Der Tierkreis – Das Tier in der Dichtung aller Völker und Zeiten

Eine Anthologie herausgegeben von Karl Soffel und Klabund

Erschienen im Erich Reiß Verlag Berlin – Ohlenrotsche Buchdruckerei Georg Richters Erfurt

Wir widmen dieses Buch: Rin, unserem Hunde und Emmy, unseren lieben Frau vom Monti. (gemeint ist Emmy Ball-Hennings)

Monti Trinita, im August 1919 – Soffel und Klabund

Diese Anthologie verfolgt keine philologischen Absichten. Sie will bunt sein wie eine tropische Wiese. Man versuchte: einen Querschnitt durch die Weltliteratur zu geben unter dem Aspekt des Tiersymbols. Eine leise Tendenz waltet ob: zu zeigen, wie menschlich die Seele des Tieres zu uns spricht — und was für ein Viehzeug eigentlich der Mensch ist. Vollständig­keit aller dichterischen Äußerungen über das Tier war weder erstrebt noch im Rahmen des gegebenen Umfangs möglich.

Motto:

Der Gerechte kennt die Seele des Tieres — denn es geht dem Menschen wie dem Tiere, wie dies stirbt, so stirbt auch er, und haben alle einerlei Seele, und der Mensch hat nichts mehr, denn das Tier ,. . Es fähret alles an einen Ort. Wer weiß, ob der Geist des Menschen aufwärts fahre . . .?

Salomo, Prediger 3.

ALTAEGYPTEN

Gebet des fälschlich Verurteilten an die Sonne

Du erwachst schön, du Falke des Morgens,
Du Löwe der Nacht,
Du ehrwürdiger Verklärter,
Der die Augen öffnet,
Du Stier mit stoßendem Gliede,
Du Erhabener, dessen Lauf man nicht kennt,
Geheimnisvoll ist deine Gestalt!
Mächtiger, Großer, Erster des Horizontes,
Höchster, den man nicht erreichen kann,
Große Lotusblüte, die im Ozean erschien
Als ein Kind der Kuh Meh-wert.

(Deutsch von Günther Röder)

Zauber gegen giftige Tiere 

Fließe, du Gift! Komme hervor und ströme zu Boden! Horus beschwört dich, er zerschneidet dich, er verspritzt dich, so daß du nicht nach oben steigst, sondern nach unten fällst. Du bist schwach und kannst nicht siegen; du bist elend und kannst nicht kämpfen; du bist blind und kannst nicht sehen; dein Kopf ist steif und du kannst dein Gesicht nicht erheben; du irrst umher und kannst deinen Weg nicht finden; du trauerst und kannst dich nicht freuen; du wendest dich ab und kannst dein Gesicht nicht frei auftun — dieses alles durch die Worte des Horus, dessen Zauber trefflich ist. Dies Gift, was in Jubel war, trauert seinetwegen, nämlich das Herz der Menge — aber Horus hat es durch seine Sprüche vernichtet. Was in Trauer war, ist jetzt in Freude, Bleibe stehen, du Trauernder! Horus ist nun wieder belebt; er, der aus Krank­heit kam, der selbst erschien und die Gegner niederwarf. Horus biß den, der ihn beißen wollte. Alle Menschen, die Re erblicken, sollen den Sohn des Osiris preisen. Zurück, Schlange! Du sollst dein Gift mit dir nehmen, das in allen Gliedern des Leidenden steckt. Wahrlich, der Zauber des Horus ist stärker als du. Du sollst ausfließen, Feind; zurück, Gift!

(Deutsch von Günther Röder) 

Isis flieht mit Horus vor Set 

Ich floh zur Abendzeit, und sieben Skorpione flohen hinter mir und halfen mir. Die Skorpione Tefen und Befen waren hinter mir; Mestet und Mestetf waren neben mir; Petet, Zetet und Matet bahnten mir den Weg. Ich rief ganz laut nach ihnen, und meine Rede erreichte ihre Ohren. .. „Kümmert euch nicht um das Schwarze, ruft nicht zum Roten, blickt nicht nach den Harems­frauen in ihren Häusern! Euer Gesicht sofort nach unten! Hütet euch, den zu führen, der mich angreift, bis wir nach der Stadt Persui gelangen, der Stadt der beiden Schwestern, dem Anfang des Sumpfgebietes, dem Ende der gefährlichen Gegend.“ Als ich dann die Häuser der Weiber und Männer erreicht hatte, erblickte mich eine Haremsfrau von ferne. Sie verschloß die Türen vor mir, denn sie war ärgerlich wegen der Skorpione, die mit mir waren. Sie berieten deshalb und legten zusammen ihr Gift auf den Stachel des Skorpiones Tefen. Eine Dienerin öffnete mir ihre Tür. Als ich in das Haus trat, schlüpfte Tefen unter den Flügeln der Tür hinein und stach den Sohn der Dame. Feuer brach im Hause der Dame aus; aber es war kein Wasser da, um es zu löschen. Da warf der Himmel sein Wasser (Regen) in das Haus der Dame, obwohl es nicht die rechte Zeit dazu war und sie mir ja nicht ge­öffnet hatte. Sie war sehr betrübt, da sie nicht wußte, ob ihr Sohn lebte. Sie durcheilte ihre Stadt mit Wehklage, aber niemand kam auf ihren Ruf. Da wurde auch mein Herz wegen des Kleinen gerührt, den Schuldlosen wieder zu beleben, und ich rief ihr zu: „Komm zu mir! Komm zu mir! Siehe, mein Mund trägt das Leben. Ich bin die Tochter einer Stadt, in der man mich kennt, weil ich das Gewürm durch meinen Ausspruch verjage und mein Vater mich zur Kenntnis erzogen hat.   Ich bin seine geliebte leibliche Tochter.“

(Deutsch von Günther Röder)

HELLAS

Homer, Aus dem Froschmäusekrieg

Schwebe der Musen Chor vom Helikon nieder in’s Herz mir!
Also fleh‘ ich zuerst voll Inbrunst wegen des Sanges,
Den ich jüngst auf den Knie’n in’s Täfelchen niedergeschrieben,
Jenen unendlichen Kampf, kriegtosende Arbeit des Ares.
Denn es beseelt mich der Wunsch, der Sterblichen Ohren zu künden,
Wie die Mäuse voll Mut die Frösche bekriegt und die Taten
Nachgeahmt der Giganten, der erdentsprossenen Männer,
Wie bei den Menschen die Sage umging. Doch so war der Anfang:
Eine durstige Maus, der grimmigen Katze entronnen,
Badete einst den seidenen Bart im nachbarlichen Teiche,
Kostend vom honigsüßen Bronn. Gleich erblickt sie ein Sümpfler,
Hoch mit der Rede begabt, und quaket solcherlei Worte:
„Fremdling, wer bist du?   Wie kamst du hierher? und wer ist dein Vater?
Alles verkünde mir wahr, daß ich nicht auf Lug dich ertappe!
Wenn ich als würdigen Freund dich erkenne, so führ ich ins Haus dich;
Gaben auch spende ich dir, viel köstliche Gastgeschenke.
Ich, damit du es weißt, bin Pausback, König der Frösche,
Hoch in dem Sumpfe geehrt, ihr lebenslänglicher Herrscher,
Moorbold war mein Vater, es hieß Teichhilde die Mutter,
Der er am Ufer des Stroms Eridanos liebend nahte.
Aber auch du bist schön und stark, und ragend vor Andern,
Wohl ein szepterführender König und Streiter im Kampfe?
Auf denn, melde mir ohne Verzug die edele Abkunft!“
Ihm antwortete drauf Prinz Krümchenmauser und sagte:
„Freund, was fragst du nach meinem Geschlechte, welches bekannt ist
Allen Göttern und Menschen, ja selbst den Vögeln des Himmels?
Krümchenmauser bin ich genannt und rühme mich Sprößling
Brödchenspeisers zu sein, des erlauchten Erzeugers; Mehlmäulchen
War mir Mutter, die Tochter des Königs Schinkenbenager,
Welche mich einst in der Ecke des Kellers gebar und mit Eßwerk
Auf erzogen, mit Feigen und Nüssen und anderem Naschkram.
Aber wie würd‘ ich dein Freund, da wir von Natur so verschieden?
Denn du lebst in der Flut; doch ich genieße von Allem,
Was den Gaumen der Menschen entzückt, und nimmer entgeht mir
Brot vom trefflichsten Mehl im zierlichgeründeten Körbchen,
Kuchen mit zuckrigem Guß, durch Sesamkäse gewürzet,
Schnittchen vom Schinken auch nicht, noch weiß umhüllete Leber
Oder der frische Käs von süßer Sahne gewonnen,
Leckeres Honiggebäck, wonach selbst Göttern gelüstet,
Oder was sonst die Köche zum Mahle der Menschen bereiten.
Wenn sie mit mannigfachem Gewürz die Speisen versehen.
Nie auch entfloh ich im Krieg dem schrecklichen Schlachtengetümmel,
Sondern ich stürmte voran, stets zu Vorkämpfern gesellet:
Selber vorm Menschen nicht bangt mir, obwohl er von Riesengestalt ist,
Sondern ersteigend sein Bett, nag‘ ich ihm die Spitze der Zeh’n,
Oder pack‘ ihn am Bein; doch Schmerzen ergreifen den Mann nicht,
Noch entflieht ihm der liebliche Schlummer, so sehr ich ihn beiße.
Nur zwei Dinge erregen mir Grauen auf dem Runde der Erde:
Habicht und Katze, die mir so gewaltigen Kummer bereiten,
Und die traurige Falle, wo tückisch der Tod uns belauert,
Doch ich fürchte zumeist als schlimmste, die schleichende Katze,
Die vor’m Loch sogar, wenn hinein ich geschlüpft, mich belagert. —
Kurz ich esse nicht Kohl, noch Kürbisköpfe und Rettig,
Und ich labe mich nie an Eppich und grünendem Mangold.
Solches ja sind nur Gerichte für euch, ihr Bewohner des Teiches!“ —
Lächelnd gab ihm darauf nun Pausback wieder zur Antwort:
„Fremdling, du prahlest zu sehr mit deinem Geschlemme, doch wir auch
Haben der Wunder gar viel im Teiche wie rings auf dem Lande;
Denn uns Fröschen ja gab ein Doppelleben Kronion,
Auf dem Lande zu hüpfen und uns im Wasser zu bergen,
Hegst du den Wunsch dies selber zu seh’n, so ist es ein Leichtes,
Steig‘ auf den Rücken mir nur, und umklammre mich, daß du nicht sinkest,
Sondern mit fröhlichem Mut zu meiner Behausung gelangest.“
Sprach’s und bot seinen Rücken der Maus hin und diese behende
Hüpfte zierlichen Sprunges hinauf und hielt sich am Hals fest.
Anfangs zwar war sie entzückt die nahen Buchten zu schauen.
Und auch Pausback’s Schwimmen erfreute sie. Aber, sobald nur
Purpurne Wogen an ihr aufspülten, da, Tränen vergießend
Tadelt‘ mit fruchtloser Reu‘ sie sich selbst und zerrauft sich die Haare,
Zog an den Leib die Füße empor, und es klopfte das Herz ihr
Angstvoll innen vor Furcht. Wie wünscht‘ sie zum Lande zu kehren!
Schrecklich stöhnt sie dazu, von starrem Entsetzen bewältigt.
Um sich zu helfen wollte sie anfangs des Schwanzes zum Rudern
Sich bedienen; allein da sie noch zu den Göttern hinauf fleht
Deckte sie wieder die purpurne Flut; da heulte sie jammernd,
Und rief diese klagenden Worte mit bebendem Munde:
„Ach! so trug nicht weiland der Stier die wonnige Bürde,
Als er Europen entführt durch Meereswogen nach Kreta,
Wie dieser Frosch auf dem Rücken zur Wohnung rudernd mich führet.
Über der Wellen Schaum den grünlichen Körper erhebend.“
Da erschien plötzlich — für Beid‘ ein entsetzenerregender Anblick! —
Eine Hyder, die bäumt den Hals hoch über das Wasser.
Pausback, wie er sie sieht, taucht hurtig unter, vergessend,
Welchen Freund er so in den Fluten des Teiches ertränkte;
Unten war er am Grund und mied das schwarze Verhängnis.
Aber das Mäuschen, das er so plötzlich fallen gelassen,
Glitt sogleich rücklings in das Wasser und rang seine Pfoten,
Streckte sie jammernd empor und quiekte noch kläglich im Sterben,
Sank bald unter die Flut, bald hob es rudernd sich wieder;
Doch es suchte umsonst dem Wassertod zu entrinnen,
Weil das durchfeuchtete Haar es bleischwer zog in die Tiefe.
Und es sprach noch zuletzt hinsterbend folgende Worte:
„Nimmer, o Pausback, bleibt dein tückisches Handeln verborgen,
Der du vom Körper hinab mich Scheiternden warfst, wie vom Felsen,
Schändlicher! nimmer hättest du mich auf dem Lande bezwungen,
Weder im Fechten, noch Ringen, noch Laufen; bloß durch Verrat nur
Warfst du mich in die Flut; doch es wacht das Auge der Gottheit:
Büßen sollst du’s dem Mäuseheer; du wirst nicht entrinnen!“
Sprach’s und hauchte im Wasser den Geist aus.

(Deutsch von Oberbreyer)

Altgriechisches Volkslied

Schild-Schildkrötentier,
Sage doch, was treibst du hier?

„Wollefaden muß ich spinnen,
Wirken fein milesisch Linnen.“

Dein Enkelkind, was fing es an,
Daß es sein Leben hat vertan?

„Hat sich auf ein Roß geschwungen,
Ist ins weiße Meer gesprungen.“

Rhodisches Kinderlied

Es kam, es kam die Schwalbe,
Sie bringt die schönen Tage,
Sie bringt auch schöne Jahre.
Am Bauche weiß;
Am Rücken schwarz;
Nur Feigen schön herausgerollt
Aus deinem reichen Hause,
Und auch voll Wein ein Becherlein,
Und dann voll Käs‘ ein Körbchen fein!
Auch sind dem Weizenbrot
Und Eierkuchen die Schwalben gut.
Nun? Sollen wir gehen, oder was haben?
Gebt ihr? — Wir lassens euch doch nicht!
Wir schleppen die Tür fort, oder das Fenster,
Oder die Frau, die drinnen gesessen.
Sie ist ja nur klein, leicht tragen wir sie.
Wenn du was bringst, so bringe was Großes!
Mach auf! Mach auf! Der Schwalbe mach auf!
Denn alte Männer sind wir ja nicht,
Nein, kleine winzige Bübchen.

Altgriechisch, Das Füllen

Thrakisch Füllen, warum schaust du mich verächtlich an?
Fliehst mich grausam, wähnst ich sei ein Tor, kein Mann?
Wisse, wenig Mühe könnt es mir bereiten,
Dich zu zügeln und ums Ziel der Bahn zu leiten.
Frei noch springst du tänzelnd über Flur und Hügel,
Ist noch keiner, der dich hält an straffem Zügel.

Aesop, Fabeln

1.

Eine Henne hatte Schlangeneier gefunden und brütete sie mit peinlicher Sorgfalt aus. Eine Schwalbe, die das sah, sprach zu ihr: 0 du geflügelte Tor­heit! Du ziehst eine Brut auf, die ihre bösen Künste bei dir zuerst erproben und dich vernichten wird.

2.

Die Hasen gerieten mit den Adlern in Krieg. Sie riefen die Füchse um Hilfe. Die aber sprachen: ,,Gern würden wir Eure Bundesgenossen, wenn wir nicht Euch und Eure Gegner allzugut kennten …“

3.

Nach der Sage fürchtet der Löwe das Krähen des Hahnes. — Ein Esel und ein Hahn weideten einst zusammen, als ein Löwe ihnen begegnete. Da hob der Hahn den Kopf und krähte. Der Löwe lief davon, von abergläubischer Furcht gepeinigt. Der Esel aber setzte ihm nach, in der Meinung, daß der Löwe vor ihm die Flucht ergriffe. Kaum war der Löwe aber außer Hörweite des Hahnes, als er sich umdrehte und den Esel zerfleischte.

4.

Eine Lerche, die in einer Schlinge gefangen worden war, wehklagte: Wehe, ich armer, elender Vogel! nicht Gold, nicht Silber habe ich gestohlen, ein winziges Weizenkorn, nach dem mich hungerte, wird mir den Tod bringen!

5.

In einer Versammlung der Tiere begann einst ein Affe zu tanzen und fand allgemeinen Beifall. Das Kamel, welches vor Neid, daß aller Augen auf den Affen gerichtet waren, platzte, wollte dem Affen den Ruhm eines Tänzers nicht gönnen und begann, auf seinen plumpen Hufen ebenfalls zu tanzen. Da erscholl ein allgemeines Gelächter und unter höhnischen Zurufen wurde das Kamel von den Tieren zur Versammlung hinausgeprügelt.

6.

Ein Kamel durchwatete einst einen reißenden Fluß und verrichtete während­dessen seine Notdurft. Als es nun seinen Mist auf den Fluten vor sich schwim­men sah (denn die Wogen hatten ihn schnell entführt), sprach es: Kaum komme ich meinen Gedanken nach. Wie komme ich mir vor? Ich sehe ja das Hintere jetzt vor mir …

7.

