Der Dichter! – Der Apotheker?

Die Chronisten geben unterschiedliche Daten an, wann Klabunds Lungenkrankheit tatsächlich festgestellt wurde und die Angaben schwanken zwischen 1906 und 1912. Matthias Wegner schreibt in seinem Buch „Klabund und Carola Neher“:

„… Beiläufig bemerkt er in einem Brief vom 23.März 1912, dass er nun endlich um die genaueren Ursachen seines ständigen Hustens weiß: „geschlossene Tuberkulose heißt der fachmännische Ausdruck“. Man darf an­nehmen, dass Vater und Sohn genau erkannt haben, was diese Diagnose mit all ihren Konsequenzen bedeutet. Aber Henschkes Briefe lassen keinen Zweifel daran, dass er die schreckliche Wahrheit nicht zu akzeptieren bereit ist.“

Und Matthias Wegner liefert die Begründung, warum diese Krankheit damals unheilbar war:

„… Was es noch bis in die Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg bedeutete, an Tuberkulose zu erkranken, vermögen wir uns heute nur noch schwer vorzustellen. Noch bis zur Mitte un­seres Jahrhunderts kam die Tuberkulose-Diagnose beinahe einem Todesurteil gleich. Man kannte in der ersten Jahrhunderthälfte nur zwei Wege, die Krankheit zu bekämp­fen, und beide waren nur selten erfolgreich. Zum einen versuchte man, durch lange Klimakuren in waldreichen Höhenlagen, durch eine „gesunde Ernährung“ und die Ver­meidung von Anstrengungen die Abwehrkräfte des Patien­ten zu mobilisieren. Zum anderen bemühten sich die Arzte seit den Forschungen des Berliner Arztes Ferdinand Sauer­bruch, die Tuberkulose chirurgisch zu besiegen: durch eine Rippenresektion. Vermittels des „Pneumothorax“, dessen geräuschvolles Wirken Thomas Mann in seinem „Zauberberg“ so spöttisch beschrieben hat, wurde ein Teil der Lunge stillgelegt. Für Alfred Henschke kam diese zweite Behandlungsmethode bereits nicht mehr in Frage, weil ver­mutlich schon bei jener ersten heftigen Erkrankung nach dem Bad im Crossener Weiher beide Lungenseiten befallen wurden. Heute lässt sich die Tuberkulose mit Chemotherapeutika und Antibiotika so nachhaltig bekämpfen, dass ihre Bedrohung weitgehend gewichen ist. Zwar wurde bei Henschke „nur“ eine geschlossene Tuberkulose diagnosti­ziert, und diese gilt als nicht ansteckend. Aber von nun an sind alle Träume von einem kraftvollen, gesunden Leben nach den Idealen eines Frank Wedekind ausgeträumt. Al­fred Henschke wird für den Rest seines kurzen Lebens ein Kranker und ein Leidender sein, der jeden Tag mit einer dramatischen Verschlechterung seines Zustandes rechnen muss. In seiner Lebensführung und auch bei der Ausübung seiner schriftstellerischen Arbeit muss er sich äußerster Schonung unterwerfen. Alles andere fällt ihm leichter als das.“

Oder anders ausgedrückt, Fredi wird sich nicht daran hindern lassen, das zu tun, was er will, oder was seinen Vorstellungen entspricht, auf kleinen „Umwegen“ allerdings, denn er beugt sich dem Willen des Vaters und studiert in München zunächst Chemie und Pharmazie.

Studium

Großvater Apotheker, Vater Apotheker, was wird der Enkel und Sohn? Apotheker! Es klingt doch gut: „In dritter Generation“. Fredi aber hat andere Pläne. „Er wollte ja ausziehen, das Dichten zu lernen! So entschloss er sich zum Studium der Fächer Germanistik und Theaterwissenschaft. Sicherlich fiel es dem fantasievollen, etwas schüchternen Jungen nicht leicht, sich gegen den Willen seines despotischen Vaters durchzusetzen, aber seine Liebe zur Literatur muss ihm doch genug Kraft gegeben haben, sich gegen die Einkehr in eine gutbürgerliche Existenz zu wehren. Das Geschäft übernahm später sein Bruder Hans, und Alfred sah die Bahn frei, auf der er künftig wandern wollte“, schreibt Kurt Wafner.

Ludwig-Maxi­milians-Universität München, Wintersemester 1909, Dietrich Nummert schreibt in „Kunterbuntergang“ eines Dichters:

„…      Für das Wintersemester 1909 schrieb er sich in die Matrikel der Ludwig-Maximilians-Universität München ein. Der Wunsch des Vaters war, er möge Chemie und Pharmazie belegen. Arzneimittelkunde und Apothekenkunst aber waren so wenig seine Sache wie die Wissenschaft von den Stoffen und stofflichen Umformungen. Zwar besuchte er anfangs Vorlesungen über anorganische Experimentalchemie, die überwiegende Zeit jedoch widmete er anderen, sehr unterschiedlichen Themen: Grundlehren der Astronomie, Geschichte der Malerei, Heidnische Mysterien und junges Christentum, Sozialhygiene, Englische Verfassungsgeschichte, Geschichte der Malerei, Deutsche Romantik, Probleme neuer Literaturwissenschaft – Germanistik wird sein Hauptfach.“

 „Weit vor allen ehrwürdigen Professoren, deren langatmige Vorlesungen den Neuankömmling bald langweilen, zieht ihn ein junger Gelehrter in seinen Bann. Der zwölf Jahre ältere Arthur Kut­scher ist ein Jahr zuvor als Privatdozent für neuere deutsche Literatur aus Hannover nach München gekommen“, lese ich. Fredi ist also ein „Kutscherschüler der ersten Stunde“.

Alfred Henschke wohnt in einem kleinen Zimmer in Schwabing und „sein Vater hofft noch, dass diese Entscheidung der Vorbereitung auf den rechtschaffenen Beruf eines Lehrers dienen möge. Alfred Henschke weiß aber, dass es für ihn nur ein einziges Ziel ge­ben kann: den „Berufsschriftsteller“. Er verschweigt seinen El­tern diese Gewissheit wohlweislich, denn besonders der für­sorglichen, aber ängstlichen Mutter erscheint seine Fixierung auf die Literatur höchst bedenklich“. (Matthias Wegner)

Ein Dreivierteljahr München 1909, Fredi wechselt nach Berlin. Er möchte die Stadt kennen lernen und wieder näher an Crossen sein, seinem Elternhaus und den Freunden. Aber ihn zieht es weniger in die Hörsäle, als in die Nähe der „Künstlerwelt“, Tanzsäle, Kneipen, Varietés und Kabaretts.

Erstmals in Berlin und dorthin geht er zum Wintersemester 1910/11 und zum Som­mersemester 1911. Fredi haust in Berlin in der völlig prole­tarischen Gegend zwischen Ackerstraße und Frankfurter Allee in dürftigen Buden. Vorlesungen und Seminare besucht er nicht allzu eifrig. Lieber schläft er lange aus und isst dann zu Mittag in der Friedrichstraße in „Kortwichs Weißbierstuben“.

Bereits im Herbst 1911 ist Alfred Henschke wieder in Mün­chen, wo er sich erneut in den Kreis um Arthur Kutscher einreiht. „Ich atme auf – von Berlin“, schreibt er an Heinrich, „Sie schimpfen so auf München, damit meinen Sie das Biervolk – aber das andere, die Straßen, den Englischen Garten, die Menschen, sind sie nicht liebenswürdiger als in Berlin?“

Er lässt sich für mehrere Studienhalbjahre beurlauben und soll in dieser Zeit an der altehrwürdigen Lausanner Universität studiert haben. Im Wintersemester 1915/16 aber ist er wieder in München und einige Biographen meinen, er habe die Würde eines Doktors der Naturwissenschaften erlangt, dafür aber finden sich keine Belege. Und dieser „Dr.“ geistert bis heute durch die Literaturgeschichte. Wahrscheinlicher ist, dass er die Münchner Universität 1916 ohne akademischen Abschluss verlassen hat.

Diese Legende vom „Dr.“ hat einen Urheber: Otto Zarek, er wird sie 1924 im Vorwort zur „Bracke“ -Ausgabe der Deutschen Buchgemeinschaft in die Welt setzen. Dort heißt es, „es sei kein Zufall, dass „dieser innige Belauscher der Natur eigentlich so „nebenbei“ (…) mit einer naturwissenschaftlichen Arbeit doktorierte… einer Arbeit über die Gottesanbeterin, diese seltsame Heuschreckenart, die er im Tessin mit den Augen des Forschers und mit der Seele des Kindes beobachtete.“

Er kann sich auf den „Insektenfreund“ Alfred Hensche berufen, der schrieb einmal In einer Ferienreise-Bücherbesprechung:

„Besäße ich des Rösel vom Rosenhof unsagbar schönes Insektenbuch: so schön wie das des japanischen Meisters Utamaro, es wäre mir gerade recht, diesen Platz zwischen zwei Paar Stie­feln auf das Würdigste auszufüllen. Aber der glückliche Besitzer dieses alten Wunderbuches, eines der erstaunlichsten Dokumente der Wissenschaft, der Maler Alfred Kubin, will mir’s nicht leihen, was ich verständlich finde: ich tät’s auch nicht: und da mir seine Mappe „Wilde Tiere“, die ich am meisten von sei­nen Werken liebe, zu lang ist, nehme ich eine Auswahl aus des ehrwürdigen Holländers Jan Swammerdamm Bibel der Na­tur, erschienen in der sehr instruktiven Voigtländerschen Quellenbücherei. (…) Von sogenannten Tieren interessieren mich ausschließlich die Insekten!“

Etwas boshaft, auf jeden Fall aber genüsslich zerpflückt Guido von Kaulla diese Legende:

„… Zarek tischt am 15. 8. 28 im Nachruf noch folgendes auf: der Dichter habe den Erwerb des Dr.-Titels sogar vor seinen nächsten Freunden „keusch ver­hüllt“. Die Nachprüfung auch dieser zwar journalistisch sicher hingesetzten, aber von vorneherein unglaubwürdigen Behaup­tung ergab, dass Alfred Henschke bei keiner deutschsprachigen und auch bei keiner italienischen Universität promoviert hat.“

Lausanne 

März 1912, Fredis Gesundheitszustand verschlechtert sich, die Symptome kennt er zur Genüge: starker Hustenreiz, Schmerzen auf der Brust, abendlicher Temperaturanstieg, dann Nacht­schweiß. Und immer wieder die Notwendigkeit, sich niederle­gen zu müssen.

Zusammen mit seinem Vater beschließt er, nach Gardone Riviera zu fahren. Die Gemeinde liegt am Westufer des Gardasees.

Eine ärztliche Untersuchung bestätigt die Diagnose: Tuberkulose in einem fort geschrittenen Stadium, d.h., sie  hat schon beide Lungenseiten befallen. Fredi macht etwa zwei Monate lang in Gardone eine Liegekur.

