Artur Kutscher – Ein Lebensbild

 Von Herbert Günther – erschienen im Walter Dorn Verlag Bremen-Horn 1953

Vorwort

Dieses Büchlein ist 1953 erschienen. Den Verlag gibt es seit 1981 nicht mehr und der Autor ist leider verstorben.

Es wäre schade, wenn diese Kutscher-Biographie verschwinden würde. Und so veröffentliche ich sie. Sollte irgendjemand Rechte an ihr haben, bitte ich darum, sich mit mir in Verbindung zu setzten, denn ich will natürlich niemanden Rechte verletzen und sicher ist dann eine Einigung möglich.

Artur Kutscher (Gemälde von Albert Weisgerber, um 1910) Quelle: Wikipedia

Artur Kutscher – Ein Lebensbild 

Man sieht dem großgewachsenen, breitschultrigen Manne mit den leuchtend blauen Augen in dem immer frischen Gesicht das Blut eines kräftigen Volksstammes und unverbildeter Ahnen an. Bergleute aus dem Oberharz sind die väterlichen Vorfahren Artur Kutschers, Bauern im Niedersächsischen die mütterlichen, und beides in ununter­brochener Folge jahrhundertelang. Sein Vater ist der erste, der sich einem geistigen Berufe zuwendet, Volksschullehrer und Leiter einer Sprachheilanstalt. Von jenen Vorvätern hat Kutscher eine tiefe, selbstverständliche Verbundenheit mit allem, was Natur ist, geerbt und ihre zähe Unbeirrbarkeit, ihren unermüdlichen Arbeitstrieb, ihren heiteren Stolz dazu, vom Vater seine Kunst des Erziehens und die Freude daran. Mit Artur Kutscher kommt am 17. Juli 1878 zum ersten Mal ein Spross der Familie in einer Stadt zur Welt. Sein Geburtshaus stand in Hannover, dem seine Mutter bis zu ihrem Heimgange treu geblieben ist. Der Vater starb früh, die Mutter, zweiundachtzigjährig, 1938.

Kutscher hat einmal über die Pennälerjahre geplaudert: „Ich habe die Hannoverschen Schulen gründlich besucht, die Vorvorschule an der Friedrichsstraße bei Schorse Meyer, die Vorschule an der Georg Straße bei Meyer, Gehrs und Aschoff, und dann die Gymnasialklassen von Sexta bei Uthoff bis Oberprima bei Capelle, Sexta und Untersekunda sogar zweimal. Schon in der Quinta erklärte Wortmann meiner ver­zweifelten Mutter, sie solle mich aus der Schule nehmen und ein richtiges Handwerk lernen lassen, etwas Gescheites würde aus mir nie. Meine Erinnerungen aus der Schulzeit sind im ganzen von angenehmer und erfreulicher Art. Die Lehrer waren natürlich als Pädagogen und Wissenschaftler verschieden wie als Individuen, erfüllten aber so ziemlich alle ihre Aufgabe im Sinne der Zeit. Einige waren fast Idealbilder, andere kamen der Karikatur sehr nahe.

Der wissenschaftliche Ertrag war nur für Spezialisten erfreulich, in summa mittelmäßig. Die Musterschüler meiner Jahrgänge waren Juden oder anormal entwickelte, sie sind entweder früh gestorben oder schnell gescheitert, jedenfalls sind sie alle nicht das geworden, was sie auf der Schule versprachen.

Wir haben noch den Stumpfsinn mitgemacht, dass uns als Zehnjährigen Phrasen eingedrillt wurden, aus denen wir einen deutschen Aufsatz über den Alexanderfeldzug zusammensetzen mussten. .Endlich brachte ein Soldat hocherfreut einen Helm voll Wasser‘ — dieser zwanzigmal von der ganzen Klasse laut gesprochene Satz ist mir noch heute in Erinnerung. Das Extemporale, diese Sammlung von Fußangeln und Selbstschüssen, bildete noch den Hauptmaßstab für unsere Kenntnisse in fremden Sprachen. Höchstes Ziel der Übersetzung war Richtigkeit, nicht deutscher Stil.

Immerhin waren wir weit entfernt von dem bloß klassischen Sinne, der etwa auf dem Leipziger Thomasgymnasium zur selben Zeit noch den ausschließlichen Gebrauch der lateinischen Sprache auch in den Unter­haltungen und Zwischenpausen verlangte. In unserer Obersekunda hing in großer Schrift des jungen Kaisers Ausspruch: Wir sollen nationale junge Deutsche erziehen und nicht junge Griechen und Römer. Der lateinische Aufsatz wurde abgeschafft, dem Deutschen und der Ge­schichte, auch den Naturwissenschaften mehr Zeit und Sorgfalt gewidmet, das Französische und Englische praktischer gehandhabt, Umgangssprache geübt, Zeitungen gelesen, persönliche Briefwechsel mit jungen Franzosen und Engländern vermittelt, und ganz besonders die körperliche Ausbildung neben der geistigen betont.

Ein Bedürfnis nach starkem Ausleben war natürlich auch vorher schon vorhanden, aber wir konnten ihm nur auf heimlichen Wegen folgen. Wir gründeten eine verbotene Schülerverbindung, den „Touristenverein Deister“, der in einer Klasse bescheidene Mittel sammelte für harmlose Ferienfahrten in die nahen Berge oder in die Heide, die wir in wenigen Jahren nach allen Richtungen hin durchstreiften. Der heutigen Jugend wird diese Heimlichkeit ganz unbegreiflich sein, aber wir konnten nur auf solche Weise wandern.

Plötzlich wurden die Turnstunden vermehrt, Befreiung von ihnen, früher häufiger, war unmöglich. Turnspiele wurden eingerichtet, zuerst frei­willig, dann pflichtgemäß. Der Sportgeist erwachte, man trat dem Turn­verein, dem Tennisklub bei, Schauturnen wurden veranstaltet zur Er­höhung des Ehrgeizes, Wettkämpfe vorbereitet, die auf dem alljährlichen Schulfeste zu öffentlichem Austrag kamen. Die Sieger wurden vom Direktor in einer Ansprache gefeiert und mit Kränzen und langen bunten Schleifen geschmückt.

Diese Schulfeste waren auch die einzige öffentliche Gelegenheit der Be­rührung mit dem anderen Geschlechte, den höheren Töchtern und Institutsmädeln im Tanzzelt. Hier durfte alles vom schwarzmützigen Sextaner bis zum rotmützigen Primaner mit einer Erkorenen antreten. Dazu kam dann die Tanzstunde, die fast für alle Schüler während des Besuches der Obersekunda stattfand, die Tanzstunde mit ihren Bällen und Festlichkeiten, die immerhin so offiziell waren, dass Lehrer wie der alte Grahn wiederholt mit ihren wissenschaftlichen Anforderungen darauf Rücksicht nahmen. Die völlige Trennung aber von der weiblichen Jugend hatte eine ganz ungesunde Atmosphäre geschaffen, so dass diese Feiern zum Teil recht beklommen und aufregend waren; uns war ja noch der erste Kollegbesuch mit ziemlich reifen Frauen beunruhigend. Mancher hat sein Leben lang unter diesen unnatürlichen Jugendverhältnissen zu leiden gehabt. Unsere heutige Jugend hat es auch in dieser Beziehung viel besser und kann dafür gar nicht genug dankbar sein.

Sicher war eine Folge dieser Isolierung die Ausgestaltung der männ­lichen Zusammenkünfte in Kneipen mit studentischem Komment, Gesang, Vorträgen und Bierzeitungen. Diese Bierzeitungen bildeten einen Höhepunkt unserer Geselligkeit durch die genial-spöttischen Zeichnungen von Oskar Garvens, der unsere großen Schulerlebnisse behandelte und schließlich als Münchner Kunstakademiker sogar eine Mappe prächtiger Karikaturen schuf unter dem Titel „Meine lieben Lehrer“.

Anlass zu solchen alkoholischen Veranstaltungen boten die verschiedenen Schülervereinigungen oft. Es waren nicht einfache Saufereien, sondern idealisch dekorierte Angelegenheiten einer fröhlichen, ganz auf sich selbst angewiesenen männlichen Jugend.

Besonders bemerkenswert an den Hannoverschen Schuljahren ist mir die reiche künstlerische Bewegung; für die Entwicklung von Anlagen zur bildenden Kunst, zum Zeichnen, geschah — immer nach Maßgabe der damaligen Anschauungen — manches, und die Begabteren konnten ihre Versuche alljährlich zu Ostern in besonderen Ausstellungen den Mitschülern und interessierten Kreisen vorführen. Die Musikfreunde sammelten sich im Chor und Orchesterverein, der im Winter und bei fest­lichen Gelegenheiten der Schule auftrat und Konzerte veranstaltete. Literarische Neigungen offenbarten sich zuerst durch Herausgabe einer Klassenzeitung, die wir in Obertertia begannen und in fast zwei Jahr­gängen bis Obersekunda erscheinen ließen. In der Untersekunda grün­deten wir als Gegenstück zu einem gesellig-alkoholischen Leseverein unseren germanisch eingestellten Leseverein Bragi, der unter strengstem Ausschluss erregender Getränke während der Lesungen zum Ziele hatte, uns im Vortrag von Dichtungen zu üben und die wichtigsten Werke der dramatischen Weltliteratur kennen zu lernen; nach den Lesungen, die abwechselnd in Privatwohnungen der Mitglieder stattfanden, durfte Bier oder Bowle gereicht werden. Als Rezitatoren aufzutreten, war uns bei den Schulfeiern Gelegenheit genug gegeben. Der Ernst unserer Übung hatte den Erfolg, dass wir immer wieder herangezogen wurden. Von da zum mimischen Spiel war nur ein Schritt, und der war umso leichter, als unser Lyzeum eine uralte Tradition besaß; ich erinnere nur an den mimischen Renommierschüler Iffland und an Karl Philipp Moritzens „Anton Reiser“.

August Wilhelm Iffland als Bittermann Quelle: Wikipedia

Schon in Quarta musste ich als Chorführer mitwirken bei einer von Professor Nitzschner inszenierten Aufführung der Orestie des Aischylos mit Chören nach Gluckschen Motiven, die im alten Residenztheater stattfand und unter großem Zudrang wiederholt werden musste. Im Leseverein arbeiteten wir selbständig, aber Lehrer standen uns wieder­holt bei Auswahl der Stücke und Vorbereitung von Aufführungen zur Seite, Nitzschner immer wieder, der namhafte Kupferstichsammler, Musik­freund und Bayreuth-Enthusiast, und sein Freund Dr. Gräfenhain, der uns Jungen kameradschaftlich nahestand, und ganz besonders der alte Grahn, der selten oder nie bei unseren Sitzungen fehlte, der seine Mit­gliedsbeiträge zahlte wie wir, und in dessen Wohnung wir so oft lasen wie in der irgendeines anderen Mitgliedes. Auch Hornemann half uns öfter, begünstigte aber mehr einen anderen Leseverein. Wir spielten ein ganz ansehnliches Repertoire: Körners Nachtwächter, Michael Beers Paria, Geibels zweiaktiges Lustspiel Meister Andrea, Halms Camoes, Goethes Bürgergeneral, mehrere Werke von Hans Sachs, die Handwerkerszene aus Shakespeares Sommernachtstraum. Wir waren so ein­gespielt und hatten so tüchtige Mitglieder, dass wir zur Feier des 450. Jubi­läums unserer Anstalt die Elektra des Sophokles fast allein besetzten und würdig darstellen konnten, mit Bernhard von Jacobi in der Titelrolle; ich gab den Orestes. Jacobi zuliebe, der ja dann bald zum Deutschen Theater ging und Münchener Hofschauspieler wurde, spielten wir ein Jahr darauf zum Abschied vom Gymnasium den König Oedipus des Sophokles. Zur Feier unseres Schlussexamens gaben wir eine von mir verfasste Schulsatire, in welcher ich den Direktor gab, und Jacobi als Verwandlungsschauspieler in vier Rollen auftrat. Ich erwähne dies nur deshalb, weil die Aufführung in Anwesenheit vieler Lehrer und einer großen Anzahl jüngerer Schüler stattfand, ohne dass irgendwelche Be­anstandung seitens der Schulleitung erfolgte.“

Artur Kutscher befasst sich je ein Semester in Kiel und Berlin mit Literaturwissenschaft, Kunstgeschichte und Philosophie, vor allem aber wendet sich der Norddeutsche während seines Studiums München zu, das seine Wahlheimat werden und bis heute bleiben sollte. Bei der Nachricht von Jacobis Heldentod erinnert er sich später im französischen Schützengraben jenes Sophokles-Abends: „Das war die Entscheidung, meines Dilettantismus, Deines Künstlertums.“ Ursprünglich hatte Kutscher Pfarrer werden wollen, dann Schauspieler, nun tritt der Studiosus als tätiges Mitglied in den Akademisch-dramatischen Verein, als dessen Vorsitzender er dann gewirkt hat. Otto Falckenberg hat 1938 in dem Kutscher-Dankbuch festgehalten, dass sie gemeinsam schon damals 1897/98 als Studenten „mancherlei unternahmen, was in Münchens Theatergeschichte weiterleben wird, wie etwa die Aufführung von „Robert Guiscard“, Niebergalls „Datterich“, Hamsuns „An des Reichen Pforten“, Macchiavells „Mandragola“. Danach hat Kutscher auch dem Neuen Verein als künstlerischer Beirat angehört und ist im ganzen mindestens fünfzig­mal als Darsteller aufgetreten. Diese Vertrautheit mit der Bühnenpraxis sollte später seiner Lehrtätigkeit zugutekommen. „In aller Rhetorik liegt ein Element des Schauspielerischen“ (Gustav Pauli).

Gedenktafel für Otto Falckenberg an seinem Wohnhaus in der Viktoriastraße 11 in München Von GFreihalter – Eigenes Werk, CC BY-SA 3.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=65522207

Als Dissertation wählte Kutscher sich das Thema „Das Naturgefühl in Goethes Lyrik“. Für Kutscher war es bezeichnend: es lag ihm nahe durch seine eingeborene Naturverbundenheit (wiederholt hat er z.B. noch in späteren Jahren durchs Höllental auf die Zugspitze geführt), es griff mit der ihm eigenen Kühnheit nach dem größten Beispiel und es bot die Möglichkeit zum Ertasten neuer Methoden. Mit Recht betont sein Vor­wort, es handle sich hier um eine ungewöhnliche Arbeit, „in der das persönliche Gefühl, die eigene Beobachtung viel mit- und nachschaffen muss“. Bei aller Akribie hebt er etwa hervor, ein Gedicht wie: „Es schlug mein Herz, geschwind zu Pferde“ lasse sich „nur durch das Gefühl auf­fassen“, nicht durch philologisierendes Zergliedern. Bezeichnend z.B. ist die Beweisführung, Düntzers Datierung des Ganymed sei „ganz undenkbar, da Goethes Gefühle nur zu dieser Zeit eines solchen Schwunges fähig waren“, und eben gegen die besserwisserische Goethe-Philologie eines Düntzer findet der wissenschaftliche Debütant bereits entschiedendste Worte der Abfertigung. So führt er Düntzers Satz: „Die Überschrift ,An den Mond‘ ist nicht bezeichnend, auch keineswegs zu billigen, dass der Mond im Gedichte selbst gar nicht genannt wird“ als nur ein Beispiel an, „bis zu welcher Anmaßung sich eine Kritik versteigen kann, die vom wahren Gehalt dieses Gedichtes auch nicht die leiseste Ahnung hat“. Die Zeichnung „Kutscher tötet Düntzer“ von Oskar Garvens hält diesen Kampf des jungen musischen Wissenschaftlers gegen den überheblichen Besserwisser mit graphischem Witz fest.

Artur Kutscher hatte dann auch die Genugtuung, sowohl von einem Wissenschaftler wie Max Koch zu erfahren, welchen großen Wert er darauf lege, seine Arbeit für die Sammlung der Breslauer Beiträge zu gewinnen, wie die Anerkennung lebender Künstler zu finden, und das wird ihm, dem bei aller Beherrschung des wissenschaftlichen Rüstzeuges künst­lerisch Empfindenden, der größte Stolz gewesen sein. Richard Dehmel schrieb ihm: „Ich bin kein Freund von philologischen Traktaten über künstlerische Gefühlswerte, aber Ihnen bestätige ich gern, dass Ihre Abhandlung über Goethes Naturgefühl auch dem schaffenden Künstler und noch mehr wohl dem Kunstliebhaber wertvolle Aufschlüsse bietet… Es ist ein besonderer Reiz, die unausgesprochenen Folgerungen im Verlauf des Buches selber zu ziehen. In ähnlicher Weise ist es fesselnd, wie Sie im letzten Kapitel durchblicken lassen, dass sich Goethe mit seiner logi­schen Abklärerei den eigentlichen Kraftquell seines lyrischen Genies zeitweilig verschüttet hat… Ich würde all das gern einmal mündlich ausführlicher mit Ihnen besprechen.“ Michael Georg Conrad, der ihn gleich „zu dem fesselnden Stoff und seiner ebenso fesselnden glücklichen Bearbeitung“ beglückwünscht hat, führt in einer anschließenden längeren Besprechung u.a. aus, „für den aufmerksamen Leser“ habe Kutscher „den vollen Beweis erbracht, dass mit dieser neuen ästhetisch-philologischen Goethe-Schrift nichts Überflüssiges und nichts Unnützes geschehen ist. Unsere Nationalliteratur ist unserer hart arbeitenden Jugend nicht mehr als rubrikartig gegliedertes, historisch eingeteiltes Pedantenzeug anzu­bieten und mit kritischer Übergescheitigkeit zu übermalen, sondern als die fortströmende, lebende Schönheit darzustellen.“

Schon als Student hatte Kutscher Fühlung mit bedeutenden zeitge­nössischen Dichtern gewonnen. So besuchte er, mit einem fünfaktigen Drama „David“ in der Tasche, den gleichfalls in Hannover geborenen Frank Wedekind, der den Unbekannten sehr herzlich aufnahm und damit den Grund zu jahrzehntelangen Beziehungen legte. Zu Kutschers mimischen Lieblingserinnerungen gehört es, dass er bei der Uraufführung von Wedekinds „König Nikolo“ in der Elendenkirchweih mitwirken konnte. Und Wedekinds „Franziska“ ist „Artur Kutscher in Freundschaft“ gewidmet“.

Max Halbe (Porträt gemalt von Albert Weisgerber, 1909) Quelle: Wikipedia

Max Halbe hat 1938 die reizvolle Erinnerung aufgezeichnet: „Es war so gegen die Jahrhundertwende hin. Man nannte das damals fin de siecle und meinte damit nicht nur einen Kalendervorgang: vielmehr einen alle Welt beherrschenden Zustand müder Blasiertheit, verlöschenden Aus­klingens, wie ihn etwa Hofmannsthals „Der Tor und der Tod“ und Beardleys galant-preziöse Zeichnungen auch für den Heutigen am besten kennzeichnen. In dieser Zeit einer gewissen koketten Weltuntergangs­stimmung, wo nichts hingehaucht genug und nichts preziös genug er­scheinen konnte, erschien eines Tages ein etwa zwanzigjähriger junger Student in meiner damaligen Münchner Wohnung, Wilhelmstraße 6 und stellte sich als Hörer der Literaturgeschichte und Germanistik vor. Er war groß und schlank und trug auf seinen wenn auch jugendlichen, so doch breiten Schultern, die so gar nichts von fin de siecle an sich hatten, wie übrigens der ganze Mensch nicht — er trug, sage ich, einen richtigen Goethekopf auf seinen Schultern.“ Damals begann Kutschers Lebens­freundschaft mit Max Halbe.

1904, ein Jahr nach der mündlichen Doktorprüfung, machte Kutscher die Bekanntschaft mit einer Wedekind so entgegengesetzten Dichternatur wie Hermann Löns, der damals soeben sein Erstlingsbuch herausgebracht hatte und einsam lebte. Artur Kutscher hat dann das Entstehen aller Hauptwerke von Löns begleitet. In Kutschers „Kriegstagebuch“ ist einmal von seinen vielen Wanderungen mit Hermann Löns die Rede: „Er lehrte mich das Modern und Wachsen sehen, die Bewegung, den Kreislauf, den Kampf beobachten in Pflanzen- und Tierwelt, den Humor und die Tragik der Natur, für die er immer neuen Ausdruck fand. In der Lüne­burger Heide sahen wir die einzelne Eiche im Föhrenwalde gefangen, untergekriegt, vernichtet von der Übermacht der Nachbarstämme. Und wie stand ich erschüttert an dem kleinen Wassertümpel, an dessen Böschung mir Hermann Löns mit seinem Spazierstock ein paar Kröten bloßlegte, denen ein kleines Raubvieh das Rückgrat durchbissen hatte, damit sie ihm nicht entfliehen konnten. Eine lebendige Speisekammer.“ Waren solche Einblicke in die Härte der Natur für Kutscher der Reiz dieser Wege, so bedeutete seine literarkritische Unerbittlichkeit für Löns etwas bisher Unbekanntes. Es ergab sich schnell, dass Löns ihn zur Mit­arbeit am „Hannoverschen Tageblatt“ einlud, wo Kutscher — für Han­nover neu — regelmäßig vielbeachtete Besprechungen von Neuerscheinun­gen brachte: „Dafür muss Platz sein. So etwas fehlt uns sehr“ (Löns). Noch 1909 dankte Löns ihm als Herausgeber der Beilagen „Heimat“ und „Kunst und Literatur“: „Ich weiß, wie sehr Ihre Mitarbeiterschaft uns in gebildeten Kreisen nützte.“ Umgekehrt bewarb Löns sich um Mitarbeit bei der Kutscher nahestehenden Zeitschrift „Werdandi“, bei der Richard Dehmel Kutschers Aufsätzen „im Zusammenhang mit ihrem ferneren Einfluss allerlei gute Folgen“ prophezeite.

Als Kutscher sich nach der Einjährigendienstzeit und längeren Reisen durch Österreich-Ungarn, die Schweiz, Italien und Frankreich 1907 in München als Privatdozent der neueren deutschen Literatur habilitiert, ist das erste, dass er sofort alle älteren lebenden Münchener Dichter persönlich aufsucht und sie über ihr Verhältnis zur Literatur der Zeit befragt, so Lingg, Greif, Heyse, Heinrich von Reder, dessen Gedichte er nach Reders Tode herausgab (im Vorwort erzählt er von dem Besuch).