Ein Bauernknabe röstete sich Schnecken zum Mahle. Als er sie nun über der Glut zischen hörte, rief er empört: „Ihr Unwürdigen, während Eure Häuser brennen, singt Ihr…“

(Deutsch von Klabund)

Aesop, Die Fledermaus, der Dornbusch und der Tauchervogel 

Eine Fledermaus, ein Dornbusch und ein Tauchervogel hatten Kamerad­schaft gemacht und beschlossen Handelsgeschäfte zu treiben. Zu dem Handel borgte die Fledermaus Geld und legte es zum gemeinschaftlichen Gebrauche ein, der Dornbusch kam mit einem Gewände und der Tauchervogel, als der dritte, mit Geld. So segelten sie ab. Als nun infolge eines heftigen Sturmes das Fahrzeug scheiterte, verloren sie alles; sie selber aber retteten sich auf das feste Land. Von der Zeit an sitzt der Taucher immer am Gestade und wartet, ob nicht das Meer irgendwo das Geld auswerfe; die Fledermaus wird aus Furcht vor den Anleihern bei Tage niemals sichtbar, sondern geht nur nachts auf Nahrung aus und der Dornbusch hält die Vorübergehenden am Kleide fest, um zu erspähen, ob er etwa das ihm Gehörige finde.

Aesop, Die Schlange 

Eine Schlange, die von vielen Leuten getreten wurde, suchte bei Zeus Hilfe. Zeus aber sagte zu ihr: „Hättest du dem, der dich zuerst trat, eine Wunde versetzt, so würde es der zweite nie gewagt haben, dich so zu behandeln.“

Aesop, Das Kamel 

Als die Menschen zum ersten Mal ein Kamel zu Gesicht bekamen, fürchteten sie sich, gerieten über seine Größe in Schrecken und ergriffen die Flucht. Wie sie aber im Verlaufe der Zeit sein sanftes Wesen kennen lernten, faßten sie so viel Mut, daß sie sich ihm näherten; und wie sie bald darauf wahrnahmen, daß es sich gar alles gefallen lasse, gingen sie in ihrer Verachtung so weit, daß sie ihm Zügel anlegeten und es Knaben zum Treiben übergaben.

Aesop, Die Lerche 

Ein Vogelsteller legte Schlingen für die Vögel. Eine Haubenlerche, die ihn von der Ferne sah, fragte, was er da tue. „Eine Stadt bauen,“ erwiderte er, trat weiter zurück und versteckte sich. Die Lerche schenkte den Worten des Mannes Glauben, kam näher und wurde in der Schlinge gefangen. Als nun der Vogelsteller herbeilief, sagte sie zu ihm: „El, höre, wenn du eine solche Stadt bauest, wirst du nicht viele Bewohner für dieselbe finden …“

Martin Luther, Der Löwenanteil 

Es gesellten sich ein Rind, eine Ziege und ein Schaf zum Löwen und zogen miteinander auf die Jagd in einen Forst. Da sie nun einen Hirsch gefangen und in vier Teile gleich geteilt hatten, sprach der Löwe: „Ihr wisset, daß ein Teil mir gehört als eurem Gesellen. Der zweite gebührt mir als dem König unter den Tieren. Den dritten will ich haben darum, daß ich stärker bin und mehr danach gelaufen und mich angestrengt habe als ihr alle drei. Wer aber den vierten haben will, der muß mir ihn mit Gewalt nehmen.“ Also mußten die drei für ihre Muhe das Nachsehen und den Schaden zum Lohn haben.

Fahre nicht zu hoch, halt‘ dich zu deinesgleichen! Es ist mit großen Herren nicht gut Kirschen essen, sie werfen einen mit den Stielen. Das nennt man einen Löwenanteil, wo einer allein den Nutzen, der andere nur Nachteil hat.

(Aus dem Esopo verdeutscht)

Meleagros, Eifersucht auf die Stechmücken

Dreistes Gezücht, ihr Sauger am Herzblut schlummernder Menschen, Summende Mücken, der Nacht doppelt beflügelte Qual; Gönnet Zenophila doch, o gönnet ihr ruhigen Schlummers Kurzen Genuß; und an mir sättigt den blutigen Durst! Doch was red‘ ich umsonst und wozu? Fühlloses Getier selbst Wünscht, sich der zarten Gestalt wärmender Nähe zu freu’n. Aber noch einmal warn‘ ich, Unselige; laßt von dem Frevel, Ehe die zürnende Hand euer Beginnen bestraft.

Meleagros, Lehre der Biene

Blumengenährte, warum berührst du Heliodoros
Wangen, o Bien‘? Und verläßt alle die Blüten der Au?
Willst du mich lehren vielleicht, daß die Liebliche Pfeile des Eros,
Süß und bitter zugleich, stets in dem Herzen verbirgt?
Ja, das hast du gemeint. Doch kehre nur, freundliche Botin,
Kehre zurück. Schon längst wußten wir, was du mich lehrst.

Goethe (nach dem Anakreon), An die Zikade

Selig bist du, liebe Kleine,
Die du auf der Bäume Zweigen,
Von geringem Trank begeistert,
Singend, wie ein König lebest!
Dir gehöret eigen alles,
Was du auf den Feldern siehest,
Alles, was die Stunden bringen,
Lebest unter Ackersleuten,
Ihre Freundin, unbeschädigt,
Du den Sterblichen Verehrte,
Süßen Frühlings süßer Bote!
Ja, dich lieben alle Musen,
Phöbus selber muß dich lieben,
Gaben dir die Silberstimme,
Dich ergreifet nie das Alter,
Weise, zarte, Dichterfreundin,
Ohne Fleisch und Blut Geborne,
Leidenlose Erdentochter
Fast den Göttern zu vergleichen.

Anakreon, Der verwundete Eros

In einer Rose schlummerte
Ein Bienlein, dessen Eros
Sich nicht versehn. Am Finger
Von ihm verwundet schrie er,
Und schlug und schlug sein Händchen.
Halb lief er dann, halb flog er
Hin zu der schönen Cypris.
„0 weh mir, liebe Mutter!
Ach weh, ich sterbe!“ rief er
„Gebissen bin ich worden
Von einer kleinen Schlange
Mit Flügeln — Biene heißet
Sie bei den Ackersleuten.“

Sie sprach: „Kann so der Stachel
Von einem Bienchen schmerzen,
Was meinst du, daß die leiden,
Die du verwundet, Eros?“
(Deutsch von Mörike)

Anakreon, Das Nest der Eroten

Du kommst, geliebte Schwalbe,
Wohl alle Jahre wieder,
Und baust dein Nest im Sommer;
Allein vor Winter fliehst du
Zum Nil hin und nach Memphis.
Doch Eros bauet immer
Sein Nest in meinem Herzen.
Hier ist ein Eros flügge,
Dort in dem Ei noch einer.
Und halb heraus ein andrer.
Mit offnem Munde schreit
Die Brut nun unaufhörlich;
Da ätzen dann die ältern
Eroten ihre Jungen,
Kaum sind die aufgefüttert.
So hecken sie auch wieder.
Wie ist da Rat zu schaffen?
Ich kann mich ja so vieler
Eroten nicht erwehren!
(Deutsch von Mörike)

Theokrit, Der tote Adonis

Als Kypris den Adonis
Nun schaute kalt und leblos,
Von Wust erfüllt sein Haupthaar
Und abgebleicht die Wange,
Zu bringen ihr den Eber
Befahl sie den Eroten.
Doch jene rasch geflügelt
Durchliefen rings die Waldung.

Bald ward gehascht das Untier,
Gebunden und gefesselt.
Der eine zog am Seile
Geknüpft den Kriegsgefangnen,
Der andre folgte treibend
Und schlug mit Pfeil und Bogen.
Ganz furchtsam ging der Eber,
Denn Aphrodite scheut‘ er.
Ihm sagte nun Kythere:
„Du böses Tier, du Untier!
In jenen Schenkel hiebst du,
Erschlugest mir den Gatten?“
Das Tier erwidert also:
„Ich schwöre dir, Kythere,
Bei dir und deinem Gatten
Und hier bei meinen Fesseln
Und dieser Jagdgesellschaft!
Ich wollte deinen Gatten,
Den schönen, nicht verwunden!
Ich sah ihn wie versteinert
Und, ganz von Glut bewältigt,
Tobt ich hinan zu küssen
Den Schenkel, den er nackt trug!
So nimm denn an mir Rache!“

ROM

Horaz, Das Reh

Mir weichst, Chloe, du aus, fliehst, wie zum Muttertier,
schreckhaft selber, auf Höhn, pfadlos, ein Rehlein flieht,
stets voll nichtiger Unruh,
wenn ein Lüftchen im Wald sich regt.

Denn wenn irgend ein Hauch, kündend den nahen Lenz,
säuselnd Blätter bewegt, grüne Lacerten nur
Brombeerbüsche durchhuschen,
gleich fliegt bebend ihm Herz und Knie.

Doch nicht folge ich dir, grimmig auf Mord bedacht,
wie ein Tiger voll Wut oder Gätuler-l.eu;
Laß drum, laß von der Mutter,
Du, zur Liebe schon voll erblüht!
(Deutsch von Lewinsohn)

Catullus, An den Sperling der Lesbia

Sperling! süßes Vergnügen meines Mädchens,
Du, mit dem sie zu spielen pflegt, und den sie
An den Busen zu legen pflegt, und den sie
Mit dem Finger zu scharfen Bissen anreizt,
Wenn mein reizendes Liebchen, sich die Schmerzen
Zu vertändeln, ein Zeitvertreibchen suchet,
Bis der Brand in den Adern sich gelegt hat, —
Könnt‘ auch ich, so wie sie jetzt, mit dir spielen,
Und die Zuckungen meines Herzens lindern.

Catullus, Nänie auf den Tod des Sperlings

Weint, ihr Grazien und Amoretten,
Und ihr artigen Menschen alle, weinet!
Der Sperling meines Mädchens ist gestorben,
Sperling, süßes Vergnügen meines Mädchens,
Den sie mehr als ihre Augen liebte:
Denn aus Honig war er, und er kannte
Seine Herrin wie ein Mädchen die Mutter;
Niemals rührte er sich von ihrem Schöße,
Sondern hierher springend, hierhin, dorthin,
Piepste er doch nur immer für die Herrin.
Ach! nun wandert er jene finstre Straße,
Die man, wie es heißt, nie mehr zurückkehrt.
Aber dir soll es schlecht gehn, böser Orkus,
Finstrer, der alles Schöne jäh hinabschluckt:
Einen so schönen Sperling mir zu nehmen,
Mir so lieb wie einst der Atalante
Das Goldäpfelchen war, das ihren Gürtel
Nach so langem Sträuben endlich löste.
0 das Unglück! Armer kleiner Sperling!
Deinetwegen röten sich in Tränen
Nun die reizenden Augen meines Mädchens.

Romulus, Der Löwe und das Pferd

Ein Löwe sah ein Pferd auf einer Wiese weiden. Um es zu überwältigen, näherte er sich sanft wie ein Freund und gab sich für einen Arzt aus. Das Pferd merkte den Trug, doch verweigerte es den Gegengruß nicht. Es hob den Fuß auf und gab vor, in einen Dorn getreten zu haben. Bruder, sprach es, sei mir zur Hilfe; ich wünsche mir Glück, daß du gekommen bist, mich zu befreien, denn ich habe in einen Dorn getreten. Der Löwe trat hinzu, seine böse Absicht verleugnend, um den Dorn auszuziehen. Aber das Pferd traf ihn geschwind, mit den Hufen ausschlagend. Da fiel der Feind und lag längere Zeit auf der Erde. Aber wie er wieder zur Besinnung kam, sah er das Pferd nirgends; und als er bemerkte, daß sein Kopf, sein Angesicht und daß er am ganzen Körper verletzt sei, sprach er: Mit Recht habe ich dieses erduldet, da ich immer so sanft daherkam. Und jetzt näherte ich mich, gleich wie ein trügerischer Freund und Arzt, da ich als Feind hätte anrücken sollen.

Daher, magst du sein, wer du willst, der du dieses hörest: sei offen, was du bist.

Flavius Avianus, Der alte und der junge Krebs

Als rückschreitend ein Krebs bald rechts, bald links sich bewegte,
Stieß er des Rückens Schild wund an des Wassers Gestein.
Aber es wünschte die Mutter, daß nicht so tölpisch das Söhnlein
Wandelt, und hat ihn so, wie man erzählet, vermahnt:
Gehe doch nicht abschweifend, mein Sohn, unwegsame Pfade.
Wende nicht rechts, nicht links ferner die Füße beim Gehn.
Sondern des Wegs gradaus von nun an richte die Tritte,
Und nach vorwärts du halte den sicheren Schritt!
Drauf entgegnet der Sohn: Voran nur, Mutter! Ich folge.
Zeigst du den richtigen Weg, geh ich dann sicherer nach. .,.

Flavius Avianus, Der Kranich und der Pfau

Mit hochmütigen Reden beleidigt den Thrazischen Kranich
Jener Vogel, der Pfau, bei dem gemeinsamen Mahl.
Als auf allerlei Art Zwietracht bei ihnen entstanden,
Und aus kleinem Gezanke mächtiger Hader entbrannt,
Sagte der Pfau: was?  Glänzen mir nicht vielfarbig die Glieder,
Da dir ein graulicher Streif über den Rücken sich zieht?
Und gleich breitet er aus den Fächer des ragenden Schweifes,
Und zu den Sternen empor schlägt er das heilige Rad.
Jener, wenn auch nachstehend an Pracht und am Glänze der Federn,
Sagte, sich brüstend, jedoch folgende Worte darauf:
Glänzt dir auch Federschmuck in dem Kranz unendlicher Farben,
Trägst du den blühenden Leib stets doch zur Erde gebannt.
Aber ich schwing in die Lüfte mich auf mit häßlichem Fittich
Nah zu den Sternen und nah zu Unsterblichen selbst…

Ausonius, An den Salm

Auch dich, o Salm, mit dem rötlich schimmernden Fleische
Darf ich nicht übergehen, der sich mit kräftigem Schwanzschlag
Aus der Mitte des Stroms zu höheren Fluten hinaufschnellt,
Wenn der verborgene Schwung sich verrät auf der friedlichen Fläche.
An umpanzerter Brust mit Schuppen versehen, an der Stirn
Schlüpfrig, wie leckres Gericht im verwirrenden Speisengewühl du;
Langer Verwahrung Zeiten durchdauerst du; immer genießbar.
Ausgezeichnet durch Flecken des Kopfes, der stattliche Bauch wogt
Hin und her und der Leib schwillt auf vom gefeisteten Wanste. —

JERUSALEM

Buch Hiob

An den Tieren leuchtet Gottes unerforschliche Weisheit hervor. Hiob bekennt seine Fehler.
Weißt du die Zeit, wann die Gemsen auf den Felsen gebären? Oder hast du gemerkt, wann die Hirsche schwanger gehen?
Hast du erzählet ihre Monate, wann sie voll werden? Oder weißt du die Zeit, wann sie gebären?
Sie beugen sich, wann sie gebären, und reißen sich, und lassen aus ihre Jungen.
Ihre Jungen werden feist, und mehren sich im Getreide, und gehen aus, und kommen nicht wieder zu ihnen.
Wer hat das Wild so frei lassen gehen, wer hat die Bande des Wildes aufgelöset?
Dem ich das Feld zum Hause gegeben habe und die Wüste zur Wohnung? Es verlachet das Getümmel der Stadt; das Pochen des Treibers hört es nicht.
Es schauet nach den Bergen, da seine Weide ist, und suchet, wo es grün ist. Meinest du das Einhorn werde dir dienen, und werde bleiben an deiner Krippe?
Kannst du ihm dein Joch anknüpfen, die Furchen zu machen, daß es hinter dir brache in Gründen?
Magst du dich darauf verlassen, daß es so stark ist? und wirst es dir lassen arbeiten?
Magst du ihm trauen, daß es deinen Samen dir wieder bringe und sammle in deine Scheune?
Die Federn des Pfauen sind schöner denn die Federn und Flügel des Storchs,
Der seine Eier auf der Erde lasset, und läßt sie die heiße Erde ausbrüten. Er vergisset, daß sie möchten zertreten werden, und ein wild Tier sie zerbreche.
Er wird so hart gegen seine Jungen, als wären sie nicht sein, achtet es nicht, daß er umsonst arbeitet.
Denn Gott hat ihm die Weisheit genommen, und hat ihm keinen Verstand mitgeteilet.