Guido von Kaulla schreibt:

„… Das blasse Aussehen des Tuberkulösen weicht einer trüge­rischen Bräune. Der Erkrankungsprozess scheint aufgehalten: in Wirklichkeit wird er nur verlangsamt. Merkwürdigerweise unterschätzt Dr. Henschke die Gefahr und betreibt nicht ener­gisch eine gründliche Kur – durch einen Jahresaufenthalt seines Sohnes entweder in einem Hochgebirgssanatorium oder im Klima Ägyptens – die lukrative Crossener Apotheke hätte das finanziell bestimmt ermöglicht. Mag sein, dass dem Vater für ein schnelles Handeln sein Denken in traditionellen Begriffen im Wege stand: die Vorstellung, dass ein Studium zum Abschluss gebracht werden müsse. Sein bürgerliches Leben in seiner üblichen Sicherheit lässt nicht den Gedanken aufkommen, dass das Leben seines Sohnes nicht bürgerlich normal verlaufen könnte. Der Sohn selbst? Ihm ist die Triebfeder seines Tuns das Wunschdenken: es möge mit Behelfen noch zu helfen sein. Und wohl auch der törichte Stolz, über den Monatswechsel hinaus möglichst kein Geld von der amusischen Familie anzu­nehmen. Der Arzt – über die Konsultation hinaus nicht inter­essiert – rät von einem Münchener Sommer ab.“

Der Kompromiss heißt Universität Lausanne und dort verbringt er das Sommersemester 1912 an einer Universität französischer Sprache. „was auch meiner Gesundheit, um die es nicht zum Besten bestellt ist, gut tun wird“ und um „Französisch zu lernen“, wie er dem Berliner Verleger Fritz Heyder am 7. April des Jahres schrieb, dem er sich nach einigen vergeblichen Versuchen erfolgreich als Autor anbot. „Auch dieser Aufenthalt sollte weitreichende Folgen für das literarische Werk haben. Zwar hatte Klabund schon 1909 in München eine Ausstellung „Japan und Ostasien in der Kunst“ gesehen und „gleichzeitig ein Büchlein über Die japanische Lyrik gelesen“. In französischen Übersetzungen machte der Dichter jedoch später genauere Bekanntschaft mit fernöstlicher Poesie und Philosophie. Seine freien Nach­dichtungen sollten zu einem Markenzeichen seiner wachsenden Popularität werden, schreibt Matthias Wegner.

„Hier entstehen französische Verse: als die lyrischen Porträts „Le baladin“ und „Mignon“ zusammengefasst und vergeblich Ver­lagen angeboten.“ (G.v.K.).

Übrigens, bei der Ruhrbesetzung des Rheinlandes 1923 schreibt Fredi ein „französisches Soldatenlied von der Ruhr“.

Seine Eltern glauben nach wie vor, er studiere, um Lehrer oder Bibliothekar zu werden, Fredi verheimlicht ihnen aber immer noch sein wahres Ziel. Deren Drängen, doch zu promovieren, lässt den Sohn eine Doktorarbeit über den revolutionären Dramati­ker Georg Büchner planen. Die Betonung liegt allerdings auf nur planen!

Noch einmal München und als „cand. phil.“ lernt er unter den Kutscherschülern Carl Christian Decke kennen. „Bry“ ist dessen Schriftsteller-Pseudonym. Dazu kommen noch Richard Huelsenbeck und Otto Zarek und wenigstens zeitweise komplettiert Johannes R. Becher (später einmal „Minister für Kul­tur“ in der „Deutschen Demokratischen Republik“) die Runde. Nicht zu vergessen, der spätere Präsident der „Reichsschrifttumskammer“ von 1935-1945 im „Dritten Reich“ Hanns Johst.

Guido von Kaulla schreibt über die beiden:

„… Henschke und Johst genießen die Ehre, auch einmal im Rahmen der von Kutscher eingeführten „Autoren-Abende“ eigene Verse vorlegen zu dürfen. Kutscher beschäftigt sich mit Fredis Zusammenstellung von 40 Gedichten – „Der Brunnen“. Er bejaht die meisten rückhaltlos und bestätigt diesen unge­heure Verlebendigung. Mit Bestimmtheit versichert er, dass er fest an Alfred Henschke glaube und ergänzt damit das Urteil von Unus, der Henschke bereits kollegial als einen Berufsschriftsteller ernstgenommen und anerkannt hat.“

Seine Verbundenheit mit der „Vaterstadt“ hat Klabund oft genug betont und so ist es sicher kein Zufall, dass zu seinen ersten Veröffentlichungen Beiträge für den „Crossener Kreiskalender“ gehören. Und sicher will er auch Bedenken im Elternhaus abbauen gegen die „Karriere“ als Autor und Dichter. Zu einem Jubiläum der Völkerschlacht bei Leipzig erscheint ein Beitrag, ferner eine Ballade „König Jerome und der Crossener Wein“ und ein 88zeiliges Poem „1813“. Dem Richard Zeidler Verlag – Herausgeber des Blattes – bietet er Alt-Crossener Geschichten“ an und diese werden Weihnachten 1912 veröffentlicht.

Im Nachwort von „Celestina“ – herausgegeben im Verlag Faber & Faber – heißt es:

„… Ein Verlagsprospekt vom September 1912 kündigte das Erscheinen des Buches für Weihnachten des Jahres an, wenn genügend Subskribenten zusammenkommen sollten. Das offensichtlich von Henschke verfasste Schreiben löste in der Familie eine lebhafte Diskussion aus. Der Vater, Apotheker und angesehener Bürger der Stadt, sah es nicht gern, dass sein Sohn unter seinem Familiennamen eine solche „literarische Wegelagerei“ betrieb. Der Sohn erinnerte ihn wiederum daran, dass er ebenfalls „Re­klame betreffs selbstfabriziertem Mund- und Selterwasser“ in die Crossener Haushalte schicke.“

Und die Wirkung in der Stadt beschreibt die gleiche Quelle:

„Die Wirkung von Celestina hat die lokalen Grenzen wohl nicht überschritten. Immerhin löste das Buch in der Heimatstadt man­che Irritation aus, konnten doch die Zeitgenossen einige im histo­rischen Gewände auftretende Protagonisten identifizieren. Mehr vorahnend, als schon wissend, hatte Henschke dazu eine Glosse in der „Frankfurter Oder Zeitung“ (30. 12.1912) veröffentlicht. Darin bittet die Tochter eines Crossener Postboten den Dichter, nicht in eine seiner Novellen gezogen zu werden: „Ich wirde die Schande nicht außhalten und in die Oder gehen …“

Seinem Freund Heinrich schrieb er in dessen Exemplar: „Es ist natürlich alles Schwindel, Scherz und Satire“. Und dieser parodistische Ton, dessen er sich in der Ortschronik bedient, lässt mich vermuten, dass wenigstens bei einem großen Teil der „Geschichten“ nicht der Crossener Gelehrte der Barockzeit Johann Joachim Möller Pater stand, sondern eben ein Autor, der sich kurze Zeit später Klabund nannte. Außerdem arbeitete Fredi laut seinem Bio­graphen Guido von Kaulla, seit 1909 an diesen Geschichten und er verwendete sie in späteren Gedichten und Erzählungen.

Guido von Kaulla schreibt übrigens:

„… Und dieser Brief (vom 30.12.1912 an Heinrich) wirft auch ein Licht auf seine eulenspiegelhafte Art, mit den Crossenern umzugehen: „Mein Vater schrieb mir, dass ich mich in Crossen schon wieder einmal missliebig gemacht hätte. In der „Frankfurter Oderzeitung“ ist nämlich eine kleine Geschichte erschienen. Und die Fr-O-Z wird in Crossen sehr viel gele­sen. Und in dieser Geschichte haben sich verschiedene Crossener ge­troffen gefühlt: voran ein Gymnasial-Professor und eine Briefbotentochter …“

Fredi, oft genug ein „Lästermaul“? „Der brave, schüchterne Apothekersohn zeigte sich auch von der anderen Seite. So schrieb er einmal, die Crossener hätten neben den braven Normalbürgern auch „einen rechten Unruhestifter in die Welt geschickt.“ Unruhe verbreitete er in der Tat unter seinen ehemaligen Heimatgefährten. Sein Hang, Leute, die ihm nicht passten oder mit denen er gar zu gern einmal ein Hühnchen gerupft hätte, lächerlich zu machen, paarte sich mit dem Verlangen, Schriftsteller zu werden“, so Guido von Kaulla.

Aber Alfred Henschke ist ein fleißiger „Schreiber“, bis Ende 1909 hat er neben diesem eher bescheidenen Anfangserfolg schon Hunderte von Gedichten, Erzählungen, Dramenentwürfen vorzuweisen. Er selbst beschreibt es so:

„… Oft hat mir der Wind die Blätter verweht, auf denen ich schrieb. Ich habe bei meinen vielen Wanderschaften zwei ganze Dramenmanuskripte verloren. Wer sie gefunden hat, soll sie behalten, ob er nun sein Zimmer damit tapeziert oder ob er sie seiner Frau nach dem Nachtmahl vorliest.“

In Crossen lernt er den achtzehn Jahre älteren Gelegenheitsschriftsteller und Bankbeamten Walter Heinrich – der sich als Autor „Unus“ nennt – kennen. Und mit ihm führt er ab 1910 einen regen Briefwechsel. Der Crossener Kaufmann Max Doering verwies Alfred Henschke an seinen Vetter, eben Walter Heinrich, wusste er doch von Fredis künstlerischen Neigungen und Versuchen. Auf diese Weise begann eine Bekanntschaft und Freundschaft, die bis zum Tode Klabunds im Jahre 1928 andauerte.

Leider sind bis auf wenige Ausnahmen die Briefe Heinrichs verschollen, aber Fredis Briefe an ihn sind eine wahre Fundgrube, die nicht nur seine Entwicklung zeigen, sondern auch eine Menge Einblicke in sein Leben geben. “Unus“ war nicht nur in künstlerischer Hinsicht ein geduldiger und wichtiger Ratgeber, er half ihm auch mit manchem guten Ratschlag in den Weimarer Jahren in Bezug auf seine Finanzen und er war oft genug „Kummerkasten“.

„Gestatten Sie, dass ich mit der Tür in’s Haus falle“, schreibt Klabund 1912 an Heinrich „Erstens: ich halte mich für einen Dichter. Sie werden sagen, das tun andere auch. Zweitens: vielleicht bin ich auch einer. Sie werden sagen, wenn Sie das nicht einmal selbst wissen! Worauf ich eine ebenso wohlfeile wie wehr­lose Phrase bei den Haaren herbeiziehe: Der Zweifel ist des Glaubens liebstes Kind.“

Und weiter „Um Ihnen ein wenig zu imponieren, folgt jetzt eine Reihe von Zahlen und Titeln. Ich habe 597 Gedichte, 29 Novellen, 13 Einakter, 1 Roman, eine Aphorismensammlung, dazu Fragmente und Materialsammlun­gen zu Dramen und Romanen größten Stils (Don Juan, Nau-sikaa, Adam und Eva usw.) Essays usw. geschrieben.“ Einschränkend schreibt er, er könne „Dinge, die mir im Grunde wirklich zart erscheinen, manchmal nur durch Plumpheiten ausdrücken … Ich bitte Sie um Rat, weil ich wirklich sonst niemand um Rat zu fragen hätte und ich nicht ewig alles in mich hineinfressen möchte.“

Klabund gewinnt in einrich Heinrich Heinrich einen sachkundigen Gesprächspartner und  besonnenen Ratgeber. „Ob ich nun“, schreibt er ihm einmal, „ein schlechter oder guter „Dichter“ bin, jedenfalls sind mir die Organe zu einer anderen Lebensart verkümmert.“  Und er bit­tet Heinrich um die Vermittlung zum „Simplicissimus“ dem satirischen Wochen­blatt, es sei „beinahe der einzige Weg für mich, in die Literatur zu gelangen“.

