Offener Brief an Kaiser Wilhelm II.

Erschienen am 3.6.1917 in der „Neuen Züricher Zeitung“

Majestät!

Mehr als Sie in Ihrer politischen und menschlichen Verein­samung und Einsamkeit ahnen: flehend, werbend, fordernd sind die Blicke der ganzen Welt auf Sie gerichtet. Mag die Ih­nen feindliche Presse noch immer in Ihnen den Vandalen und Barbaren an die Wand malen, mögen unfähige und fade Diplomaten und Staatsmänner, die besser als Staatskrüppel gekennzeichnet wären, noch immer den irren Plan hegen, den Teufel Militarismus durch den Beelzebub Imperialismus, den Unterteufel Mechanismus durch den Oberteufel Rationalismus auszutreiben: in allen Ländern blicken die Augen der Menschen, die Menschen geblieben sind, blicken auch die Augen der Muschiks, Poilus, Tommys, Hecht- und Feldgrauen und Olivgrünen auf Sie. Denn Sie, Majestät, haben es in der Hand, der Welt den baldigen Frieden zu geben… 

Sie beru­fen sich darauf, dass Sie im November vorigen Jahres schon einmal bereit waren „zum Frieden“. In der Tat: Sie streckten dem Feind die Hand zum Frieden hin – aber die Hand war zur Faust gekrampft und war keine menschliche, blutdurchpulste Hand. Es war die eiserne Faust des Götz von Berlichingen.

Majestät: erkennen Sie die Zeit! In ihr: die Blüte der Ewig­keit! Erkennen Sie, dass alle, gleichviel welche, Machtideen in diesem Kriege Schiffbruch gelitten haben. Die Macht ist ein tönerner Götze, wenn Geist, Güte und Gerechtigkeit nicht mit ihr verbunden. Endgültig muss es vorbei sein mit den Prin­zipien der Macht und ihren „Untergebenen“: Herrschsucht, Hoffart, Polizeigeist, Götzendienerei, Byzantinismus, Mam­monismus … (welch letztere beide immer parasitär nebenein­ander wuchern).

Majestät, Ihre Osterbotschaft hat die Herzen der Deutschen erhellt und die Stirnen mit einem schwachen Strahle zukünftigen Lichtes beglänzt. Begreifen Sie aber, dass man zu einem Volk, das frei sein will und das man ehrt und achtet – als Freier zu den Freien sprechen sollte. Sie aber sprachen freiherrlich. Noch immer spukt in den öffentlichen und geheimen Kabinet­ten Berlins das „Untertanenprinzip“. Und Sie waren schlecht beraten, als Sie die Osterbotschaft auf den Ton der Gnade stimmten. Rechte, Majestät, werden nicht verliehen. Sie sind ursprünglich da, sind wesentlich und existieren. 

Geben Sie auf den Glauben an ein Gottesgnadentum und wandeln Sie menschlich unter Menschen. Legen Sie ab den Purpur der Einzigkeit und hüllen Sie sich in den Mantel der Vielheit: der Bruderliebe. Errichten Sie das wahre Volkskö­nigtum der Hohenzollern. Machen Sie sich frei von den Ah­nen; frei von dem Wahne, als könnten Sie sich auf eine kleine kapitalistisch-junkerliche Sippe, die Beamtentum und oberes Offizierskorps aus sich „rekrutiert“, stützen, die paukend und trompetend den Schmerzensschrei des Volkes übertönt. Die in Wahrheit den Thron zerspellen und den geblendeten Simson so lange peinigen wird, bis er einst die Säulen des Staates stürzt.

Jetzt, Majestät, sind Sie ein Schattenkaiser! Denn Sie ste­hen im Schatten der autokratischen Barone und plutokratischen Munitionsfabrikanten. Seien Sie Sie selbst: offenbaren Sie sich als erlauchter Christ, indem Sie dem Volk, dessen Diener Sie sein wollen (vergessen sei Ihre Inschrift in das Münchner Goldene Buch: regis voluntas suprema lex: Sie bü­ßen sie willig…), aus einem übervollen Herzen der Liebe heraus die Freiheit seines Willens und seiner Seele schen­ken. Freiwillig schenken. 

Als Gnade nicht: als von einer mit dem Volke gleichen Stufe der Rechtlichkeit und Genossen­schaft. Des wechselseitigen Vertrauens. Der Brüderlichkeit. Was für ein unbeschreiblicher himmlischer Jubel würde durch die Lande gehen, wenn es hieße: Wilhelm II. verzichtet auf das veraltete, unheilvolle, unmenschliche Recht, allein un­fehlbar über Krieg und Friedenau entscheiden.