Zu der Zeit, wann er hochfähret, erhöhet er sich, und (Verlachet beide, Roß und Mann.
Kannst du dem Roß Kräfte geben, oder seinen Hals zieren mit seinem Geschrei?
Kannst du es schrecken wie die Heuschrecken? Das ist Preis seiner Nase, was schrecklich ist.
Es strampfet auf den Boden und ist freudig mit Kraft und ziehet den Geharnischten entgegen.
Es spottet der Furcht, und erschrickt nicht, und fliehet vor dem Schwert nicht.
Wenn gleich wider dasselbe klinget der Köcher, und glänzen beide, Spieß und Lanze.
Es zittert und tobet, und scharret in die Erde, und achtet nicht der Trompeten Hall.
Wenn die Trompete fast klinget, spricht es: Hui! und riecht den Streit von ferne, das Schreien der Fürsten und Jauchzen.
Flieget der Habicht durch deinen Verstand, und breitet seine Flügel gegen Mittag?
Flieget der Adler aus deinem Befehl so hoch, daß er sein Nest in der Höhe macht?
Im Felsen wohnet er und bleibet auf den Klippen am Felsen und in festen Orten.
Von dannen schauet er nach der Speise und seine Augen sehen ferne. Seine Jungen saufen Blut, und wo ein Aas ist, da ist er. Siehe, das Nilpferd, das ich neben dir gemacht habe, frisst Heu, wie ein Ochse.
Siehe, seine Kraft ist in seinen Lenden und sein Vermögen im Nabel seines Bauchs.
Sein Schwanz streckt sich wie eine Zeder, die Adern seiner Scham starren wie ein Ast.
Seine Knochen sind wie ein festes Erz, seine Gebeine sind wie eiserne Stäbe.
Er ist der Anfang der Wege Gottes; der ihn gemacht hat, der greift ihn an mit seinem Schwert.
Die Berge tragen ihm Kräuter und alle wilde Tiere spielen daselbst.
Er liegt gerne im Schatten, im Rohr und im Schlamme verborgen.
Das Gebüsch bedeckt ihn mit seinem Schatten, und die Bachweiden bedecken ihn.
Siehe, er schluckt in sich den Strom, und achtet es nicht groß; läßt sich dünken, er wolle den Jordan mit seinem Munde ausschöpfen.
Noch fanget man ihn mit seinen eigenen Augen, und durch Fallstricke durchbohret man ihm seine Nase.
Kannst du das Krokodil ziehen mit dem Hamen, und seine Zunge mit einem Strick fassen?
Kannst du ihm eine Angel in die Nase legen, und mit einer Stachel ihm die Backen durchbohren?
Meinest du, er werde dir viel Flehens machen oder dir heucheln?
Meinest du, daß er einen Bund mit dir machen werde, daß du ihn immer zum Knechte habest?
Kannst du mit ihm spielen wie mit einem Vogel? oder ihn deinen Dirnen binden?
Meinest du, die Gesellschaften werden ihn zerschneiden, daß er unter die Kaufleute zerteilet wird?
Kannst du das Netz füllen mit seiner Haut und die Fischreusen mit seinem Kopf?
Wenn du deine Hand an ihn legst, so gedenke, daß ein Streit sei, den du nicht ausführen wirst.
Siehe, seine Hoffnung wird ihm fehlen; und wenn er seiner ansichtig wird, schwinget er sich dahin.

M.J. bin Gorion, Der Wildochs

Gelobt und gepriesen sei der Name des Königs aller Könige, welcher König ist über alle Könige der Erde, Herr und Herrscher über alle Bewohner der Welt. Der Himmel aller Himmel ist sein Stuhl, und die Erde ist seiner Füße Schemel. Sein Reich ist in der Höhe, und seine Herrschaft ist in der Tiefe. Aller Welt Geschehen ist seinen Augen sichtbar, und des Menschen Heim­lichstes liegt vor ihm offen; er erforscht die Wege eines jeden Menschen und prüft die Schritte eines jeden Wesens; er weiß, was Verborgenes in den Nieren ist, und versteht, was Heimliches in den Herzen wohnt; er sieht die Gedanken, da sie noch gedacht werden; all überall schauen die Augen des Herrn und sehen die Guten und sehen die Bösen.

Gelobt sei der Name des Herrn und verherrlicht sei sein Angedenken, der die ganze Welt ernährt und erhält von den Hörnern des Wildochsen bis zu den Eiern der Laus.

Der Wildochse ist ein reines Tier, und nur zwei davon sind in der Welt, ein Männlein und ein Weiblein; das eine ist im Morgenland und das andere im Abendland, und nur einmal in siebzig Jahren kommen die beiden zu einander; dann aber dreht das Weiblein den Kopf, beißt das Männlein und schlägt es tot. Und das Weiblein geht zwölf Jahre mit der Leibesfrucht umher. Bis zu dem zwölften Jahre hält sie sich noch auf den Füßen und frisst das Gras und trinkt das Wasser. Aber zu Anfang des zwölften Jahres fällt sie hin auf die Seite, denn die Füße tragen sie nicht mehr. Aber der Herr ernährt sie dennoch in seiner Barmherzigkeit; er läßt aus ihrem Munde einen Speichel fließen, der sprudelt wie ein Quell, und von diesem Wasser sprosst aufs neue Gras aus der Erde, dem Riesentiere zur Rechten und zur Linken, und es hat nun wieder seinen Fraß zwölf Monate lang; es dreht sich bald nach der einen Seite, bald nach der andern und pflückt das Gras.

Und am Ende des zwölften Monats wird der Leib des Tieres aufgerissen, und zwei Junge gehen heraus, ein Männlein und ein Weiblein; eines geht nach Morgen, das andere geht nach Abend, und es wird ihrer nicht mehr, bis wiederum siebzig Jahre um sind, sonst würde die Welt durch sie zerstört werden.

M. J. bin Gorion, Die Ungeheuer

Drei seltsame Geschöpfe schuf noch der Herr, welche unterschiedlich sind von den übrigen Geschöpfen, die der Herr machte. Dies sind der Maulwurf, die Schlange und der Frosch.

Da ist der Maulwurf; wenn er das Tageslicht erblickt, so kann kein Wesen vor ihm bestehen. Da ist die Schlange; hätte sie Füße, sie täte dem Rosse nachrennen und würde es töten. Da ist der Frosch; hätte er Zähne, kein Tier im Wasser könnte vor ihm am Leben bleiben.

Ein Reisender in den Zeiten des Talmuds sah einen Frosch, der war so groß, wie eine Stadt von sechzig Häusern groß ist; da kam eine Schlange und ver­schlang den Frosch; dann kam eine Krähe und verschluckte die Schlange und setzte sich auf den Ast eines Baumes nach der Vögel Art. Wie groß und stark muss da der Baum gewesen sein!

Derselbe Reisende sah einen Vogel, der stand im Wasser bis zu den Knöcheln, sein Kopf aber reichte bis zum Himmel. Da sprach der Reisende und seine Begleiter: Nicht tief wird hier das Wasser sein —, und sie wollten drin baden, denn der Tag war heiß. Aber eine Stimme rief: Steigt nicht ins Wasser, denn hier ist vor sieben Jahren einem Zimmermann die Axt versunken, aber bis jetzt hat sie den Grund nicht erreicht, so reißend sind die Fluten.

Der Vogel aber, das war der große Adler des Herrn!

M. J. bin Gorion, Der Fuchs und das Wiesel

Abermals fragte Nebukadnezar Jesus, den Sohn Sirachs: Wessenthalben ist von jedem Tier auf Erden ein Ebenbild im Meere, nur nicht vom Fuchs und vom Wiesel?

Und der Sohn Sirachs erzählte:

Es geschah, daß, nachdem der Todesengel die Tore hinter Mileham ge­schlossen hatte, der Herr zu ihm sprach: Wirf ins Meer von jeglichem Ge­schöpf je ein Paar, und über die anderen sollst du die Herrschaft haben. Da tat der Todesengel also und fing an, von allen Tieren je ein Paar ins Wasser zu werfen. Als der Fuchs dies sah, stellte er sich vor den Engel hin und be­gann zu weinen. Da fragte ihn der Todesengel: Wessenthalben weinst du? Der Fuchs antwortete: Ich weine über meinen Genossen, den du ins Meer geworfen hast. Der Todesengel fragte: Wo ist denn dein Genoß? Da stellte sich der Fuchs an das Ufer des Meeres, und der Todesengel sah seinen Schatten im Wasser und meinte, er hätte einen Fuchs schon ins Wasser geworfen. So sprach er denn zum Fuchs: Nun gut, so kannst du gehen. Da lief der Fuchs davon und war entronnen. Und er traf unterwegs das Wiesel und erzählte ihm alles, was geschehen war und war er getan hatte. Da ging das Wiesel und stellte es mit dem Todesengel ebenso an, und so war auch dieses Tier entronnen.

Und es geschah nach Jahresfrist, da versammelte Leviathan alle Geschöpfe, die im Meere wohnten, um sich; aber es fehlten der Fuchs und das Wiesel, die nicht in das Meer gekommen waren; da fragte Leviathan nach den beiden, und die Tiere erzählten ihm, was der Fuchs getan hatte und wie er und das Wiesel durch ihre Klugheit dem Wasser entronnen waren; sie sprachen vom Fuchs, er sei der Weiseste von allen.

Als Leviathan vom Fuchs erfuhr, wie findig er sei, beneidete er ihn um seine Klugheit und schickte die großen Fische nach ihm aus; er befahl ihnen, ihn zu überlisten und ihn herzubringen. Da gingen die Fische; sie kamen ans Ufer und sahen den Fuchs, wie er auf und ab spazierte. Der Fuchs sah die Fische ans Ufer kommen; er wunderte sich und ging auf sie zu; da fragten ihn die Fische: Was bist du für einer? Und der Fuchs erwiderte: Ich bin der Fuchs. Die Fische sprachen: Weißt du nicht, welch große Ehre dir widerfahren ist, und weswegen wir hierhergekommen sind? Der Fuchs fragte: Was ist’s? Die Fische antworteten: Unser Herr, Leviathan, ist erkrankt und ist dem Tode nahe, und er hat bestimmt, daß keiner nach ihm König werde außer dir, denn er hörte von dir, du seiest weiser und verständiger denn alle anderen Tiere; und nun sind wir ausgesandt worden, dich zu ihm zu bringen. So fahre denn mit uns, die wie dir zu Ehren gekommen sind. Da fragte der Fuchs: Ja, wie kann ich aber ins Wasser kommen und nicht ertrinken? Darauf antworteten die Fische: Du wirst auf einem von uns reiten; wir werden dich über das Meer tragen, und dir wird nichts geschehen. Wirst du aber den Ort des Königs erreichen, so werden wir dich dort hinsetzen, und du wirst König sein über alle und wirst alle deine Tage froh sein; du wirst um deine Nahrung nicht mehr in Sorge sein, und die bösen Tiere, die größer sind als du, werden dir nichts tun können.

Als der Fuchs die Worte der Fische hörte, glaubte er ihnen; er setzte sich auf einen von ihnen und ritt auf ihm durch das Meer.

Als aber die Wellen des Meeres an ihn schlugen, da ward dem Fuchs bange; aller Wahn wich von ihm, und er sprach bei sich: Weh mir, was hab‘ ich ge­tan? Gewißlich haben mich die Fische zum Narren gehabt, weil ich andere Tiere genarrt habe; und nun bin ich in ihre Gewalt geraten; wie soll ich mich erretten? Und er sprach zu ihnen: Seht, ich bin mit euch gegangen, und in eurer Gewalt bin ich nunmehr; sagt mir die Wahrheit, was soll ich euch? Da antworteten die Fische: Wir wollen dir die Wahrheit gestehen; Leviathan hörte von dir, daß du überaus klug seist, und da sprach er: ich will seinen Leib aufmachen und sein Herz verzehren, auf daß ich ebenfalls weise werde. Da sprach der Fuchs zu den Fischen: Warum habt ihr mir das nicht gleich gesagt? Dann hätte ich mein Herz mit mir genommen, hätte es dem König Leviathan gegeben, und er hätte mich geehrt; aber jetzt seid ihr übel daran. Da fragten die Fische den Fuchs: Wie, so ist denn dein Herz nicht bei dir? Der Fuchs erwiderte ihnen: Nein, denn also ist es Brauch bei uns, wir lassen unser Herz an unserem Orte liegen, und wir gehen hin und gehen her; wenn wir aber seiner bedürfen, so holen wir’s, wenn nicht, so bleibt es an seinem Orte liegen. Da sprachen die Fische: Was sollen wir nun machen? Der Fuchs erwiderte: Der Ort und mein Nachtlager ist am Ufer des Meeres; beliebt es euch, so bringt mich wieder dorthin, wo ihr mir begegnet seid; ich will mein Herz holen, mit euch wieder ins Meer gehen und Leviathan mein Herz geben; so wird er mich und auch euch ehren. Bringt ihr mich aber so, ohne Herz, zu ihm, wird er euch zürnen und wird euch aufessen; ich aber fürchte mich nicht, denn ich werd’s ihm gerade heraussagen: Herr, sie haben mir dein Begehren nicht vorher erzählt, und als sie mir die Wahrheit sagten, sprach ich zu ihnen: kehrt mit mir zurück, so werde ich mein Herz holen, sie aber wollten nicht umkehren.

Alsbald sprachen die Fische: Er hat wohl gesprochen. Und sie kehrten um und kamen zurück an das Ufer und an den Ort, von wo sie den Fuchs geholt hatten. Da sprang der Fuchs vom Rücken des Fisches, warf sich in den Sand und tanzte und hüpfte vor Freude. Die Fische sprachen: Beeile dich und hole dein Herz, dann wollen wir weitergehen. Der Fuchs antwortete: Ihr Narren, wißt ihr’s nicht? Könnte ich mit euch ins Meer gehen, wäre mein Herz nicht bei mir? Ist denn ein Geschöpf auf Erden, das herumgehen könnte ohne ein Herz? Da sagten die Fische: Du hast dein Spiel mit uns ge­habt. Darauf erwiderte der Fuchs: Ihr Narren! Wißt, ich habe den Todes­engel zu trügen gewußt, um wieviel mehr denn euch.

Da kehrten die Fische mit Schande zurück und erzählten alles Leviathan. Leviathan sprach: Wahrlich, er ist der Listige, ihr aber seid die Toren, und von euch ist gesagt worden: Der Unverständigen Dummheit, das ist ihr Tod. Und er aß sie alle auf…

Seit der Zeit sind von jeder Art Geschöpfe im Wasser vorhanden, sogar von dem Menschen und seinem Weibe ist ein Ebenbild im Wasser da, allein der Fuchs und das Wiesel sind im Meer nicht zu finden.

Talmudisch, Das Neueste vom Neuesten

Einst lief durchs Dorf ein toller Hund, Das ging noch lange von Mund zu Mund.
Bis seinem Führer entsprang ein Bär, Da sprach vom Hunde niemand mehr.
Doch als der Wolf das Schaf gefressen, Da waren Hund und Bär vergessen.

(Deutsch von M. Weinberg)

Talmudisch, Böser Lohn

Als einst ein Ochs im Joche Schaden nahm, Ein artig Roß ihm flugs zu Hilfe kam, Und da es ein anstellig Tier, Hielt man’s im Joche für und für, so muss es nun für sein Bemühn Für alle Zeiten Lasten ziehn.

(Deutsch von M. Weinberg)

Talmudisch, Des Löwen Dank

Dem Löwen war vom fetten Braten
Ein Knochen in den Schlund geraten,
Und lange wollt‘ es nicht gelingen
Ihn wieder daraus fortzubringen.
Da ließ er kundtun und betonen,
Er werde königlich belohnen.
Wer ihm hier Linderung bereite
Und von dem Knochen ihn befreite.

Dem Hofrat Storch mit langem Säbel,
Ich meine seinen langen Schnabel,
Gelang es nun nach vielen Mühen
Den Knochen wieder ‚rauszuziehen.
Doch als er spricht von seinem Lohne,
Da sagt man ihm in kaltem Tone:
Wer Löwenrachen heil entgangen
Hat wohl des Lohns genug empfangen.

(Deutsch von M. Weinberg)

CHINA

Die grünen Mücken

Die grünen Mücken schwirren,
auf allen Zäunen lagert sich ihr Chor.
0 bester Fürst, laß dich nicht irren,
gib der Verleumdung nicht dein Ohr!

Die grünen Mücken schwirren,
und schwingen hoch in die Luft empor,
im ganzen Land berückend flirren
sie vor den Augen wie ein Flor.

Die grünen Mücken schwirren,
und lagern sich vor des Palastes Tor.
Sie wollen dir den Sinn verwirren; weh‘,
wenn ich dein Vertrau’n verlor!

(Deutsch von Rückert)

Li-tai-pe, Der Silberreiher

Im Herbst kreist einsam überm grauen Weiher
Von Schnee bereift ein alter Silberreiher.
Ich stehe einsam an des Weihers Strand,
Die Hand am Blick, und äuge stumm ins Land.

(Deutsch von Klabund)

Li-tai-pe, Schreie der Raben

Vor der Stadt, die sommerlich im gelben Staube wirbelt,
Rasten Raben abends auf den Bäumen, krächzen, schaukeln.
Junge Frau des Kriegers, die an seidnen Fäden zwirbelt.
Hört die Raben schrein und sieht, wie auf den Fenstervor¬hang
müde sich die abendroten Strahlen legen.
Ihre Nadel sinkt; sie denkt an ihn, den ihre Wünsche wild umgaukeln.
Schweigend sucht und einsam sie ihr Bett, und ihre Tränen
fallen heiß wie Sommerregen.

(Deutsch von Klabund)

Liä Dsi, Die Seemöwen

Unter den Leuten am Meer waren etliche, die Seemöwen liebten. Jeden Morgen gingen sie auf das Meer hinaus und schwammen den Möwen nach. Und die Seemöwen kamen herbei zu Hunderten und mehr. Da sprach ihr Vater: „Ich höre, die Seemöwen schwimmen euch nach. Fangt doch ein paar, daß ich mit ihnen spiele.‘ Am anderen Tage schwammen sie wieder ins Meer hinaus. Die Möwen kreisten in der Luft, kamen aber nicht herunter. Darum heißt es: „Vollkommene Rede ist ohne Worte, vollkommenes Tun ist ohne Handeln. Was alle Weisen wissen, ist flach.“

Liä Dsi, Der Affenvater

Im Lande Sung lebte ein Affenvater. Der hatte die Affen gern und hielt eine ganze Herde davon. Er verstand ihre Gedanken, und auch die Affen be­griffen, was er meinte. Er erfüllte alle Wünsche der Affen, selbst auf Kosten seiner Familie.

Plötzlich kam eine Teuerung, und er musste ihr Futter verkürzen. Auf daß die Affen nicht wild gegen ihn würden, redete er erst listig also zu ihnen: „Wenn ich euch morgens drei Bündel Heu gebe und abends vier, ist das genug?“ Da erhoben sich die Affen alle und wurden böse. Plötzlich sprach er: „Gut, ich gebe euch morgens vier Bündel Heu und abends drei, ist das genug?“ Da legten sich die Affen alle wieder nieder und waren erfreut.