Ab dem Frühjahr 1911 gelingt es ihm, sich mit lite­rarischen Veröffentlichungen bei sehr angesehenen Zeit­schriften durchzusetzen. Auch in der Zeitschrift „Pan“, die der weithin bekannte Berliner Theaterkritiker und Lyriker Alfred Kerr herausgibt.

Kurt Wafner schreibt über die wohl „bahnbrechende“ Veröffentlichung:

„… Als sich der Dichter einen Gerichtsprozess auf den Hals lud. Im Winter 1912 hatte er, angestachelt von seinem Vor­bild Villon, an den Theaterkritiker Alfred Kerr ein paar Verse gesandt, die dieser in seiner Zeitschrift „Pan“ veröffentlichte. Diese Gedichte, in der derb-frechen Manier Villons verfasst, erregten Aufsehen in der Öffentlichkeit. Die kaiserliche Zensur sah einen Grund, Anklage zu erheben wegen „Verbreitung unzüchtiger Schriften.“ Zu Gutachtern zugelassen wurden Frank Wedekind, Max Halbe, Erich Mühsam und Richard Dehmel. Sie wetterten gegen die Anklage, die sich auch auf Alfred Kerr erstreckte, aber schließlich verdonnerte die Justiz den Dichter zu 50 RM. Ein Jahr später wurde das Urteil aufgehoben.“

Die Gedichte im Wortlaut:

Es hat ein Gott…

Es hat ein Gott mich ausgekotzt,
Nun lieg ich da, ein Haufen Dreck,
Und komm‘ und komme nicht vom Fleck.

Doch hat er es noch gut gemeint,
Er warf mich auf ein Wiesenland,
Mit Blumen selig bunt bespannt.

Ich bin ja noch so tatenjung.
Ihr Blumen sagt, ach, liebt ihr mich?
Gedeiht ihr nicht so reich durch mich?
Ich bin der Dung! Ich bin der Dung!

Sie hat an ihrem Liebesmunde …

Sie hat an ihrem Liebesmunde
(Verflucht ja!) eine offne Wunde. Zu Ende ist mit meiner Ruh‘ es.
Ist das nun Lues?
Sie sieht entsetzt mich zögernd zweifeln,
Wünscht das Geschwür zu allen Teufeln,
„Ich hab mich heute früh gerissen.“ (Wer kann es wissen?)
„Ich schwör’s!“ Sie hebt die beiden Hände.
Daß Amor alles glücklich wende!
Sie ist so hübsch. Man ist gefangen.
Es hat noch einmal gut gegangen.

Betrachtung

Wie schön, nach einer Liebeserfüllung im Bett (wenn man
eins hat) allein zu liegen,
Und müde zu träumen und zu denken, sie wird vielleicht
Kinder kriegen.
Aber ich? Was kann denn mir passieren?
Ich werde höchstens morgen oder übermorgen eine andre
verführen.
Condoms? Sie mangeln mir. Alimente?
Wer aus mir einen roten Heller herausholen könnte!!
Es gibt ein Mädchen, das heißt Grete. Ich soll sie heiraten. Aber da werden sie verdammt vorbeiraten.
Und ob die ganze Welt sich nur aus (unehelichen) Kindern
– vier hab ich schon – von mir zusammenrotte:
Ich liebe sie alle, alle. Der Reihe nach. Augenblicklich
Constanza (Gouvernante), Emma (Büglerin) und eine
verheiratete Spenglermeistersgattin: Charlotte.

Kurt Wafner weiter:

„… Der Prozess zog sich in die Länge – vom September 1913 bis Januar 1915. Am 20. September 1913 schrieb Klabund an Heinrich: „… Am 23. ist nun der Prozess. Ich empfinde einige Beklemmung nicht über den Ausgang, der ist mir gleichgültig, aber ich weiß nicht wie mein Verteidiger seine Sache machen wird … Immerhin ist das Urteil Wedekinds über die zwei inkriminierten Gedichte sehenswert. Mir sind beim Lesen die Tränen herunter gelaufen vor Lachen (das war aber kein Lachen von oben herab, sondern aus der Sache heraus; ich bin Wedekind ja sicher sehr verwandt. Er ist übrigens einer der wenigen Menschen, die ich lieb habe). In dem einen Gedicht ,Wie schön, nach einer Liebeserfüllung im Bett allein zu sein‘ nennt er die Stimmung ,shakespearesch‘ und die Form ,meisterhaft‘. In dem andern Gedicht ,Zu Ende ist mit meiner Ruh‘ es. Ist das nun Lues?‘ vergleicht er Kla­bund mit Goethe und Wilhelm Busch (in einem Atemzug!).“

Das , Berliner Tageblatt‘ berichtete über die Verhandlung vor der 2. Strafkammer des Landgerichts III u. a.: „… Nach der Vernehmung der Angeklagten gab Richard Dehmel sein ausführliches Gutachten, in dem er zu dem Schluss kam, dass die Gedichte von künstlerischem Wert seien und nicht das Scham- und Sittlichkeitsgefühl verletzten.“

Das Reichsgericht legte Berufung ein und kam zu dem Schluss: „… Da die Strafkammer übersehen hat, dass Kerr dem Gesetz zuwider diesen Prüfungsgrundsatz verletzt und daher mindestens mit Eventualdolus gehandelt hat, musste das erstinstanzlerische Urteil wegen Rechtsirrtum der Aufhebung in vollem Umfang unterliegen.“

Das Reichsgericht gab den Fall an das Landesgericht zurück, und das befand schließlich, dass „diese Gedichte auch auf den Leserkreis grob unzüchtig wirken mussten“.

Und Matthias Wegner schreibt zu den Folgen des Prozesses:

„… Alfred Kerr, der als Mitangeklagter vor Gericht steht, hat nun an dem jungen – im Prozess wegen eines erneuten Sanatoriumsaufenthaltes nicht anwesenden – Autor nur noch mehr Gefallen gefunden. „Junge Men­schen sind anständig, indem sie unanständig sind“, meint er souverän über den jungen Dichter. Er schiebt in seiner Zeit­schrift gleich weitere Gedichte nach, an umfangreichen Vorräten mangelt es diesem nicht.“

Nach dem Erscheinen der kleinen Auflage von Celestina, aber natürlich nach den drei Gedichten im „Pan“ hing der „Haussegen“ in Crossen und im Hause Henschke ziemlich schief.

Wie schon geschrieben, einige Crossener glaubten sich in Personen der „Alt Crossener Geschichten“ zu erkennen und Vater Henschke fürchtete um den guten Ruf seines Namens. Nach dem Vorbild seines Mentors Heinrich, der sich „Unus“ nannte, Fredi suchte ein Pseudonym. Mehrere sind es wenigstens anfangs geworden.

Erste Dichtungen unterschreibt er in der Zeitschrift Jugend mit „Jucundus Fröhlich“ – angenehm fröhlich. Dann fand er den Namen „Samy Klabund“ geeignet. Schließlich nannte er sich „kurz und rund: Klabund“. Viel ist in diese Namenswahl hineininterpretiert worden, sie setze sich aus Klabautermann und Vagabund zusammen, und Fredi gibt vor, ein vagabundierender Poet zu sein.

An der Legendenbildung um seinen Namen arbeitet er kräftig mit, je nach Laune fügt er eigene Interpretationen dazu: Klabund sei eine Übersetzung des Wortes Wandel, aber es gibt keine Sprache, in der Klabund für Wandel steht. Die Chronisten lasen einen Satz aus Klabunds Irene-Dichtung falsch. Dort schrieb er nach seinem Gesinnungswandel: „Mein Name Klabund. Das heißt Wandel.“ Gemeint war aber wesentlich später sein Wandel vom Krieger zum Kriegsgegner.

Die Wahrheit ist simpel, Fredi wählte den bürgerlichen Namen eines Freundes seines Vaters, des Dr. Klabund, Besitzer der Wilhelms-Apotheke in Frankfurt (Oder). Der Name Klabund geht auf einen in Nord – und Nordostdeutschland geläufigen Familiennamen zurück.

So jedenfalls hat es Klabund dem Kollegen Walther Harich erzählt, und falls der diese Begründung nicht erfunden hat … An anderer Stelle stiftete er mit seiner Erklärung, was er denn nun wirklich wäre ebenfalls reichlich Verwirrung, er meint: „Ich bin ein Preuße. Und meine Farben, die ihr kennt, sind schwarz und weiß. Schwarz, das ist die Nacht, und weiß, das ist der Tag. Ich bin Tag und Nacht.“ Die Übergänge an Farben im Laufe der Tages hat er übergangen, denn für die „erotischen Gedichte“ Carmencita, Marianka und Mady-Foxtrott wählte er vorsichtshalber den Namen Pol Patt. Ahnte er etwas oder war diese Findung ein Zufall? Ich wenigstens hätte beinahe Pol Pott geschrieben.

Und eine weitere Erklärung ist zu finden, Fredi schreibt: „Den Namen Klabund schuf ich eines Tages in ernsthaft selbstparodischer Laune, gab ihm aber so viel von meinem Blute, dass er neben und über mir zu leben begann und ganz zum Spiegel meiner Kunst und Weltanschauung wurde… Klabund entstand aus Klabautermann – das ist jenes närrische Meergespenst, das den Schiffern in nebligen Näch­ten Unheil kündend erscheint – und aus Vagabund. Dieser Name deutet auf die vagabundenhaften Tage meiner ersten Studentenzeit…“

Weitere Gedichte folgten im März 1913 im „Pan, „Unartige Musenkinder“, frech und saftig und Kerr meinte, „die Stro­phen von Klabund haben so viel Widerspruch erweckt, dass abermals welche hier stehen sollen.“ Nach dem Gerichtsurteil wurde der Name Klabund erst recht bekannt. Und noch 1912 erscheint der erste Gedichtband: „Morgen­rot“, Klabund! Die Tage dämmern!* Sein .Karussell“ schloss sich an.

Sein erster Roman trägt den Titel „Der Rubin – Roman eines jungen Mannes“. Klabund hatte das Manuskript im Mai 1914 fertiggestellt und aus Arosa seinem Mentor Walther Heinrich nach Berlin zugesandt. Der Roman sollte im Verlag von Erich Reiß erscheinen; der Beginn des Ersten Weltkriegs sowie Auseinandersetzungen zwischen Autor und Verlag verhinderten das Erscheinen. Der Roman eines jungen Mannes erschien posthum im Jahr 1929 bei Phaidon in Wien.

Egal, was nun stimmt oder auch nicht an der Entstehung des Pseudonyms, „ein Vagabund sollte er werden, einem Vagabunden gleich wechselte er häufig seinen Wohnsitz „und war immer irgendwie unterwegs – zwischen Crossen, München, Berlin, Locarno, und wenn ihn seine Krankheit fast zu Boden warf, suchte er im Schweizer Kurort Davos Heilung für seine Lunge.“ (Kurt Wafner)

Man soll in keiner Stadt

Man soll in keiner Stadt länger bleiben als ein
halbes Jahr.
Wenn man weiß, wie sie wurde und war,
Wenn man die Männer hat weinen sehen
Und die Frauen lachen,
Soll man von dannen gehen,
Neue Städte zu bewachen.