Der Schriftsteller Hans Harbeck gab schon im Sommersemester 1908 die Anregung, ein Seminar zu gründen. Nachdem sich rasch ein kamerad­schaftlich eng verbundener Kreis von Hörern um Kutscher gebildet hatte, ist es wie ein Sinnbild, dass die erste Eintragung im Gästebuch von einem Dichter stammt, von Kutschers hannoverschem Landsmann Karl Henckell, der auch an den Übungen teilnahm und — später veröffent­lichte — Referate über Lyrik, Rhythmus in der Dichtung und ähnliches hielt. Wedekind war in einer Vorlesung von Kutscher gewesen, hatte dessen charakteristischen Ausspruch gehört: „Humor ist Weltanschauung“ (er steht auch in Kutschers Schrift „Hebbel als Kritiker des Dramas“) und zitierte ihn später im „Stein des Weisen“: „Humor ist Weltanschauung, wie schon der Dr. Artur Kutscher sagt.“ Walter von Rummel und Ludwig Scharf haben Kutschers Kolleg wahrgenommen, ebenso Kurt Martens oder Georg Reicke, der sich 1922 als „unnemals Bürgermeister von Berlin, zuletzt stud. phil. bei Kutscher“ in dem zweiten Band des Gäste­buches eintrug; und 1930 rief der greise Franz Kranewitter Artur Kutscher brieflich zu: „Ich wünsche mir nur, fünfundvierzig Jahre jünger zu sein, um als Hörer zu Ihren Füßen sitzen und Ihrem Vortrag lauschen zu können.“

Frank Wedekind Quelle: Wikipedia

Bei diesem innigen inneren Verhältnis Artur Kutschers zur lebendigen Dichtung und zu den zeitgenössischen Dichtern konnte es nicht fehlen, dass bald mit jenen Autorenabenden begonnen wurde, die dann jahrzehntelang ein Ruhm seines Kreises waren. Es geschah nicht pro­grammatisch, sondern entwickelte sich ganz von selbst. Artur Kutscher hatte auf Bitten von Hermann Löns insbesondere seine niedersächsischen Landsleute und ihre Werke in jenen Buchanzeigen des „Hannoverschen Tageblattes“ kritisch dargestellt (das Lyrikreferat in der „Literatur“ war bald hinzugekommen). Als nun Lulu von Strauss und Torney 1910 durch München reiste, war sie bereit, im Bürgerbräu mit ihm und seinen älteren Schülern zusammen zu sein, wobei sie auf Wunsch der Tafelrunde im Laufe des Abends einige Gedichte von sich sprach.

Diese Autorenabende wurden bald eine regelmäßige Einrichtung. Das Gästebuch ist auf vier starke Bände angewachsen und enthält eine Fülle von Gedichten, Aphorismen, Scherzen, auch Zeichnungen und Noten. Hier begegnen einander Persönlichkeiten verschiedenartigster Prägung. Aus dem Jahre 1911 stammt die erste Eintragung von Wedekind, der 1916 zur Erinnerung an die Vorlesung seines .Bismarck‘ notiert: „Der Zweck des Dasein ist die Steigerung der Kraft, zu deren Erhaltung der Kampf ums Dasein unentbehrlich ist.“

Ludwig Ganghof er philosophiert 1913 gleichmütig:

Kommt’s guat oder schlecht,
Schau, alls is mir recht,
Weil eh scho alls gleich is,
Wann oaner a Leich is.

Theodor Däubler fordert 1916: „Erst werde Marmor, dann sprich!“

Rudolf Greinz meint 1922: „Des Menschen treueste Gefährtin ist die Arbeit, denn sie kommt immer zu ihm, so oft er sie ruft.“

1924 trägt Peter Dörfler das Wort ein: „Ich glaube erst dann an die Kraft der Vaterlandsliebe, wenn sie an einem bestimmten Punkt der Heimat wurzelt.“ Waldemar Bonsels sagt einmal: „Es ist nicht Auf­gabe der Kunst, etwas Alltägliches besonders hinzustellen, sondern etwas Besonders allgemein.“ Kurt Martens: „Dichten heißt: mitlebend Leben spenden — Dichtkunst genießen: mitlebend Leben gewinnen.“

1926 vermerkt A.M. Frey: „Man kann gegen jeglichen Feind nichts besseres zuhilfe rufen als des Feindes besseres Selbst.“ Alfred Neumann erkennt 1929: „Die Schönheit des Lebens wird nicht kleiner, weil seine Hässlichkeit groß ist.“

Thomas Mann, 1937 Foto von Carl Van Vechten Quelle: Wikipedia

Am 7. November 1932, wenige Wochen vor dem Umsturz, trägt sich Thomas Mann mit den Worten ein: „Herzlich froh, nach langer Pause wieder in diesem liebenswürdigen, jugendlich emp­fänglichen Kreise zu weilen, mit vielen Dank für den verehrten Lehrer dieser Jugend und seinen bedeutenden Kommentar.“

Zu den frühesten Gästen der Autorenabende gehörte Max Halbe, der fast 70 jährig, nach vielen Kundgebungen im Gästebuch, 1934 als Dichter der „Jugend“ das Geständnis von Max Dreyer: „Es gibt nur ein Glück: jung zu sein“ verständnisvoll mit unterschrieb. Ferner Friedrich Huch, Josef Ruederer, Georg Queri, Ludwig Scharf, Alexander von Gleichen-Russwurm, Wilhelm Weigand, Börnes Frh.von Münch­hausen, Heinrich Mann, Stefan Zweig, Hans Brandenburg, Adolf von Hatzfeld, Josef Schanderl. Auch Rilke zögerte 1912 nicht, Kutscher von Duino aus seiner Bereitschaft zu versichern. Zu den späteren Gästen zählen unter den inzwischen Dahingegangenen Rudolf G. Binding, Bruno Frank, Hans Reiser, Joachim Ringel­natz, Wilhelm Schmidtbonn, Willy Seidel, Thassilo von Schef­fer, Ernst Wiechert. Ebenso lasen u.a. Stefan Andres, Josef Martin Bauer, Richard Billinger, Georg Britting, Oskar Maria Graf, Curt Langenbeck, I. M. Lutz, Ernst Penzoldt, Hans Rehberg, Albrecht Schaeffer, Ina Seidel, W. E. Süskind, und Karl Benno von Mechow lud anschließend drei Studenten auf einen Tag zu sich zu Gast, um die fruchtbare Aussprache fortzusetzen. Max Halbe, Hans Carossa, Walter von Molo, Josef Ponten zählten zu den engeren Freunden des Kreises und waren oder sind seine „Ehrenmitglieder“.

Börries v. Münchhausen, Anfang der 1940er Jahre Quelle: Wikipedia

Hans Carossa bekannte in seinem Beitrag zum Kutscher – Festbuch 1938: „Hier konnte der Fremde in unmittelbarer Nähe die zusammenhaltende Kraft Ihrer Natur spüren. . . Sie klagten über Abnahme des Gehörs; als Sie sich aber dann erhoben, um das Vorgelesene, das Ihnen ganz neu war, zu deuten und zusammenzufassen, da stellte sich heraus, dass Ihrem geistigen Ohr nichts entgangen war, keine Zwischenfarbe, kein ver­borgener Scherz, kein Hinweis.“ Isolde Kurz fand zu ihrem Dank für „Stunden reiner Freude“ das schöne Gleichnis: „Die Atmosphäre jugend­licher Lebendigkeit, womit der Lehrer die junge Schar geistig zu sich herangezogen hielt, ließ diese wechselnden Schülergenerationen wie immer neue hoffnungsreiche Frühlinge erscheinen.“

Bald begann Kutscher mit der Sitte, in jedem Semester an einem Abend einen oder mehrere seiner Studenten aus ihren eigenen Manuskripten lesen zu lassen. Der Kutscher-Kreis zog ja immer von neuem Begabungen an und wirkte als Brutstätte für Talente. So debütierten hier in den ver­schiedenen Generationen Kutscher-Schüler, die sich einmal literarisch einen Namen machen sollten. 1911 waren es Alfred Henschke-Klabund und Hanns Johst, 1913 Josef Wenter, Edlef Koppen und Josef Magnus Wehner. Nach 1918 Paul Alverdes, Bert Brecht, Erich Ebermayer, Manfred Hausmann, um 1925 Heinz Coubier, Hermann Gressieker, Herbert Günther, Hugo Härtung, Roland Ziersch, und so ist es geblieben. Eugen Roth, Hans Grimm, Eugen Ortner, Martin Kessel, Quirin Engasser, viele andere noch sind Hörer bei Kutscher gewesen.

Am 1. Mai 1914 trägt Klabund „der Kutscher-Kneipe in dankbarem Gedenken“ das ,Trinklied‘ ein:

Brüder, laßt im frohen Kreis
Herz und Becher klingen.
Was das goldne Leben weiß,
Soll die Freude zwingen.
Und im selbstgeformten Bild
Mag es sich entfalten,
Was in tiefster Seele quillt,
Will zum Lichte walten.

Grauer Tag versank in Nacht,
Und die Kerzen sprühen.
Dunkel ist allein gemacht
Um der Seele Blühen.
Herrlich fühle ich mich nah
Größesten Bezirken,
Was ich einst im Gotte sah,
Wird im Freunde wirken.

Bruder, halte deine Hand
Fest auf meinem Herzen.
Ist’s erst im Kristall gebannt,
Wird es nicht mehr schmerzen.
In der Erde braunen Schacht
Mags geruhig sinken,
Bis die Sonne sich entfacht.
Und die Tiefen blinken.

Klabund 1911 Quelle: Akademie der Künste (AdK) Berlin https://www.adk.de/

Schon vorher hatte Klabund an Kutscher geschrieben: „Sie wissen, wie dankbar ich Ihnen bin für alles, was Sie zu meiner Förderung getan haben. Und das ist nicht wenig.“ 1921 ein neuer Dank: 

Einmal noch den Abend halten
Im versinkenden Gefühl!
Der Gewalten, der Gestalten
Sind zuviel.

Sie umbrausen den verwegnen Leuchter,
Der die Macht erhellt.
Fiebriger und feuchter
Glänzt das Angesicht der Welt.

Erste Sterne, erste Tropfen regnen,
Immer süßer sinkt das Blatt am Baum.
Und die brüderlichen Blitze segnen
Blau wie Veilchen den erwachten Traum.

Erich Mühsam hält in seinen 1949 posthum erschienenen Unpolitischen Erinnerungen unter dem Titel „Namen und Menschen“ fest: „Jeder Münchener Literat von Ansehen und Können ist im Kutscher-Seminar zu Wort gekommen, und ich war nicht nur die etlichen Male dort, wenn ich selber vorzulesen hatte, sondern kam auch sehr häufig als Gast, wenn ein Kollege in Apoll seinen Fittichgaul ritt. Dort habe ich z.B. Georg Kaiser kennengelernt, dort hörte ich mehrmals Max Halbe ein neues Drama vorlesen, dort saß ich mit Georg Hirschfeld beisammen und freute mich auch manchmal mit dem Nachwuchs an Lautenschlag und Gesang von Frank Wedekind.“ Und in Hans Brandenburgs Er­innerungen „München leuchtet“ (1953) findet sich der Satz: „Das war einer der berühmtesten Münchner Kreise, ein Kreis, der sich mit jedem Semester jugendlich erneuerte, und durch den im Laufe der Zeit die ganze lebende Literatur gastweise hindurchgegangen ist. . . Der Same, den ein lebendiger und dem Leben verschworener Lehrer hier jugend­liebend und gegenwarts- wie zukunftsfreudig ausstreute, ist reichlich Frucht geworden.“

Im gleichen Jahre 1910, in dem der erste Autorenabend stattfand, ver­anstaltete Kutscher die erste Exkursion des theaterwissenschaftlichen Oberkurses, der bis 1953 weitere 158 folgen sollten. 1909 hatte er an der Münchener Universität die Theaterwissenschaften als ständiges Lehr­fach begründet. Kam es ihm schon in der Literaturwissenschaft darauf an, über die Buchweisheit hinaus zu den schöpferischen Quellen zu finden und zur Lebendigkeit des Schaffensvorganges, weswegen er unter Pro­test der Vorgesetzten und stürmischem Beifall des Auditoriums das damals als Wagnis geltende und ihn gefährdende Unterfangen begann, über lebende Dichter zu lesen, so lag ihm in der Theaterwissenschaft, wie er sie auffasste — mit dem Kernpunkt im Mimus, nicht im Logos — noch mehr an unmittelbarer Anschauung. Die frühe Erkenntnis, in bayrisch-österreichischen Stamm als dem theaterfreudigsten zu leben, tat das ihre dazu. Am 1. Mai 1910 wurde die erste Exkursion nach Ober­ammergau unternommen, aus den Erfahrungen des Offiziers heraus von ihm rasch organisiert. Dergleichen war damals unerhört. In jedem Semester sind dann die Stätten der süddeutschen Volks-, Bauern- und Passionstheater besucht worden. Kutscher wandte sich ihnen, der Lieb­haberbühne (als Präsident des Verbandes Bayrischer Theatervereine „Volksspielkunst“) sowie „den Zusammenhängen des Theaters mit Tanz, Nationaltanz, Volkslied und Volkskunde“ zu, um sich — wie er 1925 erklärt hat — „dem internationalen Theater und der Theatergeschichte gegenüber im Boden zu verwurzeln“. Nach dem ersten Weltkriege be­suchte er in zahlreichen Studienfahrten die ausländischen Theater: 1927 ging es zum ersten Mal nach Italien, 1928 nach Paris (wo die deutschen Studenten eine spontane, leidenschaftliche Sympathiekundgebung ihrer französischen Kommilitonen erfuhren, und Gaston Baty sie in Erinnerung an seine Münchener Studienzeit im Theatre Montparnasse öffentlich begrüßte), 1930 nach Südfrankreich, 1933 nach Spanien und Marokko, 1934, 1936, 1938 nach Tripolis und bis 1935 allein dreimal nach Griechenland.

Auf den Exkursionen hielt das Gästebuch reiche Ernte. Max Marter­steig bekundet 1926 in Köln seine herzliche Zuneigung zu der Kutscher-Gefolgschaft:

Immer versinkt es bei uns, das liebe Theater der Deutschen, Drum sei die Jugend gegrüßt, die ihm zur Blüte verhilft!

1927 tröstet sich Max Grube in Meiningen:

Was heute schön heißt, gilt in wenig Jahren
vielleicht als wunderliche Mode nur:
Doch ewig bleibt das Urgesetz des Wahren
Im großen Buch geschrieben der Natur! 

Der Schauspieler Hans Kamm auf vermerkt 1928 in Graz:

In das Gehirn von vielen Bühnenleuten
Geht außer den Kulissen nichts hinein.
Auch mit den Brettern, die die Welt bedeuten,
Kann eine Stirn vernagelt sein.

Herbert Eulenberg Von Eulenberg – Eigenes Werk, CC BY-SA 3.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=5843110

Herbert Eulenberg schrieb zur Erinnerung an den Besuch bei ihm in Kaiserswerth ins Gästebuch:

Einerlei, wohin wir alle zielen,
Herrlich bleibt’s, das Leben nachzuspielen.
Was man immer auch damit erstrebt,
Heil dem, der der deutschen Bühne lebt!

Auf jenen Fahrten bestätigt sich auf das Glücklichste die Erfahrung Fritz Schumachers: „Wer den Maßstab überprüfen will, den er an seine Lehren zu legen hat, braucht nur einmal mit seinen Schülern auf die Wanderschaft zu gehen.“

Die erste griechische Reise hat Artur Kutscher selbst geschildert, und aus diesem Bericht sei wenigstens ein Auszug wiedergegeben:

„Anlass der Fahrt waren meine langjährigen Vorlesungen über das Theater der Griechen und Römer. Ich selbst kannte den Gegenstand nur aus Büchern. Nun tritt aber hier der seltsame Fall ein, dass sich die Wissenschaft zwar mit keinem Theater mehr beschäftigt hat als mit dem der Griechen, dass aber über kein Theater widersprechendere An­schauungen herrschen als über dieses. Problematisch ist nicht der Zu­schauerraum, der auf dem demokratischen Prinzip der allgemeinen Gleichheit beruht, der gleichen Gunst in optischer und akustischer Hinsicht, problematisch ist nicht die Orchestra, eine kultische Einrichtung, die an Bedeutung verliert und verschwindet in dem Maße, wie das Theater sich entwickelt. Problematisch ist allein das Podium, nämlich, ob über­haupt eins da war, und wenn ja, dann wo? In der Orchestra? In der Mitte? Am Rande? Die Archäologen und Philologen streiten darüber unter sich und untereinander. Aber die Frage ist nicht allein zu lösen von den älteren Spezialwissenschaften. Hier muss die Fachwissenschaft des Theaters mittun, die Ergebnisse jener verarbeiten und nachkontrollieren. Die Beschäftigung mit der Theaterliteratur ergibt, dass die Archäologen und Philologen oft ohne jedes Verständnis sind für die mimischen Grund-tatsachen. Das ist aber das Wichtigste am Theater.

Es wuchs mit den Jahren der Drang, das Theater der Antike selber zu sehen, mir ein Urteil zu bilden und meinen Schülern die Denkmäler zu zeigen und die Streitfragen am Gegenstande selbst zu erörtern. So unter­nahmen wir denn im Herbst 1927 unsere erste Exkursion nach Griechen­land, wie wir Pfingsten unsere erste Exkursion nach Italien unternommen hatten: die überhaupt ersten Studienfahrten der jungen Wissenschaft in die klassischen Länder des Theaters. Seit Mitte April waren die Vor­bereitungen im Gange: alles wurde zugeschnitten auf Ergiebigkeit für die Theaterwissenschaft mit Einschluss der Kunstgeschichte, auf Benutzung der Ferien und größtmögliche Sparsamkeit an Zeit und Geld.

Wilhelm Dörpfeld Quelle: Wikipedia

Ich hatte mit Professor Wilhelm Dörpfeld schon im Sommer korre­spondiert und gefragt, ob er uns nicht im Dionysos-Theater zu Athen führen wolle. Er hatte bedauernd abgesagt, weil er zu jener Zeit auf Leukas sei. Ich konnte mir kein größeres Glück für die Exkursion denken, als er dann plötzlich — am Wechselschalter in Brindisi — doch da war, aber ich weiß nicht, ob nicht er noch froher war als wir, in seinem Bedürfnis, sich mitzuteilen und seine so viel befehdete, misskannte Lebensarbeit der Jugend darzustellen. Er erkundigte sich sofort nach unserem Reiseplan und schlug einige sehr gute Änderungen und Erweiterungen vor.

Gegen Mitternacht setzte sich das Schiff in Bewegung. Um 8 Uhr früh tauchte die dalmatische Küste auf. Als wir nach dem Frühstück das Deck betraten, sprach Dörpfeld bereits zu einer Studentengruppe über Homers Biographie und besonders über seine Ithaka-Forschungen, die im ganzen darauf hinauswollen, dass nicht Ithaka, sondern Leukas die Heimat des Odysseus ist.

Währenddessen ging die ruhige sonnige Fahrt über Santi Quaranta nach Korfu, wo wir drei Stunden Aufenthalt hatten und die Erlaubnis bekamen, auszusteigen. Dörpfeld, der hier einige Tage bleiben wollte, ehe er nach Leukas reiste, führte uns durch den Ort, als Ehrenbürger der Stadt überall lebhaft und unterwürfig begrüßt, zum Museum, das die Schätze seiner Ausgrabungen des Gorgo-Tempels enthielt. Es war das erste Kunstwerk, das wir auf griechischem Boden zu sehen bekamen, und es war wohl die größte Überraschung, die wir überhaupt erlebten: das Giebelfeld mit dem Götzenbilde der Erdenmutter in seiner dämonischen Hässlichkeit bildete den denkbar größten Gegensatz zu allem, was unser klassisch-humanistisches 18. Jahrhundert an der Griechenkunst bewundert hatte, das Ideal der edlen Einfalt und stillen Größe. Winckelmann, Lessing und Goethe wären vor der Teufelsfratze, die an die Gebilde der Primitiven erinnert, die Kultbilder der Südseeinsulaner, der Urbewohner von Mexiko, die Tanzmasken unserer oberbayrischen oder Tiroler Gebirgstäler, entsetzt aus dem Tempel gestoben.

Am 11. Oktober früh gingen wir durch das winzige ärmliche Dorf lein Olympia zum Heiligtume. Als noch die Tempel standen, die Weihedenkmäler, Hallen, Gymnasien und Bahnen, muss der Eindruck der Stätte in der idyllischen Hügel- und Flusslandschaft des Alpheios ein gewaltiger gewesen sein; heute verschwindet sie fast hinter Schlammwellen, Bäumen und Schilf. Von der Größe des Zeustempels künden noch die riesigen Säulentrommeln, die das Erdbeben umgelegt hat, die man aber leicht wieder aufrichten könnte, da von der Basis bis zum Kapitel nichts fehlt. Ehrfürchtig betraten wir die Stätte des Heratempels, des ältesten aller griechischen Götterhäuser, von dem man ein paar der ganz altertümlichen Säulen wieder aufgestellt hat. Nach einem Rundgang durch die übrigen kultischen Bauten suchten wir nach dem Theater, das auf einer idealen Rekonstruktion falsch angegeben ist, aber in seiner Lage noch nicht fest gelegt wurde. Die einzigen Möglichkeiten dafür waren bald gefunden, weil für ihre Anlage meist ein hügeliges Gelände nötig ist, das eine sichere Anlage des Zuschauerraums gestattet; Orchestra und Bühnen­haus können überall mühelos errichtet werden.

Nachmittags besichtigten wir das Museum mit dem berühmten Fries und dem Hermes des Praxiteles, ritten mit Eseln auf die Hügel der Um­gebung, die einen Ausblick auf das Meer bieten, schauten den Bauernmädeln zu, die mit nackten Füßen Trauben kelterten, und machten in der Abenddämmerung noch einen Rundgang durch die Ruinen.