Der Weise überlistet durch seine Klugheit die Menge der Toren, gleichwie der Affenvater durch seine Klugheit die Menge der Affen überlistete. Ohne Namen und Wesen zu ändern, konnte er machen, daß sie zornig wurden oder sich freuten.

Liä Dsi, Die tote Maus

Yü war der reichste Mann in Liang. In seinem Hause war alles im Überfluss vorhanden, Gold und kostbare Stoffe und allerlei Reichtümer und Güter in unermesslicher Fülle.

Einst bestieg er sein hohes Haus an der Hauptstraße, ließ Musik machen und Wein auftragen und spielte ein Würfelspiel im oberen Stock. Eine Schar von verwegenen Burschen gingen miteinander unten vorüber. Oben im Haus hatte gerade einer einen guten Wurf getan, und es erscholl Gelächter. In demselben Augenblick flog eine Weihe vorüber und ließ eine tote Maus her­unterfallen, die gerade die Burschen traf.

Die redeten untereinander also: „Der Reichtum und das Glück dieses Yü dauern schon lange, und er hat von jeher die anderen Leute verachtet. Wir haben ihm nichts zuleide getan, und doch beschimpft er uns nun mit dieser toten Maus. Wenn wir ihm das nicht heimzahlen, können wir uns nicht mehr als brave Burschen sehen lassen. Wir wollen mit unseren Genossen uns zu­sammentun und sie einmütig hierher führen. Sein Haus muss verwüstet werden, wie es sich gehört.“

Alle stimmten zu, und am Abend des verabredeten Tages versammelte sich eine große bewaffnete Menge, stürmte das Haus des Yü und richtete eine große Verwüstung darin an.

Liä Dsi, Yang Bu und sein Hund

Yang Dschu hatte einen jüngeren Bruder namens Bu. Der ging eines Tages in weißer Kleidung aus. Er kam in den Regen und musste sich umziehen. Daher kam es, daß er bei seiner Rückkehr ein schwarzes Kleid an hatte. Sein Hund erkannte ihn nicht und bellte ihn an. Yang Bu wurde böse und wollte ihn schlagen.

Yang Dschu sprach: „Du musst ihn nicht schlagen! Du hättest es geradeso gemacht. Wenn vorhin dein Hund weiß weggegangen wäre und wäre schwarz wiedergekommen, so würdest du dich doch sicher auch darüber gewundert haben.“

Dschuang Dsi, Schmetterlingstraum

Einst träumte Dschuang Dschou, daß er ein Schmetterling sei, ein flattern­der Schmetterling, der sich wohl und glücklich fühlte und nichts wusste von Dschuang Dschou. Plötzlich wachte er auf: da war er wieder wirklich und wahrhaftig Dschuang Dschou. Nun weiß ich nicht, ob Dschuang Dschou geträumt hat, daß er ein Schmetterling sei, oder ob der Schmetterling ge­träumt hat, daß er Dschuang Dschou sei, obwohl doch zwischen Dschuang Dschou und dem Schmetterling sicher ein Unterschied ist. So ist es mit der Wandlung der Dinge.

Dschuang Dsi, Die Schildkröte

Dschuang Dsi fischte einst am Flusse Pu. Da sandte der König von Tschu zwei hohe Beamte als Boten zu ihm und ließ ihm sagen, daß er ihn mit der Ordnung des Reiches betrauen möchte.

Dschuang Dsi behielt die Angelrute in der Hand und sprach, ohne sich umzusehen: „Ich habe gehört, daß es in Tschu eine Götterschildkröte gibt. Die ist nun schon dreitausend Jahre tot, und der König hält sie in einem Schrein mit seidenen Tüchern und birgt sie in den Hallen eines Tempels. Was meint Ihr nun, daß dieser Schildkröte lieber wäre: daß sie tot ist und ihre hinterlassenen Knochen also geehrt werden, oder daß sie noch lebte und ihren Schwanz im Schlamme nach sich zöge?“

Die beiden Beamten sprachen: „Sie würde es wohl vorziehen, zu leben und ihren Schwanz im Schlamme nach sich zu ziehen.“

Dschuang Dsi sprach: „Geht hin! Auch ich will lieber meinen Schwanz im Schlamme nach mir ziehen.“

Dschuang Dsi, Der Fisch auf dem Lande

Die Familie Dschuang Dschou’s war arm. Darum ging er hin, um Getreide zu entlehnen beim Aufseher des Flusses.

Der Aufseher des Flusses sprach: „Ja. Ich werde jetzt bald Steuergelder bekommen, dann will ich Euch dreihundert Lot Silber leihen. Ist Euch das recht?“

Da stieg dem Dschuang Dschou der Ärger in’s Gesicht, und er sprach: „Als ich gestern hierher kam, da rief mich jemand mitten auf der Straße an. Ich blickte mich um, da sah ich eine Grundel in einem Wagengeleise liegen. Ich fragte sie und sprach: „Ei, sieh da, eine Grundel! Was macht Ihr denn da?“ Der Fisch antwortete: „Ich bin der Wellenfürst des Ostmeeres. Herr, habt Ihr nicht einen Eimer Wasser, um mich am Leben zu erhalten?“ Ich sprach: Ja, ich will nach Süden gehen, um die Könige des Südlandes zu besuchen, dann will ich vom Wasser des Weststromes schöpfen und es Euch darbringen. Ist es Euch recht?‘ Der Grundel stieg der Ärger in’s Gesicht, und sie sprach: „Ich habe mein Element verloren und weiß mir nicht zu helfen. Wenn ich einen Eimer Wasser bekäme, so bliebe ich am Leben. Aber ehe Ihr Euer Anerbieten ausgeführt habt, Herr, könnt Ihr längst in einer Fisch­handlung, wo es getrocknete Fische gibt, nach mir suchen. “

Sao-Han, Die dicke Ratte

Dicke Ratte, Riesenratte, friss nicht all mein Korn, grausam gefräßiges Tier. Seit drei Jahren dulde ich die wilde Gier deiner spitzen Zähne und habe um­sonst versucht, sie zu beschwichtigen.

Doch am Ende gehe ich auf und davon, ich entfliehe dir und baue mir ein

Haus in einem fremden Lande, In einem fernen glücklichen Lande, wo die Seelenqualen nicht ohne Ende  nagen.

(Deutsch von Heilmann)

Wang-Tschang-Ling, Die beiden Karpfen

Oft lagere ich im Schatten hoher Bäume,
sinnend, träumend,
Oft wandere ich einsamen Pfad und vergesse
Tag und Nacht.
So stieg ich eines Tages hinab ins Pa-lin-Tal.
Ich ging am Ufer des Flusses hin und warf
meine Angeln aus.
Meine Hand ergriff zwei Karpfen;
Aber meine Augen folgten dem Flug zweier
Wildgänse in blaue Femen.
Da empfand ich die Lust der Vögel an ihrer
Freiheit
Und die qualvolle Angst meiner beiden Gefangenen.
Ich ließ die Fische in das klare Wasser fallen
Und in tiefes Nachdenken versinkend begriff
ich die Begehrlichkeit. Ich dachte an die Gebirge, an die Bewohner
ihrer blauen Gipfel, die, wenn sie ihre Blicke talwärts lenken,
durch graue Wolken sich von der Welt geschieden sehn.
Auf diesen Höhen verachten sie die Leidenschaften
der Erde;
Die kennen nicht ihre Begierden, die Ehre und der
Ruhm trüben nicht den Frieden ihrer Seele.

(Deutsch von Heilmann)

Su-Tong-Po, Der Kormoran

Einsam und unbeweglich steht und sinnt der Kormoran am herbstlichen Ufer des Flusses, und sein rundes Auge folgt dem Lauf der Wässer.

Manchmal naht ein Mensch, dann entfernt sich der Kor­moran, langsam, das Haupt wiegend;

Aber hinter den Blättern lugt er dem Störenden nach, um, wenn er vorbeigegangen, wieder in das einförmige Wogen des Stromes zu schauen.

Und in der Nacht, wenn der Mond auf den Wellen erglänzt, sinnt der Kormoran, auf einem Fuß im Wasser stehend.

So verfolgt der Mensch, der eine große Liebe im Herzen hat, immer das Auf- und Abwogen eines und desselben Gedankens.

(Deutsch von Heilmann)

JAPAN

Yadoya Meshimori (aus dem Insektenbuch)

Biene

Wie doch so ängstlich
Gehst du heran zum Flugloch
Des Bienennestes
Und glaubst doch an die Reize
Des honigsüßen Mädchens!

Raupe

„Ein Raupenhaar
Verwundet trotz des Blasens“
Dräng ich mich an dich,
Trotz deines heftigen Sträubens,
So werd ichs büßen müssen.

Schmetterling

Im Reich der Träume
Zum Schmetterling verwandelt,
Wie möcht ich saugen
An eines holden Mädchens
So blumengleichen Lippen!

Spinne

Dem Lendenschurz gleich.
Der hinten schleppend nachschleicht,
Wenn du dich einschleichst
Ins Nest des Schlafgemaches:
So ist der Spinne Webwerk.

Zirpgrille

Es gleicht dem Weibe,
Das keifend schilt und eifert,
Die Zirpgrille,
Denn immer schrillt sie
Und geifert eifersüchtig.

Heuschrecke

Es gleicht der Heuschrecke
Das Herz des liebestrauer-
Bewegten Menschen.
Die Stimme nur vernimmst du.
Unsichtbar ist er selber.

Anonym, Der Kuckuck

Der Frühlingskuckuck
Muß wohl die Himmelswolke
Vor allem lieben!
Wie hörten sonst wir rufen
Ihn aus der fernen Wolke?

Bokke, Der Tiger

Vom Fleischfraß bis zum Taumel satt
Am Berge schlief die Mordgestalt.
Der Dunst des Blutes lagert sich,
Und färbt den Fuß des Waldgebirgs.

Und sieh! da reckt die Bestie sich
Und steht und leckt den Saft, der kaum
Geronnen seinen Duft bewahrt
Noch einmal von den Tatzen ab.

Yehon Momochidori

Die Eule

Weshalb, Geliebter, kommst du nur,
Wenn Nacht betritt die Dämmerspur?
Scheust du des Tages Sonnenglast
Weil du der Eule Augen hast?

Der Eisvogel

Wenn wir gestorben sind. Liebste,
Werden wir auf einem Lotusblatt ruhn
Ein Eisvogelpaar,
Die Flügel fest aneinander geschmiegt.

Ryan-Hahusai, Von den verzauberten Füchsen

Der Alte sprach: In Regennächten bleibt man gern zuhause; denn man weiß zu viel Geschichten von den Füchsen, die sich zu solcher Stunde in den Ebenen des Nordens in verzauberter Gestalt versammeln, um die Menschen zu verführen. Sie locken sie zu den Orten des Vergnügens und verwandeln sich in liebliche Geishas oder schöngewandete Tänzerinnen. In dieser Gegend nun gab es mal einen großen Gelehrten, der in solch einer Regennacht mit fünf oder sechs Schülern zusammensaß und ihnen sagte: „Geht doch jetzt hinaus auf die Felder, von denen man jetzt so viel spricht: ihr werdet sicherlich in Tänzerinnen verwandelten Füchsen begegnen!“ Die Schüler erschraken und entgegneten: „Hast du nicht immer gesagt, daß der Weise nimmer eine Gefahr vorwitzig aufsucht? Und nun gibst du uns diesen Rat?“ „0 ihr Toren!“ sprach der Meister lachend. „Wenn ihr dorthin geht, wisst Ihr, daß die Füchse Füchse sind, und ihr seid dann nur furchtsam, weil ihr nicht wisst, welche Schlinge euch gelegt ist. Aber die Füchse bleiben doch Tiere, auch wenn sie in Geishas verwandelt sind. Sie kennen der Menschen innerstes Wesen nicht und können ihnen also auch nicht sonderlich gefährlich werden. Weit schlimmer sind die wirklichen Geishas, die euer Herz kennen und tausen­derlei verführerische Formen annehmen, um den Mann zu umgarnen. Ist es da nicht ein seltsam Ding, wenn Menschen wie ihr, arglos und lachenden Auges, diesen furchtbaren Zauberern gegenübertreten und — vor den Füchsen erschrecken, deren Zauber doch so harmlos ist?“ Da erröteten die Schüler und schworen, von nun an nur noch ihren Studien zu leben.

Ein altes Wort sagt: „Das Übel kommt nicht vom Himmel, sondern vom Weibe!“

(Deutsch von Paul Enderling)

Klabund, Der Geisha Osen nachgedichtet

I.

Ihren Atem muß ich hassen
Und ihr Schweiß ist mir zuwider,
Drum will ich die Menschen lassen,
Steige zu den Tieren nieder —

Auf, denn Katzen sind wie Götter,
Wenn sie selbstverständlich schreiten,
Wage niemand sich als Spötter
Ihrer Schlankgelassenheiten.
O zerfleische! 0 zerrütte,
Tiger Toyohiro’s, mich!
Silbergrünes Auge, schütte
Deine Blüten über mich!

II.

Seligkeit der Welt,
Die er selbst erschaffen,
Wollte Gott erhellt
Sehnend sich erraffen.

Und in fleischlicher Gestalt,
Die ihn dunkel drückte.
Ging er in den Wald,
Wo die Geisha Beeren pflückte.

Und er sah, wie zahm zu Füßen
Ihr Lazerten schlängelten.
Froh verhielt er vor der süßen
Jungfrau seine Schritte. Denn

Wem die Tiere sich vertrauen,
Trägt den Heiligenschein,
Und er braucht nicht hoch im Blauen
Engel sein.

Aber sie stand wie erstarrt,
Glaubte sich erfüllt.
Ihre Anmut wurde hart,
Ihre Härte mild.

Und sie sank ins Moos,
Sich vor ihm zu bücken.
Wie ein Adler groß
Tanzte er auf ihrem Rücken.

INDIEN UND PERSIEN

Indische Sprüche

Geriet ein Mensch in Missgeschick, so kann ihm Leides tun ein Tropf. Versank ein Elefant im Sumpf, so hüpft ein Frosch ihm auf den Kopf.

„Er gibt nicht Wolle, taugt auch nicht zum Fahren, nicht zu Milch und Butter; Des großen Bauches Sättigung bewirkt nicht vieles Laub und Futter; Hoch ist sein Rücken wie ein Berg, wie schafft man einen Sack hinauf! Für ein paar Otterköpfchen (he, wer will ihn?) steht er hier zu Kauf. Wir mögen ihn nicht mehr. Hinweg, hinweg mit diesem!“ So ertönen Der Bauern Worte, wenn es gilt, den Elefanten zu verhöhnen.

Der Eber sprach: „Bezwungen sind von mir voreinst der Tiger zehn; Drei Elefanten wüßt‘ ich schon, acht Löwen siegreich zu bestehn. Heut sollen meinen Kampf mit dir die Götter sämtlich schaun.“ Drauf Erwiderte der Löwe ihm: „Geh deines Weges, Freund! Glückauf! Berühme dich: Im Löwenkampf hat mir der Sieg sich zugewandt! Des Löwen und des Ebers Kraft ist klugen Leuten doch bekannt.“

Ein Opfertier spricht:

Des Himmels Früchte zu genießen, empfind‘ ich, Guter, kein Verlangen, Du bist von mir, daß dies geschähe, auch nicht mit Bitten angegangen, Ich bin zufrieden, Gras zu fressen; nicht ziemt es dir, daß du mich schlachtest. Und wenn die bebenden Geschöpfe, die opfernd du zu Tode brachtest, Gewißlich in den Himmel kommen, warum dann legst du nicht die Hand An Vater, Mutter, sie zu opfern, an Sohn und wer dir sonst verwandt?

(Aus dem Sanskrit von L. Fritze)

Somadewa, Fabeln

1.

Die Wanze und die Laus.

In dem Bette eines Königs wohnte ungesehen lange Zeit eine Laus namens Mandavisarpini (die langsam Kriechende), die Gott weiß wie dahin gelangt war.

Plötzlich kam vom Winde hergeweht eine Wanze namens Tittibha (Sporn-flügler) in das Bett. „Warum kommst du in meine Behausung? Mach dich fort von hier!“ herrschte die Laus sie an, sobald sie dieselbe erblickte. Die Wanze bat sie demütig um die Gunst, doch einmal noch nie gekostetes Königsblut trinken zu dürfen. Die Laus fühlte sich geschmeichelt und hieß sie bleiben, doch schrieb sie ihr vor: „Freundin, du darfst den König nicht zur Unzeit beißen! Nur wenn er schläft oder der Liebe pflegt, dann darfst du anbeißen, aber nur sanft!“ — „Schön“, erwiderte die Wanze, und sie gingen ausein­ander. Und in der Nacht, da der König eben ins Bett gegangen war, kroch die Wanze auf ihn zu und biß ihn gierig, daß er mit einem Schrei aufsprang: „Ha, es hat mich gebissen!“ Schnell flüchtete sich die tückische Wanze, während die brave Laus von den Dienern des Königs gefunden und getötet wurde.

2.

Der Löwe und der Hase.