Lässt man Freunde und Geliebte zurück,
Wandert die Stadt mit einem als ein ewiges Glück.

Meine Lippen singen zuweilen
Lieder, die ich in ihr gelernt,
Meine Sohlen eilen
Unter einem Himmel, der auch sie besternt.

Außer dem Pseudonym Klabund publizierte Alfred Henschke unter Gerhart Berg, Bauz und Jakob Röder, eine große Rolle haben diese Namen nicht gespielt, wie sollten sie auch, Klabund war einfach zu dominant.

Nochmal zurück zur Wirkung der Gedichte im Elternhaus. In so tiefer Provinz wie Crossen hatten sie eine „verheerende“, oder vielleicht wurden sie von der Familie auch nur zu solcher gemacht.

Guido von Kaulla schreibt dazu:

„… In der öffentlichen Meinung einer Kleinstadt der Mark Brandenburg fällt nur ins Gewicht, was die weitverbreitete und den Sozialdemokraten feindliche „Berliner Tägl. Rundschau“ in einem Artikel „Klabund ist nicht Klabund?“ verkündete: dass sich unter diesem Decknamen ein „Männlein“ breitmache, das „zuweilen mit schwächlichem Talent, meist ohne“ sich und andere Nebensächlichkeiten bedichte. Dieser in Kerrs „Pan“ als Landstreicher sich Vorstellende sei identisch mit jenem Herrn, der unter dem Namen „Jukundus Fröhlich“ die Witz­blätter Deutschlands, darunter die Münchener „Jugend“ mit lyrischen Ergüssen erfreue.

Hinter auch diesem Pseudonym verstecke sich ein „Alfred Henschke. Morgenrot, Klabund! Die Tage dämmern!“ heiße wohl sein neuester Band-: „Der Titel dürfte passen, wenn sich die Nachricht bewahrheitet.“ Was kann es gegenüber solch vernichtender Glosse den El­tern nützen, dass Fredi sich auf seinen Crossener Lehrer Moses Calvary beruft? Dass Fredi, als Protestant in jedem Sinne, seinen Brief mit den Worten endet, mit denen einstmals Luther vor seinen Richtern seine Verteidigungsrede schloss? Das alles kann weder den Presse-Angriff wegzaubern, noch die peinliche Tatsache, dass Fredi als Angeklagter vor die 2. Strafkammer des königlich-preußischen Landgerichtes III in Berlin-Charlot­tenburg vorgeladen ist wegen „Verbreitung unzüchtiger Schrif­ten“. Nein — nach diesem Skandal können die Eltern nicht mehr annehmen, mit ihrem so begabten und anständigen Sohn in Crossen jemals Ehre einzulegen.“

Fredi versucht sich zu rechtfertigen und schreibt  in einem Brief an die Eltern:

„… Liebe Eltern,

die Notiz in der „Tägl. Rundschau“ ist absoluter Literatentratsch und hat mit einer objektiven Würdigung der Gedichte gar nichts zu tun. Ich habe übrigens der „Tägl. Rund­schau“ eine Berichtigung geschickt, die sie hoffentlich bringen wird.

 Lieber Vater, das ist ein Irrtum von Dir: diese Kritik konnte in keinem linksstehenden Blatte stehen. Du siehst die Verkettungen nicht. Die „Tägl. Rundschau“ ist mit Alfred Kerr und Dr. Blei verfeindet und ergo überträgt sie diese (politische) Feindschaft auf mich. Ich habe es Dir schon früher prophezeit! –

Übrigens könnte ich Dir dreißig begeisterte Anmerkun­gen zur Einsicht geben. Weil Ihr gerade die „Tägl. Rundschau“ lest, glaubt Ihr die Stimme der Welt in ihr zu hören. Muttis treu gemeinten Zeilen kann ich mich leider nicht fügen. Lass Dich von Herrn Calvary (und von tausend anderen, wertvolle­ren Leuten als dieser Pamphletist) belehren, ob ich ein dichte­risches Talent bin oder nicht. Dazu wird sich wohl oder übel auch die „Tägl. Rundschau“ einmal bekehren müssen (von den Witzblattreimen, die Ihr mit merkwürdiger Konsequenz im Auge habt, weil sie die einzigen sind, die Ihr von mir kennt, rede ich doch gar nicht). 

Übrigens: ich werde nicht von meinen Freunden beeinflusst, sondern beeinflusse sie. Die Bewegung geht durchaus von mir aus. Man hat über Hauptmann, Holz, in ihren Anfängen genauso geschimpft. Liliencron sagte: Da lach ich dröver!

Meine liebe Mutti, nicht alle Welt soll meine Ansicht vom Leben haben; aber leider will alle Welt (und dazu gehört Ihr), dass ich ihre Ansicht vom Leben annehme. Und das passt mir nicht. Ich trage andere Kleider. Nach Maß. Nicht vom Ramsch (bitte ich meine hier nicht Euch) – Also: der Prozess ist am 27ten. Schickt mir alles, was in der Tgl. R. steht. Ich erfahre sonst gar nichts aus der „rechten“ Presse. Nur Ruhe! (Und wenn Ihr wollt, schreibe ich dem Crossener Tageblatt ein paar aufklärende Zeilen, damit Ihr wieder auf die Straße gehen könnt. Aber nur, wenn Ihr wollt). Warum sagt Ihr Euch nicht von mir los? Hier stehe ich, ich kann nicht anders, Gott helfe mir, Amen. Fredi.“

Tief getroffen ist Fredi, denn die Reaktionen der Eltern und sicher der restlichen Familie sind keine Ausnahme. Zumal die Mutter nie oder lange nicht einsehen kann warum z.B. derartige Gedichte einen Sinn haben sollen und „für was sie taugen“.

Guido von Kaulla drückt es folgendermaßen aus:

„… Merkwürdigerweise ist sein Vater ohne Empfängnisfähigkeit für das dichterische Wort, das dem Sohn (gleich seiner Romangestalt „Mohammed“) „die goldene Geißel und die rosane Entzückung seines Seins“ bedeutet – in einem (nach Freundeswort:) dauernden arioso con dolore. Das gibt der Vater im Gespräch mit dem Biographen auch freimütig zu, bewundert aber ohne Einschränkung Fleiß und Vielseitigkeit des Sohnes und dessen „niemals-Wesens-von-sich-machen“. Wie für alle Lebensereignisse Alfred Henschkes finden sich auch für diese Beziehungslosigkeit Parallelen im Werk, so etwa im Romanfragment über den Dichter J. Chr. Günther (1695 bis 1723), das im schlesischen Striegau zwischen Vater und Sohn spielt.

Im Leben jedoch mildert sich allmählich diese zermürbende Spannung. Beispielsweise: Ende Mai 1918 kommt im Garten der Villa Neugeboren in Locarno Hermann Hesse an dem Frühstückstisch vorbei, an dem Klabund sich mit Post von seinem Vater beschäftigt, dessen Briefe immer mit dem kameradschaftlichen „Alfred“ unterschrieben sind. Es handelt sich diesmal um Kritiken über „Irene oder die Gesinnung“, den neuesten Versband. Jedes deftige Schimpfwort darin hat der Vater bekräftigt durch Randbemerkungen wie „Sehr gut!“ oder „Ganz meine Meinung!“. Zu Hesses Entzücken liest Klabund das in strahlender Heiterkeit vor, mitsamt den Kritiken. Deren eine lautet: „Ironie oder die Entsinnung wäre der richtigere Titel. Denn wie eine Ironie auf die tollsten Tollheiten expressionistischer Neutöner mutet diese scheinbar wahllose Aneinanderreihung von Worten an, und jeglicher Sinn scheint diesen „Versen“ und Versfolgen zu mangeln.

Ernstnehmen kann wohl kaum ein vernünftiger Mensch diese Zusammenhäufung von Geschmacksverirrungen; aber leider gibt es Unvernünftige genug, die sie ernstnehmen, sie als Offenbarungen preisen oder gar religiöse Erhebung daraus schöpfen wollen.“

Und weiter:

„… Sohn Fredi antwortet im nächsten Gedichtband durch „Flachs“ und spielt auch darauf an, dass Vater Henschke in der Freimaurerloge in Crossen Stellvertretender Meister vom Stuhl ist – (eine Mitgliedschaft notabene, die ihm später eine SA-Boykott-Wache vor der Apotheke einbringen wird):

 „Du kleine Stadt, der Eltern Wohn- und Hohnsitz, / begrüßest kniend meinen nächtlichen Besuch. / Durch die Allee taste ich mich, noch den Wald in / Händen, von Baum zu Baum. […] / Auf weinlaubumsponnenen Balkon steht mein / Vater  silberbärtig im Schlafrock und er brüllt: Ruhe! Ich bin der Bürger­meister – / und Meister aller Bürger, Meister vom / Stuhl -vom Stuhlgang aller Bürger! / Wer stört die bürgerliche Nacht? Und / zerrt das Alter aus den Kissen, die Jungen / aus den Küssen hoch? / Meine Mutter in weißer Haube weint. / Sie legt den Kopf auf seine knochige Schulter: wie / ein Taubenweibchen. […] Durch die Allee taste ich mich, dem Wald ent­gegen / von Baum zu Baum zurück.“

Alfred Kerr setzt sich für Klabund ein, ebenso, wie Dr. Kutscher. Ersterer wird später schreiben: „Was aus ihm herausquoll, war nicht gekrampft, nicht zeitgierig, nicht programmatisch und nicht musiklos. Die Unterstützung der beiden bringen Unus und Henschke zu der Überlegung, nach einer Absage des S. Fischer Verlages,  ob man nicht den Verleger Reiß auf die Möglichkeit einer Sami -Klabund-Gedicht-publikation aufmerksam machen solle. Der interessiert sich sofort dafür, zumal er keinerlei verlegerisches Risiko darin sieht, solange diese Band vor dem schon erwähnten Prozess herauskommt und dieser ist der schon erwähnte Band „Morgen­rot“, Klabund! Die Tage dämmern!“.

Und Kerr legte sich noch einmal besonders ins Zeug für zahlreiche Vierzeiler-Gedichte eines gewissen Heinrich Muoth. In drei Nummern des „Pan“ stiftet er Verwirrung: „Der Verfasser dieser Strophen ist ein junger Vagant. Nachts schläft er im Asyl; tags haust er in Büchereien und Sammlungen. (…) Er wird noch ausführlicher in diesen Blättern reden.“ – „Andere Verse des jungen bayri­schen Vaganten.“ – „Noch einige Verse des jungen Bayern“. Und dann schießt Muoth den Vogel ab: „Ich bin ein Namen­loser, der nach oben drängt. Ich habe die inbrünstig gereckten Arme. Meine wahrste Gebärde… Ich liebe Bücher. Sie können streicheln…, dass es einen überkommt wie heiße Geschlechtsnot“.

Die Fröhlichs, Pol Patts, Gerhart Berg, Bauz und Jakob Röder und auch Muoth haben ausgedient und schwimmen ruhig, wie es sich gehört, Isar, Spree oder Elbe hinab. Übrig bleibt „Klabund“.

