hing.

„Geh in den Zoologischen Garten. Lerne bei den Känguruhs boxen. Dann komm wieder.“

Der Manager unterbrach ihn mit heiserer, aufgeregter Stimme: „Das Klingelzeichen. Sind Sie bereit?“

Munk straffte sich:

„Ich bin’s.“

Er ging mit großen Schritten an Christian und mir vorbei, ohne uns beide eines Blickes zu würdigen.

Aus der Arena klang ohrenbetäubendes Beifallsklatschen.

Christian und ich blieben wie Karyatiden links und rechts an der Tür stehen.

Wir sprachen kein Wort.

Wir wussten den Ausgang des Kampfes zu gut.

Mai Lung Fang hatte auch mich besiegt. Er hatte die Fähigkeit, jede Gestalt anzunehmen.

Nach kaum fünf Minuten wurde Munk auf einer Bahre blutüberströmt hereingetragen.

Der Chinese hatte ihm beide Augen aus dem Kopf geschlagen.

Es gab keine europäische Welt-anschauung mehr.

Ich hörte noch den Manager kreischen:

„Gott sei Dank haben wir in Berlin ein Institut für künstliche Menschenaugen. Berlin in Deutschland, Deutschland in Europa, Europa in der Welt voran.“

Ich trat an die Bahre:

„Erkennst du mich, Munk?“

Christian streichelte ihn mit wirren Händen.
Ich bekam keine Antwort.

Ich schlich heimlich und unauffällig, wie ich gekommen war, aus dem Haus.

Das Armband

Nach acht Tagen verließ ich das Mädchen.

Sie gab mir die Hand, sah mir noch einmal in die Augen und küsste mich sanft auf den Mund.
Ich ging durch die Straßen und wiederum wusste ich nicht, wohin mein Weg mich führen würde. Ich war von oben bis unten verlaust. Aber ich hatte zu den Läusen schon jenes kameradschaftliche Verhältnis der Armen und Elenden gewonnen, denen Wanze, Laus und Ratte bessere Geschwister sind als die Menschen.

Ich irrte durch die Straßen. Ein Junge flüsterte mir ins Ohr: „Wollen Sie Ihr Glück machen?“ Ich nickte. Er zog schmutzige Zettel aus der Tasche, auf denen mit Bleistift Nummern gekritzelt waren. Er sprach: „Das Los kostet fünf Mark. Vater hat die Lotterie. Da im Haustor. Hauptgewinn fünfzig Mark. Nehmen Sie ein Los“« Ich hatte kein Geld, mein Glück zu machen.

Ich strandete vor der Auslage einer Buchhandlung und sah, ob Bücher von mir ausgestellt seien. Ich las: „Richtig Deutsch für Militäranwärter“, „Das deutsche Gaunertum in seiner sozialpolitischen, literarischen, linguistischen Ausbildung“, „Rotwelsch für Anfänger“. „Der neue Pitaval“ war aufgeschlagen. Ich las die Kapitelüberschrift: „Das Geständnis.“ Es war mein Geständnis. Es war schon gedruckt.

An hellerleuchteten Schaufenstern blieb ich stehen und betrachtete interessiert die Auslagen der Ledergeschäfte und Juweliere.

Ich bewunderte einen Koffer. Echt Vulkanfibre.

Wenn ich verreiste? Ein Knotenstock in einer Stock- und Schirmauslage brachte mich auf den Gedanken der Wanderschaft.

Wenn ich auf die Wanderschaft ginge?
Ich war zum Tippeln noch nicht zu alt.
Hunde bellten.

Ein Polizist blökte mich an:

„Bleiben Sie doch hier gefälligst nicht mitten auf dem Fahrdamm stehen.“

Im Schaufenster eines Juweliergeschäfts lenkte ein sonderbarer Schmuck meinen Blick auf sich.

„Achtung! Sensation! Gelegenheitskauf!
Armband aus echten Menschenaugen!“

Es peinigte mich die Zwangsvorstellung, den Preis dieses Armbandes zu erfahren.

Also war der Mann mit dem Karren es doch seinerzeit losgeworden. Verlumpt und verkommen wie ich war, betrat ich das elegante Geschäft.

Der Geschäftsführer machte Stielaugen.