Es lebte einmal ein Löwe in einem Walde, und er herrschte allein da und war unbesiegt und tötete jedes Geschöpf, das er dort antraf. Da versammelten sich die Tiere jener Gegend, beratschlagten und traten mit folgendem Vor­schlag vor den König der Tiere: „Wir wollen dir Tag für Tag je ein Tier zur Speise schicken. Warum solltest du dich selbst schädigen, indem du alle auf einmal tötest?“ Der Löwe fand diesen Vorschlag gut und willigte ein. Da er nun täglich ein Tier zu verzehren pflegte, kam eines Tages die Reihe an einen Hasen, der von den anderen allen abgeschickt wurde zu dem bestimmten Zwecke. Unterwegs überlegte der kluge Hase: „Stark ist, wer im Unglück den Kopf nicht verliert. Mir steht der Tod bevor; einstweilen will ich sehen, ob ich mir nicht mit List helfen kann.“ Mit diesen Gedanken beschäftigt, machte sich der Hase auf den Weg zum Löwen, ohne sich zu beeilen. Er kam verspätet an, und der Mähnentragende fuhr ihn an: „Holla! Wie wagst du es, die Stunde meiner Mahlzeit zu vergessen? Welche schlimmere Strafe als den Tod hättest du von mir verdient, du Schuft!“ Demütig antwortete der Hase auf die Zornesworte des Löwen: „Es ist nicht meine Schuld, o Herr! Denn ich war heute nicht Herr meiner Entschließungen; auf dem Wege zu dir wurde ich von einem andern Löwen aufgehalten, von dem ich mich mit Mühe losmachen konnte.“ Als er dies hörte, schlug der Löwe mit dem Schweif um sich und sprach dann mit vor Zorn rot unterlaufenen Augen: „Wer ist dieser andere Löwe? Zeige mir ihn!“ — „Komm, König, und sieh!“ ant­wortete der Hase und führte den Löwen weit ab von davor eine Grube. Als dieser in dem hellen Wasser sein Spiegelbild erblickte, und ihm aus der Grube sein Gebrüll widerhallte, glaubte er einen Gegner vor sich zu haben, dessen Gebrüll das seine noch übertreffe; voll Begierde, ihn zu töten, stürzte sich der Tor in die Grube und kam darin um. So hatte der Hase durch seine Klugheit erst sich selbst gerettet und dann alle Tiere, die hocherfreut seinen Bericht entgegennahmen.

3.

Der Vogel und die Affen.

Es lebte einmal in einem Walde eine Affenherde; einst an einem kalten Tage sahen die Affen einen Leuchtkäfer, den sie für ein Feuer hielten. Sie fingen ihn, legten Laub und dürres Gras darauf und hofften, damit ein Feuer an­zuzünden; einer von ihnen blies noch mit vollen Backen den Leuchtkäfer an. Dies sah der Vogel Spitzschnabel und sprach zu ihm: „Das ist ja kein Feuer, das ist ein Leuchtkäfer. Gib dir keine Mühe!“ Der Affe kehrte sich nicht an diese Worte, sondern fuhr fort mit Blasen; da stieg der Vogel vom Baume, näherte sich ihm und wollte ihn mit aller Gewalt von dem törichten Beginnen abhalten. Darob erzürnte sich schließlich der Affe und warf einen Stein nach dem Spitzschnabel, daß er zermalmt wurde.

4.

Die Schlange und die Dirne.

Aus Furcht vor dem Vogel Garuda hatte sich eine Schlange in das Haus einer Dime geflüchtet und dort menschliche Gestalt angenommen. Die Dirne nahm als Geschenk fünfhundert Elefanten, und der Schlangendämon gab ihr auch täglich diesen Lohn kraft seiner Zaubermacht. „Woher nimmt der Herr nur täglich so viele Elefanten, und wer ist der Herr?“ Mit diesen Fragen quälte ihn das hübsche Dirnlein, bis endlich der verliebte Dämon plauderte: „Sag es aber niemand! Aus Furcht vor dem Garuda halte ich mich hier ver­borgen; denn ich bin ein Schlangendämon.“ Und von der Buhlerin erfuhr es, als Geheimnis, die Kupplerin.

Nun kam auch dahin der Vogel Garuda, der die Welt nach Schlangen durch­suchte; er war in Menschengestalt. Er ging zur Kupplerin und sagte: „Madame, ich möchte heute im Hause ihrer Tochter bleiben. Was nimmt sie als Ge­schenk dafür?“ Sie sprach: „Ein Schlangendämon ist hier, der gibt täglich fünfhundert Elefanten; wir haben es nicht nötig, uns für einen Tag was schen­ken zu lassen.“ Nun wußte Garuda, daß ein Schlangendämon da sei, und be­trat als Gast die Wohnung der Buhlerin. Da erblickte er auf dem Söller des Hauses die Schlange, offenbarte sich in seiner wahren Gestalt, flog auf, tötete und fraß die Schlange auf.

5.

Die Schlange, die sich reiten läßt.

Am Ufer eines Teiches in der Nähe einer Einsiedelei lag völlig regungslos eine alte Schlange, der es schwer fiel, Frösche zu erhaschen. Da kamen die Frösche bis auf respektvolle Entfernung heran und fragten: „Sag, warum frissest du uns nicht mehr wie sonst?“ Die Schlange antwortete: „Ich kroch einem Frosche nach und biß in der Verwirrung einen Brahmanensohn in den Daumen. Er starb daran, und der Fluch seines Vaters hat mich nun zum Reittier der Frösche bestimmt. Wie kann ich euch also fressen? Im Gegenteil, ich führe euch spazieren.“ Als der Froschkönig dies gehört hatte, stieg er aus dem Wasser, denn er hätte gar zu gern das Reiten versucht; furchtlos kletterte er der Schlange auf den Rücken und war ganz außer sich vor Freude. Die Lust am Reiten machte ihn und seine Genossen ganz vertraulich. Eines Tages aber stellte sich die Schlange schwach und sagte heuchlerisch: „Ohne Nahrung, o König, kann ich nicht weiter geh’n; deshalb verschaff mir Speise! Wie kann ein Diener ohne Kost besteh’n?“ Der Froschkönig, der ganz vernarrt ins Reiten war, versetzte darauf: „Nun, so friß eine bemessene Zahl von meinem Gefolge!“ So fraß die Schlange nach und nach die Frösche nach Belieben auf, und der König, stolz umherreitend, merkte nichts und ließ es geschehen.

(Deutsch von Hans Schacht)

Muslich ed-Din Sa’di, Der Weise auf dem Tiger

Ein Frommer, dem treulich die Wahrheit sich wies,
So hört man erzählen, ersah einstens dies:
Es ritt, eine Schlange gefaßt in der Hand,
Zum Roß einen Tiger, ein Weiser durchs Land.
Sprach einer: 0 Mann auf dem göttlichen Weg,
O zeig zu dem Pfad, den du gingst, mir den Steg.
Wie kam’s, daß der Reißende zahm nun dir geht
Und daß auf dem Heilsring dein Name nun steht?
Er sprach: Wenn ich Tiger und Schlange bezwang,
Und Elfent und Geier, nicht wundr‘ es dich lang:
Wenn du deinem Lenker dich nicht entziehst,
Du alles bald zu Dienste dir siehst.

Unmöglich ist es, wenn Gott nur dich liebt,
Daß jemals dem Feind in die Hand er dich gibt.
Hier hast du den Weg: zu Gott blick-hinan,
Und geh: was du wünschest, das findest du dann.

(Deutsch von Otto Hauser)

Muslich ed-Din Sa’di, Der Schmetterling und die Kerze

Ich hört‘ eines Nachts, da ich Schlummer nicht fand,
Den Schmetterling sprechen, zur Kerze gewandt:
Ich liebe und brenne mit Recht, aber du,
Du weinest und brennest, wie kommt dir das zu?
Sie sagte: 0 Armer, der leidet wie ich,
Der Honig, mein süßer Geliebter, entwich.
Ach, wie eine Schirin mir ward er geraubt
Wie Ferhad so flammt mir in Feuer das Haupt.
Sie sprach’s, und von Tränen ein Strom floß zugleich
Im Schmerz ihr herab auf die Wange so bleich.
Du, Eitler, hast nimmer die Liebe erfaßt;
Du flatterst nur immer umher ohne Rast.
Du fliehst, wenn die Flamme nur leicht dich versehrt,
Ich aber harr‘ aus, bis ich völlig verzehrt.
Das Feuer, am Flügelrand nur spürest du’s;
Ich aber verbrenne vom Kopf bis zum Fuß.
Es war, daß ein Teil nur der Nacht erst entschwand,
Da löschte die Kerze die lieblichste Hand.
Sie sprach, wie der Rauch von dem Haupt ihr entfloh:
Die Liebe, mein Sohn, wenn sie stirbt, stirbt nur so.
Ja, willst du, was Liebe ist, richtig verstehn:
Ihr Feuer darf erst mit dem Leben vergehn.

(Deutsch von Otto Hauser)

Hafis, Die Nachtigall und die Rose

Wo hast du deine Künste her, o Nachtigall? —
„Ich danke sie der Liebe zu der Rose.
Die füllt die Kehle mir mit eitel Wonneschall;
Nichts ist ja mein Gesang, der amorose,
Als innerer Musik melod’scher Widerhall,
Als meiner Brust Gekose mit der Rose.“

Freue dich, o Seelenvogel,
Lasse deinen Jubel schallen,
Daß du in der Rose zarte,
Liebe, süße Haft gefallen!

Nicht in eines Vogelstellers
Rohe Netze wirst du sinken,
Nicht ergriffen wirst du werden
Mörderisch von Räuberkrallen.

Zwar es hat der Dorn der Rose
Tief genug dein Herz verwundet,
Und so wirst du dich verbluten
Und hinab zu Grabe wallen.

Doch der Tod, der dich erwartet,
Ist der schönste Tod von allen;
Sterben wirst du nach dem edlen
Sterbebrauch der Nachtigallen.

(Deutsch von Daumer)

Die Liebe der Nachtigall zur Rose, diese schönste Mythe der persi­schen Poesie, ist bekannt. — „Das außerordentliche Vergnügen, das die per­sische Nachtigall an dem Wohlgeruch der Rose zu finden scheint, deren Kelch sie in klagenden, wirbelnden Tönen unermüdlich zu umflattern pflegt, gibt den orientalischen Dichtern, doch keinem mehr als dem Hafis, Veran­lassung zu tausend schönen Allegorien. Man muß hiebei wissen, daß die klagende Stimme dieses lieblichen Vogels sich zuerst in der Jahreszeit ver­nehmen läßt, in der die Rose zu blühen beginnt. Durch eine sehr natürliche Verbindung der Vorstellungen werden daher beide als die beständigen und unzertrennlichen Gefährten des Frühlings angeführt. Auch ist es sehr wahr-‚ scheinlich, daß der Lieblingsaufenthalt der Nachtigall ein Rosengarten sei; gewiß ist, daß sie ihren Duft sehr liebt und sich dem schwelgerischen Genüsse desselben zuweilen in solchem Übermaß hingibt, daß sie ganz berauscht vom Aste zu Boden sinkt.“ v. Rosenzweig zu Dschamis „ Jussuf und Suleicha .

Anwari-Soheili, Der Streit der Elefanten und Hasen

1.

Eines Jahres fiel in der Elefantenlandschaft auf einer der Inseln unter dem Winde zufällig kein Regen, und die Wolkenmutter träufelte keinen Tropfen in Bezug auf irgendeinen den Titel der Schrift seines Inneren und den Dol­metsch seiner Herzensgeheimnisse kennen lernen will, kann sich volle Kennt­nis darüber verschaffen aus den Reden und Handlungen seines Gesandten. Denn zeigt sich bei diesem irgendeine Trefflichkeit und Tugend und stellt sich an ihm irgendein willkommenes Kennzeichen und eine lobenswerte Handlung dem Auge dar, so folgert man daraus die treffliche Wahlbefähigung und die vollendete Kenntnis des Fürsten. Beweist jener aber Schlaffheit und sorglose Unbekümmertheit, so setzen sich die Zungen der Schmäher in Lauf und finden einen Tummelplatz zum Angriff und zur Verdächtigung des abwesenden Herrschers. Diesen Punkt haben auch die Weisen vielfach erhärtet und unberechenbaren Eifer aufgewandt, um zu zeigen, daß, will man irgendwohin einen Gesandten schicken, dieser stets der weiseste seines Volkes sein muß, der gewandteste unter allen in der Kunst der Rede und der vollkommenste derselben im Handeln. Daher pflegten auch die meisten frühe­ren Könige die Weisen mit der diplomatischen Sendung zu beauftragen, und der erste derselben war der zweigehörnte Alexander. Dessen Brauch war es, sich zu verkleiden, selbst die Botschaft als Gesandter zu überbringen und zu sagen:

Die Starken, die mit Heldenkraft gewappnet, Löwen
sich erjagen,
Sie machen selbst sich auf den Weg, dem Feind die
Botschaft hinzutragen.
Und ein Großer im Reiche des Geistes hat so über das Senden von Botschaf¬tern gesprochen:
Verstand und weiser Sinn sei dem Gesandten eigen,
Er muß beherzten Mut und Kraft im Reden zeigen!
Auf Fragen halt‘ er stets die Antwort so bereit,
Daß von des Rechtes Pfad er weicht zu keiner Zeit!
Er spreche offen sich und grade aus, nicht krumm,
Stets so, wie sich’s geziemt vor dem Kollegium.
Wohl manchen gab’s von dem ein Wort nur, rauh
und scharf,
Mit Mordlust eine Welt in Schutt und Trümmer
warf.
Doch zwischen Feinden selbst hat oft schon milde
Rede
Der Freundschaft Grund gelegt, getilgt die blut’ge
– Fehde.

Behrüz entgegnete: „O König! wenngleich es mi», nicht ganz an den Fundamentalkenntnissen für die diplomatische Sendung nach Maßgabe der Sachlage gebricht, so will ich doch gerne, wenn mein Pädischäh, der Welt Zu¬flucht und Schirm, in Gnaden geruhen möchte, aus dem Schrein der Weisheit einige preiswürdige Juwelen auf den Faden der klugen Fürsorge zu reihen, diese zum Zierrat eines glücklichen Erfolges nehmen, mit ihnen meinen Ruhm und die Kapitalsumme meiner Hilfsleistung schmücken, bei allem, was ich tue und vollführe, in nichts von dieser erhabenen Norm weichen und nach eben derselben Richtschnur des Handelns alle Angelegenheiten zum Abschluß bringen!“ Der König sprach: „0 Behrüz! die beste aller Verhaltungsmaßregeln für die diplomatische Sendung und die trefflichste der Vorschriften für eine Gesandschaftsreise ist die, daß zwar das Schwert der Zunge gleich der hellgeschliffenen Schneide mit heftiger Gewalt und durchdringender Schärfe zu Werke gehe, dennoch aber der Edelstein der schmeichelnden Höflichkeit und gefälligen Zuvorkommenheit auf seiner Fläche klar und deutlich zutage trete und das helle Licht der Milde und Humanität aus allen seinen Teilen hervorleuchte und strahle. Jedes Wort, aus dessen Beginn man Härten entnehmen könnte, muß zuletzt in Zartheit und huldvoller Güte seinen Abschluß finden, und wenn die Eingangspforte der Rede sich infolge übergroßen Eifers mit einer allzu majestätischen Sentenz eröffnet, muß der Beschluß derselben in vertraulicher, ruhiger Weise auf ein liebeerweckendes Wort und eine feine herzgewinnende Wendung hinauslaufen.
Des Hasses Samen aus der Brust reißt leicht ein
sanftes zartes Wort,
Es wischt der Zunge Milde schnell die Falten aus
den Brauen fort.

Der langen Rede kurzer Sinn ist also der, daß des Gesandten Wort in gleicher Weise auf der Basis der Güte, wie der Strenge und des Zornes, der Sanft­mut und Liebe, wie der Heftigkeit, der Gerechtigkeit und des hartnäckigen Widerstandes aufgebaut sein und stets den Pfad des Nehmens und Gebens, des Zerreißens und Zusammenfügens, des Zustandebringens und Zerstörens im Auge behalten muß, damit sowohl gegen die Herrscherwürde und die fürstliche Majestät die Rücksicht gewahrt, als auch die eigentliche Absicht der Gegner und das verborgene Geheimnis ihres Inneren in Erfahrung ge­bracht werde. Doch dem Weisen hinsichtlich seiner diplomatischen Sendung Aufträge erteilen, hieße Eulen nach Athen tragen. Heißt es doch in einem Verse:

Wählst du dir zum Gesandten aus den Weisen,

Laß den nur ruhig ohne Auftrag reisen!“ —

2.

Nachdem Behrüz darauf alle Zeremonien der Aufwartung vollendet, verließ er den königlichen Hof und harrte nun geduldig aus, bis die Nacht, ins schwarze Gewand sich kleidend, den Schleier der Finsternis über das Schloß des azur­blauen Sphärenkreises herniederließ, und nach kurzer Frist des Mondes Silberscheibe, die uralt ewige Tafel der göttlichen Allmacht verlassend, auf den Himmelstisch ihren glänzenden Schimmer warf.

Als moschusfarbig sich enthüllt das Lockenhaar der
Nacht,
Stieg überm Dach der Mond empor in vollen
Glanzes Pracht.

Sobald dann das Zentrum des Mondes nahe an die Peripherie der Mittags­gegend gelangt war, seine leuchtenden Strahlen ringsumher auf dem irdischen Staubteppich sich ausbreiteten, und die Erdoberfläche verklärt wurde von dem die Welt erhellenden Schönheitsstrahle jener Leuchte in der Zelle der be­dürftigen Sterblichen — da machte sich Behrüz nach der Insel der Elefanten auf den Weg. Als er aber zu ihrem Wohnsitz gelangt war, sprach er über­legend bei sich: Komme ich ganz nahe an diese gewalttätigen Bedrücker heran, so muß ich für mein Leben fürchten, und die Gefahr des Unterganges bedroht mich, und wenn auch von ihrer Seite noch kein Angriff auf mich geschieht, so zielt doch das Schlußergebnis einer sorgfältigen Meditation dahin ab, daß man sich mit diesen tyrannischen und hoffärtigen Feinden nicht in eine nähere Begegnung einlassen darf, denn infolge ihres Übermutes und hochfahrenden Stolzes kümmern sie sich um die Armen und Gebrochenen nicht, und blieben unter dem Fuß ihrer Bedrückung auch Tausende ohnmächtig stecken und kämen um, kein einziges Staubwölkchen von diesem Mißgeschick würde sich auf ihrem trotzigen Antlitz lagern.