Über „Morgen­rot“, Klabund! schrieb Heinrich einen Offenen Brief an eine Zeitung. Darin heißt es:

„Lieber Klabund, Gedichte? Ein lockeres Bündel Ge­dichte? Nein, Sie haben ein wunderschönes, leichtes, schimmerndes, buntes Buch geschrieben; ein Buch, ganz voll von Jugend, von Ihrer Jugend, in der die paar Wedekinder nur wie Nachbarskinder sind, die mit Ihnen spielen, – ein Buch, das nur ein recht von Herzen junger Mensch schreiben kann. Klabund, Sie haben einen schlechten Ruf. Ist es wahr, dass Sie tagsüber den Bauern am Ammersee die Wiesen verliegen und nur den tausendsten Teil aufschreiben, von dem, was Ihnen einfällt, und dass Sie die Nächte in den Scheunen und bei den Bauernmägden herumfaulenzen? Warum soll es denn nicht wahr sein? Haben die Schmetterlinge einen schlechten Ruf, weil sie aus Raupen kommen und wieder Raupen in die Welt setzen?

Es ist wahr, Klabund, unsere Jugend wacht ein bisschen früh auf: Wir bekommen alle die großen Städte vorzeitig zu schmecken und treiben uns in den Vorstädten herum, wo’s nicht immer ganz sicher ist für unsere Moral. Wie merkwürdig dieses Wort schon klingt: Wenn wir nur frisch bleiben und die Buntheit sehen, mit der die Stunden an uns vorüberstreichen wie Vögel, die sich nicht fangen lassen. Und derweilen trotten wir geduldig weiter über die Pflastersteine aller Ba­nalitäten, – dieser schönen Banalitäten, die wir so lieben und die uns so sicher machen. Ja, Klabund, sicher und ursprünglich wie der Rhythmus Ihrer Verse. Ein bisschen Geklirr dazwischen wie von Feuerwerk, ein Feuerwerk am Tage, mit natürlichen Farben und einem bisschen Un­sinn, arabeskenhaft überflüssig wie Ornamente an einem Sofa oder Cigarettenwolken. Ach, wie notwendig ist uns dieses bisschen Un­sinn…“

Kritik an „Morgenrot“ übte der Schriftsteller Gustav Sack. In „Zynismus unserer Jüngsten“ schrieb er: „Die Gedichte „Morgenrot! Klabund! Die Tage dämmern!‘ sind … unausgearbeitet; es wird eine Stimmung, ein Gedanke hingeworfen, die Bilder überstürzen und widersprechen sich, der Dichter ist sich des Wirrwarrs selbst bewusst, er hat, man sieht es beim ersten Blättern in seinem Buch, die Kraft, Ordnung in sie zu bringen, aber er hat sich in seine Vergleiche verliebt, er entzieht sich der kleinen Mühseligkeit, er unterstreicht sei­nen Wirrwarr und stempelt ihn und macht ihn vollkommen durch ein dick hingepflanztes ,Ich bin Dung‘.“

Kritik ficht Klabund nicht an, im Gegenteil, sein „Schreibeifer“ wird angestachelt und auch Reiß will ihn als Autoren aufnehmen, denn der Band verkauft sich gut.

Zu dieser Zeit schreibt der Dichter auf einer Schreibmaschine und dafür hat er natürlich eine eigene Philoso­phie und die teilt er seinem Freund Heinrich mit:

„…Eben fällt mir ein gutes Thema für eine psychologische Unter­suchung ein: es ist doch komisch, wie sich die Schreibmaschine be­müht, den Stil des Menschen, der auf ihr schreibt, zu modeln: sie hat wie alle Maschinen ihre Seele, und diese Seele bohrt sich in den Schreiber ein und zwingt ihn, in Tippschrift sozusagen zu denken. Ich z.B. bekomme beim Tippen eine perverse Vorliebe für Kommas und lange verzwickt zu schreibende Worte. Es ist ein ästhetischer Genuss, Gedichte auf der Schreibmaschine (O! Schon dieses Wort!) zu schrei­ben … Ich gedenke, mit einer neuen Lyrik auf den Markt zu treten; der Tipplyrik, die nur dazu da ist, getippt zu werden, (beileibe nicht etwa gelesen zu werden) – und alle „Gefühlswerte“ allein durch das Tippen zu vermitteln …“

Die Zeiten ändern sich, meint Guido von Kaulla:

„… Und doch: nur zwölf Jahre später wird in der Aula des Crossener Realgymnasiums die Lebendbüste eben dieses Bür­gersohnes feierlich enthüllt. Drei Jahre danach erfolgt die Bei­setzung seiner sterblichen Reste in einem Ehrengrab der Stadt. Gottfried Benn – Dichter, „märkischer Landsmann“ und Freund – wird am offenen Grabe bekennen: „Da habe ich zunächst das Bedürfnis, der Stadt Crossen einen Dank abzu­statten. Es ist schön, dass sie es ermöglichte, dass Klabund auf diesem Friedhof ruht. In Norddeutschland, wo er hergekom­men ist, in dieser Stadt, die er oft besungen hat, […] ich sage, ich möchte mir die Freiheit erlauben, der Stadt zu danken, dass sie es sich nicht hat nehmen lassen, ihren Sohn, diesen, unseren Kameraden, der nur ein Künstler war – nur Narr, nur Dichter, wie es im „Zarathustra“ heißt – mit allen Ehren des Lebens und der Öffentlichkeit zu sich zurückzuholen. Die Dichter sind die Tränen der Nation — es ist vielleicht für Deutschland nicht schlecht, wenn die anderen hören, dass eine Stadt die Zeit und die Innerlichkeit besaß, diesen Tränen der Nation ihre Aufmerksamkeit und ihre Ehrfurcht zu bezeugen.“

„… Ich habe überhaupt nichts: weder Papier noch Geld noch Be­ruf noch eine richtige Wohnung Als Glaubwürdigkeitsköder sind Reimereien nicht „heißer“ sondern heiterer „Geschlechts-not“ beigegeben, damit nicht drastisch Urwüchsiges fehle im gleichsam dyrischen Porträt des Samuel Klabund – von ihm selbst,“ resümiert Fredi.

Carl Christian Decke („Bry“) schreibt aus München, er sei aus finanziellen Gründen in die Buchhandlung Steinicke eingetreten sei, was er zur Nach­ahmung empfehle. Und so könnte aus dem „Vagabunden“ und „Klabautermann“ doch noch ein Mitglied dieser „ehrenwerten Gesellschaft“ werden, bzw. die Eltern in Crossen endlich beruhigen. So geht von Fredi aus München ein Schreiben an den Vater:

 „… Ich hoffe, du billigst mein Vorhaben, da ich zum Oberlehrer und Bibliothekar undsoweiter kraft meiner phantastischen Veranlagung doch verloren bin, (…) so habe ich mich (…) für das Mittelding zwischen Kaufmann und Kunst­kenner, den Kunsthändler, entschieden. Zeit zum Schriftstellern bleibt mir dabei, ebenso zum (etwaigen) Doktor. Wie sehr mir aber die von Dir so arg geschmähten sechs Semester „Nichts-tun“ zustattenkommen, habe ich bei der Unterredung mit Goltz gesehen (…), die Hauptsache: die Gesundheit.“

Guido von Kaulla, meint: „Aber nach 3 Tagen des Probemonats macht Fredi in der Buch- und Kunsthandlung von Hans Goltz Schluss. Die Arbeit langweilt ihn nicht nur – er verliert damit auch kostbare Arbeitszeit. Er braucht das Liegen am Vormittag. Das Eingespannt sein in feste Betriebszeiten wäre Gift für seinen Körper. Er muss freiberuf­lich bleiben – und dadurch freilich unentwegt produzieren und zum Kauf anbieten.“

Auch „Unus“ wird informiert:

„… München, 21.X. 12

Lieber Herr Heinrich,

es tat mir leid, dass Sie am Sonntag nicht da waren — der Zufall hat gewollt, dass der Abend sich den­noch anmutig rundete: ich traf am Potsdamer Platz ein Mädchen, das ich vor zwei Jahren einmal etwas mehr gern gehabt habe als die andern. Und wir fuh­ren spazieren.

Nun hat sich aber mein Schicksal er­füllt, ohne dass ich Sie hätte um Rat angehen kön­nen : ich trete am 1. November in eine hiesige Kunst­handlung ein. Goltz, der bekannte schöngeistige Buchhändler in der Briennerstraße, hat sie eben aufgemacht, und es wimmelt von Ex-Super-Intrapressionisten. Ort der Handlung ist der Odeonsplatz. Nach einem Probemonat will ich auf eineinhalb Jahr Kon­trakt machen. Immatrikuliert bin ich nebenbei noch. Man kann nicht wissen (den Doktor* betreffend). Ich habe den Schritt getan, meine Eltern etc. zu be­ruhigen (ihnen für eine Zeit den Mund zu stopfen). Zweitens: ich will einen Ausgleich gegen meine phantastischen Kräfte.

Die Zwischenlandung im Kunst- und Buchhandel scheint das Gegebene. Und wie verlockend: die Per­spektive meiner Stellung! „Student, Kunst“macher“. Kaufmann (wie gesund das sein wird für die „Seele“, gesetzt, der Körper bleibt intakt). Dichter, Recensent: und ganz so über allem zu schweben als ernster Abenteurer. (Fällt mir ein: vielleicht kann ich jetzt mal was für „Wolff“ tun!?) Bitte schreiben Sie mal bald.

Herzlich Ihr ergebener Alfred Henschke.

Nach 28 Tagen – Guido von Kaulla war wohl etwas zu schnell – kommt der nächste Brief an Heinrich und der Inhalt ist zu erahnen: 

„München, Kaulbachstraße 56 part. 18. XI. 12

Lieber Herr Heinrich,

mir wäre wohl wie nie: nette Mädchen lieben einen in reicher Blüte, man ist tüchtig zur Arbeit aufge­legt, man hat seine Freiheit wieder (denn, wenn Sie es noch nicht geahnt haben sollten: ich bin nicht mehr bei Goltz. Ich habe es einfach nicht ausgehal­ten, zu Tode hab ich mich – gelangweilt. Das erste Mal in meinem Leben) – wenn der Husten nicht schon wieder ferne durch den gräulichen Münchner Nebel bellte.

Eine andre, wie mir zuerst schien, Unannehmlich­keit sehe ich jetzt sehr von oben und mit Gelassen­heit an. Jemand in Genf behauptet, ein Kind von“‚ mir zu kriegen und bombardiert mich mit Briefen in fremdländischer Zunge. Man will es sich ab­treiben lassen und wünscht von mir einige hundert Frank zu diesem Behufe. Ich weigere mich beharr­lich durch Stillschweigen. Wenn ich schon ein Kind töten soll (was ich mir sehr überlegen würde) — muss es schon von mir sein. Obengenanntes Kind ist (aus nicht näher zu erläuternden hygienischen Gründen) keinesfalls von mir. Ich kann es beschwören. Und habe natürlich keine Lust mich mit Kindern fremder Väter irgendwie in Diskussion einzulassen. (Weiß aber nicht, wieweit das Recht mich unterstützt: denn auf die Entfernung die exceptio plurium des rich­tigen Vaters festzustellen ginge über meine Kräfte). Man muss abwarten. –

An dramatischen Arbeiten habe ich jetzt die Einakter „Vater und Fremdling“ sowie die drei Scenen „Alkestis* und die 3-aktige Komödie Die „Verlobten“ fertigge­stellt. Die Alkestis ist in Versen und sehr stilisiert. Ich werde sie mir noch einmal überlegen (ich halte sie für Kammerspiele sehr geeignet) und sie dann di­rekt zu Reiß schicken. Darf ich Sie bitten, ihm, gele­gentlich, die Ankunft des Stückes mitzuteilen. (Wei­ter nichts. Er ist doch hauptsächlich Theaterverlag, nicht wahr ?)