Am 13. hatten wir einen großen Tag. Mit dem Auto oder zu Fuß begaben wir uns frühmorgens durch riesige Ölbaumwaldungen nach Delphi. Zur Bebauung der spärlichen, dem Felsgelände immer wieder abzuringenden Äcker verwendet man dort noch zum Teil Kamele, ein Überbleibsel aus der Türkenzeit. Zehn Minuten entfernt von dem Gebirgsdörfchen, das sich etwas stattlicher ausnahm als Olympia, liegt der Wallfahrtsort, den man wohl als den geistigen Mittelpunkt des Griechenlands bezeichnen kann. Plutarch war hier Mönch. Der heilige Bezirk erstreckt sich steil den Berg hinauf in großartiger, fast dolomitischer Felslandschaft. Die Gegend mit ihrer klaren scharfen Luft und ihren tiefen blauen und rotgoldenen Farben macht einen gewaltigen Eindruck. Wir stiegen die Pilgerstraße hinauf am wiedererrichteten Schatzhaus der Athener vorüber zum Apollotempel. Der Spalt, über dessen betäubenden Dünsten die Pythia saß, ist beim Untergang der Stätte absichtlich verschüttet. Das Theater — von einer so steilen Anlage, dass der Blick in die Tiefe fast Schwindel erregt — ist recht gut erhalten im Zuschauerraum und in der Orchestra. Vom Bühnengebäude stehen nur noch die Grundmauern, in dessen Tiefe die Wasserabflüsse erkennbar sind. Wir versuchten dort Gruppenbewegungen tänzerischer Art und Rezitationen griechischer und deutscher Dichtungen und stellten dabei fest, dass auch das leisest geflüsterte Wort trotz mangelnder Schallwand noch auf der höchsten Sitzreihe deutlich zu vernehmen war.

Acropolis Von A.Savin (Wikimedia Commons · WikiPhotoSpace) – Eigenes Werk, CC BY-SA 3.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=27948211

Der erste freie Morgen in Athen gehörte der Akropolis, die in südlich reiner Bläue vor uns lag. Erstaunlich, mit welcher Sicherheit man hier auf gutes Wetter rechnen kann; wir hatten nur in Olympia eine Stunde Regen und in Athen eine Viertelstunde, sonst immer blauen oder leicht bedeckten Himmel. Ein Führer erklärte in deutscher Sprache mit gutem Wissen, Geist und Humor die Bauten und die Fernblicke, dann aber kam das große Schweigen unter dem übermächtigen Eindruck des Parthenontempels und der Schätze des Museums. Nachmittags sammelten wir uns im Dionysostheater, dem nachweislich ältesten Theater der Griechen, das aber im Laufe der Jahrhunderte so verbaut ist, dass man hier am wenigsten den Eindruck des ursprünglichen Charakters hat, sondern hauptsächlich römischen Willen und Geschmack sieht. Nur mühselig kann man Perioden rekonstruieren und Bruchteile feststellen. Erschüttert aber steht man vor dem Stückchen der kreisrunden Orchestra, das in der Erde bloßgelegt ist, auf dem wohl mit Sicherheit Aischylos und Sophokles ge­spielt sind. Imposant ist die Ruine des Odeons des Herodes, in der wir solange diskutierten, dass wir eingeschlossen wurden und gewaltsam aus­brechen mussten.

In den folgenden Tagen haben wir die Griechen kennen und schätzen gelernt, als gastliche, gefällige, bescheidene Menschen von ausgesprochener Deutschfreundschaft. Wir begannen uns wohl zu fühlen in ihrem wunder­vollen Lande und ihrer Hauptstadt, von deren neuem Geiste die großen Anlagen und gewaltigen Verbesserungen der letzten Zeit zeugen, die in Kürze die meisten Spuren der „Kleinheit mit Welthorizont“ vergessen machen werden.

Ein Glanzpunkt unserer Exkursion war die köstliche Heimfahrt zur See mit großer Bequemlichkeit bei herrlichstem Wetter und bester Ver­pflegung. Es ging durch den korinthischen Kanal, fern vorüber an Patras und Korfu, nach Brindisi, wo wir zuerst Halt machten. Abends gab es an Bord Filmvorführungen im Freien und Tanz, dazu auch eine Auf­führung meiner Studenten, eine improvisierte Komödie unter dem Titel: „Der erste Tag in Griechenland.“

In summa: wir hatten acht römische Theater besichtigt und vier grie­chische, und den Standpunkt gewonnen, dass auch in Griechenland ein Theater ohne Bühne, ohne Podium nicht denkbar ist. Vielleicht waren die Podien verschieden in Höhe und Zugängen, aber sie waren vorhanden, mindestens aus Holz, naturgemäß vor der Szene, dem Aufenthaltsraume der Schauspieler. Das machen die ältesten Funde (Epidauros) durchaus wahrscheinlich; das ist nötig aus optischen Gründen, denn die Stellung des Schauspielers unten in der Orchestra bietet von fast allen Plätzen einen ungünstigen Gesichtswinkel und hässliche Überschneidungen mit dem betonten Orchestrarande. Das ist aber nötig besonders aus mimischen Gründen, denn nur ein Podium — seine Höhe mag im Verhältnis zur Größe des Zuschauerraums stehen; kleinere Theater fassten 5000, größere bis zu 20000 Personen — nur ein Podium kann in solchem Räume Handlung und Bewegung deutlich machen und sie ins Bildhaft-Ge­schlossene erheben. Ich wage natürlich nicht endgültig zu entscheiden. Wir wollen weiter arbeiten, unsere Beobachtungen ergänzen und dann das Ergebnis im Ganzen veröffentlichen.“

Schließlich sah jenes Jahr 1910 außer dem ersten Autorenabend und der ersten Exkursion auch noch die erste Aufführung des Kutscher-Kreises, eine scherzhafte Anspielung auf das Kolleg: „Die Krokodile“ (mit Oskar Gluth als Schauspieler). Bis 1936 sind ihr fast in jedem Semester weitere gefolgt, später gelegentliche. Sie dienten sowohl der spielkriti­schen Erörterung einer Aufführung wie der ersten praktischen Erprobung kommender Regisseure, Schauspieler, Bühnenbildner und Dramatiker. Im Vorwort zu seinem theatergeschichtlichen Werk über „Das Salzburger Barocktheater“ konnte Artur Kutscher 1924 schreiben: „Mehr als zehn­jährige Neigung fesselt mich an meinen Gegenstand. Als ich 1913 meinen Münchener Studenten zum ersten Mal die zahlreichen theatergeschicht­lichen Denkmäler Salzburgs zeigte, ließ ich im Steintheater des Schlosses Hellbrunn Goethes „Satyros“ spielen und 1914 ebendort bei derselben Gelegenheit den .Kyklopen‘ des Euripides. 1920 spielten wir im Hecken­theater das Schlosses Mirabell Chr. F. Gellerts Operette „Das Orakel“ und K. Chr. Gärtners Schäferspiel „Die geprüfte Treue‘; 1921 führten meine Schüler im Hellbrunner Steintheater Grillparzers .Gastfreundschaft‘ und Goethes ,Satyros‘ auf. So gewannen wir aus lebendiger Theater­freude immer engere Fühlung mit der großen Kultur des alten Salzburg und stiegen unter ihrem Eindruck zu den Schätzen der Museen, Biblio­theken und Archive hinab.“

Franz Grillparzer Quelle: Wikipedia

1901 hatte Adolf Wilbrandt bereits an Artur Kutscher geschrieben: „Ich freue mich herzlich, dass der Leseverein Bragi nun auch den Kyklopen in meiner Verdeutschung aufführen will,“ und 1914 meldet Richard Voss statt seiner: „Meine liebe geistige Jugend! Ein alter längst ver­gessener Dramatiker freut sich über die Euripidesaufführung in der Über­setzung seines unvergesslichen Freundes, bedauert, nicht dabei gewesen zu sein, erinnert, dass auch im lieben bayerischen Vaterlande Wälder und Felsen sind, grüßt und hofft auf eine Wiederholung des schönen Ge­denkens der Jugend am Königssee.“ Am gleichen Tage konnte ein so ganz anders gearteter Dichter wie Frank Wedekind Artur Kutscher „von ganzem Herzen zu dem großen und offenbar durch schönste künst­lerische Arbeit reichlich verdienten Erfolg des Kyklopen in Hellbrunn beglückwünschen“. Hermann Bahr sah „einen Wunsch endlich in Er­füllung gehen“; Wilhelm Schmidtbonn „gefiel dieser zupackende Griff außerordentlich“ (der Dichter Kurt Heuser spielte darin den Silen).

Die Aufführungen begnügten sich aber nicht mit literarischen Wieder­erweckungen, wie etwa der „Geprüften Treue“ in der Regie von Hein­rich XLV, Erbprinz Reuss mit Ludwig Emanuel Reindl und Friedl Haerlin oder dem „Urhamlet“ mit Wilhelm Müller–Scheld in der Titelrolle und der Regie von Eduard Gudenrath, sondern gingen zu Entdeckungen vor. 1914 überraschte die Uraufführung von Wedekinds „Felix und Galathea“ in der Regie und Mitwirkung von Hans Harbeck, 1918 die Uraufführung von Hanns Johsts „Der einsame Mensch“ mit Fritz Gerathewohl und Konstantin Delcroix, und dieser Abend, an dem Hanns Johst überhaupt zum ersten Male ein Werk von sich auf der Bühne sah, wurde — laut Hanns Brauns späterer Erinnerung — „der stärkste Theatereindruck einer ganzen Spielzeit“; 1920 endlich, nach Wedekinds Tode, wurde sein Jugendversuch „Die Szene aus dem Orient“ aus dem Manuskript aufgeführt, mit Manfred Hausmann, Alfred Happ, Herbert Franzelin, Adolf Lallinger.

Späterhin gab es mit den Parodien auf die modischen Entartungen des Theaters fast nur noch „Uraufführungen“, die ja dann durch die aus dem Kutscher-Kreise hervorgegangene Truppe der „Vier Nachrichter“ in ganz Deutschland und darüber hinaus bekannt geworden sind. Nicht zu vergessen ist auch die Verbindung der theaterbestrebten Angehörigen des Kutscher-Kreises mit der studentischen Nibelungen-Spielschar, die u. a. Hebbels „Nibelungen“, Goethes „Tasso“, „Das Mariechen von Nimwegen“ oder die Uraufführung von Albrecht Schaeffers „Demetrius“ im Lichthof der Universität einstudierten und spielten. Wie hier der Ver­such unternommen worden ist, in der Treppe des Hauses eine neuartige Szene zu gewinnen, so ist schon vorher bei den Kutscher-Aufführungen die Amalienburg im Nymphenburger Park, die später vielfach vom Staatstheater und anderen benutzt wurde, zum ersten Male als Hinter­grund verwendet worden. Von der „Leonce und Lena“-Aufführung vor dem Schloss Amalienburg schrieb wiederum Hanns Braun noch Jahre später, dass sie allen im Gedächtnis bleiben werde; Regie führte als Student der heutige Oberspielleiter der Oper in Leipzig Professor Heinz Rückert, den Leonce spielte Herbert Günther, den Valerio Hugo Härtung. In seinen Ausführungen über den „Lehrgang“ des theaterwissenschaftlichen Studiums unter seiner Leitung konnte Kutscher in seiner „Stil­kunde des Theaters“ hervorheben: „Als fachmännische Helfer wurden gewählt Regisseure des Staatstheaters wie Friedrich Ulmer, Hans Schlenck, Herren, die aus dem Institut hervorgegangen waren wie Willy Meyer-Fürst oder Herren, die ihren Doktor machten wie Karl Hans Böhm, der Bühnenbildner Emil Preetorius, oder auch Ferdinand Gregori.“ Zahlreiche Männer des Theaters bestätigten Kutscher, der lange zugleich an der Staatlichen Schauspielschule in München lehrte, dass er Theater­praktiker herangebildet habe.

Eugen Diederichs spricht einmal in Aufzeichnungen aus dem Jahre 1904 von Erziehern, „die sich nicht begnügen, der Jugend fertige Wissens­brocken oder endgültige Urteile hinzuwerfen, sondern die das Schöpfe­rische im Menschen wecken, indem sie seine Phantasie lebendig gestalten lassen“. Durch die Form seines Zusammenlebens mit den Studenten, durch die Autorenabende, Exkursionen und Aufführungen hat Kutscher bewiesen, dass er zu diesen Erziehern gehört, von denen sonst damals erst noch zu hoffen war, dass sie sich einmal finden würden.

Friedrich Hebbel, Porträt von Carl Rahl (1851) Quelle: Wikipedia

Drei größere eigene Werke und drei Dichterausgaben legte Artur Kutscher bis 1914 vor. Seine Habilitationsschrift gilt „Friedrich Hebbel als Kritiker des Dramas“. Sie stellt „seine Ästhetik dar als Rechtfertigung seiner eigenartigen schroffen Stellung zur Literatur“; beschränkt sich bewusst auf seine dramatische Kritik, bezieht dafür aber alles, was mit der dramatischen Dichtung zusammenhängt, ein: Theater, Schauspielkunst, Theaterkritik als Theorie usw. Durch diese bis dahin fehlende Untersuchung ist Hebbels Ästhetik ihre Stellung angewiesen: im Rahmen der Weltanschauung und Ästhetik seiner Zeit wie im Rahmen seines Gesamtwerkes. Das Ergebnis lautet: Hebbels Kritik ist weniger hebbelisch als die „Energie ihrer Durchführung“.

1913 folgt, bei dem Freunde Josef Wenter in Pertisau am Achensee niedergeschrieben, das Buch „Hebbel und Grabbe“, das sich mit dem Verhältnis dieser beiden so entgegengesetzten Naturen beschäftigt. Fast könnte es scheinen, als wolle Kutscher darin zeigen, dass er sich auch auf die damals im Schwange befindliche Methode verstehe, bei jedem Dichter vor allem nach Abhängigkeit von anderen und Einflüssen auf andere zu suchen. Allein das Gegenteil ist der Fall. „Eine Vergleichung mit Vorgängen wird einem schöpferischen Genius wenig anhaben können, sie wird das Wesen seiner Kunst nur genauer bestimmen helfen“, stellt Kutscher fest, und er bezeichnet als das erfreulichste Ergebnis seiner Arbeit Hebbels „Kurve der Entwicklung von Grabbe weg zu gänzlich eigenem Stil, und von dort aus mit eigener Kraft zur Beherrschung auch dessen, was Grabbe vermochte, die Bereicherung seiner Ausdrucksmög­lichkeiten im Sinne des Grabbeschen Kunstwillens, ohne von Grabbe abhängig zu sein“. Für Kutscher ist es „unkritisch in ästhetischem und historischem Sinne“, Grabbe und Hebbel gegenüber nur ein Entweder-Oder zu haben. Im gleichen Sinne erklärt er es in seiner Schillerausgabe als verfehlt, an die Kunst Schillers (die er der Hebbels verwandt empfindet) „heranzutreten mit irgendeiner Ästhetik oder Poetik, die nicht wurzelt in Erkenntnis und Verständnis der eigentümlichen, inneren Notwendig­keit dieser Dichtung“, und sagt von der entscheidenden Begegnung zwischen Schiller und Goethe in Jena: „Ihr Stilgefühl war so stark und reich geworden, dass sie auch den Stil des anderen anerkennen und wür­digen konnten.“

Immer geht es Kutscher also nicht nur darum, literarwissenschaftliche Lücken zu füllen, sondern um die Prinzipienfrage einer Haltung, die imstande ist, Reihen verschiedenartiger dichterischer Typen zu erkennen und in kritischer Bewertung gegenseitig zu erhellen. „Überragende Dramatik entstand da“ (heißt es einmal in einem Vortrage Kutschers), „wo wie bei Grabbe aus einer elementaren Natur, aus Leidenschaft und Instinkten gewaltige Männer erwuchsen, welche die entschwundene Be­deutung des Menschen dennoch behaupteten, überlebensgroß, trotzig, vermessen behaupteten bis zu ihrem rettungslosen Sturz. Oder wo wie bei Hebbel, Grabbes großem Gegensatz, die Bedeutungslosigkeit des Menschen bewiesen wurde durch Vergleich mit der Idee, dem Absoluten, dem Sinn der Welt, dem Göttlichen. Dieser Idee gegenüber musste alles Besondere, Einzelne als mangelhaft erscheinen und vernichtet werden, das Hervorragendste zu allererst.“ Nun versteht man es, wenn Kutscher nach einer Charakteristik des undramatischen Impressionismus als einer „Periode der Verengung und Vereinseitigung“ fortfährt: „Da protestiert Wedekind gegen die Waschlappigkeit des Menschentyps, den lang­weiligen Psychologismus, die tüftelige Analyse, das Gegenwartselend, das Kleinleben des Tages, die Humorlosigkeit der Auffassung, und fordert zur Gegenbewegung heraus. Mit echt dramatischem Instinkt, unter An­lehnung an Nietzsche, stellt er Gestalten von Format auf.“ Kein Zufall, dass Wedekind es war, der Kutscher zum ersten Mal auf Schillers drama­tisch-dramaturgisches Genie hingewiesen hat, insbesondere auf Beispiele wie die Apfelschussszene im „Teil“, auf die Kutscher dann sowohl in seinem Buche über die „Ausdruckskunst der Bühne“ wie in seiner Schillerausgabe näher eingegangen ist. Wedekind zollte der durch ihn angeregten Schiller ausgäbe lebhaften Beifall und schrieb Kutscher 1911: „In einer ruhelosen Nacht las ich noch einmal Ihre Schillerbiographie durch mit ungeteiltem Genuss.“ Die Schillerausgabe, die sich an ein gebildetes Leserpubli­kum wendet, nicht für Fachzwecke bestimmt ist, hat ihre Eigenart darin, dass sie wiederum — wie es Kutscher auch in den Hebbel-Grabbe-Büchern tat — weniger auf den Werken über den Dichter fußt als auf dessen eigenen Werken und sich bemüht, „streng aus ihnen und ihrer Natur heraus ihre Art darzustellen“. Hierher gehört es auch, dass Kutscher abermals die Briefe und übrigen persönlichen Äußerungen des Dichters gründlicher verwertet als Urteile Dritter. Seine dramaturgischen und theatralischen Erfahrungen kommen dabei Kutscher ebenso zustatten wie seine Praxis als Universitätsdozent; die Abschnitte über Schiller als Pro­fessor z. B. sind mit sozusagen kollegialer Sachkenntnis geschrieben und charakterisieren mittelbar ebenso sehr Kutscher. Kutschers Vorlesungen waren und sind mitreißende Leistungen. Stichworte dienen ihm als Unter­lage: das Wort selbst entzündet sich im lebendigen Gegenüber von Redner und Hörern. Humorvoll gefärbte Nebenbemerkungen enthalten oft Wesentliches, das sich gerade durch diese Form dem Gedächtnis be­sonders einprägt. Ob leidenschaftlich oder ironisch: immer ist Kutscher auf dem Katheder ein wahrer Professor, das heißt Bekenner! Für Gene­rationen hat Erich Ebermayer Zeugnis abgelegt von Kutschers „heili­gem Feuer, wie es, außer noch bei Erich Mareks, in den Hallen der Münch­ner Universität nicht üblich war.“ Immer wieder sah und sieht man in Kutschers Vorlesungen grauhaarige ehemalige Schüler, die sich, auf der Durchreise in München, die Freude machen, sich wieder einmal an diesem Feuer zu erwärmen und zu begeistern. „Schillers Vorlesung“, heißt es bei Kutscher, „war im wahren Sinne des Wortes eine Vor-,Lesung‘; er arbeitete jeden Satz im einzelnen aus und entfernte sich nur ganz selten vom Wortlaut des Geschriebenen. Erst in späteren Semestern sprach er mehr aus dem Stegreif, aber zu freiem Vortrag war er nicht gekommen. Er wusste nicht, dass hierin zumeist der Grund lag, weswegen er die rechte Empfänglichen vermisste. Was ihm des Weiteren unangenehm war, das war die Unmöglichkeit, sich wie im Gespräch an die Fassungskraft des anderen anzuschmiegen; auch das schloss sich bei dieser Vortragsart aus und hätte sich wohl im Seminarbetrieb erreichen lassen, den aber Schiller nie versuchte.“ Ebenso spricht der geeichte Universitätslehrer aus der Rüge, Schiller sei in seinen Vorlesungen nie über den Dreißigjährigen Krieg hinausgekommen: „Die Zeit langte nicht, oder vielleicht besser: er disponierte nicht.“ Vielleicht fühlte der Biograph eine gewisse Wahl­verwandtschaft mit seinem Gegenstand, hatte Schiller sich doch ebenfalls von frühester Jugend an bei öffentlichem Auftreten .wohlgefühlt, Pfarrer werden wollen und war dann Professor geworden. Jedenfalls ist Kutschers „Schiller“ ungewöhnlich temperamentvoll. Durch diese Ausgabe hat Kutscher sich Schiller, der ihm wie uns allen in der Schule durch die oberlehrerhafte Phrase verleidet worden war, innerlich ebenso erobert wie durch seine Dissertation Goethe.

Kämpferischer noch ist seine Schrift über das Münchener Künstlertheater „Die Ausdruckskunst der Bühne“, zu der ihn Fritz Erler (Schöpfer des Münchener Künstlertheaters) noch nach Jahrzehnten beglückwünschte. Schon damals fand Kutscher den Beifall von Persönlichkeiten wie Wilhelm Dilthey, der das Buch mit großem zustimmenden Interesse las, oder Karl Henckell, der darüber schrieb: „Es ist aus einem Guss und zeugt Seite für Seite von einer sachlichen Klarheit und aus innerlich­stem Erleben allmählich gewonnener Sicherheit in der Erfassung und Darstellung dessen, worauf es im Grunde, im Wesentlichen und also auch im Einzelnen ankommt, dass man nur staunt über die Knappheit, mit der hier die Resultate des liebevollsten erkenntnisfähigsten Bemühens um ein künstlerisches Problem gegeben werden. Ein Problem, das heute viel­leicht mehr als ein anderes zum vagen Drumherum reden und schein­bedeutenden Wortgemechtel verführt und auch schon so manchen ver­führt hat.“ 1904 hatte Otto Julius Bierbaum Kutscher zugejubelt: „Mitten in einer großen Trübsal kam mir Ihr Brief als eine große Freude. Wie? —: es gibt einen Deutschen (und gar einen deutschen Literar­historiker!), der meine späteren Gedichte ,mag‘? Der mir nicht rät, doch lieber immer so zu schreiben‘, wie anno der ,Erlebten Gedichte‘? Der Entwicklung in meinen letzten Versen sieht und nicht .Müdigkeit‘, Ab­fallen? Es freut mich, freut mich das!“ Und Detlev von Liliencron hatte Kutscher 1907 mitgeteilt: „Ich lese Kritiken und so was über mich fast nie. Bei Ihnen mache ich eben eine Ausnahme.“ Durch solche Aus­zeichnungen hatte Kutscher als Literarkritiker maßgebliche Anerkennung gefunden. „Die Ausdruckskraft der Bühne“ gab ihm Rang als Kritiker des Theaters.