Steht mit uns es schlecht und traurig, was wirst
du dich viel drum grämen?
Wird denn, wenn erlischt die Lampe, sich’s der
Ost zum Herzen nehmen?

Das Beste ist daher, daß ich mich auf eine Anhöhe begebe und die mir ob­liegende Botschaft von ferne ausrichte.   Wird sie freundlich aufgenommen, nun gut! — richtet aber meine Fabelei bei ihnen nichts aus, so komme ich wenigstens mit heiler Haut davon!“

Nachdem er daher einen hohen Punkt bestiegen, rief er von ferne laut den König der Elefanten an und sprach: „Ich bin der Botschafter des Mondes, und den Gesandten trifft keine Verantwortung für alles, was er spricht und hört; ihm liegt einzig und allein die Bestellung ob. Und mag sich die Rede auch etwas respektwidrig und strenge erweisen, sie muß dennoch gehört werden, denn was immer der Mond mir aufgetragen, es zu mehren oder zu mindern, darüber habe ich keine freie Verfügung. Du weißt aber, daß der Mond, der die Welt durchmißt, der Vogt der Nacht ist und der Stellvertreter für den Herrscher des Tages, und will einer etwas im Widerstreit mit ihm ersinnen und seine Botschaft nicht mit dem Ohr des Verstandes wahrnehmen, so zieht er das Beil auf sein Haupt herab und arbeitet mit eigener Hand an seinem Verderben.“ Der König sprang bei diesen Worten von seinem Platze auf und frug: „Und was ist der Inhalt deiner Sendung?“ Behrüz erwiderte: „So spricht der Mond: Wenn einer sich an Kraft und Heeresstärke mehr dünkt als die Schwachen, sich selbst vor eitlem Stolz auf Gewalttat, ungestümen Angriff, Machtfülle und verwegenen Übermut aufbläht und die Untergebe­nen durch Ungerechtigkeit und Unbill aller Art ganz darniederdrücken und schwächen will, so liefert diese Art zu handeln einen sicheren Beweis für seinen schändlichen Charakter, und diese Eigenschaft stürzt ihn hinab in den tiefsten Schlund des Verderbens.

O streue nie in deine Brust des Übermutes Samen
aus,
Und bau‘ in deinem Herzen auch dem Hasse nie
ein wohnlich Haus!
Wie viel denn packst du auf dein Roß? Sei mit
dem Sattel doch zufrieden!
Und jage nicht so schnell, denn nichts ist unverŠnderlich hienieden.
Urplötzlich mag der Glanz einmal von deinem
Haupte ganz entweichen
Und deinen Schild urplötzlich auch der Himmels¬sphären Pfeil erreichen.
Denn diese Sache— sie gewinnt zum Schluß ganz
andere Gestalt,
Und selbst dein eignes Handeln hast du dann nicht
mehr in der Gewalt!

Und da du nun in solcher törichten Verblendung dir selbst den Vorzug vor allen übrigen Tieren eingeräumt und deine Kraft und Waffenmacht, die doch nahe dem Untergange ist, so hoch in Anschlag gebracht, ist die Sache endlich bis zu dem Punkte gediehen und so weit gekommen, daß du meine Quelle angegriffen, dein Heer an diese Stelle geführt und in äußerster Hirnbetörung dieses Wasser getrübt und verfinstert hast. Ist dir denn nicht etwa bekannt, daß selbst dem schnellfliegenden Adler, streicht er über meine Quelle dahin, der Wetterschlag der sinnverwirrenden Betäubung Flügel und Fittiche ver­brennt, und dem Debarän, wenn er von der Trift des Himmelskreises her mit gebietendem Herrscherauge auf dieselbe zu blicken sich vermißt, der Arcturus die gewaltige Angriffslanze ins Auge heftet?

Naht ein Dämon diesem Ort
Beugt er gleich das Haupt danieder;
Fliegt ein Vogel drüber hin,
Senkt herab er sein Gefieder.
Nicht mag selbst der Himmelskreis
Seiner Luft und Erd entrinnen,
Kann er nicht des höchsten Herrn
Hilf und Schutz zuvor gewinnen!

Nur infolge eines überschwänglichen Edelsinns habe ich dich einer solchen Warnungsbotschaft für würdig erachtet, und wenn du die Spur deines Tuns und Treibens allhier getilget und solcher tollkühnen Verwegenheit entsagt, mag es gut sein! — wo nicht, so komme ich in eigener Person und werde dich so demütigen, daß Seufzen und Wehklagen dein Los! Solltest du aber Zweifel in diese Botschaft setzen, so komme sogleich herzu, denn ich selbst bin in der Quelle anwesend, damit du mit eigenen Augen mich schauest und hin­fort nicht mehr in der Umgebung dieser Quelle dich niederlassest.“

Verwunderung befiel den Elefantenkönig ob dieser Kunde, und als er zur Quelle gekommen, erblickte er das Bild des Mondes auf dem Wasserspiegel. Behrüz sprach zu ihm: „0 König, trage ein Quantum Wasser mit dir fort, und wenn du dein Antlitz damit gewaschen, wirf dich zum Gebet nieder; vielleicht wird dann der Mond eine Regung des Erbarmens fühlen und wieder Wohlgefallen an dir haben.“ Der Elefant streckte lang seinen Rüssel heraus; als aber die schwere Masse desselben ins‘ Wasser kam und dadurch eine ziem­liche Bewegung in demselben sichtbar ward, da brachte dieses aufgeregte Wasser den Elefanten auf die Idee, der Mond selber bewege sich, und laut rief er aus: „0 Gesandter des Mondes! Ist etwa gar dadurch, daß ich meinen Rüssel ins Wasser gesteckt, der Mond von seiner Stelle gerückt?“ Behrüz ent­gegnete: „Wahrlich, so verrichte umso schneller dein Gebet, damit er wieder ruhig wird!“ Nachdem der Elefant durch Vollführung desselben seinen Ge­horsam bewiesen und sich einverstanden damit gezeigt, daß er hinfort weder selbst mehr hierherkomme noch auch die übrigen Elefanten in den Umkreis dieser Quelle führe, überbrachte Behrüz seinem Könige die Botschaft, und alle Hasen überließen sich nun der sorglosen Ruhe. — Durch diese List ward solch gewaltiges Mißgeschick von den Häuptern jener abgewandt.

Abu Ishak, Das Rebhuhn

Wohlan, mein Lied ertöne heut
Vom Vogel in dem seidnen Kleid!
Er freuet sich voll Jugendfeuer
Und zeigt sein Antlitz ohne Schleier,
Das schön ist wie die Jugend zart,
Das Aug‘ schmückt er nach Mädchenart,
Daß man von Wimpern nichts ersieht.
Sein Schnabel rot wie Brustbeer glüht,
Daß man bei dessen Anblick denkt,
Er sei mit Menschenblut getränkt.
Mit seinen Klauen kämpft voll Mut
Er wie ein Löwe in der Wut.
Um seinen Käfig ringsherum
Sind Bilder wie ums Heiligtum;
Und hinter seines Käfigs Tür
Schreit stotternd er Ri Ri herfür,
Wie Ri Ri stammelt alles Wort,
Wer mit der Zunge nicht kommt fort.
Wie’s Ri Ri kichert bei dem Wein,
Schenkt lustig man die Gläser ein.
Den Jägern dünkt er jagenswert,
Da man sein Fleisch gar hoch verehrt.
Auf Bergen übet er sein Recht,
Da er von kurdischem Geschlecht.
Doch ist er bei den Arabern
Als Fremdling auch gelitten gern. —
Nun Freund, des Müh’n ist groß und fein,
Nimm sie denn hin die Jamben mein,
Als eine Frucht der Geistesfrüchte,
Als Probe meiner Kunstgeschichte,
Als Freundesgab‘; drum sage frei,
Was drüber deine Ansicht sei?
Ob sie dir ohne Tadel scheinen?
Ob ich gefehlt in meinen Reimen?
Ob schön und wahr gesprochen ich?
Wohlan denn, Freund, sag‘ an und sprich!

Aus dem Ritu Sanhara: Die Jahreszeiten

Grischina (Der Sommer)
Der Eber Rudel schnauft den Weihern zu,
Und in den dicken Wust von Kot und Schlamm
Die Rüssel tauchend wühlen sie den Grund —
Sie suchen nichts als Rettung vor dem Brand,
Der aus der Sonne golden flammend strahlt;
So mächtig sengt am Mittag ihre Kraft.
Den Teich voll toter Fische floh der Storch,
Und wild sich drängend in der Wut der Flucht
Zerstampfte ihn ein Elefantenschwarm.
Der weite Teich ist nun ein Pfuhl von Schlamm,
Die Wasserlilien, ihrem zarten Schoß
Entrissen, liegen rings zerfetzt umhergestreut.

Varscha (Die Regenzeit)

Im Wald die Elefanten packt die Wut,
Vernehmen sie der Wolken Donnerton,
Sie brüllen kreischend, ihrer Zähne Weiß,
Wie fleckenloser Lotos glänzend sonst
Bedeckt der Saft der Brunst, der niederfließt.
Und Bienen wolkenhaft umschwärmen ihn.
Die bunten Pfauen treibt ein heißer Drang,
Sich zu begatten — Bienen schwärmen nur
Um ihrer Schweife Blumenräder her;
Und ob sie nutzlos küssen jedes Aug,
Sie lassen doch den Pfauen keine Rast —
Die scharen sich und steigen auf zum Tanz.

Sarad (Der Herbst)

Die Taucherenten plätschern durch das Glas
Der klaren Flüsse, an den Ufern stelzt
Der Kranich langsam, und das Wasser strahlt
Des Lotus Farben reizender zurück;
Vom Wind getragen kommt der Sang des Schwans,
Und Lust und Liebe füllen jedes Herz.

Der Frauen schlanke Anmut ist doch nicht
So leicht wie des Flamingos Schritt am Teich,
Der zarte Mond senkt sein besiegtes Haupt
Erbleichend vor Nymphäen-Blütenschnee,
Das schönste AU<J ist nicht wie Lotus schön,
Kein Liebesblick wie Wellenlächeln süß.

Hemanta (Der Winter)

Das Land umher, erfüllt von reifem Reis,
Die Antilopen, weidend durch das Tal,
Der Schnepfen Streichen Klagen durch die Luft —
Zu sanfter Sehnsucht stimmt es jedes Herz.

Vasanta (Der Frühling)

Erhebt der Kokila den süßen Sang,
Trübt rauher Männer Wort ein Liebeston,
Die Mädchenkinder in den Kammern selbst,
Sie spüren jetzt: Und blühen nicht auch wir?

Berauscht vom Honig sät im Mangobaum
Der Kuckuck Küsse auf die Blüten nieder.
Die Bienen überm Lotos summen schwärmend
Und taumeln trunken tief in den Geliebten.

(Deutsch von Otto Fischer)

Rabindranath Tagore, Mitgefühl

Wenn ich nur ein kleines Hündchen wäre, nicht dein Kindchen, Mutter lieb, würdest du „Nein“ zu mir sagen, wenn ich es wagte, von deiner Schüssel zu essen?

Würdest du mich wegjagen, zu mir sagend: „Mach dich fort, du garstiges, kleines Hündchen?“

Dann geh, Mutter, geh! Ich will nie mehr zu dir kommen, wenn du mich rufst, und mich nicht mehr von dir füttern lassen.

Wenn ich nur ein kleiner grüner Papagei wäre und nicht dein Kindchen, Mutter lieb, würdest du mich an der Kette halten, damit ich nicht wegfliegen kann?

Würdest du mir mit dem Finger drohen und sagen: „Was für ein undank­barer Racker von einem Vogel! Er knabbert an seiner Kette Tag und Nacht?“

Dann geh, Mutter, geh! Ich will fortlaufen in den Wald; ich will nicht mehr, daß du mich wieder in deine Arme nimmst.

(Deutsch von Hans Effenberger)

ARABIEN UND DIE TÜRKEI

„Tausend und eine Nacht“: Der König Sindbad und sein Falke

„Man erzählt, daß einmal ein König in Persien lebte, der das Vergnügen und die Erholung, die Jagd und den Fang liebte und einen Falken hatte, den er selber aufgezogen hatte und von dem er sich weder bei Nacht noch bei Tage trennen konnte, so daß er die Nacht über mit dem Falken auf der Hand schlief. Ging er aber auf die Jagd, so nahm er den Falken mit und ließ ihn am Halse einen goldenen Napf tragen, aus welchem er ihm zu trinken gab. Eines Tages nun trat der Oberstfalkonier wieder an den König heran und sprach: „0 König der Zeit, dies ist die Stunde um auf die Jagd zu gehen.“ Der König machte sich bereit, nahm den Falken auf die Hand und ritt mit ihnen aus, bis sie in ein Tal gelangten, wo sie das Netz aufstellten. Nicht lange währte es, da fiel auch schon eine Gazelle ins Netz, und der König rief: „Jeden, der die Gazelle entwischen läßt, den köpfe ich.“ Als sie nun die Fangstricke immer enger und enger um die Gazelle zogen, kam sie plötzlich auf den König zu und stellte sich auf die Hinterfüße, während sie die Vorderfüße auf ihre Brust legte, als ob sie die Erde vor dem König küssen wollte. Wie nun aber der König sein Haupt vor ihr neigte, setzte sie plötzlich über seinen Kopf hinweg und sprang fort ins offene Feld. Als der König sich darauf zu seinem Gefolge um­wandte, sah er wie sie einander zublinzten; er fragte deshalb seinen Wesir: „Was wollen die Leute damit sagen?“ Der Wesir antwortete: „Sie deuten da­mit auf dein Wort hin, daß jeder, der die Gazelle entwischen läßt, geköpft werden soll.“ Der König erwiderte: „Bei meinem Kopf, ich setze ihr so lange nach, bis ich mit ihr zurückkomme!“ Darauf setzte er der Spur der Gazelle nach und verfolgte sie in einem fort, während der Falke ihr mit den Flügeln so lange auf die Augen schlug, bis er sie geblendet hatte, und sie schwindlig wurde, worauf der König sie mit seiner Eisenkeule niederschlug. Darauf stieg er ab, durchschnitt ihr die Kehle, zog ihr das Fell ab, und hängte sie an den Sattelknopf. Es war nun aber heiß geworden, der Ort wüst und ohne Wasser, und der König und sein Roß durstig. Da erblickte er beim Suchen nach Wasser einen Baum, von welchem eine fettige Flüssigkeit niedertropfte; der König, der Handschuhe trug, nahm deshalb den Napf vom Hals des Falken, ließ ihn von jener Flüssigkeit volllaufen und stellte ihn vor sich; da kam der Falke her­angeflogen und stieß den Napf mit dem Flügel um. Der König nahm den Napf zum zweitenmal, ließ ihn volllaufen und stellte ihn, im Glauben daß der Falke durstig sei, vor ihn hin, aber der Falke stieß ihn zum zweitenmal mit dem Flügel um. Ergrimmt über den Falken nahm er den Napf zum drittenmal und setzte ihn seinem Pferd vor, aber der Falke stürzte ihn zum drittenmal mit den Flügeln um. Da rief der König: „Gott straf dich, Unglücksvogel! Du hast mich, dich und das Pferd am Trinken verhindert“, zog sein Schwert und hieb ihm die Flügel ab; der Falke aber hob seinen Kopf, um ihm dadurch zu verstehen zu geben: „Sieh‘, was oben auf dem Baume ist.“ Als der König nun seine Augen erhob, sah er auf dem Baum eine Schlange, deren Gift nieder­tropfte, und bereute es, dem Falken die Flügel abgeschlagen zu haben. Hier­auf stieg er wieder aufs Pferd und ritt mit der Gazelle an den alten Platz zu­rück; dort angelangt übergab er die Gazelle dem Koch und befahl ihm: „Nimm und brate sie!“ Dann setzte er sich auf seinen Stuhl mit dem Falken auf der Hand; der Falke aber schrie plötzlich auf und fiel tot zu Boden; und der König klagte laut vor Kummer und Schmerz; daß er den Falken, der ihn vor dem Verderben gerettet, getötet hatte.

„Tausend und eine Nacht“: Geschichte des dritten Scheichs mit dem Maultier

0 Sultan und Oberhaupt der Dschan, dieses Maultier hier ist mein Weib. Ich mußte einmal verreisen und blieb ein ganzes Jahr von ihr fort. Als ich dann des Nachts zu ihr heimkehrte, fand ich bei ihr einen schwarzen Sklaven im Bett, mit dem sie plauderte, koste, lachte, sich küßte und schäkerte. Sobald sie aber meiner ansichtig ward, sprang sie auf, ergriff einen Wasserkrug und besprach ihn; dann stürzte sie sich auf mich und besprengte mich, indem sie dabei sprach: „Verlaß diese deine Gestalt und nimm die Gestalt eines Hundes an!“ Sogleich ward ich ein Hund und wurde von ihr zum Hause hinausgejagt. Ich lief aus der Tür in einem fort, bis ich zu einem Fleischerladen kam; an den sprang ich heran und fraß von den Knochen. Als mich der Besitzer des Ladens sah, packte er mich und nahm mich mit sich ins Haus. Wie mich nun seine Tochter erblickte, verschleierte sie ihr Gesicht vor mir und sagte: „Bringst du uns einen fremden Mann ins Haus?“ Ihr Vater fragte: „Wo ist der Mann?“ Sie antwortete: „Dieser Hund ist ein Mann, den seine Frau verzaubert hat, doch kann ich ihn erlösen.“ Da bat sie ihr Vater: „Um Gott, meine Tochter, erlöse ihn!“ Sie nahm nun einen Wasserkrug, besprach ihn und besprengte mich aus ihm mit einigen Tropfen Wasser, indem sie dazu sprach: „Verlaß diese deine Gestalt und nimm wieder deine frühere Gestalt an!“ Da erhielt ich wieder meine frühere Gestalt; ich küßte ihr die Hand und bat sie, mein Weib zu verzaubern, wie es »mich verzaubert hatte. Sie gab mir darauf ein wenig von dem Wasser und sagte zu mir: „Wenn du sie schlafen siehst, so besprenge sie mit dem Wasser; sie wird dann die Gestalt, die du wünschest, annehmen.“ Da ich sie noch schlafend vorfand, besprengte ich sie mit dem Wasser und sprach: „Verlaß deine Gestalt und nimm die Gestalt eines Maul­tiers an!“ worauf sie sogleich ein Maultier ward, — dasselbe, welches du hier mit deinen eigenen Augen siehst, o Sultan und Oberhaupt der Könige der Dschän.