Ich verkehre, durch Herrn Henckells freundliche Vermittlung auf der „Halbeschen“ Kegelbahn und beim „Jungen Krokodil*. Ich stelle meine Ansicht darüber für einen späteren Brief zurück. Mit herzlichen Grüßen Ihr sehr ergebener Alfred Henschke.

Auch Fritz Heyder schreibt er über seine beruflichen Pläne:

„… Sehr geehrter Herr Heyder,

natürlich hab ich das Wichtigste wieder vergessen: ich bitte Sie folgendes vertraulich zu behandeln (Herr Merian kann es selbstverständlich wissen.) Nachdem man mir hier immer mehr zusetzt, mich endlich in einen sicheren Beruf zu schicken, dieser fromme Wunsch meiner Eltern mir auch insoweit entgegenkommt, als zum Ausgleich meiner sinnlichen Begabung mir eine praktische Tätigkeit mal ganz gut tut: hab ich mir über­legt, ob ich‘s nicht im Buchhandel versuchen sollte. Ich habe unzweifelhaft auch kauf­männisches Talent, das ich so doch in gesunde Bahnen lenken könnte. Bitte sagen Sie mir, wie ist der Gang? Wieviel Zeit als Lehrling? Da ich das Abiturium habe, wird mir doch wie in Berufen mit entsprechender Vorbildung ein Jahr erlassen? Ich möchte in München in eine kombinierte Buchhandlung (Sortiment und Kommission) eintreten, will aber, bevor ich den Schritt wage, erst den Fachmann, d. h. Sie um Rat fragen, denn zum Oberlehrer oder Bibliothekar oder gar Dozenten kriegt mich die Verwandten Meute doch nicht.

Vielen Dank zuvor! Ihr Alfred Henschke“

Ich bin und war und werde sein Klabund 

Weiterhin immatrikuliert beginnt für Fredi die „Große Freiheit“, er taucht in die Schwabinger Boheme ein.

Mein Name Klabund

Das heißt: Wandlung.
Mein Vater hieß
Schemen.
Meine Mutter: Schau.
Schritt im Schatten
Lenkte mich löblich.
Birke im Winde
Deuchte verwandt.
Aus dem Tal
Stieg ich zu Berge.
Über Schroffen
Klimm ich zu dir.
An den Lippen
Silberner Quelle
Hing ich verdurstet,
Hing ich verdorrt.
Unter der Sonne
Stand ich erfroren.
In den Nächten
Starb ich den Schlaf.
Vogel Anmut
Blinkte bedeutend
Durch die Zweige,
Zeigte empor.
Vogel Wehmut
Donnerte dunkel
Zwischen den Felsen,
Zeigte empor.
Vogel Demut,
Scham und Schleier,
Schwebte unhörbar,
Zeigte empor.
Siehe, da neigte sich,
Gastlich mir winkend,
Abendlich schluchzend,
Schwärmender Stern.
Einsames Wesen!
Gossest mit Funken
Flüchtiger Ferne
Feuer in mich!
Ich erfasste
Lichtes Verlocken;
Griff nach der guten
Funkelnden Hand.
Ach mich ermatteten
Mutigen Wanderer
Zog sie zum Herde,
Wies sie zur Ruh.
In der ersehnten,
In der ertönten Eremitage
Schlug ich die Augen
Himmlisch empor.

Im Herbst 1913 soll die Zeitschrift „Revolution“ erscheinen, Herausgeber der Schriftsteller Hans (eigentlich Ernst) Leibold, mit dem Klabund eine enge Freundschaft pflegt. Kennen gelernt haben sie sich an der Münchner Universität. Fredi wird die „Revolution“ verschiedentlich nutzen, u.a. für eine Huldigung für Else Lasker-Schüler und für einen Artikel gegen die arbeiter­feindliche Einstellung der Regierung, die den Verkauf von Ver­hütungsmitteln erschweren will. Bei letzterem wird er wohl als „Betroffener“ geschrieben haben.

Unweit des Hofbräuhauses im Korpshaus Rhenopalatia wird im Jahre 1899 die „Torggelstube“ im Tiroler Stil eröffnet und diese wird die „Honoratioren-Ansammlung“ am „Platzl“ in München. In einem Artikel in der Vossischen Zeitung berichtet Erich Mühsam 1928 über seine anfänglichen Vorbehalte. Er habe es Frank Wedekind zu verdanken, dass er das Restaurant schließlich doch besuchte und wegen des hohen Niveaus seiner Gesprächskreise zu schätzen lernte. Am 8. Juli 1911 notierte er in seinem Tagebuch, bis zu seinem Besuch in der Torggelstube sei nicht viel „Vermerkenswertes“ geschehen. Dort wurde er dann mit den aktuellen Querelen des Kulturbetriebs konfrontiert, die zu aufgeregten Diskussionen führten. Einen Besucher schien das jedoch wenig zu beeindrucken: „Draußen saß Wedekind, kaute am Bleistift und dichtete.“

(Erich Mühsam: Tagebücher. Hg. von Chris Hirte und Conrad Piens. Bd. 1. Verbrecher Verlag, Berlin S. 183)

Lion Feuchtwanger setzte der Torggelstube in seinem München-Roman „Erfolg“ ein literarisches Denkmal. Er nennt sie Tiroler Weinstube und widmet ihr ein eigenes Kapitel mit dem Titel „Politiker der bayrischen Hochebene“, in dem es heißt:

„Obwohl der schöne Sonntag viele an die Seen und in die Berge führte, war die Tiroler Weinstube an diesem Junivormittag dicht gefüllt. Man hatte alle Fenster der Sonne geöffnet, aber es blieb angenehm dämmerig in dem großen Raum. Dick lag der Rauch der Zigarren über den massiven Holztischen. Man aß kleine, knusperig gebratene Schweinswürste oder lutschte an dicken, safttriefenden Weißwürsten, während man kräftige Urteile über Dinge der Kunst, der Weltanschauung, der Politik äußerte. Es kamen am Sonntagvormittag vornehmlich Politiker in die Tiroler Weinstube.“

(Lion Feuchtwanger: Erfolg. Drei Jahre Geschichte einer Provinz. Aufbau Verlag, Berlin 1993, S. 66)

Und in eben diesen Torggelstuben fanden sich allwöchentlich die Teilnehmer der so genannten „Kutscherkneipe“ ein. Klabund wird von Dr. Kutscher eingeladen – (Kutscher: „hochbegabt“) und dort lernt er Frank Wedekind kennen und empfindet ihn „bald als einen sei­ner Vorgänger – nicht: Lehrer.“

Ab 1912 kann Klabund immer häufiger Artikel und Gedichte in Zeitschriften unterbringen. So z.B. im „Simplicissimus“ und in der Münchener illustrierten Wochenschrift „Jugend“, wohin ihn Dr. Kutscher vermittelt hatte. Die „Jugend“ bringt neben literarischen Beiträgen auch Glossen zum politischen Tagesgeschehen.  Unterbringen heißt natürlich auch, Honorare bekommen, denn ohne die Unterstützung  aus dem Elternhaus geht es meistens nicht.

Die „Neue Rundschau“ wird die schon zu Schülerzeiten geschriebene „Helena“-Ode veröffentli­chen, die Fredi vorsichtshalber auf 1912 vordatiert und die in Innsbruck erscheinende Zeitschrift „Der Brenner“ bringt gleich vier Gedichte. Und immer wieder Kerrrs „Pan“….

Auch Wedekind nimmt für „die von ihm mitherausgegebene Zeit­schrift „Komet“ einige Verse und Prosaskizzen des Schützlings von Dr. Kutscher an und veröffentlicht den ersten Beitrag am 16. 3. 1911: das Gedicht „Die kleinen Füße der graziösen Frauen“. Die geachtete und beachtete Zeitschrift „Die Rheinlande“ wird im August vier Gedichte bringen.

Dann kann Al­fred Henschke für sich den zehn Jahre älteren Verleger Fritz Heyder aus Berlin-Zehlendorf – weitläufige Verwandtschaft – interessieren. Guido von Kaulla; „ Unterm 22. 5. 11 schreibt er an Heyder: da man am Vortage von modernen Dichtern gesprochen habe – hier sei einer. Dass Viele (oder Alle) ihn nicht kennten, sei kein Beweis, dass er schlecht, nur: dass er jung sei. Und: Verse müssten ja nicht im­mer Ethik mit Keulenschlägen sein. Heyder gewinnt bald eine starke Verbindung zum Wesen dieses Besuchers: er gehört künftig zu dessen Vertrauten. Zunächst kann Heyder nur ein Gedicht für sein Verlagshauptobjekt, den Kalender „Kunst und Leben“, annehmen. Der Verlag ist noch zu jung, um schon ein Buch finanzieren zu können“.

Das eine Gedicht für diesen Kalender scheint eher eine „Gefälligkeit“, denn eine wachsende Zusammenarbeit zu sein, Klabund schreibt an Heyder im Mai 1911:

„…Sehr geehrter Herr Heyder,

es tut mir leid, dass Sie nichts für Ihren Kalender brauchen können. Aber wenn jede Redaktion mir das sagt: Sie machen zwar ganz nette Gedichte, aber Sie sind zu unbe­kannt, dann kann ich ja alt und grau werden, dann werde ich ja nie bekannt. Ich glaube, es hätte nicht gar so sehr viel Mut dazu gehört, ein anständiges Gedicht von mir in den Kalender zu bringen. Sie selbst werden mir sicher zugestehen, dass das, was die bekannten Namen Wille, Langheinrich, Sergel, Schmidtbonn, Ginzkey dem letzten Kalender beigesteuert haben, nichts als fröhliche Banalitäten sind. Es wäre immerhin was gewesen, hätte der Kalender einen Vers von mir gebracht. Der Name Alfred Henschke hätte eine Woche lang vielen vor den Augen gestanden, mancher wäre aufmerksam geworden, wer ist das? Alfred Henschke? Nun es geht Ihnen wohl contre cceur. Schwamm drüber. Unsere Freundschaft wird es nicht stören. Sie nehmen es bitte mir nicht übel, dass ich vor Ihnen hier meine Seele als wie ein Tuch aus‘ breite. Es geschieht selten genug (Motiv: meist: falsche Scham). Vor Ihnen brauch ich mich meiner »menschlichen Rührung« hoffentlich nicht schämen.

Mit den besten Grüßen an Sie, Ihr verehrtes Frl. Schwester und Herrn Merian

Ihr Alfred Henschke

„Dann stockt der Absatz. Alfred Henschke gehört eben nicht – wie damals Gottfried Benn – zum Umkreis von „Cafe des Westens“, nicht, wie Heym, zum Kreis um Kurt Hiller, nicht, wie Werfel, zum Verlagskreis von Ernst Rowohlt und Kurt Wolff.“ –

Noch 1912 bricht er sein Studium ab und lebt er als freier Schriftsteller in Berlin und München.