Ich stotterte:

„Ich wüsste gern den Preis des Armbandes aus Menschenaugen in der Auslage.“

Der Geschäftsführer musterte mich von oben bis unten:
„Verlassen Sie gefälligst das Lokal.“

Im Hinausgehen hörte ich:

„Der Strolch baldowert eine Gelegenheit zum Einbruch aus.“
Ich blieb wieder vor dem Schaufenster stehen.

„Diese Augen da“, sann ich, „sind Marias, die dort Hyacinthes Augen.“

Andern Augen gab ich die Namen anderer Frauen, die ich geliebt hatte. Auch Munks Augen sah ich darunter. Nur ein paar Augen fehlten: Mariannens Augen.

Ich wusste, dass sie jetzt irgendwo durch Straßenstaub und Sternennebel nach mir Ausschau hielten, dass sie mich erwarteten in dumpfer seliger Ruhe und dass zwei Kinderaugen ihrem Blick ins Dunkel folgten.

Ich hörte eine Stimme neben mir:

„Das ist Unfug! Betrug! Die Augen im Armband sind keine echten, sondern künstliche Menschenaugen. Ich sehe das sofort. Ich bin Inhaber eines Instituts für künstliche Menschenaugen.“

Ich drehte mich um und bemerkte einen kleinen, dicken, behäbigen Herrn, der einen Nerzpelz trug.

„Entschuldigen Sie –„

Der Herr musterte mich streng und kritisch.

„Entschuldigen Sie“, fuhr ich fort, „ich habe so viel Elend und Not, Verbrechen und Wahnsinn auf dieser Erde mit angesehen, dass mich meine Augen schmerzen und ich sie mir oft aus dem Kopfe reißen möchte. Vielleicht sieht man durch Ihre künstlichen Augen dieses Leben rot und blau und gold und silbern wie auf den Ansichtskarten. Wollen Sie mir nicht ein paar künstliche Augen anfertigen, nach Maß?“

Der dicke Herr sah mich überrascht an.

„Lassen Sie sich erst mal desinfizieren, ehe Sie mit mir sprechen.“

Dieses Scherzwort hatte Heiterkeit und unterdrücktes Gelächter einiger Passanten, die stehengeblieben waren, zur Folge.

„Und dann zur Aufklärung: ein paar künstliche Menschenaugen nach Maß kosten fünftausend Mark. Die Hälfte der Summe ist bei Bestellung a conto zu zahlen. Es gibt allerlei unsichere Kantonisten …“

Er zwinkerte mit den Augen, was das umstehende Publikum wieder zu Kichern und Schmunzeln ermutigte.

Ich sah durch den dicken Mann hindurch, als wäre er Glas. Wie sonderbar, ich hatte völlig vergessen, dass man zum Leben ja Geld brauche. Der Begriff „Geld“ – ich hatte ihn vergessen.

Im Obdachlosenasyl

Todmüde vom Hin- und Herlaufen ohne Zweck und Ziel betrat ich spät abends das Obdachlosenasyl.

Als ich in den Baderaum sah, erwachte das Reinlichkeitsbedüfnis mit mehr als physischer Kraft in mir. Du musst wieder rein werden, dachte ich, ja, das musst du: ein sauberer, ein reiner, ein reinlicher Mensch.

Ich schloss mich der Kolonne an, die in den Baderaum strömte. Ich zog mich aus. Währenddessen wurden meine Kleider in einem riesigen, dampfenden Kessel entlaust.
Dann stand ich eine Viertelstunde unter der kalten Dusche. Ach, das tat wohl.

Am Eingang des Schlafsaales empfing ich einen Essnapf und eine dünne Decke. Es herrschte eine dicke, stickige Wärme: wie damals, als ich durch den wunderlichen Wald schritt. 0! wie lange war das her! So sehr ich mich auch anstrengte: ich konnte mich nicht mehr besinnen.

Ich lag an der Wand der Frauenstation.
Eine vernagelte Türe trennte sie von der Männerstation.
Klopfsignale von beiden Seiten.