Otto Julius Bierbaum Von unbekannt – Klassika, Bild-PD-alt, https://de.wikipedia.org/w/index.php?curid=3760713

Die Verführung, sich verstärkt der Betrachtung des Theaters zu widmen, war groß. Allein Kutscher blieb der Dichtung treu, und hatte die Genug­tuung, damit den Dank der Dichter zu finden. Börries von Münch­hausen schickt 1910 einen Silvesterbrief mit den Worten: „Das Jahr soll nicht zu Ende gehen, ohne dass ich Ihnen auf das herzlichste zu Ihrer Reder-Ausgabe gratuliere. Sie haben uns da mit einem Dichter be­kannt gemacht, wie wir nicht allzu viele haben, und der mir wenigstens so gut wie unbekannt war, und dabei bin ich ihm in Stoff und Machart so vielfältig verwandt.“ Im gleichen Jahre schreibt Münchhausen an Kutscher: „Eben schickt mir Sponholtz den .Schütting‘ zu mit Ihrem prachtvollen Aufsatze, — tausend Dank für die Worte! Seit Monaten habe ich nicht so viel feinsinniges Urteil, solchen Takt im Persönlichen, scharfsinniges Nachspüren des Innerlichsten und zugreifende Erkenntnis des Technischen meiner Kunst zu Gesicht bekommen wie hier! Sie haben mir einmal erzählt, dass Sie daran gedacht hätten, ein „Münchhausenbuch“ herauszugeben, — von niemandem läse ich es lieber als von Ihnen! Viel­leicht mit dem Untertitel: Paradigma kritischer Gedichtbetrachtung mit einer Einleitung über die deutsche Ballade.“

1911 gibt Kutscher die 24. Auflage von Scherers lyrischer Anthologie „Deutscher Dichterwald“ heraus und zwar in einer völligen Neu­bearbeitung, wobei als Auswahlgesetz „die Vereinigung der Frage nach dem Charakteristischen mit der Frage nach dem Künstlerischen“ galt. Als einer für viele ruft ihm ein so anspruchsvoller Geist wie Karl Spitteier zu: „Beim Einsehen der Gedichte, die Sie aus meinen Werken gewählt haben, bewundere ich den außerordentlichen Geschmack in der Auswahl und beglückwünsche Sie dazu. So verschiedene Dinge aus so verschiedenen Werken und jedes Mal etwas aus der Nachbarschaft anderer Gedichte Hervorragendes. Wirklich erstaunlich. Ich hätte nicht besser auswählen können und hätte wahrscheinlich weniger gut ausgewählt.“ Und nicht anders urteilt die Wissenschaft, etwa Franz Muncker: „Das Ganze stellt nach meiner Meinung eine sehr erfreuliche Sammlung dar, eine Auswahl von Gedichten, der man die darauf verwendete Sorg­falt anmerkt. Dass Sie von Georg Scherers besonderen Günstlingen mehrere ausgeschaltet haben, war sicher notwendig und richtig. Nicht minder berechtigt erscheint es mir, dass Sie viele jüngste Dichter aufge­nommen haben, und wenn unter diesen mehrere Ihre eigenen Landsleute sind, so schadet das gar nichts: Gerade diese kennen Sie besser als ein anderer, und so konnten Sie die rechten Leute und aus ihren Gedichten wieder das Rechte auswählen.“ 

Menschliche Anregungen und geselliger Austausch litten nicht unter so viel Literatur. Kutscher erzählte selbst hierüber gelegentlich: „Am 18. April 1911 gründeten der Dichter Karl Henckell, der Maler Hubert Wilm und ich das Junge Krokodil‘. Wir suchten eine harmlose Gelegenheit zu regelmäßigen, ungezwungenen Zusammenkünften mit Gleichgesinnten, eine Stätte regen geistigen, fröhlichen Austauschs und Turniers, geschlossen genug, um Charakter zu haben, neutral genug, um Mannigfaltigkeit der Berührung zu gewährleisten. Skeptische meinten: ein Stamm tisch wie viele andere, aber wir wollten ja ganz etwas Eigenes. Wir behaupteten zunächst einfach: „Eine Gesellschaft zur Züchtung und Pflege junger Krokodile“, und wir dachten uns nicht nur was dabei, sondern wir handelten auch darnach.

Vorbild war in gewisser Weise das „Krokodil“ der älteren Münchener Dichter um König Max II, die berühmte freie, gesellschaftliche Vereini­gung von Dichtern, bildenden Künstlern, Musikern und Ästhetikern, deren Oberhaupt Geibel, Heyse und Carriere waren. (Sie bestand mit unterschiedlicher Lebenskraft und -richtung von 1856 bis 1883.) Aber der Geist dieses Bundes war uns ganz fremd; jene hatten einen Verein mit Vorsitzenden, Stellvertretenden, Rechnungsführer, jene hielten einen Bierabend ab mit Vorträgen und Besprechungen, eine ästhetisch-kritische Sitzung, wenn auch mit allerlei scherzhaften Zutaten wie komischen Namen und einem Protokoll, immerhin eine zopfig akademische Gemein­schaft, jene waren so zünftlerisch-literarisch, dass das Fachsimpeln häufig genug vorherrschte und dass das Bundeszeichen, das Krokodil, sogar in Goldpressung auf den Bucheinbänden der Mitglieder prangte. Nein, wir wollten etwas anderes, wir rückten ab und nannten uns in diesem Bewusstsein Junges‘ Krokodil. Den Namen aber des im Feuchten leben­den, träumenden, weisen, einsamen und geselligen, ruhig-zufriedenen und gefährlich-feindlichen Urviechs wollten wir doch nicht missen, und besonders gefiel uns das merkwürdig an Christian Morgenstern ge­mahnende Gedicht Hermann v. Linggs, das der alten Münchener Gesellschaft den Namen gegeben hatte:

Das Krokodil zu Singapur.
Im heiligen Teich zu Singapur
Da liegt ein altes Krokodil
Von äußerst grämliclier Natur
Und kaut an einem Lotosstiel.
Es ist ganz alt und völlig blind,
Und wenn es einmal friert des Nachts,
So weint es wie ein kleines Kind,
Doch wenn ein schöner Tag ist, lachts.

Hermann Lingg, ca. 1860 Quelle: Wikipedia

Unser Teich war der Ratskeller, Brutzeit Dienstags von 8.30 bis 12 Uhr usw., denn vor dem Kriege war das Aufbrechen ja in unser Belieben gestellt. Es kam jedoch vor und soll noch heute nicht ausgeschlossen sein, dass Nachtsitzungen in abgelegenen Nestern anberaumt wurden, ja ganz geschäftige Mitglieder hat schon der helle Tag überrascht.

Die Zusammenkünfte an dem Rundtische, über welchen ein junges, vom Kunstmaler Berthold Körting in Ägypten erlegtes und uns mitgebrachtes Krokodil schwebt, fanden das ganze Jahr hindurch statt mit kurzer Pause im Hochsommer. Bedienerin war unentwegt „die Marie“, diese schon um Wedekind (Torggelstube) verdiente und dann zu uns in den Ratskeller übersiedelte treue Seele, die den Tisch bestens besorgt und schmückt. Der Besuch war ungleich, selten größer als der Tisch erlaubte; es gab aber auch Zwei- oder Drei-Männer-Abende, und die waren nicht die schlechtesten. Nur wenn einer allein blieb — was auch vorkam —, war der Zweck der Unternehmung verfehlt.

Anstelle des Protokolls trat bei uns das Gästebuch, das stets vorgelegt wurde; gegenwärtig zirkuliert das siebente. Nur die Zeit von März 1914 bis Mai 1919 war ohne Buchführung und auch ohne festes Lokal; im Kriege fanden jahrelang keine Sitzungen statt. Im Übrigen berichtet das Gästebuch genau die Namen der Anwesenden, oft auch ihre Stimmung. So heißt es einmal:

„Wilm ganz allein. So schön wie heute war’s noch nie.

Es sollte aber doch noch schöner werden, und da kam Fritz Gerathewohl.

Am schönsten aber wurde es, als das Lokal geschlossen wurde, denn da kam Maassen.“

Manchmal nahm der Unwille über Einsamkeit heftigere Formen an. Man nahm Stellung zu Männern und Ereignissen von Belang, zu Kunst, Wissenschaft, Politik, Wirtschaft, man nannte geradezu Abende nach verhandelten Hauptthemen: Theaterabend, Radioabend, Spießerabend, man nagelte fremde und eigene Äußerungen fest, Diskussionsergebnisse. Man rieb sich aneinander, pflaumte einander an, ekelte einander auch weg, verhütete Stagnierung, führte neue Mitglieder ein, sorgte für Ver­jüngung; aber man feierte auch miteinander Geburtstage — man legte zu diesem Zwecke einen kleinen ,Gothaischen Bowlenkalender‘ an, auf dessen Einhaltung streng geachtet wurde —, Erfolge, neue Werke, man gedachte der Toten. Das alles spiegeln die Gästebücher wieder in Prosa, Vers und Bild. Zahlreiche Eintragungen enthalten außer Aktuellem auch Allgemeines, Schüttelreime, gemeinsame Versspiele, Gedankensplitter. Manche Seite ist mit Zeichnungen versehen, mit Porträts, Allegorien, Randleisten. Die spätesten Stunden erwiesen sich oft als besonders schöpferisch; aber hochschlagende Wellen haben die Äußerungen oft mit Wein betaut und unleserlich gemacht. Die vielen verschiedenen Köpfe und Berufe, die künstlerisch Produktiven vor allem legten schon früh den Gedanken eines Jahrbuchs nahe, für das bereits 1913 eine Kom­mission eingesetzt war, ohne dass die Ausführung bisher gelang. Im Jungen Krokodil saßen Männer der Justiz, der Politik, der Finanz­wirtschaft, der Medizin, der Philosophie, der Technik und Industrie zu­sammen mit denen der Kunst. Ich nenne nur den Reichsfinanzrat Koch, den Weltreisenden Colin Ross, den Fabrikdirektor Miedanner, den Literarhistoriker Sulger Gebing, die Schriftsteller Hanns Braun, Franz Duelberg, Theodor Etzel, Max Halbe, Friedrich Huch, Hanns Johst, Klabund, und zwar noch als Alfred Henschke, dem damals bei einer Kritisierung seiner ersten Gedichte passierte, dass er auf seine schüchterne Meldung zum Wort als Anfänger und Naseweis zur Ruhe gewiesen wurde, bis seine Behauptung, die Gedichte seien ja von ihm, doch gelten gelassen wurde. Ich nenne weiter Joseph August Lux, C. G. v. Maassen, Kurt Martens, Josef Ruederer, Walter von Rummel, Josef Schanderl, Ludwig Scharf, K. F. Schmid, Willy Seidel, Ludwig Streit, Wilhelm Stücklen, Frank Wedekind, der zu den pünktlichsten Mitgliedern gehörte, Josef Wenter und Walter Ziersch. Ich nenne an Malern Fritz Erler, Josef Futterer, Jodokus Schmitz, Albert Weisgerber, der auch nur selten fehlte; an Schau­spielern und Theaterleuten Konstantin Delcroix, Otto Fr am er, Dr. v. Jacobi, Erich Kober, Manfred Leber, Dr. Pöschko, Hans Raabe, Viktor Stephan, August Weigert. Und immer sah man neue Ge­sichter am Tisch, weil jeder sich verpflichtet fühlte, außenstehende oder vorübergehend anwesende Freunde mitzubringen, so dass wir auch einen großen Kranz von Gästen mit Namen unter uns sahen, wie Professor Georg Biermann, Professor H. H. Hoben, Max Dauthendey, Walter v. Molo, Friedrich Strindberg (Wedekinds Sohn), Albert Steinrück, Paul Biensfeld, Otto Wer nicke, Friedrich Ulmer, Prinz Heinrich Reuss, Professor Bogliano, Alfred Bofinger. Damen allerdings waren in unseren Kreisen nur ausnahmsweise geduldet, es gab grundsätzlich Widerspruch, aber sie fügten sich.

Das Junge Krokodil ist ein Münchener Kind, jede Stadt von Charakter hat ihre eigene Form geselligen und künstlerischen Beisammenseins: Wien seine Kaffeehäuser, Berlin seine Bünde, München seine Stamm­tischrunden und Kegelbahnen. Wir haben uns mit fröhlicher Ironie Krokodile genannt. Wir verdanken dem Kreise unvergessliche Stunden, fruchtbare, vor allem deswegen, weil dort keine „Klicke“ mit irgendwelchen speziellen Berufs- und Fachinteressen zusammenkommt, sondern weil man sich austauscht als lebendiger Geist auf einer ganz breiten Basis. Ich glaube beobachtet zu haben, dass gerade darin eine Eigenart Münchens liegt. Wir kultivieren dort nicht unsere Engen, sondern suchen und finden Erfrischung in der Erweiterung. Darum wünschen wir Beteiligten alle dem Jungen Krokodil noch ein langes Leben, das dann auch schließlich wohl wieder München zugutekommt.“ Auch Roda-Roda hat einmal die Geschichte des „Jungen Krokodils“ erzählt.

Es war bezeichnend, dass Kutscher in einer Zeit literarischer Überflüssig­keiten und antiquarischer Spielereien schon 1909 eine Schrift unter dem Titel „Die Kunst und unser Leben“ verfasst hatte, zu der Hans Benzmann bekannte, er habe „selten so freie, selbständige und richtige Ansichten über das Problem Kunst, Kunstschaffen und -genießen ge­funden. Es ist auch eine meiner Lieblingsideen, dass die Kunst die vor­nehmste Erfüllung des Lebendigen ist.“ Ähnlich heißt es in der „Aus­druckskunst der Bühne“: „Die Kunst und die Kultur wachsen stilltreibend von innen heraus und kümmern sich nicht darum, ob man sie erkennt und würdigt. Nur aus dem unmittelbaren Zusammenhang alles Leben­digen ist ihre Bewertung möglich.“ Bald darauf sollte der Tag kommen, wo es sich zeigen musste, was es mit diesem Zusammenhang alles Leben­digen auf sich hatte.

„Am 24. Juli 1914 Semesterschlußkneipe meines Seminars im Hotel Union. Ein letztes Beisammensein, gesund, froh im Bewusstsein ge­leisteter Arbeit. Ich sagte zu Max Halbe, dass ich am anderen Morgen mit Bernhard v .Jacobi in die Dolomiten reise; er meinte, dahin würden wir gar nicht mehr kommen, der Weltkrieg beginne. Ich sagte, dann freue ich mich dieses Festes umso mehr, dessen Stimmung ich ganz aus­gekostet habe. Es sei schön, so mitten aus dem kräftigsten Wirken — allen ganz unbewusst — abberufen zu werden. Dann stand ich auf und tanzte einige Male nach Herzenslust.“

So beginnt Kutschers „Kriegstagebuch“, das persönlichste und mensch­lichste seiner Werke. „Das letzte Verstehen der Kultur geht Hand in Hand mit der Fähigkeit selbstloser Hingabe dafür; ohne dies ist Kultur ein Geschwätz und eine Phrase Unbeteiligter“, liest man da. Oder: „Ein Trost bleibt, dass man das Leben kennengelernt hat, dass man dennoch sagen muss: Es war schön! Und noch ein Trost obendrein: man bleibt ja leben, auch abgesehen vom Gedächtnis seiner Lieben. Es geht im Grunde doch nichts verloren auf dieser Welt, nichts Seelisches, nichts Körperliches.“ Oder: „Seinen Mann stellen mit seinen Kräften, wie und wo es sei, das ist alles.“ Und was dieser Literaturprofessor im feldgrauen Rock unter Bildung versteht, bekundet der Satz, mangelnde Bildung zeigt sich doch „immer zuerst darin, dass man sich nicht in der Hand hat.“ Der erste Band behandelt die Operationen um Namur, St. Quentin, Petit Morin, Reims und die Winterschlacht in der Champagne, der zweite Band die Vogesenkämpfe. (Der dritte Band ist nicht veröffentlicht worden.) Wedekind, „aufs höchste gefesselt“ von dem Buch, nennt es 1915 „echt und groß“. Und Hans Carossa fand dafür die Worte: „Wer so schreckliche Stunden wie die von Charleroi und Namur so ganz in dem Sinne bestanden hat ,wie das Gesetz es befahl‘, wer so schlicht und knapp davon berichten konnte, bei dem ist es nicht verwunderlich, dass seine Schüler auf ihn hören, möge er sich zum Gegenstand wählen was er will.“

Die „Geschichte des Reserve-Infanterie-Regiments Nr. 92 im Welt­kriege 1914—18″ (Osnabrück, 1934) erwähnt Kutscher und den an der Front nach ihm benannten „Kutscherweg“ verschiedentlich; sie vergisst auch nicht, dass er „mit z. T. selbstverfaßten Schnaderhüpfeln für Stim­mung gesorgt“ habe. Umgekehrt lesen wir im „Kriegstagebuch“: „Ich sammle in freien Stunden Soldatenlieder und suche mir über den Stil des echten Soldatenliedes klar zu werden. Prachtvoller Stoff ergibt sich dafür eine Vorlesung; ich habe eine Reihe von Musterbeispielen. Volks­kunst im besten Sinne mit allen Feinheiten und Rohheiten. Dass man aber nicht über die Texte allein sprechen kann, sondern nur über die Texte in Verbindung mit, im Verhältnis zu den Melodien ist selbstverständlich. Auch eine Sammelausgabe ohne Melodien ist überflüssig.“ Und ein kurzer Abstecher nach Heidelberg entlockt dem Urlauber Kutscher den Ausdruck: „O Deutschland, wie bist du so schön! Ich fühle lebendig die ganze Romantik. Des Knaben Wunderhorn. Nicht wegen der Literatur­geschichte denke ich hier daran, sondern wegen der Soldatenlieder, die aus demselben tiefen Borne des Volksgemütes fließen.“ Jene Sammlung hat Kutscher unter dem Titel „Das richtige Sol­datenlied“ bereits 1917 erscheinen lassen. „Diese Soldatenlieder habe ich fast ausnahmslos in den Jahren 1914—16 an unserer Westfront nach dem Gesang meiner Kompagnie aufgeschrieben. Die Leute waren meist nordwestdeutsche Bauern und Kleinstädter. Natürlich sind nicht alle Lieder gemeinsam gesungen, vielmehr habe ich aus dem einzelnen in langem Bemühen herausgeholt, was irgend dahergehörte. Es lag mir daran, das .richtige‘ Soldatenlied in seiner volkstümlichen Einfachheit und derben Natürlichkeit freizulegen von allem Literarischen, Ge­machten, Künstlichen (auch im besseren Sinne), und so seine charak­teristische Schönheit herauszustellen in Wort und Ton.“ (Vorwort.) Während des Krieges hat Kutscher auch schon in der Universität, in Uniform, mit der Gitarre in der Hand, über „Unser Soldatenlied im Felde“ gesprochen:

„Wenn man ernstlich von unserem Soldatenliede handeln will, muss man schon vorher ausdrücklich erklären, dass man das echte, das richtige Soldatenlied meint.

Als ich einem bekannten Münchener Dichter von meiner Absicht sprach, Soldatenlieder herauszugeben, da war das erste, was ihm einfiel: ,Schade, dass ich gerade keins gedichtet habe.‘ Und als ich dann sagte, ich sammele keine Kunstlyrik, sondern Volkslieder, da fragte er mit der Logik des Literaten: ,Woher haben Sie die? Aus dem Wunderhorn?‘ —

Diese beiden Irrtümer sind typisch für die Anschauungen weitester Kreise. Man sammelt Verse ehrgeiziger Schriftsteller, und die Volkskunst schöpft man aus Büchern. Natürlich lässt man meistens auch die Melodie weg, weil die ja den Literaten nicht interessiert; nichts aber beweist deutlicher, wie unlebendig den Leuten das Soldatenlied ist, und welch kümmerlichen Begriff sie davon haben.

Als Einjähriger legte ich eine Soldatenliedersammlung an, aber sie gedieh nicht sehr weit. Ein Jahr im Zustande des Einjährigen ist doch eben keine Zeit und Gelegenheit, den Soldaten kennenzulernen —, es müsste dann schon ein Jahr lang Manöver sein. Erst die 21 Kriegsmonate inmitten der Kompagnie an der Front gaben alle äußeren und inneren Möglichkeiten zu einer Sammlung, wie sie mir vorschwebte. Doch wenn ich die Stunden zusammenzähle, die ich dieser Arbeit gewidmet habe, kommen ganze Monate heraus; — in dieser Freiheit bringt sie auch nur der Krieg, das Schützengrabenleben und die Ruhezeit. Galt es doch nicht nur, den engeren Schatz der Kompagnielieder mit Text und Melodie aufzuzeichnen, sondern auch das übrige Regiment auszuhorchen, die MGK, die Brigade, die Division und was an anderen Truppengattungen in ihr neben der Infanterie wirkt, ganz besonders die liederreichen Pioniere. Auf jedem Marsche gabs neue Verse und Wendungen, Modu­lationen der Melodie und des Kehrreims, die sofort festgehalten werden müssten. Schreibpapier, Notenblatt und Bleistift hatte ich immer in der Satteltasche, und wo ich etwas Neues hörte, hielt ich mein Pferd an. Bald wusste ich, bei welchen Leuten die Lieder steckten, mehr noch und ganz andere auch, als die Kompagnie sang.