Tuti-Nameh, Geschichte des Affen Zeirek und des Schloß­vogtsohns

Wie in alten Büchern überliefert wird, lebte einst ein junger Affe namens Zeirek, der sich als Wohnstätte ein Schloß erkoren hatte. Daselbst befreundete er sich mit dem Sohne des Schloßvogts; beide besuchten einander fast täglich und spielten häufig miteinander Schach, bei welcher Gelegenheit sie sich dann bald zu entzweien und bald wieder zu versöhnen pflegten.

Nun hatte Zeireks Vater einen Freund, der ein äußerst verständiger und ge­lehrter Affe war; dieser suchte den Zeirek von dem Umgange durch weise Ratschläge abzuhalten, indem er sagte: „Ach Zeirek, wir gehören nicht zu denen, welche mit den Menschen in Genossenschaft treten können. Sucht ein Mensch den Umgang von unsersgleichen, so tut er dies nicht aus Liebe zu uns, sondern um uns zum Narren zu haben und sich über uns zu belustigen; eine zuverlässige Freundschaft hegen die Menschen für uns im Herzen nie. Für den Augenblick mag der Sohn des Schloßvogts wohl mit dir freundlich verfahren und dich vor den Quälereien der Leute schützen; da aber unter euch keine Art Gemeinschaft besteht, so ist eure Freundschaft nicht essentiell, sondern nur akzidentiell, und wird bald in Feindschaft umschlagen. Daß Freundschaft einen solchen Ausgang nimmt, ist gar nichts Seltenes, und wenn dann die Feindschaft da ist, da kannst du dich aus den Krallen seiner Unge­rechtigkeit nicht mehr retten. Du solltest also, bevor das Unglück über dich kommt, ihm vorzubeugen bedacht sein. Denn das gegenwärtige Unglück abzuwehren, ist schwer. Mit einem Worte, ich rate dir, von dem Umgange mit dem Schloßvogtsohne abzustehen.“

Diesen wohlgemeinten Rat nahm sich Zeirek nicht zu Herzen, vielmehr setzte er den Umgang und den Spielverkehr fort. Es heißt ja auch: „Wo das Unglück kommen soll, da ist das Auge blind.“

Nach Gottes Ratschluß gab der Schloßvogtsohn einmal ein Gastmahl, zu welchem er alle seine Freunde einlud. Als die jungen Leute sich versammelt hatten und die Unterhaltung sich belebte, wurde ein Schachbrett aufgestellt, und der Schloßvogtsohn machte sich nun mit Zeirek daran, eine Partie nach der andern zu spielen. Es war aber von jeher unter ihnen Sitte gewesen, daß, wenn der Schloßvogtsohn gewann, er den Zeirek in scherzhafter Weise neckte und daß umgekehrt, wenn Zeirek gewann, er den Schloßvogtsohn zum besten hatte, wie Spielgenossen zu tun pflegen. An jenem Tage gewann nun Zeirek gegen den Schloßvogtsohn und fing dann wie gewöhnlich an, ihn zum besten zu haben. Da er es aber mit seinen Spaßen etwas weit trieb, so wurde sein Gegner sehr zornig, und sich schämend, daß im Beisein seiner Freunde ein so gemeines Wesen wie ein Affe ihn zum besten gehabt, ergriff er in der Auf­wallung den elfenbeinernen König und schlug damit dem armen Zeirek so stark auf den Kopf, daß dieser sich spaltete und vom herabströmenden Blute das Schachbrett rubinrot wurde. Darüber erbittert, gedachte nun auch Zeirek der alten Freundschaft nicht mehr, sondern sprang dem Schloßvogtsohn ins Gesicht und verwundete ihn mit Bissen. Dann aber wartete er nicht, bis man etwa riefe: „Heda, haltet ihn!“ — sondern er verließ eilig die Gesellschaft und flüchtete sich auf eine Stelle im Schlosse,- die ihm Sicherheit bot.

Den Schloßvogtsohn aber schmerzte und brannte seine Wunde von Tag zu Tag mehr; alle Mittel, die man anwandte, waren vergeblich, sie wurde immer ärger, bis endlich ein geschickter Arzt aus Griechenland kam, der, nachdem er den Schaden gesehen, sagte: „Diese Wunde ist unheilbar, wofern man sie nicht mit einem Pflaster von dem Blute desselben Affen, der sie ge­bissen hat, belegt.“

Der Schloßvogtsohn befahl nun, das Schloß von allen Seiten zu umstellen und den armen Zeirek zu fangen. Nachdem dies geschehen, führte man ihn auf den Richtplatz und enthauptete ihn daselbst; aus seinem Blute aber be­reitete der Arzt sein Zaubermittel und legte es dem Schloßvogtsohne auf, welcher nach Gottes Willen dadurch seine Genesung fand. Der unglückliche Zeirek verlor also durch den Umgang mit einem artverschiedenen Wesen sein Leben.

Tuti-Nameh, Moses und der Habicht

Eines Tages kam eine Taube hastigen Fluges zu Moses, dem großen Prophe­ten, den sie anflehte: „Gnade, o Prophet Gottes! Mich verfolgt ein Wüterich, rette mich vor ihm!“ — Moses gewährte dem geängstigten Tiere eine Frei­statt, indem er es sogleich unter sein Gewand nahm. Da kam der Habicht hinterdrein geflogen und redete den Propheten an: „0 Moses, mich quält des Hungers Wut — nach Nahrung verlang ich samt meiner Brut — da du mir meinen Fraß raubst, begehst du gegen mich ein großes Unrecht.“ — „0 Habicht“, antwortete Moses, „verlangst du von mir diese Taube oder nur im allgemeinen deine Nahrung? Im ersteren Falle muß ich dir sagen, daß dies unschuldige Tier sich in meinen Schutz begeben hat und daß ich unter keiner Bedingung in seinen Tod willigen kann. Im anderen Falle aber will ich mich bemühen, dich nicht leer heimkehren zu lassen.“

Als der Habicht geantwortet hatte, daß er nur irgendeine Art von Nahrung verlange, da schnitt Moses von seinen heiligen Gliedern so viel Fleisch ab, als eine Taube wiegt, und war eben im Begriff, es dem Habicht zu überreichen, als dieser zu ihm sprach: „0 Prophet Gottes, ich bin Michael, und was du da als Taube zu sehen glaubst, ist Gabriel. Der Grund, weshalb wir in solcher Gestalt zu dir gekommen sind, ist, deine Großmut und deinen Edelsinn zu prüfen und zu offenbaren.“ — Mit diesen Worten verschwanden sie.

Tuti-Nameh, Der Schakal und das räudige Kamel

Es wurde einmal ein Kamel so räudig, daß vom Schaben das rote Fleisch zum Vorschein gekommen war. Da kein Mittel anschlagen wollte, so ließ der Eigentümer das kranke Tier in die Wüste laufen. Wie es nun allein in der Einöde einherging, erblickte es ein Schakal, der sich eben an einem Mäuse-loche in Hinterhalt gelegt hatte. Alsbald ließ derselbe den Gedanken, die Maus zu fangen, fahren und lief vielmehr dem Kamele nach, welches, so dachte er, ihm zur Beute werden müßte. Seine Genossin aber, das Schakalweibchen, warnte ihn und sprach: „Hab acht, daß dir nicht durch deine Habsucht die schon gewonnene Beute wieder durch die Finger schlüpft! Laß dir an dem geringen Gewinne genügen, sonst möchte, während du dem Großen nach­jagst, das Kleine entrinnen und dir nichts bleiben als Täuschung und Reue. — Ihr antwortete der Schakal: „Nur gemeine Leute begnügen sich mit we­nigem; mir ist ein hoher Sinn beschert worden, und darum kann ich diesen herrlichen Bissen nicht fahren lassen, um mich mit der Mäusejagd zu be­schäftigen. Warum sollte ich mich um nichts und wieder nichts mit so elen­dem Wild begnügen?“

Damit eilte er dem Kamele nach und folgte ihm drei bis vier Tage lang. Aber das Kamel fiel nicht, so daß er, der vorher die sichere Beute fahren ließ, in seiner Hoffnung getäuscht, mit leerer Hand und hungrigem Magen zu seinem Weibchen zurückkehrte. „Siehst du nun?“ fragte ihn dieses, „mit dem dir bestimmten Mahle warst du nicht zufrieden, dafür hast du nun auch ohne Nutzen soviel Elend und Mühsal ausstehen müssen.

Spanisch-arabisch, Auf ein Roß

Ist es ein Roß, das vorüber mir schoß, doch schnell sich ins
Weite verlor,
oder ein blitzgleich zuckendes, flammendes Meteor?
Felsige Pfade begrüßen es froh, wenn hurtig heran es schnaubt.
Auf der Stirne das glänzende Mal hat es dem Morgen geraubt.
Hört es Geräusch, so erschrickt es und glaubt, der Beraubte sehe
ihm nach,
doch zu so hastigem Fluge sind des Frührots Flügel zu schwach.
Weit bleiben die Sterne zurück, wenn es den Lauf beginnt
und nicht holen die Wolken es ein, jagen sie noch so geschwind.
Frage die Winde, wo seines Laufs äußerste Grenzen sein,
Antwort weiß dir nicht einer drauf, als wie die Winde allein.

(Deutsch von Schack)

Mehemed Tewfik, Schwanke des Nassr-ed-din

1.

Der Meister briet eine Gans und trug sie zum Richter. Unterwegs bekam er Hunger und aß die eine Keule der Gans. So brachte er die Gans aufs Gericht und setzte sie samt der Pfanne vor den Richter hin. Der Richter fragte nach dem einen Beine der Gans. Der Meister sprach:
„Unsere Gänse haben nur ein Bein.“
Nun befand sich vor dem Gerichtsgebäude eine Herde Gänse, die alle auf einem Beine standen, und der Meister fuhr fort:
„Wenn Ihr es nicht glaubt, so seht dort.“
Auf Befehl des Richters wurden die Gänse mit großen Stöcken aufgescheucht. Als nun die Gänse auf zwei Beinen vorbei liefen, sprach der Meister zum Richter: „Wenn Ihr diese Stöcke zu kosten bekämt, Ihr würdet vierbeinig werden.“

2.

Man sagte zum verewigten Meister:
„Da läuft eine Gans.“
Er sprach:
„Was geht’s mich an?“
Man sagte: „Sie läuft zu dir.“
Er sprach:
„Was geht’s dich an?“

3.

Der Meister fing einen Storch, schnitt ihm die Beine und den Schnabel ab und sprach:
„So, jetzt siehst du doch wie ein Vogel aus.“

4.

Der Meister stieg eines Tages im Weinberg irgendeines Mannes auf einen Albergenbaum. Der Besitzer des Terrains sah dies und sprach:
„Was machst du da?
Der Meister antwortete:
„Ich bin eine Nachtigall und singe gerade.“
Dabei fing er an zu singen.
Der Herr des Weinbergs sprach:
„Was ist dies für eine Art Singen?“
Darauf sagte der Meister:
„Eine ungelernte Nachtigall singt so.“

5.

Der Meister ging eines Tages und fing einen Hasen. Allein er hatte bis zu diesem Tage noch keinen Hasen gesehen. Da er nicht wußte, was das sei, sprach er bei sich:
„Ich will dieses sonderbare Ding bringen und den Mitbürgern zeigen.“
Dabei steckte er den Hasen in seinen Sack. Die Öffnung des Sackes band er ganz fest zu und brachte ihn nach Hause.
Er sagte zu seiner Frau:
„Ich habe heute auf der Jagd ein merkwürdiges Geschöpf erwischt. Es steckt in diesem Sacke. Hüte dich wohl, ihn zu öffnen! Ich will gehen und die Mitbürger herbeirufen, um es ihnen zu zeigen. Vielleicht wissen sie, was es ist.“
Nach diesen Anordnungen ging er weg.
Die Frau war neugierig, öffnete den Sack, und sogleich entsprang der Hase. Die Frau steckte ein Getreidemaß von zehn Liter Inhalt in den Sack, band ihn wieder zu und ließ ihn stehen.
Der Meister lud den Richter der Stadt, den Bürgermeister und die Spitzen der Behörden ein, und alle kamen in des Meisters Haus, um das Wunder zu sehen.
Der Meister hieß sie alle im Kreise niedersitzen, stellte den Sack in die Mitte, und mit den Worten: „Daß es ja nicht entkommt!“ ließ er alle die Hände hochheben. Als er nun den Sack geöffnet und geschüttelt hatte, da fiel das Getreidemaß heraus. Der Meister wußte vor Staunen nicht, was er sagen sollte, aber die Versammlung sprach:
„Davon gehen zehn auf ein Hektoliter

SÜDSEE

Javanisch, Wie die Tiere zu einem Könige kamen

Tiere kamen einstmals zusammen und wollten einen König wählen und be­rieten über die einzelnen hin und her, welches Tier wohl am geeignetsten zum König sein würde. Das Kantjil hatte aber immer etwas an dem Betreffenden auszusetzen. Das Pferd sei nicht königlich, sondern sklavisch, denn es müsse den Menschen tragen. Der Hund sei auch nicht geeignet, da er für den Men­schen auf die Jagd gehen müsse. Der Ochse erst recht nicht, denn er habe einen Ring durch die Nase und ließe sich daran herumführen. Schließlich wurde denn der Tiger gewählt. Das Kantjil wendete sich hierauf freundlich an den Tiger und sagte: „Wenn du König sein willst und unumschränkt herrschen willst, so mußt du erst deinen Feind töten, der dir sonst die Macht entreißen wird.“ „Wo ist dieser?“ fragte der Tiger, „daß ich ihn töte!“ Da führte das Kantjil ihn an einen tiefen Brunnen und zeigte ihm sein Spiegelbild in der Tiefe und sagte: „Da ist dein Feind!“ Mit zornigem Gebrüll sprang der Tiger auf sein Spiegelbild zu in den Brunnen hinein und ertrank. „Seht, wie töricht euer König war“, sagte das Kantjil zu den Tieren, „wählt euch einen neuen.“ Nun wußten die Tiere gar nicht mehr, wen sie wählen sollten.

Schließlich machte das Kantjil ihnen den Vorschlag, daß derjenige König werden sollte, der einen kleinen Teich an der Küste aussaufen könne. Der Vorschlag wurde angenommen, und das Kantjil führte die Tiere an einen kleinen Teich, der mit dem Meere durch ein Bächlein verbunden war, das von Mangroven verdeckt wurde. Es war grade Flut, und die verschiedenen Bewerber um die Krone tranken sich halb tot, da immer wieder Wasser vom Meere nachströmte. Schließlich gaben es alle Tiere auf, fragten das Kantjil, ob es nicht selbst auch einmal probieren wolle, es weigerte sich aber anfänglich unter allerlei Reden, bis es Ebbe Zeit war, und sagte dann, es wolle mal ver­suchen. Es ging dann auch an den Teich, steckte seine Schnauze hinein, und tat so als ob es tränke. Infolge der Ebbe floß jetzt das Wasser von selbst ins Meer zurück, und als das Kantjil lange genug gewartet hatte, war der Teich leer, und die Tiere, welche glaubten, das Kantjil habe alles allein getrunken, jubelten ihm zu und machten es zum Könige.

(Deutsch von Tauern)

Südseefabel, Der Strandläufer, der Kasuar und die Schildkröte

Eine Schar von Strandläufern segelte einst lustig in ihrem Boote an der Küste entlang, als ein großer dicker Kasuar sie vom Lande her anrief, sie möchten ihn doch auch etwas mitnehmen.

„Das wollen wir gerne tun,“ riefen die Strandläufer zurück, „aber wir haben nichts zu fressen für dich mit an Bord, und fahren dann sehr lange, ohne wieder an Land zu können.“ „Das tut nichts“, sagte der Kasuar, „nehmt mich nur mit!“ Darauf landeten die Strandläufer, und der Kasuar stieg ein. Dann segelten sie wieder weiter und rieten dem Kasuar dringend, ja ruhig zu sitzen, denn er war so groß, daß das Boot beinahe unter seiner Last ver­sank. Schließlich wurde der Kasuar hungrig und verlangte heftig, an Land gesetzt zu werden. Die Strandläufer erinnerten ihn daran, daß sie ihm bereits vorher gesagt hätten, sie hätten nichts zu essen für ihn da und konnten unter keinen Umständen gleich landen.