„Kamerad“, sagte einer neben mir, der sein Hemd beim trüben Licht flickte, „wart‘ das Dunkel ab. Dann brechen wir die Tür ein. Liegen hübsche Weiber drüben.“

Jemand spielte Mundharmonika.
»Frühmorgens, wenn die Hähne kräh’n –«
Einige sangen mit.
Da klang Gesang aus der Frauenabteilung.
Die Mundharmonika verstummte.
Und klar und vernehmlich klang es durch die Wand:
Ich war’n junges Ding,
Man immer frisch und flink,
Da kam von Borsig einer,
Der hatte Zaster und Grips.
So hübsch wie er war keiner
Mit seinem roten Schlips.
Er kaufte mir ’nen neuen Hut
Wer weiß, wie Liebe tut.
Berlin, o wie süß
Ist dein Paradies.
Unsere Vaterstadt
Schneidige Mädchen hat.
Schwamm drüber. Tralala.
Ich immer mit’n mit.
Da ging der Kerl verschütt.
Als ich im achten schwanger,
Des Nachts bei Wind und Sturm,
Schleppt ich mich auf’n Anger,
Vergrub das arme Wurm.
Es schrie mein Herz, es brannte mein Blut,
Wer weiß, wie Liebe tut.
Berlin, o wie süß
Ist dein Paradies.
Unsere Vaterstadt
Schneidige Mädchen hat.
Schwamm drüber. Tralala.
Jetzt schieb ich auf’n Strich.
Ich hab‘ nen Ludewich.
In einem grünen Wagen
Des Nachts um halber zwee,
Da ha’m sie mich gefahren
In die Charité.
Verwest mein Herz, verfault mein Blut,
Wer weiß, wie Liebe tut.
Berlin, o wie süß
Ist dein Paradies.
Unsere Vaterstadt
Schneidige Mädchen hat.
Schwamm drüber. Tralala.
Krank bin ich allemal.
Es ist mir allens ejal.
Der Weinstock, der trägt Reben,
Und kommt ’n junger Mann,
Ich schenk ihm was für’s Leben,
Daß er an mich denken kann.
Quecksilber und Absud,
Wer weiß, wie Liebe tut.
Berlin, o wie süß
Ist dein Paradies.
Unsere Vaterstadt
Schneidige Mädchen hat.
Schwamm drüber. Tralala.
Es wurde dunkel und still, hüben und drüben.
Röcheln, Atmen, Husten, Schnarchen, Seufzen.

„Du“, jemand stieß mich im Dunkeln ungeschickt an. „Kamerad, hilf, wir brechen die Tür zur Frauenabteilung auf …“

Wir stemmten uns.

Einer kommandierte wie beim Pfählerammen oder Steinepflastern, aber ganz leise:

Eins – hupp – eins – hupp –

Die Tür gab nach.

Wie Wanzen liefen fünf, sechs Männer herüber und hatten bald ein Weib im Arm.

Ich kroch langsam und tastete mich an ein Frauenlager, gleich an der Wand, dem meinen gegenüber.

Und wie ich mein Gesicht dicht über die ruhig und tief schlafende Frau beuge, die ein Kind im Arm hält, erkenne ich, dass Marianne es ist, die ich mit meinem Herzen als Kompass und mit meiner Sehnsucht gesucht habe alle die Tage: Marianne, mein Mädchen, und unser Kind.

Und schweigend halte ich wie der Cherub Wache an ihrem Lager.

Der Weg ins Freie

Am nächsten Morgen erwartete ich Marianne am Ausgang der weiblichen Abteilung.

Sperlinge und Kinder schrien und tanzten in der Sonne, es war über Nacht Frühling geworden, irgendwo – Wunder der Großstadt – schlug eine Nachtigall.

Marianne ging neben mir, hüpfend, sie zählte die Straßensteine ab und spielte das uralte Spiel Himmel und Hölle im Schreiten.

Ich trug das Kind auf dem Arm, das mit beiden Händen in die Sonne griff.
Ich würde und wollte Arbeit finden, ganz gewiss. Mit dem Leben musste Ernst gemacht werden. Ach, jetzt begann es ja erst: in den Augen dieses schönen Mädchens, dieses heitern Kindes; noch nie war dieses Leben, Rausch der Liebe, Fanfare der Pflicht, Himmel über tausend Höllen, gelebt. Mit diesem Frühlingstag heute würde es beginnen. Eine neue Weltepoche würde ab heute datieren. Das erste Jahr begann. Meine Lunge dehnte sich:

Freiheit! Nicht mehr zurückblicken! Die Ketten waren gesprengt. Noch strahlte die Sonne, noch atmete meine Lunge, noch schlug mein Herz: wie eine Nachtigall.