Jetzt war ich an den Quellen des Volksliedes, und diese galt es zu er­schließen. Oft bestellte ich die Leute zu zweien und dreien abends in mein Quartier, auch wohl in den Unterstand, wo sie pünktlich mit ihrem Trinkbecher eintrafen. Und hier, bei einer Zigarre und einer Flasche Wein, begann der Quell zu tröpfeln und dann zu sprudeln. Oft dauerte es lange, vielfach führten erst mehrere Anzapfungen zum Ziel, mancher Abend brachte Enttäuschungen, an anderen betrug die Ausbeute ein ganzes Päckchen. Das Ohr musste scharf hinhorchen und die Feder flink arbeiten. Es kam aber durchaus auf die Stimmung und Vertraulichkeit an. Da öffneten sich sogar schließlich die geheimnisvollen Notizbücher zu kurzen Einblicken, die mir früher nur die Toten geliehen hatten.

Hier zeigte es sich, wie liederbedürftig der deutsche Soldat ist, wie fast jeder Verse auf seinen Blättern festgehalten hat, die ihm keine Samm­lung gab. Und dieses alles konnte ich benutzen zu meiner Ausgabe, die ich dann im Bewusstsein engster Fühlung mit dem Volk „Das richtige Soldatenlied“ nannte.

Der Literat mag sich daran abmühen, er schafft doch nur für den Tag, und sein Werk wird Material, wie das fallende Laub. Volkskunst braucht ihre Zeit, wie Sagen und Mythen und Märchen. Millionen müssen erst daran arbeiten, bis etwas entsteht, das Freud und Leid von Millionen trägt.“

Auf Grund jener Vorstudien beauftragte die Bayerische Akademie der Wissenschaften Kutscher mit der Sammlung von Soldatenliedern des Weltkrieges, die 6000 Texte, 1800 Melodien und 25000 Katalogzettel umfasst; sie wartet noch der Herausgabe. Otto Mausser, Professor der Germanischen Philologie an der Universität München, bekannte 1938: „Ich habe selbst auf dem Gebiete des Soldatenliedes sammelnd und dar­stellend gearbeitet und gestehe gerne, von Kutscher gelernt zu haben.“

Als Verwundeter vertrat Kutscher während des Weltkrieges außerdem eine Lehrkraft in einem Münchener Gymnasium.

Hoffmann von Fallersleben Quelle: Wikipedia

1918 gab er Hoffmann von Fallerslebens „Parlament zu Schnappel“ neu heraus. „Solange wir noch lachen und scherzen können zu unseren unheilvollen Zuständen, sind wir noch nicht verloren. Es ist noch eine Lebenkraft da.“ — Dieser Wahlspruch Hoffmanns ist auch der seine, und er mag ihn veranlasst haben, uns mit dem in der Erstausgabe seltenen Buch „ein Schatzkästlein deutscher Komik“ wiederzuschenken.

Gleichfalls im Kriege erschien noch Kutschers Ausgabe von Schef­fels Werken, die den Dichter zum ersten Mal von volkskundlichen Ge­sichtspunkten betrachtet, nachdem er bis dahin allzu sehr als der Vers-schmied des „Trompeter von Säckingen“ geschätzt worden war. Kutscher hob demgegenüber hervor, dass Scheffel eine Kenntnis seiner badischen Heimat besessen und bewiesen habe wie kein zweiter bis dahin, und dass ihm sein Wartburg-Roman deswegen misslungen sei, weil ihm zu diesem Stoff volkskundlich das Verhältnis fehlte.

In diesem Zusammenhang sei einmal an ein anderes frühes, grundsätz­liches Bekenntnis Kutschers zur deutschen Volkskunde erinnert: „Deutsche Volkskunde beschäftigt sich mit Rasse, Stamm, Heimat, Sied­lung, Bau, Einrichtung, Tracht, Sprache, Kunst, Spiel, Tanz und Fest. Sie ist zwar schon bald 200 Jahre alt, hatte aber doch zeitweise sehr um Anerkennung zu kämpfen. Beschäftigung mit Volkskunde ist heute Pflicht, es muss festgestellt werden: ganz besonders für die Gebildeten, denn die sog. Ungebildeten oder weniger Gebildeten haben die Volkskunde viel eher in sich; sie sind ja das Volk selbst. Jeder aber, der diesen Schichten ferner steht, der das Volk kennen lernen will, muss sich klar sein über die Hauptergebnisse der Volkskunde. Sie ist der Schlüssel zur Seele des Volkes. Und keiner kann ohne Kenntnis des Volkscharakters aus dem Volk und für das Volk schaffen.“

Im Januar 1928 unternimmt Artur Kutscher zur Vorbereitung der fran­zösischen Exkursion eine Fahrt nach Paris, die ihm ein Wiedersehen mit einem seiner Schlachtfelder bringt. Seine Schilderung dieses tief be­wegenden Erlebnisses möge den Abschnitt „Erster Weltkrieg“ be­schließen:

„Da ich nun schon in Paris war und noch einen freien Tag hatte, entschloss ich mich zu einem Umweg über Reims, um die Stätten wiederzusehen, wo wir uns von der Frische des Bewegungskrieges an die Dumpfheit des Stellungskrieges gewöhnen mussten, und wo wir länger als vier Monate große Leiden und große Freuden erlebt hatten.

Die Vorstadt nahte. Lücken klafften, man sah Felder, Hügel. Ich spürte, ich war auf dem richtigen Wege; hier waren wir gezogen. Die Ruinen mehrten sich. Hölzerne Wohnbaracken in Gruppen. Aus der Erde quoll Rauch aus einem Ofenrohr: so ist recht: hier sind noch alte Unterstände in Privatgebrauch. Weiter an der Straße rechts dann die Holzschuhfabrik, unter deren Mauern bei dem Scheinangriff damals so viele Kameraden den Tod fanden. Meine Erregung wuchs. Im Geschwindschritt näherte ich mich den Kampflinien. Gräben sind auf den Feldern nicht mehr vor­handen, aber man sieht ihre Stelle an den Kalkflecken und Streifen, die sich beiderseits bis in die Ferne ziehen und wohl noch Jahrzehnte sichtbar sein werden. Die Stellungen sind seit unserem Abzug im Februar 1915 nicht wesentlich verschoben, nur im Einzelnen dem Gelände besser angepasst; wir haben also hier das Mögliche schon durchaus getan. 60 bis 100 Meter Zwischenraum, dann kommen unsere Stellungen. Ich lief im Herbst 1925 acht Tage zwischen den deutsch-österreichischen und den italienischen Stellungen in den Dolomiten herum. Aber hier war ich ganz persönlich beteiligt: was hatte uns gerade dieser Zwischenraum bedeutet? und seine Verschiebungen? — Ich kam schwer von der Stelle, wandte mich aber endlich doch den großen Strohdiemen und Kornschobern zu, die wir im September 1914 auch angetroffen hatten, die uns zunächst Schutz boten, dann aber dem Feinde Ziel wurden. Endlich die ersten Häuser von Cernay.

In Paris, bei einer Tischgesellschaft in der deutschen Botschaft hatten mich Deutsche, denen ich von meiner Absicht erzählte, Dorfbewohner zu be­suchen, eindringlich gewarnt, es sei noch nicht so weit. Sie kannten wohl die Pariser, aber nicht den französischen Bauern. Ich hatte schon auf der Landstraße von einer Bäuerin erfahren, dass die Familie, die ich suchte, fortgezogen sei, die andere aber noch da wohne. Ruhigen Herzens und mit sicherer Orientierung nahm ich die Richtung, wo unsere Freunde gewohnt hatten, und richtig, da hatten sie sich auf der alten Stelle in einem stattlichen Hofe wieder angesiedelt. Ich trat ein und fragte die Bäuerin, ob sie mich noch kenne — was natürlich nur eine Scheinfrage war, denn ich trug ja damals einen großen, schwarzen Bart. Sie schüttelte den Kopf. Ich fragte, ob sie nicht zwei Töchter habe, und nannte die Namen. Dann zog ich Bilder ihrer Kinder aus der Kriegszeit hervor und ein Bild von mir. Der Frau schwammen plötzlich die Augen in Tränen, sie wankte vor Überraschung und Freude, sie streichelte meinen Mantel, sie lief unter Bitten um Entschuldigung nach links und holte ihren Mann, der ebenso erfreut war, sie lief nach rechts und zog mich in den Nachbar­hof, wo ihre Tochter verheiratet war, die damals ein fünfjähriges Kind war und mit ihren Gespielen zu uns kam, mit Schokolade und Kuchen gefüttert wurde und zum Dank Veilchen brachte — nun eine junge Ehe­frau, die zuerst vor Staunen nicht sprechen konnte, bald aber, als sie die Bilder sah, zu plappern anfing und nicht aufhören wollte, Erinnerungen hervorzukramen und dabei um Unterstützung zu bitten. Alle zusammen mussten wir dann in die gute Stube, wo ich mit Wein und Kuchen be­wirtet wurde. Nach einer guten Stunde herzlichen Plauderns schieden wir mit festem Händedruck, beiderseits beladen mit Grüßen an die Bekannten. Noch vom Torweg aus winkten sie mir nach, bis ich ver­schwunden war.

Nun ein Gang an meinen eigenen Stellungen entlang in einer mächtigen Stimmung zwischen Lachen und Weinen. Frei konnte man sich hier bewegen, die Blicke ganz auskosten auf Reims und den Horizont des Schlachtfeldes, ohne Furcht vor Schrapnells und Gewehrkugeln, ohne Fremdenführer, allein. Und der Kameraden gedenken, der toten und lebenden, der Entbehrung, der geistigen Not, aber auch der Freude, der unermesslich reichen Stunden des Aufatmens und der Beglückung. Wie nahe immer das Ende! Die Einschläge überall bezeugen es noch heute, die Granatsplitter, die massenweise herumliegen, die nicht krepierten Granaten, welche die Bauern auspflügen und sorgsam auf den Wegrand legen. In der Ferne das weißlich schimmernde, bis in die Tiefen auf­gewühlte Fort La Pompelle, auf dem wohl bis zum Weltuntergang kein Gras mehr wächst. Diese Stelle erinnert an Perthes, an Verdun.“

Wieder sind es drei große Werke, denen die literarische Arbeit der Nach­kriegs jähre gelten. Bereits im Frühjahr 1922 ist das 1924 erschienene „Salzburger Barocktheater“ fertiggestellt: die bis dahin fehlende Studie über die Höhepunkte der Benediktinischen Theaterkultur, das Akademietheater des 17. und 18. Jahrhunderts und die gleichzeitigen Bühnen der Fürsterzbischöfe, wobei das Volkstheater wie das spätere Hoftheater nicht übergangen sind. Es ist eine theatergeschichtliche Unter­suchung, die in ihrer Genauigkeit und bis ins Tabellarische gehenden Kleinarbeit das Gegenstück zu einer literargeschichtlichen wie „Hebbel und Grabbe“ bildet. Aber auch sie begnügt sich nicht mit Erforschung und Beschreibung, sondern stößt immer wieder ins Grundsätzliche vor. So kann z B. gleich der erste Abschnitt summarisch „Theater und Volk“ heißen. Gleichwohl gelingen theatergeschichtliche Entdeckungen wie die Feststel­lung, dass nicht, wie bisher angenommen, die älteste Opernaufführung in Deutschland 1627 (mit Rinuccini-Opitz-Schütz‘ „Daphne“) auf Schloss Hartenfels bei Torgau, sondern bereits 1618 in Salzburg stattgefunden hat („II Orpheo“, „Andromeda“, „II Perseo“), und dass Erzbischof Marx Sittich, der also die Oper in Deutschland einführte, mit dem Hellbrunner Steintheater auch das älteste Freilicht- und Gartentheater auf deutschem Boden schuf. Zusammenfassend kommt Kutscher zu dem Ergebnis, das 17. und 18. Jahrhundert habe, „wie wieder unsere gegenwärtige Zeit, eine Ausdruckskunst der Bühne geschaffen, die im Zusammenwirken ihrer Elemente ans Vollkommene grenzt. Die gleichzeitige dramatische Kultur ist, wie auch bei uns wieder, viel geringer“. Kutscher hatte die Freude, von einem Germanisten der ältesten Schule wie Franz Muncker die Anerkennung zu erfahren: „Ihre Darstellung bringt sehr viel Neues, beutet ein reiches Material aus und belehrt auf dem Gebiet der Literatur geschiente und der Oper nicht weniger als auf dem der Theatergeschichte im engeren Sinne. Dass Sie besonders auf diesem letzten Gebiet heimisch sind und sich speziell in den technischen Fragen, die das Barocktheater betreffen, gründlich auskennen, verrät sich überall. Höchst dankenswert ist das Verzeichnis der Salzburger Aufführungen. Die bildliche Ausstat­tung ist ungewöhnlich reich und scheint mir technisch sehr wohl gelungen. Ich freue mich, dass Ihr Buch in einem so schönen Gewand erscheint.“ Im Namen Salzburgs dankte Franz Karl Ginzkey für das „schöne Werk, worin ein Geschichtsbild seiner Bühnenkunst wieder aufersteht, das theaterwissenschaftlich vorher im ganzen noch niemals erfasst wurde“.

Kutscher hatte sich bereits lange publizistisch und praktisch für das süddeutsche Volks- und Bauerntheater eingesetzt. 1923 erklärt er etwa:

„Eine ernste Gefahr besteht für die Laienbühne im deutschen Süden nicht! Ganz unlösbar ist bei uns das Theater mit dem Volkstum ver­wachsen, mit seiner Rasse, seinem Temperament, seinem künstlerischen Sinn, seinem geistigen und seinem gesellschaftlichen und politischen Leben. Nirgendwo gibt es so viel dramatische Vereine wie hier, in den verschiedensten Interessengruppen, bei Jung und Alt, in Städten und auf dem Lande, ja es gibt winzige Dörfer, in denen mehr als ein Theater­verein vorhanden ist. Dabei handelt es sich keineswegs um eine modische Bewegung von heute: das Theater der Laien stützt sich auf eine jahr­hundertealte Tradition. Die reiche und leidenschaftlich gepflegte Theater­kultur des Landes war schon gegen Ende des 18. Jahrhunderts in eine Komödienepidemie ausgeartet, in eine Hochflut, die gewisse Abwehr­mittel der Behörden erforderlich machte. Aber beseitigt werden konnte die Lust am Theaterspiel in Liebhaberkreisen weder damals, noch je, sie ist zu tief eingewurzelt in die Natur des Volkes. Und jeder, der sich liebevoll-andächtig mit den Leistungen des Naturschauspielers in Süd­deutschland beschäftigt hat, wer die Passionen und Legendenspiele, die Ritterkomödien auf dem Lande studiert hat — welche beiden Gattungen der Bauer schon als Kostümstücke am liebsten pflegt —, aber auch die Dramen des gegenwärtigen Lebens, Tragödien, Schauspiele, Komödien, Possen, die örtlichen Festspiele auf historische Ereignisse, die Stücke für Naturtheater und Freilichtbühnen, wer in Städten und Märkten die Auf­führungen der ansässigen Vereine aufmerksam verfolgt hat, muss staunen über ihren künstlerischen Wert im ganzen, über den guten Durchschnitt der Darbietungen und über die Fülle von ausgesprochenen mimischen Talenten, die im Volke stecken. Freilich, das Volk, bei dem schon die bodenständigen Jahreszeitenfeiern und Umzüge so gesättigt sind mit pantomimischen und theatralischen Wesen, steht mit seiner Schauspiel­kunst bereits auf dem denkbar breitesten und gesundesten Grunde. Und dieser naturnotwendige Ausdruck des inneren darstellerischen Tempera­ments, so gewiss ihm zur vollen Kunst die erforderliche Technik mehr oder weniger fehlt, die Technik, die selbstverständlich erst die berufliche Ausbildung verleiht, sie ist doch die Wurzel und der Stamm der deutschen Schauspielkunst.“

Um diese seine Bestrebungen organisatorisch zu sammeln, regte Kutscher 1926 eine „Gesellschaft für das süddeutsche Theater und seine Aus­wirkungen“ an, deren Zweck es sein sollte, alle Freunde des süddeutschen Theaters zu einer Gemeinschaft zusammenzuschließen, die es systematisch zu erforschen und zu fördern hätte. Die Gründungsfeier, bei der Artur Kutscher über dieses Ziel sprach, war beschickt von Vertretern aller ein­schlägigen Behörden, wissenschaftlichen Institute und nicht zuletzt des Auslandsdeutschtums, hatten doch bereits Salzburg, Innsbruck, Wien, Budapest, Zürich, Basel und andere Städte die Gründung von Orts­gruppen in die Wege geleitet. Es bleibt bis heute zu bedauern, dass die Gesellschaft aus organisatorischen Schwierigkeiten dann nicht die er­wartete Entwicklung nahm. Auf diese Weise ist die wichtige Aufgabe, die Kutscher ihr gesetzt hatte, leider nie erfüllt worden.

Tilly Wedekind Quelle: Wikipedia

Kutschers zweites Hauptwerk in der Nachkriegszeit war die dreibän­dige Wedekind-Biographie, zusammen mit der Bearbeitung von Band 7, 8, 9 der Gesamtausgabe und die Herausgabe seiner „Lauten­lieder“. Tilly Wedekind hat einmal die Freundschaft zwischen Frank Wedekind und Artur Kutscher dahin charakterisiert: „Kutscher war immer lebhaft und interessiert, und Frank war so unendlich dankbar für einen Menschen der jüngeren Generation, der Anteil an ihm und seinem Werk nahm. Und der nie den Abstand zwischen sich und dem Älteren, nie die Ehrfurcht vor dem Reiferen vergaß. Ich glaube, Frank mochte ihn sehr gern und unterhielt sich außerordentlich gern mit ihm. Vielleicht verknüpfte es sie auch, dass sie beide aus Hannover stammten und dadurch eine gewisse Wesensgemeinschaft hatten. Vielleicht sah Frank in den letzten Jahren auch in ihm seinen späteren Biographen.“ Kutscher hat damit das umfangreichste biographische Denkmal errichtet, das über­haupt einem Dichter des 20. Jahrhunderts zugedacht worden ist. Es geschah nicht aus einer Überschätzung Wedekinds. Wenn auch sonst nur Klassikern eine Darstellung ihres Lebens und Schaffens in diesem Aus­maß zuteilwurde, so hat Kutscher Wedekind dennoch nie für eine absolute Größe gehalten, sondern schon 1925 betont, er erscheine ihm „nicht als Vollender, aber als Stilentwickler ersten Ranges in der Art von Lenz, Grabbe, Büchner.“ Mancher Verehrer Kutschers hat sich ver­geblich gefragt, was ihn, den allein schon durch seine tiefe Naturver­bundenheit und viele andere Wesenszüge so völlig anders Gearteten, eigentlich an Wedekind angezogen habe. Das abschließende „Summa Summarum“ des 3. Bandes (1931) gibt die Antwort: „Man stelle sich zu Wedekind als Menschen wie man will. Man bemängele seine Themen und Stoffe. Man lehne seine Anschauung ab — das ist schließlich mehr oder weniger Sache des Individuums oder des Gesdimacks. Unleugbar bleibt das Verdienst, das Wedekind sich als Stilschöpfer erwarb. In einer Periode, in welcher eine Menge dichterisch begabter Literaturstücke und technisch guter Bühnenreißer geschrieben wurden, war Wedekind ernst und unablässig bemüht um die wesentlichen Forderungen des Dramas. Er wusste, dass Mimik das A und O des Dramas ist, er suchte, ihm Be­wegung zu geben, Handlung, Willen, Leidenschaft, Tempo, straffen Bau, er nützte alle Reize der Bühne aus: Kostüm, Chor und Masse, Szenen­bild, Lichteffekt, Musik, Gesang, Tanz, wie die großen, auf dem Boden der Volksliteratur erwachsenen Dramatiker im Gegensatz zu den lite­rarischen und besonders den klassizistischen. Nicht Muster und Schule hatten ihn diesen Weg geführt, sondern gute Instinkte.“ Tiefer aber noch berührte ihn an Wedekind, den er „als Schöpfer ungewöhnlich eng auf sich selbst beschränkt“ nennt, seine Haltung: „Er vertrat die neue Sitt­lichkeit ernst und mutig als seine Wahrheit mit der Leidenschaft dessen, der sich für sein Volk und seine Zeit verantwortlich fühlt. — War Wede­kind nicht an Stamm und an Heimat gebunden, so war er dafür umso stärker mit seiner Zeit verknüpft. Er führte als einer der Ersten und Mächtigsten um die Jahrhundertwende den Kampf mit dem Bürgertum, nicht gegen das Bürgertum, denn heimlich war und blieb ja Wedekind ein Bürger, ein Ausgestoßener allerdings, der sich nach Anerkennung, Ruhe und Ordnung innerhalb der bestehenden Verhältnisse sehnte; aber gegen seine Schwächen und Schattenseiten, seine Gefühlsduselei, seine Sentimentalität, seinen scheinbaren Idealismus und tatsächlichen Mate­rialismus, seine stumpfen Vorurteile, seine sinnliche Verkümmerung und Naturferne sowie seine bodenlose Selbstsicherheit. Wedekind rüttelte das Gewissen seiner Generation auf.“ Eben wegen der Verflochtenheit Wedekinds mit seiner Zeit hat Kutscher die Biographie über alles Persön­liche hinaus als ein umfassendes Zeitbild angelegt, verliert sich aber nie ins Allgemeine. Karl Vossler hob, sicher im Sinne vieler Leser, den intimen Reiz inniger Vertrautheit hervor, wenn er Kutscher schrieb: „Es ist von großem Wert, dass, wir von einem, der den Dichter und den Menschen so nahe gekannt hat wie Sie, ein so reichhaltiges Zeugnis besitzen.“ — Was Wedekinds Lautenlieder betrifft, so wird es inter­essieren, dass Wedekind begonnen hatte, ihre Veröffentlichung mit Melodien- und Gitarrensatz nach dem Muster von Kutschers Sammlung „Das richtige Soldatenlied“ vorzubereiten. Kutscher stellte nun nach Wedekinds Plan 25 Lieder (statt 18 der Handschrift) mit Wedekinds eigener Melodie und 10 (statt 8) mit fremder Melodie zusammen, denen sich noch weitere 14 anschließen, von denen es nur wahrscheinlich ist, dass die Melodien von ihm stammen.