Er bedarf der Mitarbeit, der Zustimmung des Volkes bei solchen, das Volkswohl betreffenden, schwerwiegendsten Entschlüssen. Er will nicht mehr der Herr, er will der Diener der deutschen Seele sein. Das Heer werde künftig vereidigt auf den Namen des Vaterlandes. Denn es ist ein Volksheer. Unverzüglich sollen Abgeordnetenhaus und Reichstag zusammentreten, die Umgestaltung der Verfassung vorzubereiten: dass un­ter dem gleichen, direkten, allgemeinen Proporzwahlrecht, in welchem die Majoritäten nicht mehr vergewaltigt, die Minoritäten nicht unterdrückt werden können, ein parlamentarisch und demokratisch regiertes Reich erstehe, in dem die Mini­ster vom Volkswillen ernannt und getragen und vor ihm und nicht vor einem einzelnen mehr verantwortlich sind.

Denn das deutsche Volk ist in Jahren unsagbaren Leidens gereift und den Kinderschuhen entwachsen: es braucht keine Bevormundung mehr. Es hat sie satt.

Majestät! Lastet das Gefühl der grenzenlosen Verantwort­lichkeit in schlaflosen Nächten nicht manchmal schwer auf Ihnen? Wie leicht würden Sie die Bürde erfinden, wenn das Volk selbst Ihnen hülfe, sie zu tragen, teilhabend an der Verantwortung, weil teilhabend an der Regierung.

Majestät, Sie haben es in der Hand, den Frieden baldigst zu beschwören. Der Friede eines solchen Krieges kann nicht geschlossen werden: zwischen den vom Volk gewählten und vor dem .Volk verantwortlichen Leitern freiheitlich regierter Länder einer­seits und zwischen einem einzig autoritären Manne anderseits, der verfassungsmäßig der einzig befugte zum Friedens­schluss ist und seine Macht nicht direkt vom Volk, sondern von der übernatürlichen, übermenschlichen Idee des Gottesgnadentums empfing. Die neue russische Regierung und Wil­son in Amerika – die friedensfreundlichsten Ihrer Feinde -, sie warten nur darauf, dass Sie den Weg zur Freiheit Ihres Volkes beschreiten, der es ihnen ermöglichen würde, die Stimme die­ses Volkes zu hören und mit seinen Erwählten zu verhandeln.

Denn darauf kommt es an: eine Basis zu finden, wo Mensch zum Menschen sprechen kann. Nicht: Fürst zum Untertanen. Nicht: Herr zum Diener. Nicht: Feind mehr zum Feinde.

Republik ist nur ein Wort: Wilson und Kerenski denken nicht daran, sie für Deutschland zu propagieren. Sie wollen nur mit einer vor dem Volke verantwortlichen Regierung Frie­den schließen: einen Frieden, den das ganze Volk vertritt.

Die innerpolitische Frage in Deutschland – erkennen Sie das, Majestät! – ist die wichtigste, um zu einem nahen Frieden zu gelangen. Bei weitem wichtiger als irgendein wahrscheinlicher oder unwahrscheinlicher Sieg im Westen, den die deut­sche Heeresleitung vielleicht noch immer für möglich hält. Denn in einem künftigen Weltreich – es wird nur mehr einen Imperialismus der Menschlichkeit geben – wird es nicht mehr ankommen auf militärische Erfolge. Das militärische Zeital­ter, in dem es noch möglich war, Kriege durch Waffen zu ent­scheiden, geht seinem Ende entgegen. Schon heute kämpfen nicht mehr die Heere, sondern die Völker gegeneinander.

Wichtiger als Soldatenmacht ist Wirtschaftsmacht: Kultur­macht.

Seien Sie der erste Fürst, der freiwillig auf seine fiktiven Rechte verzichtet und sich dem Areopag der Menschenrechte beugt. Ihr Name wird dann als wahrhaft groß in den neuen Büchern der Geschichte genannt werden, in denen man nicht mehr die Koalitions-, sondern die Geistesgeschichte der Menschheit schreiben wird. Dann werden Sie das Volks­königtum der Hohenzollern auf Felsen gründen; während es jetzt nur mehr ein Wolkengebilde ist, das, wenn Sie die Zeit nicht erkennen, wie bald im steigenden Sturm verflogen sein wird.

Ich bin Euer Majestät ergebenster Klabund