Das Es der Dinge, dem ich mich verschrieben,
Es mildert sich zum Du der Träumerei.
Ich werde ewig meine Seele lieben
In ihrer Ruh, in ihrer Raserei.
Geliebte, Ewige an meinen Mund:
Ich bin und war und werde sein Klabund.

Torggelstube, Kabaretts, Theaterbesuche und die nächtlichen Ausflüge – es wird krankheitsbedingt für den immer anfälliger werdenden Kör­per zu viel – muss Fredi in ärztliche Behandlung, im Sommer kommt er nach Crossen, erschöpft durch einen bösartigen Husten zurück und der Hausarzt drängt zu einem Aufenthalt in Höhenluft Fredi geht für einige Wochen nach Bad Brückenberg ins schlesische Mittelgebirge, in der Hoffnung „dass sie sich „reinigend auf den Geist auswirke“. Er schreibt: „Ich atme tief, esse Eier, trinke Milch, friere und weide mich an den violetten Seidenstrümp­fen und Lackschuhen der Ansichtskartendame auf der Schlin­gelbaude, die aber keine weiteren Reize aufzuweisen hat. Alle Frauen sehen hier entsetzlich aus…“

Und in einem anderen Brief: „Mein Zustand ist immer derselbe: laut, still, selbstbewusst, zerknirscht, begeistert, angeekelt – und alles zur selben Zeit und von der  Sauce einer physischen Müdigkeit übergossen, die manchmal schon beinah im Gehirn zu sitzen scheint. Ich komme mir vor wie wei­land Simplicissimus, da er zum Narren gemacht werden sollte – mit dem Unterschied, dass ich die Prozedur selbst an mir vornehme und vielleicht ein wirklicher Narr werde …“

Oder:

„Die Krankheit ist ein besonderes Kapitel. Ich führe in meinem Leben doppelte Buchrechnung. Auf der einen Seite nimmt zwar die Krankheit erheblichen Raum ein; aber sie ist nur notiert, zur Kenntnis genommen. Der Teufel soll mich frikassieren, wenn sie Einfluss auf die andere Seite, auf mein wirkliches Leben gewinnen sollte … Ich möchte doch noch leben, eine Weile wenigstens noch …“

Kurz darauf ist er wieder in München, Bad Brückenberg ist vergessen – viel genutzt hat es nicht – Fredi stürzt sich wieder in das kulturelle Leben der Stadt: „Vor­gestern hat Wedekind sein neuestes Mysterium vorgelesen, „Franziska“. Ein wundervoller erster Akt, dann schwillt es ab, den vierten versteh ich überhaupt nicht“.

Aber der lästige Husten quält ihn erneut. So reist er wieder mit seinem Vater in das Tessin. „Das Essen ist gut, bloß mit meiner Gesundheit ist immer noch alles nicht so, wie es sein soll.“ Abwechslung bietet die örtliche Spielbank, „er wird künftig noch oft in Spiel­sälen verkehren und dem Kartenspiel frönen. Das spieleri­sche Risiko fasziniert ihn.“ (Matthias Wegner).

Noch andere Sanatorien sucht Klabund auf, möglichst solche, in denen er nicht nur „faulenzen“, sondern auch arbeiten darf. Überliefert sind Aufenthalte in Bad Reichenhall, im Tessin, in Arosa und Davos. Immer wieder Davos!“ (Kurt Wafner)

Noch vor Weihnachten zurück in München, Matthias Wegner schreibt über Fredi: „„Hier verkehre ich jetzt in den „ersten literarischen Kreisen“. Das Weihnachtsfest habe ich mit Mühsam zusammen bei Halbe verbracht …“ Er verehrt den 25 Jahre älteren und schon renommierten Erzähler und Dramatiker Max Halbe. Aber im selben Brief beklagt er sich: „Ich verdiene jetzt rasende Gelder mit meinen Versen! Den November al­lein 79 Mark! Aber ich komm‘ doch nicht aus. Und kein Schwein will eine Novelle. Ich finde das sehr merkwürdig.“

Erneute Kur, Matthias Wegner schreibt: „Im Februar 1913 ist abermals eine Kur vonnöten, diesmal im bayrischen Bad Reichenhall. Die Briefe, die der Dichter von dort aus an Heinrich richtet, sprechen weiterhin in erster Li­nie vom Fortgang der literarischen Arbeit. Nur gelegentlich schieben sich einige dezente Hinweise auf die Umstände ih­rer Entstehung zwischen die Zeilen: „Ich gehe hier eifrig meiner Kur nach (wenn nur die Mädchen nicht wären! Die verderben einem die ganze Diät: Inhalationen, Luft- und Solebäder, Massage, Trink-, Liegekur von früh sieben (es ist scheußlich früh) bis abends neun. Und das Wetter erst. Eine bessere Sintflut.“

Rückkehr nach München im Sommer, Matthias Wegner: …“und wieder zieht er durch die Lokale und Kleinkunst-Theater Schwabings. Dort lernt er auch eine neue Muse, die intelligente, aber umtriebige Brettl-Sängerin Marietta Kirndörfer – eine vormalige Sekretärin des Verlages „Die Lese“ – kennen, mit der er wieder die Nächte zum Tag macht und der er 1920 eine sehr kurze Erzählung gleichen Namens mit dem übertreibenden Untertitel „Ein Liebesro­man aus Schwabing“ widmen wird. „Ich bin eine polnische Prinzessin, hübsch, aber schlampig. Ich schiele. Das ist meine Weltanschauung“, lässt er die Geliebte darin sagen und schlägt damit wieder den aufsässigen Grundton an, der sein gesamtes Werk durchzieht.

Im „Simplicissimus“ trägt er wiederholt eigene Verse vor. (…)  Doch schon im August zwingt ihn sein Zustand erneut zu einem Sanatoriumsaufenthalt, diesmal in Arosa: „wie der Arzt sagt, muss ich wohl den Winter oben bleiben, dann ist Aussicht auf eine dauernde Heilung. „Arbeiten darf ich. Aber nicht zu viel.“ Hinter den letzten Satz setzt er ein vieldeutiges Fragezeichen. Wann immer Klabund das Bett hüten oder auf den Terrassen der Sanatorien Liegekuren machen muss, schreibt und arbeitet er, eingehüllt von Papier­bergen und Büchern. Das Schreiben ist ihm längst zur Sucht geworden, die ihn seine Krankheit am leichtesten vergessen lässt.

Die Gefahr, die von dieser produktiven Unrast ausgeht, ist dem unbestechlichen Mentor Heinrich aber auch ein An­lass für ernsthafte Warnungen: „Ihre Produktionsfülle ist un­heimlich!“ 1913 formuliert der sensible Literaturkenner Heinrich einen kritischen Einwand, der Henschke noch oft entgegengehalten wird und der bis heute seine Anerkennung als unumstrittener Dichter verhindert: „Die nervöse Un­ruhe, die in Ihren Arbeiten bisher liegt (und natürlich nie ganz verschwinden wird, denn sie trägt einen großen Teil Ihrer poetischen Schönheiten) hat doch einen Nachteil: Die Dinge sind alle ein bisschen dünne, das, was man erfährt, ist höchst interessant und reizend, am Schluss ist man aber doch ein bisschen enttäuscht, dass man nicht mehr erfahren hat.“

Heinrich weist den angehenden Dichter mit väterlicher Strenge daraufhin, dass der „Rest vom Schemenhaften“ in all den hundert Skizzen, die Reiß bei sich liegen hat, der einzige Grund dafür sei, dass sich der Verleger nicht zum Druck ent­scheiden könne. Daneben ist es sein leidenschaftliches Inter­esse für Frauen, das ihn zwar selig, aber flüchtig macht: „Ich bin“, beichtet er einmal seinem fernen Mentor, „seit zehn Tagen (Sie sehen es gewiss an der Schrift!) toll verliebt… Es ist ein Mädchen aus Uruguay, aber schon lange in Deutsch­land. Ganz braun.“

Endgültig übernommen hat er sich dann im August, er sucht einen Lungenfacharzt auf und der rät ihm ins Hochgebirge zu reisen. Er schreibt an die Eltern – und dieser Brief ist sicher nicht leicht gefallen:

„Lieber Vater, ich bitte Dich, diesen Brief nicht Mutti zu zeigen, sie würde sich zu sehr ängstigen. Es tut mir so leid, Euch wieder Sorgen bereiten zu müssen. (…) Ihr wisst nicht, wie peinlich mir der Gedanke ist, Euch wiederum um größere Beträge behelligen zu müssen (eventuell) ich bin ja nun sozusagen Euere enttäuschte Hoff­nung. Ihr werdet mich nie als Oberlehrer oder Doktor sehen, und was ich etwa sonst mehr als andere geleistet habe: Ihr wer­det es nie begreifen, und ich nehme es Euch auch nicht im fern­sten Bezirk meiner Seele übel. Ich gedenke zu fahren, sobald ich Geld habe. (…). Mit den herzlichsten Grüßen an Euch alle, auf hoffentlich frohes Wiedersehen im Frühjahr Dein getreuer Fredi“

Er kratzt erhebliche Vorschüsse zusammen und fährt am 13. 8.13 nach – Arosa. Und die Vorschüsse werden langsam aber sicher mehr – das Publikum beginnt ihn zu lieben, die Kritiken sind günstig. „Tante Voss“ (Vossische Zeitung, Berlin) schreibt: „Als Ahnen dieser Klabundlyrik möchte man Christian Günther anrufen.“

Fredi hat gelernt, mit der Presse umzugehen, in einem Artikel „Der neue Dichter“ (mit Erwähnung des Schriftstellers Holitscher, geb. 1869) schreibt er:

„… Artur Holitscher, glaube ich, war es, der vor nicht langer Zeit allerlei Mahn- und Klagerufe an die heutige zwan­zigjährige Jugend erließ. Sie sind ihm zu reif, zu abgeklärt, die heutigen Zwanzigjährigen. Zu selbstsicher. (Etwa: weil er vor ihnen verlegen wird?) Sie leiden ihm zu wenig. Sie wissen zu viel. Sie sind zu alt. Ich möchte meine Generation gegen Herrn Holitscher verteidigen. Ich billige ihm mildernde Umstände zu: er ist zwanzig Jahre älter als ich (denke ich mir). (…) Was heißt das: wir leiden zu wenig um unsere Ideale? Ich für meinen Teil vermag nicht einzusehen, dass (beispielsweise) eine törichte Idee dadurch besser wird, dass man für sie leidet. Der Schmerz als Wertprinzip… (auf der Basis des Christentums fundiert) – wo kommen wir hin? Wir Jungen sind eher (griechisch) geneigt, nicht den Schmerz, sondern das Glück als höchste Blüte der menschlichen Kultur anzusprechen. Wenn du den Baum be­trachtest, sagt Plato irgendwo, fühlst du, dass er sich genießt? Wer glücklich ist, ist gut. Die jüngste Generation hat wieder den Willen zum Glück. (…) Dasein! Da-sein wollen wir. (…) Die Lust am Abenteuer blüht wieder auf (als Reaktion gegen ein bürokratisches Regime und gegen ein maschinelles Zeit­alter verstanden). (…) Wir kennen keinen Zwiespalt mehr zwi­schen Vernunft und Gefühl, zwischen Tat und Gedanke, zwi­schen Diesseits und Jenseits. – (…) Wir haben nichts getan, als die ästhetische Binsenweisheit: das Wie bestimmt, nicht das Was – auf das Leben, auf die Ethik übertragen. Auch der Dich­ter ist ein Mensch.“