Es war eine Frage der Persönlichkeit, ob es gelingen konnte, die noch junge Disziplin der Theatergeschichte bereits jetzt zur Theaterwissen­schaft zu erweitern und zu steigern. Dass Artur Kutscher diese Persönlich­keit ist, beweisen vor allem der Mut und die Klarheit, mit denen er es unternahm, dieser neuen Wissenschaft ihr Lehrbuch zu schreiben, den zweibändigen „Grundriss der Theaterwissenschaft“. Der erste Band trägt den Titel „Die Elemente des Theaters“. Hier­unter versteht Kutscher Schauspielkunst und Drama, ein darstellerisches und ein textliches Element. Innerhalb des darstellerischen unterscheidet er genau Laienspieler und Berufsspieler als absolute Gegensätze, unter den Berufsspielern noch einmal Mimen und Schauspieler als relative; innerhalb des textlichen Mimus (primitives Drama) und Drama (ge­adelter Mimus). Schauspieler und Drama gehören zusammen, Mime (primitiver Schauspieler) und Mimus. Den Wert des Mimus sieht er über seine Geschichte hinaus in seiner Typik. Mimus ist ihm Volksstück im Gegensatz zum klassischen Drama. Wir nennen ihn heute: Theaterstück. Kutschers Definitionen der drei Hauptarten des Theaterstücks (Lustspiel, Schauspiel, Trauerspiel) sind ebenso richtunggebend wie seine Ehren­rettung des vom Kothurn des Dramas her so oft zu Unrecht verachteten Volksstücks (ernster Mimus), der Posse und des Schwanks (komischer Mimus).

Das Drama ist dem Mimus zwar künstlerisch überlegen, aber keinesfalls eine literarische Gattung wie Lyrik und Epik. Kutscher stellt die im ersten Augenblick manchen vielleicht befremdende, jedoch bei näherer Über­legung folgerichtige Behauptung auf: Das Drama ist überhaupt nicht Literatur! Sondern eben ein Element des Theaters. Der Umstand, dass es sich der „gleichen äußeren sprachlichen Formen“ wie Lyrik und Epik bedient, darf nicht zu dem Irrtum einer stilistischen Gleichsetzung mit ihnen führen. Entscheidend für die Bewertung des Dramas ist sein mimischer Gehalt, seine Spielbarkeit. Kutschers Gesichtspunkt ist also nicht literarisch-philologisch, sondern dramaturgisch. Schon in der „Ausdruckskunst der Bühne“ schrieb er 1910: „Die Schauspielkunst ist gerade so wenig Zweck des Theaters wie etwa die Bekanntgabe und bloße Ver­mittlung der Dichtung, sondern Darstellung überhaupt ist das Ziel.“ In den weiteren zwei Jahrzehnten hat sich der Keim dieser Erkenntnis weiter entwickelt zu der grundlegenden These: „Die Schauspielkunst findet ihre höchste Erfüllung im Drama, das Drama seinen höchsten Aus­druck in der Schauspielkunst. In dieser Vereinigung haben wir die schöpferische Urkraft des Theaters.“

Ästhetisch ebenso klärend sind seine Betrachtungen über die „Gipfel­typen“ der dramatischen Dichtung, Tragödie und Komödie, „im Grunde nur verschiedene Formen für die gleiche Idee“. Gerade in diesem Ab­schnitt setzt er sich knapp mit einer Unzahl von Auffassungen auseinander: Lessing, Goethe, Schiller, Sendling, Kleist, Hebbel, Vischer, Schopenhauer, Nietzsche, Hauptmann, Maeterlinck, Dehmel, Bahr, Scholz, Stanislawski, Mary Wigman, Laban, Lipps, Wilamowitz, Scheler usw. Für Kutscher gibt es immer nur einen Standpunkt: den künstlerischen. Nur ein Ziel: Stil.

Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff Quelle: Wikipedia

Was aber den Ursprung des Theaters angeht, so tritt Kutscher der fast allgemein verbreiteten Ansicht, es sei aus dem Kult entstanden, ent­schieden entgegen. Mit der ihm eigenen Deutlichkeit spricht er von „einer Sucht in unserer Wissenschaft, alles Ursprüngliche zu mystifizieren“ und kennzeichnet die „monströse theaterwissenschaftliche Mythenbildung“. Für Kutscher ist Zelle des Theaters und seine einfachste, älteste Form nicht der Kult, sondern der Tanz, natürlich der Volkstanz. Tanz wieder ist seiner Entstehung nach, wie jede Ausdruckskunst des Körpers, mimisch, und Mimik entspringt dem Spieltrieb, einem Urtrieb der Menschheit. So ist das Theater auf die Menschennatur, ihre Gaben und Bedürfnisse zurückgeführt, nicht auf ein Kapitel der Literaturgeschichte oder einen einzelnen, wie Thespis, der die Tragödie „erfunden“ haben soll. Den Satz, die Theaterwissenschaft könne „sich nur auf den Elementen des Theaters aufbauen“, wiederholt Kutscher im Vorwort zu dem zweiten abschließenden Bande „Stilkunde des Theaters“. Hierin behandelt er als „Hilfskünste“ Dramaturgie, Regie, Szene, Bildende Kunst, Natur und Musik. Vielleicht scheint es manchem überraschend, aber es ist nur folgerichtig, dass Kutscher in Fortführung seiner Gedankengänge zwar der Arbeit des Regisseurs schöpferische Art zuerkennt, allein „Drama und Schauspielkunst, die Grundmächte des Theaters, keinesfalls als Material der Regie“ gezeichnet wissen will. Mit derselben Entschiedenheit grenzt er Natur- und Freilichttheater untereinander und gemeinsam vom geschlossenen Theater ab, wobei er, der dem Naturtheater schon in der Muncker-Festschrift 1925 eine Untersuchung gewidmet hat, feststellt: Das Naturtheater und das geschlossene Theater, „machen ein­ander nicht überflüssig, im Gegenteil, sie ergänzen einander“. Unter den Nachbarkünsten behandelt Kutscher außer dem Puppen- und Schatten­spiel Film und Kunst. Beim Film ist für Kutscher — im Gegensatz zum Theater — der Regisseur Schöpfer, denn „weder Wort noch Musik sind Elemente des Tonfilms: beide bestehen im Tonfilm nur durch ihr organi­sches Verhältnis zum bewegten Foto“. Was Kutscher über das Verhältnis vom Film zum Theater oder vom Film zum Funk bzw. Funk und Theater sagt, ist klärend in dem Bemühen, die Eigengesetzlichkeit dieser verschie­denen Künste zu erkennen.

Der dritte Abschnitt gibt einen Abriss von Voraussetzungen, Methode und Lehrgang der Theaterwissenschaft, der Kutscher ja bekanntlich auch ihren Namen gab. Kutscher weiß, dass „die frühesten Vertreter einer Wissenschaft auch bei namenlosem und reinem Bemühen Widerstand und Missachtung finden“, muss nachdrücklich in Erinnerung rufen, wie „gerade diejenigen, die mit der Wissenschaft und mit der Geschichte auf Du und Du zu stehen vorgaben, vergaßen, dass eine Wissenschaft überhaupt nur lebt, solange sie sich wandelt“, und alle Erfahrungen treiben ihn dazu, das Gesicht dieser Wissenschaft vom Theater nur desto klarer auszuprägen. Bisher ist ja „das Hauptziel der Theaterwissenschaft, ihre Anerkennung als selbständiges Lehr- und Prüfungsfach, noch nirgends erreicht“. Wie weit die Theaterwissenschaft über die Theater­geschichte hinausgeht, dafür ist dieses Buch in sich selbst ein Muster: Es verwendet auf jeder Seite Tatsachen der Theatergeschichte als Beispiele, um zu theaterwissenschaftlicher Erkenntnis zu kommen, wobei es zu größtem Vorteil gereicht, dass Kutscher durch seine Exkursionen im Gegensatz zu den Nur-Buchgelehrten aus eigener Anschauung spricht, ob von Epidauros die Rede ist oder von dem ältesten oberbayrischen Bauern­theater in Kiefersfelden. Es ist ein Glücksfall für die Theaterwissenschaft, dass gerade Kutscher es war, der hiermit ihre systematische Grundlegung vollenden konnte: Universitätsprofessor, aber zugleich gründlicher Ken­ner des praktischen Theaters, mit seiner Bühnenbearbeitung von Lenz‘ „Soldaten“ (1911) sogar dramatischer Autor (Dr. von Jacobi hat die Münchener Uraufführung im Künstlertheater einstudiert, Wilhelm von Scholz die Stuttgarter Erstaufführung), vor allem jedoch ein leben­diger, aufgeschlossener Mensch mit einem natürlichen Verhältnis zur Kunst, einem angeborenen „Blick für das Wesentliche“, der nach seinen eigenen Worten „den künstlerischen Geist überhaupt auszeichnet“. So konnte man das weite Gebiet nicht kürzer und wesentlicher darstellen. Hermann Reich, der auf seinen vielen Reisen immer wieder erfuhr, wie man „überall in den deutschen Alpenländern“ von Kutscher „mit Liebe und Verehrung als dem großen Förderer des Volkstheaters“ sprach, war von dem „wundervollen Werk“ begeistert und gestand: „Ich bin von tiefer Sympathie für Ihr ganzes Schaffen, Wirken, Forschen, Schreiben, Sein und Leben erfüllt.“ Karl Voßler bekräftigte: „Das Ganze ist von wohltuender, aus der Vertrautheit mit dem lebendigen Theater entsprungener Frische und sehr geeignet, den Büchermenschen und Philologen von vielen und verbreiteten Vorurteilen freizumachen. — Das ist ein wohltuender Kehraus. Sehr gut ist es Ihnen gelungen, die Einheit und Beweglichkeit der Gattungen fühlbar zu machen und dabei doch eine übersichtliche Ordnung zu wahren.“ Für die jüngere Generation bestätigte Rolf Badenhausen, damals Dozent am Theaterwissenschaftlichen Institut der Universität Berlin, jetzt Chefdramaturg von Gustaf Gründgens am Düsseldorfer Schauspielhaus: „Der Wert besteht darin, dass hier wirklich einmal versucht worden ist, eine Übersicht über den Stand der Forschungen auf den einzelnen Teilgebieten des Theaters zu geben, die Ergebnisse zusammenzufassen und die Erkenntnisse zu formulieren. Da­bei begnügt sich Kutscher niemals mit einer historischen Darstellung der Probleme, sondern schließt seine Ausführungen jeweils mit Forderungen an die Gegenwart oder Zukunft.“

Zum 60. Geburtstag von Artur Kutscher gab ich ein Festbuch heraus, das keinen anderen Titel tragen konnte als: „Für Artur Kutscher. Ein Buch des Dankes.“ 185 Persönlichkeiten folgten meiner Bitte, ihren Dank an Artur Kutscher zu bekennen. Es waren sowohl Freunde, Verehrer, Gäste wie Schüler und Hörer. In beiden Gruppen Vertreter der Wissenschaft, des Schrifttums, des Theaters, Films und Funks. Viele der Mitarbeiter sind in diesen 15 Jahren der Kriegs- und Nachkriegsnöte dahingegangen. Ich nenne von den Wissenschaftlern nur Wilhelm Dörpfeld, Otto Mausser und Carl Hagemann. Ungewöhnlich groß waren die Verluste, die unter den Dichtern und Schriftstellern zu beklagen sind: Adolf Attenhofer, Walter Bloem, Waldemar Bonseis, Max Dreyer, Herbert Eulenberg, Alexander von Gleichen-Russwurm, Max Halbe, Gerhart Hauptmann, Isolde Kurz, Kurt Martens, Josef Ponten, Hans Reiser, Colin Ross, Walter von Rummel, Albrecht Schaeffer, Ludwig Scharf, Thassilo von Scheffer, Wilhelm Schmidtbonn, Heinrich Sohnrey, Wilhelm Weigand, Walter Ziersch, Adalbert Alexander, Zinn. Fast die Hälfte der Verehrer aus dem Gebiete der Literatur, die in dem Festbuch von 1938 vertreten waren, weilt nur 15 Jahre später schon nicht mehr unter den Lebenden; was könnte stärker beweisen, wie schnell eine ganze Generation entschwunden ist! Wesentliche Stimmen des Theaters, die sich damals geäußert haben, sind inzwischen ebenfalls verstummt: Otto Falckenberg, Adolf Linne­bach, Alfons Pape, Hans Schlenck, Saladin Schmitt, Ernst Leopold Stahl, Agnes Straub. Fritz Erler und Anton Muller-Wischin haben den Pinsel aus der Hand gelegt. Auch unter den früheren Schülern hat der Tod seine Ernte gehalten. Ernst-Wilhelm Saltzwedel ist gefallen, Werner Schickert in der Heimat von einer Bombe getroffen worden, Günther Caracciola-Delbrück wurde, als Mitglied der Freiheitsbewegung Bayern, wegen seines Zieles, die Stadt vorm Straßenkampf zu bewahren, noch in letzter Minute vor der Einnahme Münchens erschossen. Edlef Koppen, Max Alexander Meumann, Eugen Ortner, Josef Wenter, Hubert Wilm starben. Aus dem Reich des Theaters wurde Heinrich XLV, Erbprinz Reuss, ein Opfer des Kriegsendes. Gaston Baty, der berühmte Erneuerer des franzö­sischen Theaters, gleichfalls ein Schüler Kutschers, ist 1952 von der Bühne dieser Welt abgetreten.

Von den Besprechungen, die das Werk fand, sei nur diejenige W. E. Süskinds in der „Literatur“ (Dezember-Heft 1938) erwähnt, weil sie hervorhebt, dass es nicht nur „einige Jahrzehnte Münchener Musen­pädagogik“ durchwandere, sondern auch ein „Stück deutscher Geistes­geschichte“ vermittle.

Tilly Wedekind hat Artur Kutscher in dem Festbuch von 1938 dafür gedankt, dass er sich „auch in den letzten schweren, Jahren immer treu“ zu Wedekind bekannte.

Kutscher fragte auch weiter wie seit 1928 in der ersten Stunde jedes neuen Semesters seine Studenten, welches die Namen und in welcher Reihenfolge „die zwanzig bedeutendsten deutschen Schriftsteller der letzten fünfzig Jahre“ einzuordnen seien. Es ist bezeichnend für den Geist des Kreises, der sich um ihn sammelte, dass Thomas Mann 1933 an erster, 1934 nach Gerhart Hauptmann an zweiter und 1936 wieder an erster Stelle stand, bezeichnend aber auch, dass Kutscher dieses Ergebnis unbekümmert um die amtliche „Kulturpolitik“ öffentlich bekanntgab. (Rilke, Hofmanns­thal, George, Hesse, Carossa standen 1933—1936, meist gleichzeitig, eben­falls in der Spitzengruppe. Von 1936—1947 fand keine Befragung statt, und als Kutscher sie 1948 wieder aufnahm, ergaben sich die genau gleichen Namen.)

Von 1938 ab werden die Angriffe in der NS-Presse gegen Kutscher immer stärker, feindselige Aktionen der NS-Studenten steigern sich. Man stört seine Vorlesungen und Übungen. Es entspricht Kutschers Charakter, dass er unbekümmert um diese Kämpfe 1939 sein früheres Buch neu herausgibt unter der Erweiterung „Vom Salzburger Barocktheater zu den Salzburger Festspielen“ und dabei diesmal die Leistung des verfemten Emigranten Max Reinhardt mit einbezieht, den er kritisch abwägend würdigt. Unser gemeinsamer Freund Max Halbe berichtet mir immer wieder in seinen Briefen von diesen Schwierigkeiten. So am 24. 7. 1940: „Kutscher hat wieder Verdruss mit der NS-Studentenschaft. Es wird ihm vorgeworfen, seine Lehrtätigkeit entbehre der parteilichen Waschecht­heit. In denselben Tagen heißt es auf einer Ferienkarte von Artur Kutscher an mich aus Ruhpolding: „Hier wollen wir uns fünf Wochen niederlassen, alten widerlichen Studentenstreit zu vergessen suchen, neue Kräfte schöpfen.“

Die Kriegs jähre bringen dem über 60 jährigen körperliche Leiden, die ihm früher unbekannt waren. Ende 1940 teilt er mir mit: „Es ging mir schlecht. Ein von der Wirbelsäule ausstrahlendes Nervenleiden be­reitete mir Schmerzen beim Sitzen, Liegen, Schlafen. Es war zum Ver­zweifeln. Ich musste am Krückstock ins Kolleg, das ich nicht aufgeben wollte.“ Die Krankheit wird immer lästiger als Arthrose, Nerven­entzündung an Rücken- und Brustwirbeln, deutlich. Mehrfach muss Kutscher Kuranstalten aufsuchen. Zugleich schafft er immer weiter. Große Mühe verwendet er auf eine Anthologie deutscher Dramen von Lessing bis Anzengruber. Auch zu Vortragsreisen zwingt er sich. Mit der ihm eigenen Unbefangenheit schreibt er mir damals auf offener Post­karte, er sei zu einer Serie von KdF-Vorträgen aufgefordert worden: „Ist das nun eine ästhetische Schmeichelei oder eine politische Be­leidigung?“

Artur Kutscher Quelle: Ein Lebensbild

Im September 1942 erleidet Kutscher den ersten der drei schweren Schläge, die das Schicksal ihm im nächsten Jahrfünft erteilen sollte: sein einziger Sohn Hubert fällt, 20 jährig, im Kaukasus.

Eine Freude ist die Anhänglichkeit, mit der Verehrer, Freunde und Schüler seinen 65. Geburtstag mit einem Abend voller theatralischer Aufführungen in Gegenwart des Jubilars feiern.

Der Bombenkrieg wird immer härter. Kutscher bringt im September 1943 seine Gattin in dem Dorfe Unterwössen im Chiemgau unter, bleibt aber selbst in München. Seine Briefe von damals spiegeln die Sorge, aber auch eine Tatkraft, die nicht zu brechen ist. „Meine Bibliothek ist jeder Ge­fahr preisgegeben. Ich arbeite wie nie.“ (3. 10. 1943) Am 1. Januar 1944 kommt er auf die Frage der Bibliothek zurück: „Meine 6000 Bücher, z. T. mit wertvollsten Dedikationen, stehen alle in meiner Wohnung, der Gefahr täglicher Zerstörung ausgesetzt. Aber ich kann diese Bücher nicht fortschaffen, weil ich sie täglich brauche wie der Arzt seine Instrumente und Apparate, und ich kann sie nicht aufs Land bringen und hinter ihnen herreisen.“ Am 12. 7. 1944 fällt bei einem Großangriff auf München eine Luftmine auf sein Wohnhaus, Antonienstraße 1. Der Verlust des größten Teils seiner Bibliothek, von der ihm nur verkohlte Reste geblieben sind, und seiner gesamten Einrichtung ist der zweite schwere Schicksalsschlag. Vier Monate später gibt Kutscher mir in seiner Unverwüstlichkeit brief­lich folgende Schilderung: „Ich wohne Antonienstraße 1 im ersten in zwei leeren Zimmern, die ich mir langsam als Behausung aufbaue. Das Schlafzimmer ist noch ohne Matratze, Kissen und Decken, so dass ich nicht darin schlafen kann, und das Wohn- und Arbeitszimmer besteht aus vier Stühlen, wozu mir der Direktor der Löwenbrauerei einen eisernen Gartentisch geliehen hat. Geheizt wird vorläufig noch nicht. Leicht vor­zustellen, wie man unter solchen Umständen schaffen und leben kann, noch dazu in der ständig wachsenden Bedrohung Münchens. Wenn man einander Pfütdigott sagt, weiß man nie, ob man sich wiedersieht. Trotz­dem arbeiten wir mit Begeisterung in den Unterwössener Zwischentagen, solange wir es aushalten.“

Eine Frucht dieser Arbeit ist das 1944 erscheinende „Löns-Brevier“. Der Titel dieses Buches ist insofern missverständlich, als es sich um eine Löns-Biographie handelt, die das Leben und Werk dieser so schwierigen Gestalt auf gültige Weise deutet. Nur das Andenken von Hermann Löns ist ähnlich von weiblichen Porträtierungen umrankt wie das von Rilke, meist von zu subjektiven und von zu legendären. Vielleicht nicht zufällig. Rilke und Löns — welche Gegensätze! Aber so sehr auch Löns immer wieder Frauen suchte und fand, so stark kämpfte er ebenfalls dennoch im Grunde darum, allein zu sein, frei, um sich und sein Werk zu er­möglichen, wie er es einmal mit Worten sagt, die denen Rilkes vom Opfer des Dichters verwandt sind. Es gehört zu den Vorzügen des „Löns-Breviers“ von Artur Kutscher, dass es irreführende Darstellungen wie Hanna Fries‘ „Hermann Löns und die Swantje“ (in der sich die Verfasserin mit der Swantje aus dem „Zweiten Gesicht“ identifiziert) berichtigt. Vor allem jedoch: dieses „Brevier“ schuf ein Wissenschaftler, der ein Freund von Hermann Löns war, und die doppelte Eigenschaft gibt dem Buch seine Note. Artur Kutscher schreibt nicht die Geschichte ihrer Freundschaft, sondern Briefe oder mündliche Äußerungen auf Hunderten von gemeinsamen Spaziergängen und‘ Wanderungen sind immer nur dann eingeflochten, wenn sie etwas über Löns selbst aussagen. Mit wohltuender Frische, Unvoreingenommenheit und ohne jeden feier­lichen Unterton werden Leben und Wesen des Dichters lebendig, sein Wesen gerade in aller Zwiespältigkeit, aus der er sich erst herausentwickeln musste. Mit dieser unpathetischen, psychologisch scharfsichtigen Charakteristik des Werdeganges ist eine ebenso entschiedene Bewertung des vielschichtigen, ungleichen Schaffens von Hermann Löns verschmolzen. So ergibt sich der Zusammenhang von Menschentum und Dichtung, ge­sehen mit den Augen eines Freundes und Gelehrten, der gerade durch diese Verbindung die Kunst des „Werwolf“-Dichters zum ersten Mal stilkundlich betrachten konnte. Die Persönlichkeit von Löns wird aus denkmalhafter Schablone erlöst. Das Buch ist ein Musterbeispiel, wie blutvoll, anschaulich und zugleich im Kritischen streng eine Dichter-Monographie sein kann.