Um für heute Geld zu haben, etablierte ich mich als wilder Kofferträger am Anhalter Bahnhof. Ich verdiente fünfzig Mark.

Als wir am Abend in einer kleinen Wirtschaft gegessen hatten, auf dem Weg zu einer billigen Unterkunft im Norden waren und die Brücke am Reichtagsufer überquerten, lag dort unter der Laterne ein Mann.

Ich dachte zuerst, er sei besoffen.

Ich gab das Kind Marianne, trat näher und fuhr zurück.

Ich glaubte, wie in einem Spiegel mein eigenes Gesicht gesehen zu haben.

Der Mann, der da lag, war tot. Und der Tote hatte eine wunderliche Ähnlichkeit mit mir.

Da durchzuckte mich blitzschnell eine wilde Freude, ein mystischer Plan.

Der Tote war elegant und konnte für mich in meinen früheren abgelebten Zeiten wohl gelten. Ich fasste in seine Brusttasche, öffnete die Brieftasche: sie enthielt einen Pass, lautend auf Andreas Z….., geboren 1891, berufslos. Ich nahm den Pass an mich und steckte meinen Heimatschein, der mich bisher legitimiert hatte, dem Toten in seine Tasche.

So hieß ich denn von jetzt ab Andreas Z….. und war mein erstes Ich gestorben und begann mein zweites, anderes Ich.

Das Kind auf dem linken Arm, den rechten um Mariannes Schultern gelegt, über die die langen blonden Zöpfe niederrollten, dass sie aussah wie ein Schulmädchen, ging ich am nächsten Morgen zum Schlesischen Bahnhof, in das erste Frührot eines lauen Frühlingstages hinein.

Aus der Asche des Yenkadi stieg ich phönixhaft zu neuem Flug.

Die Morgenblätter brachten die Nachricht, dass der Doktor X….., der kürzlich einen schweren Blutsturz erlitten, weiteren Kreisen als origineller Coupletdichter sowie auch von seinen Gastspielen auf dem Podium her bekannt, in der vergangenen Nacht auf der Brücke am Reichtagsufer tot aufgefunden worden sei.

Da der Verstorbene nicht beraubt und kein Anzeichen eines gewaltsamen Todes festgestellt wurde, müsse man einen Schlaganfall vermuten. Mit lebhaftem Bedauern nehme die Presse von seinem unerwarteten Hinscheiden Kenntnis.

Ich trage mein Schicksal nicht auf den Händen vor mir her. Diese Augen brennen nach innen, und dieses Herz schlägt unter der Haut. Weil diese Stirn so glatt: ist das Hirn innen umso verrunzelter, und dieses klare Auge ist mit dunklen Schmerzen erkauft. Viel Tränen, die kein Mensch erblickte, haben es so klar gewaschen. Wenn man aufmerksam zusähe, würde man unter meinen blonden Haaren einige weiße finden. Die Spuren meiner Gefängnis-, Kranken- und Irrenhauszeit sind verwischt und verweht im Sande wie Fuchsschritte im märkischen Kiefernwald.

Wind und Wolke und Welt streiche ich mir von den Wimpern, wenn ich will. Wer kann mir in den Magen sehen, dass er Risse hat vom Hungern?

Ich stehe an der Schwelle des dreißigsten Jahres, und sehe und höre ich zurück, so braust und rast ein brauner Strom mit weißen Gischtkämmen: wie Inn oder Bober im Hochwasser. Und sehe ich nach innen: so ist’s der gleiche Strom, nur von fremden Lichtern bestrahlt, die von weither fliegen wie exotische Glühkäfer. Und lausche ich nach vorn: es ist das gleiche Rauschen. Aber ich schreite über den Wassern wie einst Christus auf dem See Genezareth. Ich tanze, ich hüpfe, ich springe und ich schreite. Ich falle ins Knie, aber ich springe wieder auf die Füße: und schreite. Und unten saust der Strom, über den ich Charon die Seelen von Maria und Marianne zutreiben sollte. Ich höre Charon staken und fluchen. Sein Boot ist leer.

Der Strom trägt mich wie ein trottoir roulant.