Auf eine Entgegnung zu diesem Artikel antwortet er:

„… Er verwechselt Zynismus mit Sachlichkeit, Naturalismus mit Realismus. – Ich bin Realist, indem ich die Kunst für eine zweite Wirklichkeit halte, in der nicht die Dinge, wohl aber (siehe Plato) die Ideen dieser Dinge leben. Ich lebe nun in den Ideen, in den Abenteuern dieser Dinge, die ich „forme“ – und Herr Dr. Martin Marx nennt mich einen krassen Naturalisten. Der krasse Naturalist ist er, wenn er die vom Leben abstrahier­ten Begriffe schön und hässlich einfach auf die Kunst überträgt: weil ein schlechtgelüftetes Zimmer schlecht riecht – hält er sich auch bei der künstlerischen Darstellung dieses schlecht gelüfte­ten Zimmers die Nase zu. Das ist sein gutes Recht, aber er darf mir nicht schwarz auf weiß machen, dass diese seine Nase ein besonders empfängliches Organ für neue Kunst und neue Dich­tung sei.“

Und an anderer Stelle:

„… Es gibt Leute, die zwischen Zynismus und Sachlichkeit, zwischen Ironie und Humor nicht unterscheiden können. Die jüngste Dichtung hatte unter dieser Missdeutung ihrer Motive schwer zu leiden. Zynismus und Ironie sind immer Gesten einer Überheblichkeit: eines herrischen Über-den-Dingen-sein-Wollens. Aber auch Diener haben zuwei­len herrische Manieren (und sind doch keine Herren). Da man als Ding (an sich) gar nicht über den Dingen sein kann: bleiben solche Gefühle immer Ansätze, Stümpfe, Fragmente einer ge­wissen Verzweiflung. Humor hingegen und Sachlichkeit… sind in den Dingen. Man will nicht mehr sein als man ist. Nicht aus Bescheidenheit, sondern aus Konzentration (auf den Punkt, auf den es ankommt, nämlich: als Ich zu leben und als Ich zu leben).“

Im Vorkriegssommer erinnert sich Klabund:

„… Wir wa­ren alle noch jung, so jung, schritten aufrecht, lachten leicht, dachten schwer… Wir schwelten nicht, wir brannten, wir lie­fen nicht, wir rannten.“

Guido von Kaulla schreibt über diese Monate:

„… Und er ist unermüdlich im Tanzen, Trinken, Wandern, Lieben und – Arbeiten. Er hat keine ande­ren Reizmittel nötig als das Leben selbst; und natürlich das erotische Leben und dieses im weitesten Sinne als die force creatrice jeden Künstlers, nicht nur im eigentlich sexuellen. Klabund trinkt zwar gern guten Wein und auch Kaffee, hat aber Beides nicht nötig zum Arbeiten. Er raucht auch nur mäßig. Er ist ge­sellig. Meistens sitzt er ruhig bei den anderen – nie führt er das große Wort, ist aber bei alledem ein blendender Erzähler und ein Liebhaber der witzigen Rede. Sein Tagesablauf damals: schonungsbedürftig und – im Tiefland nur – leicht zu erhöhter Temperatur neigend, pflegt er, um seine Lungen nicht zu ge­fährden, bis weit über Mittag im Bett zu arbeiten. Seinen ihn besuchenden Freunden zeigt sich das typische Bild: Liegestatt, Tisch, Stühle sind mit einseitig beschriebenen Papieren bedeckt. Mit Tinte schreibt er nur mehr selten, meist mit Bleistift oder Kopierstift. Man sieht dem Duktus an, ob er auf das im Liegen hochgehaltene Papier schrieb oder ob er eine Unterlage hatte. Erst nach Stunden sammelt er die Blätter auf. Und er schreibt, wo er geht und steht, überall, beim Essen, nach dem Essen, im­mer, wenn der Einfall kommt. Meist, wenn man ihn im „Cafe Luitpold“ oder im Hofgarten – „Cafe Klabund“ genannt – trifft, hat er ein Stück Papier vor sich, einen Brief, einen Theaterzettel oder eines seiner kleinen Notizbücher. Mittels stets bereitgehal­tener Couverts schickt er die Produktion sofort an die verschie­denen Redaktionen.“

Zarek im Rückblick: „Er schluderte seine Gedichte nicht, aber er schleuderte sie in die Welt hinaus.“ Wor­auf warten? Vers auf Vers entsteht.

Blanke Pfützen überhüp¬fend,
Tauwind schmolz den Schnee zur Nacht,
Tanzt, den Blick ins Blau getaucht
Erster Lenztag durch die Gassen.

Guido von Kaulla:

„… Nachmittags zieht er los: ins Ungererbad oder hinaus ins Isar­tal. Man fährt nach Dachau oder zum Ammersee. Dabei ist eine alte henschkesche Gedichtzeile geflügeltes Wort: „O Glück, so in den Tag hineinzusprühn…“ Auf den Spaziergängen und in den Sommerrestaurants ist er meist schweigsam, in sich versun­ken – er schaut und lauscht. Öfter nennt er sich beim Freund Mueller- Jürgens einen visuellen Typ. In der Skizze „Das Schreib-maschinenbureau“ (1916) steht: „Ich bin noch jung. Ich stehe fiebernd in allen Flammen. Selbst meine Ruhe rast. Sehen Sie meine Augen! Sie prüfen die Dinge tausendstrahlig, wie mit den Armen eines Polypen.“

Über seine damaligen Erfolge im Kabarett schreibt Kaulla:

„…Eine kurzfristige Gründung – das Kabarett „Zum roten Strich“ im Lokal „Bunter Vogel“ – führt sogar zu einer Kolle­genschaft auf dem Podium: Fredi zeichnet sich durch prächtig einen balkanischen Prinzen charakterisierende Stegreifverse bei einem Puppenspiel aus. Diese Arbeit bringt ihn auch wieder intensiver an Kabarettdinge heran. Im Juni entsteht in unzäh­ligen Sitzungen mit dem Kapellmeister und Komponisten Dr. Ralph Benatzky in dessen Gräfelfinger Wohnung in gemein­samer Arbeit die Versposse „Der rote Fadem – ohne Musik“ -! Und Benatzky komponiert eine Reihe von Fredis deutschen und französischen Chansons.“

Den Abschluss dieses Kapitels sollte eigentlich eine Zusammenfassung des bisherigen Lebens als Autor und Dichter bilden, dann aber fand ich die Geschichte vom Journalisten und ein Gedicht. Fredi kann es also besser und so hat er das „letzte Wort“, wenigstens jetzt.

Der Journalist 

Nichts ist leichter als dies, dachte ein brünetter, aber unsympathischer Jüngling und schickte ein Schreiben folgenden Inhalts an die Chefredaktion des „Generalanzeigers“: Gestern kam in der Mittagstunde auf der wenig belebten Schwanthaler Straße infolge des Glatteises ein lahmer Greis zu Fall; Er ritzte sich seine Wange, so dass in Kürze der Schnee sich im Umfang von 1 cm blutrot färbte, konnte aber ohne ärztliche Hilfe, infolge Eingreifens eines Passanten, seinen Weg fortsetzen. -Diese Notiz erschien am nächsten Tage unter der Rubrik „Innerpolitisches“ im „Generalanzeiger“, und der Jüngling, welcher sie entworfen hatte, empfing nach einem halben Jahr 60 Pfennig per Postanweisung.. Dieser unerwartete Erfolg ließ seinen Stolz und seine magere Hühnerbrust beträchtlich schwellen. Er setzte sich in eine Gartenwirtschaft und bestellte sich ein paar Würstchen mit Salat nebst einem halben Hellen. Darauf schrieb er: Die Terrainspekulation des Kommerzienrates Z. haben sich im weitesten Umfang als unlauter und verfehlt herausgestellt. Die unsauberen Machenschaften sind enthüllt. Der Übeltäter sieht seiner Bestrafung entgegen. So soll es allen er gehen, welche am Mark des Volkes saugen.

Dieses Scriptum, ordentlich kuvertiert, sandte der strebsame junge Mann an das „Schreiende Unrecht“, ein Druckblatt zweifelhafter Opservanz, in dem es am übernächsten Tage auf der ersten Seite in Fett und Sperrdruck erschien unter der Mare: Enthüllung aus der Finanzwelt.

Großstadtkavaliere. -,- Nach knapp drei Monaten empfing unser junger Mann ein Honorar von 1,30 M in Briefmarken. Er hatte wieder ein halbes Jahr zu leben. Nachdem diese Summe aufgebraucht war, beschloss er, an eine Aktion großen Stils zu gehen. Er sandte ein Telegramm an die „Tägliche Berliner Kohlrübe“: Glänzend verlaufenes Gastspiel des Berliner Intimen Theaters in unserer Stadt. Applaus über Applaus. Kränze über Kränze. Direktor GummibaIon siebenunddreissigmal gerufen. Einige unverbesserliche Enthusiasten wurden am nächsten Morgen noch unter den Kleidern der Schauspielerinnen gefunden. Der Eindruck des Gastspiels ist ein unvergesslicher.- Umgehend erhielt unser junger Mann eine telegrafische Postanweisung von 100 M von der Direktion des Intimen Theaters. Er legte sie in Munitionsakten an und setzte sich zur Ruhe. Aus seiner Hühnerbrust wurde ein Fettbauch. Er lässt sich nur noch Herr Doktor nennen. Seiner geschätzten Feder begegnet man nur noch selten in den Spalten unserer führenden Blätter. Er hat es nicht mehr, nötig zu schreiben. Er hat sich auf indische Philosophie geworfen. An Stelle des Nabels betrachtet er seine dicke goldene Uhrkette.

Im Spiegel

Ich sehe in den Spiegel.
Was für ein unverschämter Blick mustert mich?
Jetzt zieht er sich schon in sich selbst zurück –
Pardon: ich habe mich fixiert.
Ich will mir nicht zu nahe treten.

Meine Freunde kann ich mir an den Fingern einer Hand abzählen.
Für meine Feinde brauche ich schon eine Rechenmaschine.
Was bedeuten diese tiefen Furchen auf meiner Stirn?
Ich werde Kresse und Vergißmeinnicht drein säen.

Im Berliner botanischen Garten sah ich einen Negerschädel,
Aus dem eine Orchidee sproß.
So vornehm wollen wir’s gar nicht machen.
Bei uns genügt auch ein schlichtes deutsches Feldgewächs.

Wir wollen durch die Blume zu den Ueberlebenden sprechen,
Wie wir so oft zu den nunmehr verwesten sprachen.
Also, meine liebe Leibfüchsin:
Du kommst mir deine Blume – Prost! Blume!

Ich stehe nicht mehr ganz fest auf den Füßen.
Der Spiegel zittert.
Seine Oberfläche kräuselt sich, weil ich lache.
Da ist der Mond – er tritt aus dem Spiegel in feuriger Rüstung
Und legt seine weiße kühle Hand auf meine fieberheiße Stirn.