Hermann Löns um 1900 Quelle: Wikipedia

Die Verhältnisse werden immer schwieriger, die Universität leert sich. Nur noch Kriegsversehrte und Studentinnen können das Studium fort­setzen. Kutscher hält durch und bricht seine Lehrtätigkeit erst am 25. 4. 1945 ab. Zu Fuß flüchtet er nach Unterwössen, wo er seitdem seinen Wohnsitz hat. (Bis heute war keine Wohnung in München für ihn zu be­schaffen, und so ist aus dem Flüchtlingsquartier das ständige Domizil geworden. Der alte Herr unternimmt 1953 noch immer allwöchentlich eine mehrstündige Reise hin und zurück, um in München Kolleg zu halten.)

Der Krieg und die Bedrohung durch die Nationalsozialisten sind vorüber. Kutscher hat viel verloren, aber das Leben und seine Tatkraft gerettet. Da trifft ihn der dritte Schicksalsschlag: er wird amtsenthoben durch die amerikanischen Besatzungsbehörden, weil er — kinderreicher Familien­vater — unter dem Druck, sonst Amt und Pension zu verlieren, 1942 notgedrungen in die Partei eingetreten war. Während sich seine Freunde und Schüler zu einer Phalanx der Verteidigung sammeln, kann mir der Unverwüstliche im Januar 1946 in die Kriegsgefangenschaft berichten: „Die erste unfreiwillige Muße meines Lebens hat eine gewaltige Frucht­barkeit hervorgerufen.“

Zunächst erscheint 1946 sein Heft „Drama und Theater“, das Haupt­erkenntnisse seines „Grundrisses der Theaterwissenschaft“ von neuem durchdenkt und formuliert. „Literatur und Drama haben verschiedenes Ausdrucksmaterial“, heißt es darin. „Wort und Wort, Sprache und Sprache sind also nicht dasselbe. Die Sprache des Dramas muss in erster Linie ,Raum und Bewegung‘ haben.“ Das Leben eines Dramas sei dem Studium einer Partitur oder eines Drehbuches vergleichbar, denn das „Lesedrama“, das nur für die Lektüre, nicht für eine Aufführung ge­schrieben wurde, ist für Kutscher stilistisch ein Unding. Diese Broschüre enthält thesenartig ein Stück Quintessenz seiner Lehre. Sie will der stilkundlichen Begriffs-Scheidung dienen, zugleich aber der lebendigen, dramatisch-theatralischen Kunst.

Kutscher erhält einen Ruf an die Universität Lima (Peru) und der dortigen Gesellschaft von Freunden des Theaters zur Abhaltung theater­wissenschaftlicher Kurse. Er lehnt ab in der Erwartung seiner Rehabili­tierung. Am 15. März 1946 erklärt die Militärregierung die Dienstenthebung vom 20. 12. 1945 für hinfällig. Kutscher nimmt im Sommer­semester 1946 seine Lehrtätigkeit wieder auf und setzt sie im Folgenden fort. Im September 1946 findet auch in Anknüpfung an die alte Tradition eine erste Zusammenkunft in kleinem Kreise der engeren Schüler statt. Da wird er im November 1946 zum zweiten Male amtsenthoben: dies­mal „sogar entlassen, und zwar ohne einen neuen Grund“, wie Kutscher in einem Notruf an schöpferische Menschen, die ihn kennen, feststellt. Sein Vertrauen wird nicht getäuscht. Die „Süddeutsche Zeitung“ vom 15. 2. 1947 macht bekannt:

„Vor kurzem richteten 66 bekannte deutsche Kulturschaffende eine Bittschrift an die Militärregierung, Kutscher zu rehabili­tieren, da er in die Partei eingetreten sei, um seine Existenz zu retten, dennoch aber weiter in mutiger Weise Opposition getrie­ben und zahllose Studenten im antinationalsozialistischen Sinne beeinflusst habe; außerdem sei er stets für die Verbotenen und Verfemten eingetreten und habe deswegen sowie infolge seines Verhaltens bei der Schöll-Aktion und bei vielen anderen An­lässen beträchtliche Nachteile und Schwierigkeiten erlitten.“ (Die Bittschrift enthält u. a. Unterschriften von den Dichtern und Schriftstellern Ernst Wiechert, Stefan Andres, Johannes R. Becher, Ernst Penzoldt, Kasimir Edschmid, Frank Thiess, Richard Billinger, Herbert Eulenberg, Horst Lange, Ina Seidel, Wilhelm Hausenstein, Hermann Uhde-Bernays, Hanns Braun, Rudolf Bach, Gunter Groll, Herbert Hohenemser, Walter Panofsky, Friedhelm Kemp, Herbert Günther; den Verlegern Kurt Desch, Ernst Heimeran; den Theaterleuten Erich Engel, Helmut Käutner, Falk Harnack, Arnulf Schröder, Friedrich Ulmer; von der Familie Wedekind sowie von einer Gruppe einstiger Teilnehmer der Schöll-Aktion und ehemaliger politischer Verfolgter.) „Neuerdings nimmt Thomas Mann in einem Brief vom 24. Januar 1947 an Professor Kutscher zu diesem Fall Stellung. Er spricht darin von der von ihm „dankbar gewürdigten Lehr­tätigkeit“ Kutschers und von dem „liberalen und humanen Geist“ in Kutschers Schüler-Kreis. Er habe auch während der Emigra­tion noch Möglichkeiten gehabt, Kutschers Arbeit zu verfolgen, und es sei „unbedingt glaubhaft“, dass Kutscher den Parteieintritt nur vollzogen habe, um nicht seines Lehramtes verlustig zu gehen, trotzdem aber persona ingrata geblieben sei. Thomas Mann schreibt dann wörtlich: „Die Aktion zur Reinigung der deutschen Universitäten von Nazi-Elementen ist gewiss notwendig und begrüßenswert. Ein absolutes Kriterium für die Untauglichkeit zur Mitarbeit an der demokratischen Erneuerung kann es aber schwerlich geben, und ich begreife, dass man sich an äußere Tat­sachen wie die Zugehörigkeit zur Partei hält. Es bleibt dies aber in gewissen Fällen ein allzu mechanisches und vielleicht irre­führendes Mittel, und ich möchte glauben, dass Ihrem Fall damit nicht Gerechtigkeit widerfährt.“

Falk Harnack Quelle: Gedenkstätte Deutscher Widerstand

Inzwischen wurde Kutscher von der Spruchkammer als vollkommen ent­lastet erklärt. Im August 1947 ist seine Entlassung rückgängig gemacht worden und vom folgenden Wintersemester ab hat er bis jetzt regel­mäßig weiter gelesen.

Der 70. Geburtstag bringt ihm einen neuen Beweis der Verehrung. Nur ein Jahr nach den Meldungen über den „Fall Kutscher“ kann die gleiche „Süddeutsche Zeitung“ am 17. 7. 1948 ihren Lesern berichten:

„Nicht oft mögen zum Markstein des 70. Geburtstages die Wellen von Sympathie und liebender Anerkennung so heftig-freudig zusammenschlagen, wie bei dem Jubiläumsfest für Prof. Kutscher, das im Bühnenklub die „Kutscherianer“, die Schüler und Freunde des verehrten Lehrers, aus allen Himmelsrichtungen vereinte. Junge Adepten, mit vor Erregung geröteten Wangen, glänzenden Augen und zurückgeworfenen Haarschöpfen wogten lebhaft von Raum zu Raum; sesshafter an den Tischen, in erinnerndem Ge­spräch an schwabingbeschwingte musische Studienjahre, die Vielen, die längst selber dem künstlerischen und geistigen Leben Profil geben. Der Atmosphäre von Vertrautheit gab das Quartett der Festredner ungewöhnlich warmen Ausdruck: Walter Kiaulehn, den Jubilar, den „Magneten, der die Talente anzog“, mit einem seiner charmant gesprochenen Feuilletons begrüßend, Alois J. Lippl den Dank der Generationen von Studenten aus­sprechend, die durch diese „behutsamen Hände“ und mit dem Meister durch das Reich des Geistigen und Menschlichen gingen. Hans Schweikart, überwältigt, wie er sagte, vom Kutscher-Mythos, ließ von der Praxis her dem Theater-Wissenschaftler alle Ehre widerfahren, in Herbert Fischers Worten klang be­wegt das Echo der Kriegs- und augenblicklichen Seminarteil­nehmer. Kurt Desch improvisierte Worte der Erinnerung.“

1949 erschien eine überarbeitete Neuauflage vom „Grundriss der Theaterwissenschaft“ (in einem Bande). In den „Theaterwissen­schaftlichen Blättern“ hatte Artur Kutscher 1925 seine Auffassung fol­gendermaßen umrissen: „1909 auf 1910 begründete ich an der Münchener Universität die Theaterwissenschaften als selbständiges Lehrfach und nahm schon sehr bald insofern eine Sonderstellung ein, als ich betonte, der Kern liege nicht im Logos, sondern im Mimus, die junge Wissen­schaft habe folglich nicht sowohl Fühlung mit der Philologie als mit der Kunst- und Musikwissenschaft zu halten, und dürfe wie diese nicht als deutsche, sondern nur als allgemeine Theaterwissenschaft aller Zeiten und Völker getrieben werden. — Von sekundärer Bedeutung ist der außerordentliche Einfluss fremder Theaterkulturen auf die deutsche, welche aus sich selbst heraus periodenweise überhaupt gar nicht ver­ständlich ist. Die Ausbildung und Verfechtung dieser Disziplin brachte, gerade weil sie etwas Selbständiges war und zur Selbstbehauptung wie alles Neue auch aggressiv sein müsste, die größten Kämpfe und Ent­täuschungen meines Lebens, über die mich nur das ähnliche Schicksal anderer junger Wissenschaften und die unbedingte Zustimmung aller Leute vom Fach hinwegzusetzen vermag. Ich habe die Gewissheit, dass dieser Disziplin die Zukunft gehört, und halte auf ihrer Basis unbeirrt regelmäßige und systematische Übungen.“

1949 sollte Artur Kutscher nun im Vorwort zur Neuauflage des Grund­risses‘ feststellen können: „Herrn Professor Max Herrmann sind die Vorarbeiten zur Begriffsbildung der Theaterwissenschaft zu danken. Die Bezeichnung Theaterwissenschaft‘ aber gab es 1909, als ich Theater­wissenschaft zu treiben begann, noch nicht. Ich habe den Namen und die Methode der Theaterwissenschaft geprägt, und zwar in Gemeinschaft mit Herrn Geheimrat Professor Leidinger der Bayerischen Staatsbiblio­thek. Ich schlug zuerst vor, „Theaterwissenschaften“ zu sagen wegen der unentbehrlichen Nebenfächer, Leidinger aber riet ab wegen der wissen­schaftlichen Bestimmtheit des neuen Begriffes. Diese unsere Bezeichnung Theaterwissenschaft‘ hat sich an fast allen deutschen Universitäten durch­gesetzt.“ Das will allerdings etwas besagen, wenn man sich vorstellt, dass Julius Petersen als Direktor des Theaterwissenschaftlichen Institutes der Universität Berlin noch 1935 in der Festschrift zum 70. Geburtstage Max Herrmanns, seines emeritierten Vorgängers, so skeptisch schrieb: „Die Theaterwissenschaft, wenn es eine solche gibt, gehört zu den jüngsten Wissenschaften…“

Im Sommersemester 1950 werden die Autorenabende wieder aufge­nommen. Seitdem haben dort so gegensätzliche Autoren gelesen wie u. a. Peter Paul Althaus, Rudolf Bach, H. Fr. Blunck, Leonhard Frank, Herbert Günther, Ernst Heimeran, Gottfried Kölwel, Walter Kolben­hoff, Ernst Penzoldt, H. W. Richter, Luise Rinser, Ina Seidel, Georg Schwarz, Georg von der Vring, B. E. Werner, Carl Zuckmayer; auch Tilly und Pamela Wedekind bestritten einen Abend. Im gleichen Semester beginnt der 72 jährige nach einer Pause von 11 Jahren wieder seine „Studienfahrten deutscher Akademiker“, von denen ihn und seine Reise­gruppe die erste sogleich nach Italien führt. Frankreich, Spanien, Portu­gal, Griechenland sind inzwischen, z. T. mehrfach, gefolgt, und in diesem Herbst 1953 geht der 75 jährige mit seinen Akademikern nach Ägypten. Es ist die erste deutsche Studienreise, die nach dem zweiten Weltkriege dorthin führt. Die wirtschaftliche Umschichtung und Verarmung des Bürgertums bringt es mit sich, dass nicht mehr so viele Eltern wie früher ihren studierenden Söhnen und Töchtern auch noch Ferienreisen ermög­lichen können, die das im Hörsaal Vermittelte durch unmittelbare Anschauung ergänzen. Andererseits ist es erforderlich, dass sich diesen Exkursionen in zunehmendem Maße Altakademiker aller Berufe an­schließen und auf diese Weise andere Völker und ihre Kulturen besser kennen lernen. Für die Studenten schiebt Kutscher außerdem besondere Reisen ein, die ihren geringeren Mitteln angepasst sind. 

Es war seit Jahrzehnten ein Hauptanliegen Artur Kutschers, seinem „Grundriss der Theaterwissenschaft‘ eine „Stilkunde der deutschen Dichtung“ an die Seite zu stellen und damit sein Lehrgebäude zu voll­enden. Der Überblick „Das dichterische Kunstwerk“ (Quell des Lebens, Band 4) ist eine Vorstudie dazu gewesen.

Kutscher hat ununterbrochen an der immer genaueren Profilierung seiner Stilkunde gearbeitet. Es war ein grundsätzliches Bekenntnis, wenn er mir 1941 schrieb: „Eben lese ich Petersens „Wissenschaft von der Dichtung“, eine reine Methodenlehre der Literaturwissenschaft mit Abgrenzung ihres Gegenstandes und ihrer Mittel. Die Kunst ist vom Standpunkt der Forschung betrachtet, also umgekehrt wie ich es will.“ Wir haben in Deutschland immer mehr Buchgelehrte als akademische Erzieher gehabt. Kutscher ist von Anfang an ein Bildner der Jugend gewesen. Über den unmittelbaren pädagogischen Anregungen, die von ihm ausgegangen sind, wird sein literarisches Werk zu wenig beachtet. Zuletzt aber erweist es sich: Praxis und Theorie sind Hand in Hand ge­gangen. Alle Erfahrungen seiner vielfältigen Forschertätigkeit und seiner erzieherischen Arbeit haben den Aufbau seiner wissenschaftlichen Lehre gedient.

Wie seiner Theaterwissenschaft die Theatergeschichte nur Hilfsquelle ist, das Wesentliche jedoch in den stilkritischen Grundauffassungen und ihrer Anwendung liegt, so geht Kutschers „Stilkunde der deutschen Dichtung“ gleichfalls über die Literaturgeschichte hinaus, der sie nur ihre Beispiele entleiht. Im Vorwort zu seinem Werk sagt Artur Kutscher: „1908 wagte ich Vorlesungen über Grundsätze literarischer Kritik und deutsche Stil­kunde. Ich ging dabei aber nicht von Literatur oder Dichtung aus, son­dern von Kunst überhaupt, vom Künstler, vom Kunstwerk als einem organischen Lebewesen, einem Mikrokosmos und seinem inneren Zu­sammenhange mit dem Lebensgefühl. — Ich erkannte, dass alle Kunst­betrachtung und Kunstbewertung persönlichkeitsgebunden, subjektiv ist. Die Urteilsbildung bleibt abhängig von unseren Anlagen, sie hat also bestimmte Fehlerquellen. Sie bedarf eines Korrektivs. Das Korrektiv der literarischen Kritik ist die Stilkunde. Stilkunde gibt der Kritik die Sicherheit einer Wissenschaft, hält die Kritik gleich weit entfernt von gefühlsmäßigem, schöngeistigem Dilettantismus wie von vernunft­mäßiger, objektiver Fachsimpelei oder von schriftstellerisch eitlem Formalismus jener ,Kritik als Kunst‘, die seinerzeit Alfred Kerr vertrat. Unsere Stilkunde will nicht Wissenschaft als Selbstzweck, sie will Ver­mittlung von Kunst und Leben, Dienst an der Kunst und ebenso auch Dienst am Leben. — Wir arbeiten nicht um des Wissens, sondern um des Wirkens willen. Es gibt vielleicht nichts, was die ältere Wissenschaft und ihre Vertreter von der jüngeren tiefer trennt als dies: Aktivismus.“ Prachtvoll, dass dieser sprühend-lebendige Gelehrte sich am Ende seines Lebens mit Recht noch immer als ein Vertreter der jüngeren Wissen­schaft fühlen kann. Und da seinem Buche die „Vorarbeit eines ganzen Menschenlebens“ zugutegekommen ist, besitzt es Fülle der Erfahrung, Souveränität des Urteils und Sicherheit der Gesetzfindung. Sein Ziel ist die Herausarbeitung von stilkundlichen Begriffen und anwendbaren Maß­stäben. Wie oft fragt man sich beim Lesen oder Hören von Urteilen über Kunstwerke kopfschüttelnd: welchen Maßstab legt der Kritiker eigent­lich an, von welchen kritischen Grundbegriffen geht er aus? Keine der Methoden des 19. Jahrhunderts, auch nicht die Ästhetik, konnte aus­reichende kritische Maßstäbe geben. Ohne ihre systematische Grund­legung aber bleibt es bei der widerspruchsvollen, meist substanzlosen Hin- und Her-Urteilerei, deren Zufälligkeit den Laien so sehr verwirrt. Kutschers stilkundliche Methode verfeinerte und verbesserte sich in jahrzehntelangen Studien und der „Feuerprobe praktische Anwendung“ immer mehr. Ich möchte nur wünschen, dass möglichst viele Kunst­interessierte und Kritiker sich seine wahrhaft erarbeiteten Ergebnisse zunutze machen. Das Niveau unserer Kritik könnte dadurch nur steigen. Der erste Band handelt von Stoff und Form des Kunstwerkes, von der Persönlichkeit und Zeit als den allgemein stilbildenden Kräften, von den Beziehungen der Künste untereinander und von dem stilbildenden Mittel der Dichtung, der Sprache. Der zweite erörtert Lyrik, Epik, Dramatik in allen ihren einzelnen Gattungen. In schlüssigen Definitionen kommt Kutschers Stilkunde dabei oft zu anderen Ergebnissen als die Literaturgeschichte.

Es ist für Kutschers stilkundliche Betrachtungsweise selbstverständlich, dass er auch Gattungen wie den Gassenhauer und Schlager oder den Kriminalroman und die Kurzgeschichte mitbehandelt. „Pendelbewegun­gen“ und „Modeschreie“ beirren ihn nicht. Die modische Kritik von heute bevorzugt eine unmusikalische Lyrik, die ihr gar nicht spröde, zusammen­hanglos oder gedanklich-abstrakt genug sein kann, so kunstlos oder künstlich wie möglich. Welche Wohltat, bei Kutscher die Feststellung zu finden: „Der Lyriker ist der von Haus aus musikalische Dichter, wenigstens muss er eine ungewöhnliche rhythmische Veranlagung haben.“ So hat auch Gottfried Benn für Kutscher „die äußerste Grenze der Gattung er­reicht und streckenweis überschritten“. Aber auch Lyriker wie Schiller oder Rückert erfahren, stilkundlich gesehen, Einschränkungen. Nicht anders Rilke als Erzähler oder Richard Dehmel in seinen „Zwei Menschen“, einem „Roman in Romanzen“, der „eine rettungslose Ent­fernung vom epischen Grundgesetz“ zeigt.

Richard Dehmel 1905 auf einer Fotografie von Rudolf Dührkoop Quelle: Wikipedia

Knappe Formulierungen erhellen schlagartig Grundbedingungen der Gattungen. Zum Beispiel die selbstverständlich klingende und doch so oft vergessene Voraussetzung, dass beim Erzählen der Erzähler selbst wie der Zuhörer sich Zeit nehmen müssen. Diese Grunderkenntnis lautet bei Kutscher: „Leuten, die nach der Uhr sehen, kann man nichts erzählen.“ Oder die Grundbedingung des Unterhaltenden für das Epos: „Ein lang­weiliger Epiker ist ein Widerspruch in sich.“ Die Novelle ist für Kutscher „die durchgebildetste Erscheinung der epischen Prosa“. Im Gegensatz zur Literaturgeschichte, die dazu neigt, einen Schriftsteller umso höher zu bewerten, je mehr er sich in möglichst allen Gattungen der Dichtung versucht hat, ist für Kutschers Stilkunde dieser Ehrgeiz „künstlerisch verheerend“. Für ihn „steht und fällt das Drama mit seinem mimischen Charakter, der alle Dramatik von aller Literatur unterscheidet.“ So geht er gegen die „Schonungspolitik“ der Literaturgeschichte und ihre Zwitter­bezeichnung „Lesedrama“ an, das für ihn als eine „literarhistorische Verwaschung von Grundbegriffen“ ein Unding ist. Auch hier wieder gibt die Stilkunde Kutscher das Rüstzeug, modische Überschätzungen zurechtzu­rücken: in seinen Ausführungen über das „epische Theater“, von dem heute so viel die Rede ist, ohne dass man im allgemeinen weiß, woher es kommt und was es bedeutet.

Die ältere Literaturgeschichtsschreibung hebt mit Vorliebe den philo­sophischen Gehalt, das Gedankengut oder die sittliche Höhe als ent­scheidend für den Wert einer dichterischen Leistung hervor, vor allem aber die geistige und seelische Harmonie der Dichterpersönlichkeit, die dahinterstehe. Diese Anschauung ist Kutschers Stilkunde zu eng. Das Verlangen, der Künstler müsse eine Idealgestalt sein, ist für ihn eine Verirrung, auch Begriffe wie gesund und krank, schön oder hässlich er­scheinen ihm im Zusammenhang mit dem Schöpferischen als ungemäß. Sein Maßstab ist vielmehr die Stärke und Reinheit des Lebensgefühls, die aus einem Kunstwerke sprechen, sein „tiefes und starkes Verhältnis zum Leben“.

Dieser Wissenschaftler, der selber eine Künstlernatur ist, nimmt den Künstler in Schutz gegen kunstfremde Aussprüche. Für ihn bedeuten Kunstwerke gestaltete Energien, also kann auch nur das Übernormale Voraussetzung der künstlerischen Potenz sein: „Das vom Durchschnitt­lichen Abweichende, das mehr als Gewöhnliche ist beim Künstler selbst­verständlich, notwendig.“ Kutschers Verstehen von Kunst und Künstlern stammt aus der Fülle und Leidenschaft eines eigenen Lebensgefühles, das sich in den Worten bekennt: „Das Leben ist ein Ungeheuer, das der Deutung aller Aufklärer und Nützlichkeitserklärer trotzt, elementar, gewaltig in seinen Gegensätzen, erschreckend und doch immer wieder ehrfurchterweckend in seiner Größe und endlich auch befriedigend. — Kunst gehört zum Haushalt des Lebens, in den Plan Gottes seit der Welterschaffung. Kunst ist untrennbar vom Menschsein. Davon machen sich viele Kunsttheoretiker und auch manche Kunsthistoriker nicht die richtigen Vorstellungen. Kunst hat keinen Anfang, wie ihn die Mythologie darstellt. Kunst war da, als der erste Mensch da war. Und Kunst hat kein Ende. Kunst ist auch da, wenn der letzte Mensch sich in die er­kaltende Erdenkruste vergräbt. Kunst ist das erste und das letzte hohe Gut, was wir besitzen. Kunst ist gesetzt mit dem Leben, mit dem Wesen des Menschen.“

Diese Größe der Auffassung vom Leben und von der Kunst bestimmt das ganze Werk. Sie führt auch zu den klaren Begriffsbestimmungen, in deren Einfachheit alles enthalten ist. Wieviel ist herum definiert worden am Wesen des Dichters. Für Kutscher ist das Merkmal seiner Begabung die Macht zur künstlerischen, persönlichen Sprache. Das Wesen der Form liegt für ihn in der Lebendigkeit, das des Stiles im „Verhältnis der Einzigkeit und Notwendigkeit von Gehalt und Gestalt.“ Das alles klingt hier theoretischer als es ist. Der Leser wird erstaunt sein, wie er­giebig solche Maßstäbe werden, wenn Artur Kutscher sie und die sich daraus entwickelnden stilkundlichen Gesichtspunkte bei der Behandlung ungezählter Einzelfragen anwendet, auf die der Laie selten eine be­friedigende Antwort weiß, weil er im Grundsätzlichen unsicher ist. Kutscher definiert nicht nur in seiner „Stilkunde“ den Humor aus dem inneren Besitze dieser Eigenschaft, er wendet sie auch in seiner Dar­stellung immer wieder an, wenn etwa Ausführungen über die Zweiseelenhaftigkeit, die Zwiespältigkeit der tieferen deutschen Geister mit dem Volltreffer schließt: „Es gibt natürlich auch Deutsche, die nur eine Seele haben, das sind die Geraden, Kurzen, die Prinzipiellen, die immer genau wissen, was sie wollen und zu tun haben. Wir brauchen auch sie, doch sie sind nicht die Großen.“

Kutscher wehrt sich nach allen Seiten gegen kunstfeindliche Theorien, einseitige Schreibtischweisheiten amusischer Stubenhocker und Bücher­würmer, weist den Literaturgeschichten mehr als einmal ihre „trostlose öde Auffassung“ nach, entlarvt das Klischee in so mancher „Dichter“-Sprache, wobei es wahrhaft erheiternd zugeht.

Ein Beispiel. „Geibel behauptet: „Da geht aus uralt dunklen Tagen ein Klang durch meine Brust dahin.“ Diese Brustklänge sind dichterisch ganz wertlos, sind jedenfalls kein poetischer Ausdruck. Den Redensarten, dass die Sphären klingen, dass die Schwäne singen, müsste ein Was und Wie folgen. Wir, die Leser, müssten durch das Gedicht von selbst zu jenen Vergleichen kommen, die der Dichter ganz unberechtigt für sich in An­spruch nimmt. Ihm kommts wie Adlersrauschen mit Macht, wir aber empfinden nichts als Ohnmacht. Geibel fragt: .Woher das sanfte Glimmen, das ins Geblüt mir dringt?‘ Wir fragen: Ja, zum Teufel, woher? Und wo ist es denn überhaupt? Geibel sagt: ,Umsonst. Kein Wort, seis noch so groß, macht dich des tiefen Dranges los‘. Wir sagen auf den Drang kommt es gar nicht an, sondern nur auf die Größe des Worts, auf die Fülle des dichterischen Ausdrucks. Nur was wirklich Ausdruck findet in der Sprache, das kann Dichtung sein.“

Kutschers Sprache ist klar und kräftig, so frei von akademischer Trocken­heit wie von modischem Halbglanz. Dabei voll Geist und oft schlagendem Witz. Sie vereinigt Scharfsinn mit Lebenswärme, kritischen Verstand mit Gesundheit des Herzens. Auch wo es um begriffliche Klärungen geht, bleibt er anregend und belebend. Es gibt nicht viele Wissenschaftler, die so genussreich zu lesen sind wie Artur Kutscher. Er gehört nicht nur zu den schöpferischsten und fruchtbarsten Gelehrten von heute, sondern auch zu den originellsten Stilisten unter ihnen. Deswegen sind die beiden Doppelbände seines Lebenswerkes nicht nur dem Wissenschaftler zu­gänglich, sondern jedem, der am geistigen Leben teilnimmt. Und für ihn sind sie auch nicht weniger gedacht.

Artur Kutscher hat sich als Erzieher verströmt in die Köpfe und Herzen seiner Schüler, als wissenschaftlicher Autor hat er sich zusammengefasst in diesem Werke, das die „Stilkunde der deutschen Dichtung“ zugleich, weit über die Universität hinaus, der Praxis zugänglich macht.

In Kutschers frühester Schrift, der Dissertation über Goethes Naturgefühl, hieß es bereits: „Gefühlsgröße ist einem Kunstwerk nötiger als die Form, wenn sie auch nicht das ganze Kunstwerk ausmacht.“ In der „Ausdrucks­kunst der Bühne“: „Nicht der Geschmack ist die geeignete Basis, sondern die vorurteilsfreie, unvoreingenommene Liebe zur Kunst überhaupt, die ihrerseits beruht auf Lebenskraft und Fülle. — Nur auf dem Boden eigener Lebensgefühle, nur aus dem eigenen Blut und Geist entsteht die Kunst. Nicht das Verstellen, sondern das Selbst-Geben, das Selbst-Leben macht es aus.“ In der Schiller-Biographie schloss nach Kutschers Worten in Körner „ein Kritiker im höchsten Sinne des Wortes“ mit dem Künstler Schiller Freundschaft, ein Kritiker, „der nicht mit Wissen und Belesenheit und Geistreichigkeit allein arbeitete, sondern in erster Linie Kunst- und Lebensgefühl in sich hatte.“ Dieses Wort Lebensgefühl kehrt also immer wieder. Die Echte und Breite des Lebensgefühls ist Kutscher schließlich zum Hauptkriterium aller Kunst geworden: „Die höchste Aufgabe der Kunst ist, uns reicher zu machen in dem Gefühle, ein Mensch zu sein“, heißt es in seiner „Stilkunde“.

Was für Artur Kutscher Lebensgefühl bedeutet, und worin sein eigenes Lebensgefühl besteht, lässt sich nicht schöner sagen als er selbst es getan hat in der Dankrede, die er bei der Feier zu seinem 70. Geburtstag hielt: „Ich glaube, dass diese Zeit, die furchtbarste, die wir Deutschen als Volk durchmachen müssen, ganz ungeeignet ist, Wesen und Wirken eines einzelnen Menschen zu beachten. Ich habe noch vor zehn Tagen schriftlich und mündlich versucht, eine Feier meines 70. zu verhindern, begonnene Vorbereitungen abzubrechen, habe die freundliche und ehrenvolle Auf­forderung des Rundfunks, zu sprechen oder eine Unterredung zu ge­währen, abgelehnt, weil ich das alles als anmaßend empfinde. Die Dankfreudigkeit meiner Studenten ließ sich nicht beirren und hat mich endlich veranlasst, trotz besseren Wissens nachzugeben. Überwältigt stehe ich nun vor den Kundgebungen meiner jetzigen und früheren Schüler . . . Was ist denn Glück? Für jeden etwas anderes. Für mich lag es nicht in behördlichen Anerkennungen, Ämtern und Würden — in der Beziehung sind mir keine Enttäuschungen erspart geblieben, auch nicht in Geld und Gut — die waren gerade noch auskömmlich; noch weniger in idyllischer Ruhe, die Johann Heinrich Voss preist in seinem .Siebzigsten Geburtstage‘:

„Auf die Postille gebückt, zur Seite des wärmenden Ofens saß der redliche Tamm in dem Lehnstuhl …“

Nein! Glück war immer nur Arbeit nach meiner Art, unbedingtes, furchtloses, kompromissloses Einsetzen für alles, was mir gewichtig er­schien auf dem strittigen Gebiet zwischen Wissenschaft und Kunst. Ich konnte nicht in erster Linie Philologe und Historiker sein, weder früher noch später, das hat mich aus dem Klassenschema gestellt. Aber Emerson sagte einmal zu einem Freunde: „Wenn Dich eines Tages Deine Mit­menschen auf die Schulter klopfen und sagen: „Sehen Sie wohl, jetzt sind Sie auch vernünftig geworden, jetzt wird schon alles gut werden‘, so bedeutet das für Dich das Ende.“ — Zu mir hat niemals jemand so gesprochen. Keiner kam auf den Gedanken. Ich war nicht vernünftig. Ich hatte was Wichtigeres zu tun.

Ich musste das sein, was meiner Zeit am meisten fehlte: Systematiker, Methodiker, der von unten auf organischen Zusammenhang suchte, Ganzheit; der ausging von den Elementen, von der Materie des Schaffens, von Sprache, Mimus, bewegtem Foto, Ton; der an Stelle der älteren Kunstbetrachtung nach äußeren Stoffen, Formen die inneren, ureigenen schöpferischen Mächte Gehalt und Gestalt setzte und die stilbildenden Faktoren der Persönlichkeit, der Zeit, der Gattung. Unter diesen Ge­sichtspunkten lehrte ich Dichtung, Theater, Film, Funk erfassen, jede Kunst für sich würdigen in ihrer stilistischen Reinhaltung. Ein volles, schönes Leben ist mir geschenkt von Gott, in der Familie, mit einer unübertrefflichen, tapferen, trostreichen Frau, Kindern und Enkeln; in Geselligkeit mit guten Freunden, in der Sphäre des alten Schwa­bing mit all seinen Dichtern, Schriftstellern, bildenden Künstlern, Musikern, Schauspielern, Schlawinern; in Beziehung zu Künstlern, Forschern, Wissenschaftlern weit über Deutschlands Grenzen hinaus; beson­ders aber in dem berühmt-berüchtigten Kreise meiner Studenten. Dieser Kreis war ein dichtes Gewebe persönlicher, wissenschaftlicher und künst­lerischer Beziehungen, ein fester, magischer Ring, in welchem einer auf den anderen wirkte, einer den anderen steigerte, formte, ich meine Schüler, und diese mich, den sie tatfreudig erhalten haben und dem sie immer neues Leben zuführten. Wir waren uns gegenseitig menschliche Entwicklungsfaktoren. Die diesem Kreise angehörten, erkennen einander an heimlichen Zeichen und an der Parole Stilkunde, Theaterwissenschaft, Mimus. Noch nach Jahrzehnten treten sie mir entgegen, vergessene Namen, behaltene Gesichter, leuchtenden Auges, überall, wo ich Vorträge hielt, in Hamburg und Graz, Köln und Königsberg und Breslau, Paris und Posen, Oslo und Rom und Athen. Jüngere Studenten werden die Fülle der Erlebnisse für Märchen halten, weil das fast alles heute un­möglich ist, die wöchentlichen Autorenabende mit namhaften deutschen Dichtern, die Aufführungen, die Faschings- und Sommerfeste studen­tischer Beschwingtheit, die hundertfünfzig Fahrten in die Welt, zu anderen Völkern, ihrer Kunst, ihrer Jugend, mit der wir zuerst Fühlung nahmen in Ungarn, Italien, Frankreich, Griechenland, Russland, Polen. Hunderte meiner Schüler und Schülerinnen haben so viele gemeinsame schöne Erinnerungen gehabt, dass sie einander geheiratet haben. Andere kleben zeitlebens aneinander wie die Nachrichter, Helmut Käutner, Kurd E. Heyne, Bobby Todd u. a. Hunderte schicken mir noch jetzt ihre Söhne und Töchter, auch über den Atlantischen Ozean, im Gedächtnis ihrer Münchener Jugendzeit.

Helmut Käutner 1960 in den Niederlanden Quelle: Wikipedia

Was uns bindet, ist nicht so sehr der Geist und die Theorie: die sind im Grunde grau. Grün ist des Lebens goldener Baum. Was uns bindet, ist die Seele, die Menschlichkeit, das Lebensgefühl, das allein eine zuverlässige, beständige Kunstwertung erlaubt. Das Lebensgefühl lässt sich keineswegs ersetzen durch philologischen Ernst und historische Strenge, die sich übrigens für uns von selbst verstehen. Ja, das Lebens­gefühl bietet den nötigen Raum für die Kräfte, die wir als Forscher nicht entbehren wollen und dürfen, nämlich Naturhaftigkeit, Ursprünglichkeit, Volksnähe, Humor, Phantasie. Das Lebensgefühl, das in unserer Stil­kunde die größte Rolle spielt, der Stempel künstlerischer Gültigkeit, hat schöpferische Geister — wie hundert Namen beweisen — immer wieder angezogen und in ihrem Wirken bestimmt. Ich bin sicher, wer die so basierte Stilkunde beherrscht und anzuwenden weiß, wird Ungewöhn­liches erreichen. Das war mir als Dozent immer Ziel für meine besten Studenten. Ich mühte mich darum, dass sie etwas Außerordentliches er­reichten. Und auch heute noch wünsche ich meinen Schülern, aller Schwie­rigkeiten zum Trotz, dass sie es zu etwas Außerordentlichem bringen.“ 

In einem seiner letzten Briefe schrieb mir Artur Kutscher: „Meine größte Freude ist, dass ich mein Lebenswerk, mein wissenschaftliches Testament, mit dem ,Grundriss‘ und den beiden Bänden der ,Stilkunde‘ abschließen konnte; ich hoffe, auch meine Lebenserinnerungen noch schreiben zu können.“ Ich durfte sie schon vor anderthalb Jahrzehnten anregen und inzwischen Teile des Manuskriptes, das fast bis zum zweiten Weltkrieg vollendet ist, lesen. Sie sind ein Ausdruck seiner reichen und starken Persönlichkeit, seiner Persönlichkeit als Mann, Familienvater, Wissen­schaftler, Lehrer, Freund, Förderer und Reisender, kurz: als Natur im Goetheschen Sinne des Wortes. Dieses Denkmal seines Lebens ist geprägt von seinen besten Eigenschaften: der musischen Vielseitigkeit, dem päda­gogischen Talent, der Naturliebe, dem Theaterblut, der Aufgeschlossen­heit allem Lebendigen gegenüber, dem Kernigen, Unbefangenen und Menschlichen seiner Art.

Die wissenschaftliche Anerkennung der Fachwelt ist zuletzt nicht aus­geblieben. Kutschers Münchener Kollege Otto Mausser hat in dem Festbuch 1938 festgestellt: „Wenn wir seit langem eine Theaterwissen­schaft an den Universitäten haben und nicht zuletzt in München dieses Fach vertreten finden, so muss zugestanden werden, dass Kutscher an der Inaugurierung der Theaterwissenschaft allergrößten Anteil hat. Ich rechne es ihm auch hoch an, dass er ins Prinzipienwissenschaftliche der Theaterkunde vorzustoßen bemüht war, dass er das Grenzgebiet zwischen Literaturwissenschaft und Volkskunde vielfach und erfolgreich beackert und aufgezeigt hat.“ Prof. Carl Niessen (Universität Köln) hat an gleicher Stelle ausgerufen: „Es verdient den höchsten Dank der Theater­wissenschaft, dass Sie sich trotz aller Opfer und kaltherzigen Übergehens nicht entmutigen ließen und in Treue Ihre Lebensaufgabe hochhielten. Mit dem Herausarbeiten einer stilkritischen Betrachtung der Erscheinung des Theaters haben Sie der jungen Wissenschaft einen großen Dienst er­wiesen.“ Im selben Jahre hat G. G. Wieszner sein Buch „Das deutsche Theater“ Kutscher gewidmet. Und Professor Hans Knudsen (Freie Uni­versität Berlin) hat in seinem Buche „Theaterwissenschaft. Werden und Wertung einer Universitätsdisziplin“ (Berlin 1950) das Kapitel über Artur Kutscher mit der Feststellung begonnen, dass „das Gebiet Artur Kutscher sachlich und in der Akzentuierung außerordentlich viel verdankt.“ Von allen schöpferischen Geistern ist Kutscher niemals schöner gerühmt worden als durch Gerhart Hauptmann : „Die hohen Verdienste von Professor Dr. Artur Kutscher um die Theaterwissenschaft und also die Kultur und also die Kunst sind allgemein bekannt. Als lebendigster Anreger dringt er in die echten rätselhaften Tiefen der Denkmäler menschlicher Mimesis und erobert damit letzte Gebiete menschlichen Geistes. Artur Kutscher ist ein Inbegriff für die Durchsetzung einer Lebens­aufgabe im Kampfe gegen alle Widerstände, für fröhliche Wissenschaft aus sokratischem Geiste und eine tiefe, gottweise Schicksalsgläubigkeit. Michael Georg Conrad hat seinen Band „Am hohen Mittag“ einst „Professor Dr. Artur Kutscher, dem Dichter und Freund“ gewidmet. Nur aus der eigenen Tiefe des Lebensgefühls war es möglich, dass Kutscher seiner Lebensgefährtin am Neujahrstage 1937 ein Bekenntnisgedicht schenken konnte, wie es nicht jedem Dichter gelungen ist. Diese Zeilen gelten nicht minder für den Fünfundsiebenzigjährigen. In ihnen hat Artur Kutschers Lebensfrömmigkeit ihren kraftvollsten Ausdruck gefunden:

Einige Auszüge aus Wikipedia zu Artur Kutscher:

„… Artur Heinrich Theodor Christoph Kutscher (geboren am 17. Juli 1878 in Hannover; gestorben am † 29. August 1960 in München) war ein deutscher Literatur- und Theaterwissenschaftler.

Kutscher forderte, ausgehend von der These, Theater sei mimisch, nicht literarisch zu erfassen, seit 1909 die Schaffung einer neuen Disziplin Theaterwissenschaft, als deren Begründer er gilt. Er unternahm seit 1910 Exkursionen zu Theatern in Süddeutschland, später in ganz Europa, veranstaltete Autorenabende des sogenannten Kutscher-Kreises in Schwabinger Lokalen mit Gästen wie Johannes R. Becher, Ludwig Ganghofer, Hans Grimm, Richard Hülsenbeck, Heinrich und Thomas Mann, Erich Mühsam, Alexander Roda Roda, Frank Wedekind, Alfred Wolfenstein und Stefan Zweig und spielte Theater mit seinen Studenten (Euripides‘ Satyrspiel Der Kyklop, Goethes Lustspiel Die Mitschuldigen etc.).

Nach dem Tod Wedekinds 1918 ordnete er dessen Nachlass und schrieb seine Biografie.

Während seiner langen Lehrtätigkeit hat Artur Kutscher viele Schriftsteller und Philologen geprägt. Zu seinen Studenten gehörten unter anderem Schalom Ben-Chorin, Bertolt Brecht, Peter Hacks, Ödön von Horváth, Hanns Johst, Klabund, Manfred Hausmann, Erwin Piscator, Helmut Käutner und Ernst Toller.

Nach der „Machtergreifung“ der Nationalsozialisten trat er 1933 dem NS-Lehrerbund bei. 1938 wurde er auch Mitglied der Nationalsozialistischen Volkswohlfahrt und des NS-Reichskriegerbundes. Nachdem er 1940 außerplanmäßiger Professor geworden war, trat er 1942 der NSDAP bei.

Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs wurde er 1945 amtsenthoben, wurde aber bald darauf erneut Professor. 1951 trat er in den Ruhestand. 1958, zwei Jahre vor seinem Tod, wurde er mit dem Großen Verdienstkreuz des Verdienstordens der Bundesrepublik Deutschland ausgezeichnet.

Und über den Autor dieser Biographie findet sich bei Wikipedia: 

„… Herbert Günther (geboren am 26. März 1906 in Berlin; gestorben am 19. März 1978 in München) war ein deutscher Schriftsteller, Lyriker und Herausgeber.

Herbert Günther war der Biograf von Joachim Ringelnatz, den er persönlich kannte. Seit 1961 lebte Günther in München, wo er für eine Zeit lang auch Präsident der Gesellschaft der Bibliophilen war. Aufsehen erregte Günther 1929 mit „Hier schreibt Berlin“. Eine Anthologie von heute, die vor allem die literarische Moderne repräsentierte. Fünfzig Autoren von Rang wie Alfred Döblin, Lion Feuchtwanger, Paul Gurk, Heinrich Eduard Jacob, Erich Kästner, Alfred Kerr, Ernst Lissauer, Heinrich Mann, Joachim Ringelnatz, Kurt Tucholsky, Carl Zuckmayer oder Arnold Zweig konnte er darin vereinen. 1933 wurde die Anthologie verboten und verbrannt.

Seine Ehefrau Elena Günther war eine bekannte Pianistin, deren Stiefvater, Alexander Glasunow (1865–1936), wiederum ein russischer Komponist und Direktor des Sankt Petersburger Konservatoriums war.

Unterschrift Herbert Günther