Schließlich wurde der Kasuar wütend und stampfte mit dem Fuße so auf, daß das Boot zerbrach und unterging. Die Strandläufer flogen fort, der Kasuar aber fiel ins Wasser und wäre beinahe ertrunken, da er nicht fliegen konnte. Im letzten Augenblicke rettete ihn aber noch eine Seeschildkröte, der er einen
Gong dafür versprochen hatte. Der Kasuar sagte darauf zu der Schildkröte: „Warte, ich hole schnell den Gong.“ Er lief in den Wald, und weit von der Schildkröte entfernt, schlug er dröhnend mit dem Bein an einen trockenen Baumstamm. Die Schildkröte glaubte, es sei der Ton von dem versprochenen Gong, lief in den Wald und suchte die Stelle, von wo der Ton kam, da hörte sie, wie der Kasuar in der Ferne wieder an einen Stamm schlug, und lief weiter in den Wald hinein, bis sie sich verlief und den Weg zur Küste nicht wiederfand und elend im Walde verhungern mußte.

(Deutsch von Tauem)

Weka, Die letzte Moa

Es regnete schon seit drei Tagen — regnete, wie es nur in den Bergen Neu­seelands regnen kann. Eine Anzahl Prospektoren saß fröstelnd um das Lager­feuer und rauchte schweigend. Die Unterhaltung war ausgegangen: niemand wußte mehr etwas Neues zu erzählen. Die neblig-nasse Farn- und Felsenlandschaft schien der Phantasie nicht zuträglich zu sein.

Da räusperte sich Dick vielversprechend, und alles blickte ihn fragend und ermunternd an. Es gab kein Ding auf Erden, von dem Dick aus persönlicher Erfahrung nicht etwas wissen wollte. Er war sechzig Jahre alt und alles mög­liche in seinem Leben gewesen: Seemann, Miner, Soldat, Buschmann. Und er kannte Neuseeland durch und durch.

„Ich habe neulich in der Zeitung gelesen,“ begann er, „daß man da unten im Süden irgendwo ein ganzes Skelett von der ausgestorbenen Moa gefunden haben will. Na — ich könnte was von dem ollen Vogel erzählen. Aber Ihr glaubt es mir ja doch nicht!

Und er spuckte verächtlich ins Feuer. Wir fielen übereinander in unserem Eifer, ihn zu versichern, daß seine Glaubwürdigkeit so fest begründet stände wie der Pik Ruapehu, dessen von Wolkenschwaden umhülltes Haupt auf uns niederblickte. Dick schaute sich streng im Kreise um, nachdem die Inspektion zu seiner augen­scheinlichen Befriedigung ausgefallen war, legte er ohne weitere Förmlichkeit los.

„Als ich in den alten Tagen zum ersten Male hier herauskam, setzte auf der Westküste gerade das Goldfieber ein. Ich und ein Freund von mir deser­tierten von einer Bark, die im Hafen von Lyttelton lag und marschierten über Land nach dem Golddistrikt. Es ging uns ziemlich schlecht zuerst, und schließ­lich saßen wir weit hinter den anderen Diggern im Gebirge. Unser Zelt stand auf der Sohle einer großen Schlucht. Hier verdienten wir gutes Geld; aber es war ein ziemlich einsames Leben.

In den ersten Nächten kriegten wir ’nen gehörigen Schrecken. Kurz nach Dunkel kam eine wilde, heulende Art Geräusch aus dem Walde, ähnlich wie ne Dampfsirene im Nebel. Doch da nichts weiter geschah, waren wir bald dran gewöhnt; wir brauchten es sogar als Signal zum Abendessen.

Jedoch, eines Tages arbeiteten wir gerade an einer kleinen Terrasse unten in der Schlucht, als ein Stein, so dick wie der Kopf eines Mannes, aus dem Busch über uns geflogen kam, wie von ’ner Kanone gefeuert; dann kamen noch zwei oder drei hinterher, und dann ein Sechsfuß-Baumstamm, und wir beschlossen, daß es nicht gesund wäre, wo kleine Dinger wie die da umher ­segelten, und kletterten hinauf, um uns die Sache näher anzusehen. Auf einem Absatz etwa fünfzig Meter über uns war der Attentäter — ein mächtiger Vogel, ungefähr zweimal so groß wie ein Strauß. Er kratzte ums liebe Leben, genau wie ein Hahn, und ab und zu pickte er einen Wurm oder eine Raupe auf. „Armer Kerl!“ sagte Jack; „wenn er sich mit solchem Zeug vollzuladen hat, wird’s lange dauern, bis er den ganzen Cargo an Bord hat.

Wir sahen ihn an, und er sah uns an und fuhr fort mit seinem Kratzen; so dachten wir, das Beste ist, ihn allein zu lassen.

Nachdem trafen wir häufig den Riesen, wie er im Flußbett oder im Busch spazieren ging. Er fühlte sich wohl ’n bißchen einsam mit keinem von seines­gleichen umher. Wie er aussah? Nun, so etwa wie die Waldtrappen, die Ihr hier herumlaufen habt, nur hundertmal so groß. Er hatte kleine Stückchen Flügel und einen lächerlich kurzen Schwanz, den er in komischer Weise hoch­tippte bei jedem Schritt den er nahm. Laufen! — beim Himmel, er konnte laufen! Ich sah ihn ’ne Maoriratte jagen eines Tages, und die Ratte hatte nicht ’ne Hoffnung. Er hielt den Kopf nach unten und sauste durch das Ge­büsch und die jungen Bäume wie ein geölter Blitz.

Schließlich besuchte uns der Kerl eines Nachts in unserem Lager, gerade als wir uns hinsetzten zum Abendbrot. Wahrscheinlich waren die Raupen und Würmer etwas rar gewesen an dem Tage, denn er schien scharfen Hunger zu haben. Jack warf ihm eine halbe gebratene Taube hin; er schluckte sie ‚runter wie ’ne Erbse, und dann fing der Spaß an. Er stolzierte geradewegs auf die Zeltöffnung los und begann seinen Angriff auf das übrige Essen. Jack sprang auf und haute ihn mit ’ner Schnippe; aber der verflixte Vogel pflanzte einfach seinen Fuß auf Jacks Brustkasten, und Jack setzte sich mächtig schnell. Dann beteiligte ich mich mit ’nem Beil; aber er gab mir kurzerhand ein paar, daß ich dachte, ich könnte mich auch etwas ausruhen. Er war ein guter Boxer, und kein Irrtum! fraß unsere Tauben ganz, würgte das Aschbrot ‚runter, verschluckte ein Messer, und dann steckte er seinen Schnabel in den heißen Tee. Zieht ihn ziemlich schnell zurück, könnt Ihr glauben! Aber als Jack anfängt zu grinsen und seinen Kopf ’n bißchen hebt, geht das alte Geflügel zu ihm ran und tanzt in drei Sekunden alles Lachen aus ihm ‚raus. Zurück ging er dann und begann das ganze Zelt durchzukramen. Da es unbequem war für ’nen Vogel von seiner Figur, tritt er’s über und fängt an zu scharren wie ein Dampfbagger. Auf mein Wort — das flog nur alles so! Er entdeckte meine Uhr und schluckte sie, und ließ die Kette zum Schnabel raushängen. Dar­auf machte er sich her über einige Konservenbüchsen, und ‚runter gingen die Zweipfunddosen wie Pillen. Aber der Alkohol war sein Ruin— wie bei anderen!

Wir hatten ’nen Tropfen Rum in ’ner langhalsigen Zinnkanne, und als er seinen Kopf darein schob, schmeckte es ihm wohl ganz gut. Jedenfalls be­eilte er sich nicht, den Schnabel wieder ‚rauszuziehen. Als er’s endlich ver­suchte, klammerte sich der Henkel von der Kanne um seinen Hals, und er war blind. Die Sachen flogen schlimmer als je umher; er tanzte um das Feuer und hinein, und er rannte gegen Bäume, bis er merkte, daß es so nicht abging; da wurde er ruhig, drückte die Kanne auf den Boden und begann sie lang­sam loszudrehen. Das war unsere Gelegenheit! Ich rannte hinzu mit dem Beil und erlöste ihn schleunigst von der Kanne; natürlich konnte ich nichts dafür, daß der Kopf dabei flöten ging*. — Na — wir lebten fast einen Monat von dem Vogel. Schmeckte wie Puter, aber etwas wild. Ja — wir kriegten die Konservenbüchsen und die Uhr wieder ‚raus; und noch dazu ungefähr fünfzehn Unzen Goldkörner, die im Magen liegen geblieben waren. — Weshalb wir ihn nicht in die Stadt nahmen und verkauften? Weil wir Neulinge waren damals und keine Ahnung hatten, daß Moas nicht so häufig sind wie Mosquitos!“

(Deutsch von Stefan v. Kotze)

AFRIKA

Suahelisch, Lied des Liongo

Ich schwör es beim allmächt’gen Gott, bei ihm zu schwören ist ein Eid;
Wer freundlich sich zu mir gesellt, den will ich lieben jederzeit;
Doch wenn mein Bruder mich verletzt, und tut er mir das kleinste Leid,
Dem jungen Falken bin ich gleich, der niederstößt eh‘ man’s geglaubt,
Dem bösen Vogel, der ein Stück auch mitten aus der Herde raubt.
Bei Gott gebunden bin ich wohl und doch der echten Größe Bild,
Schwarz bin ich wohl, doch bin ich weiß, sobald es meine Ehre gilt,
Mit bleichem Schrecken flieht der Feind, wenn ihn mein droh’ndes Auge schilt.
Ich bin dem jungen Geier gleich, der scheucht des Wil¬des Scharen fort,
Das in tiefen Tälern grast und auf den wald’gen Hügeln dort.

So tut ein Tier in seiner Not, wenn Unheil sich zusammenzieht.
Dort in der Wüste wenn’s umher die Überzahl der Feinde sieht.
Es schlägt dem Feind den Schädel ein und bricht den Hals dem Störenfried.
So flog‘ auch ich dem Adler gleich als König gern hin¬auf zum Licht.
Denn alle Tiere sind sein Raub, der Löwe selbst entgeht ihm nicht.

In Stücken schlug‘ ich alle sie mit scharfem Messer, mit dem Schwert,
Und du mein Dolch, ich hätte wohl dich auf und ab die Bahn gelehrt,
Und wie der Fels die Woge teilt, hätt‘ ich das Leid mir abge¬wehrt.
Doch ach, die harte Fessel schwer sich mir um beide Füße schmiegt,
Und um den stolzen Nacken mir von Eisen eine Kette liegt.
Weißt du, warum der Löwe brüllt, in jeder Not, in jeder Pein?
Ich sage dir, Erinnerung, das wird der Grund des Brüllens sein.
Den bärt*gen Löwen mein“ ich nicht, nicht das geschwänzte
Vierbein, nein — Der große Löwe kämpft ums Recht, um seiner Ehre
Glanz er ficht, Und niemals läßt er ab vom Kampf, bis ihm im Tod
das Auge bricht.

(Deutsch von Carl Meinhof)

Duala, Die Entstehung des Menschen

„Als Gott die Welt schuf, da fand er drei Dinge vor auf der Erde, einen Dorobo (Mitglied eines verachteten Jägerstammes), einen Elefanten und eine Schlange, die zusammen lebten. Mit der Zeit bekam der Dorobo eine Kuh. Eines Tages sagte der Dorobo zu der Schlange: „Mein Freund, warum juckt mich mein Körper so, daß ich mich immer kratzen muß, wenn du mich an­bläst.“ Die Schlange sagte: „Ach mein Vater, ich blase meinen schlimmen Atem ja nicht absichtlich auf dich.“ Der Dorobo schwieg, aber am Abend nahm er seine Keule und schlug die Schlange tot.

Am Morgen fragte der Elefant ihn, wo der „Dünne“ geblieben wäre. Der Dorobo sagte, er wüßte es nicht, aber der Elefant merkte, daß er die Schlange totgeschlagen hatte, und daß er es nicht eingestehen wollte.

In der Nacht kam ein schwerer Regen, und der Dorobo konnte seine Kuh weiden und tränken. Sie blieben da lange, und zuletzt warf der Elefant ein Junges. Schließlich trockneten aber alle Pfützen aus bis auf eine. Nun pflegte der Elefant hinzugehen und Gras zu fressen, und wenn er satt war, ging er zu der Pfütze, legte sich ins Wasser und rührte es auf, so daß der Dorobo das Wasser morastig fand, wenn er seine Kuh hintrieb.

Da machte der Dorobo eines Tages einen Pfeil und schoß den Elefanten und tötete ihn. Der junge Elefant zog dann in ein anderes Land. Er sagte: „Der Dorobo ist schlecht, ich will nicht länger bei ihm bleiben. Erst hat er die Schlange getötet, und nun hat er meine Mutter getötet. Ich will weggehen und nicht mehr bei ihm leben.“

Bei seiner Ankunft in einem anderen Lande traf er einen Masai, der ihn fragte, wo er herkäme. Der junge Elefant sagte: „Ich komme vom Haus des Dorobo. Er lebt an der anderen Seite des Waldes, und er hat die Schlange und meine Mutter getötet.“ Der Masai fragte: „Ist das wahr, daß da ein Dorobo ist, der deine Mutter und die Schlange getötet hat?“ Als ihm das bestätigt wurde, sagte er: „Wir wollen da hingehen, ich möchte ihn sehen.“ Sie gingen und fanden die Hütte des Dorobo, die Gott umgekehrt hatte, und deren Tür zum Himmel gerichtet war. Da rief Gott den Dorobo und sagte zu ihm: „Ich wünsche, daß du morgen früh kommst, denn ich habe etwas mit dir zu reden.“ Der Maali hörte es, und am Morgen kam er und sagte zu Gott: „Ich bin ge­kommen.“ Gott befahl ihm eine Axt zu nehmen und in drei Tagen einen Kraal zu bauen. Als er fertig war, mußte er gehen und ein mageres Kalb suchen, das er im Walde finden sollte. Das mußte er zum Kraal bringen und schlach­ten. Das Fleisch mußte in dem Fell aufgebunden werden und durfte nicht ge­gessen werden. Das Fell mußte außerhalb der Tür der Hütte angebunden werden. Er mußte Feuerholz holen, ein großes Feuer anzünden und das Fleisch hineinwerfen. Dann sollte er in die Hütte hineingehen und nicht erschrecken, wenn er draußen einen großen Lärm wie Dorfner hörte. Der Masai tat, was er sollte. Da ließ Gott einen Streifen Leder vom Himmel herabkommen, ge­rade über der Kalbshaut. Mit einmal fing Vieh an allmählich herabzusteigen an dem Lederstreifen, bis der ganze Kraal voll war. Die Tiere fingen an sich zu drängen und stürzten die Hütte um, in der der Masai war. Der Masai erschrak und stieß einen Ruf der Überraschung aus. Er ging dann aus der Hütte her­aus und fand, daß der Lederstreifen durchschnitten war, und daß kein Vieh mehr vom Himmel herab kam. Gott fragte ihn, ob das Vieh genug wäre, denn mehr bekäme er nicht, weil er sich erschrocken hätte. Der Masai war zu­frieden, ging weg und hütete das Vieh, das er bekommen hatte. Der Dorobo bekam kein Vieh und war seitdem darauf angewiesen, sich Wild zu schießen. Heute noch, wenn Vieh im Besitz von Bantustämmen gefunden wird, nimmt man an, daß sie es gestohlen oder gefunden haben, und die Masai sagen: „Das ist unser Vieh, laßt uns gehen und es nehmen, denn Gott hat uns ursprünglich alles Vieh auf Erden gegeben.“

(Deutsch von Carl Meinhof)

Ludwig Knapp, Lied eines Negers

Wenn ich von des Todes Schlaf umfangen bin.
Sollt ihr mich bei euern Hütten nicht begraben,
Stellet mir kein scharlachrotes Holzbild hin,
Wollet nimmer meinen Geist mit Opfern laben!

Laßt, ihr jungen Mädchen, euer Tanzen,
Laßt, ihr alten Mütter, euer Heulen,
Euer Stöhnen und entsetzlich Klagen,
Euer Brüsteschlagen!

Kampfesfreunde, schwingt nicht eure Lanzen!
Krieger, werft nicht eure Keulen!
Denn ihr alle, meines Volks Genossen,
Eh ein kurzer Mond verflossen,
Habt ihr mich vergessen.

Aber fern von euern lauten Hütten
An des palmgezierten breiten Stromes Rand
Sollt ihr aus dem weißen Ufersand
Meinen Hügel schütten.

Siehe da! die Wasservögel, sieh! die grünen, roten, blauen,
Fliegen klagend her, mein Grab zu schauen,
Ferneher aus grünen Hainen
Und die Frösche seufzen unermessen.
Ja, ihr treuen Wasservögel und ihr Frösche
Werdet nimmer mich vergessen,
Werdet ewig mich beweinen.

SPANIEN

Th. A. Gonzaga, Mariliens Papagei

Ach, warum denn bist du traurig?
Wärest froh sonst ohne gleichen;
bist du plötzlich stumm geworden,
mein geliebtes Papageichen?

So vergaßest du die Verse,
Blondchen, die ich schön dich lehrte,
daß ich, wie mich selbst belauschend,
wenn du sprachst, mich zu dir kehrte?

Früher klang mir froh entgegen
jener so geliebte Name;
bist du krank und schweigst vor Schmerzen,
oder quälst du dich mit Grame?

Willst du heim zum Waldgebüsche,
willst begrüßen die Genossen?
Frei bekenne, was dir fehle!
Bist so mürrisch und verdrossen.

Kost dich nicht genug die Herrin?
Und verwehrt dir gar Genüsse?
Sagt sie nichts, wenn du sie anrufst,
und empfängt nicht deine Küsse?

Ach, ich weiß, ich weiß es, Liebchen!
Weil du jetzt mich siehst in Trauer,
sitzest du so still und schweigsam
und betrübt in deinem Bauer.

Warte nur, vielleicht in Bälde
werd‘ ich dir wie sonst erscheinen;
ach, man kann nicht immer singen,
und man soll nicht immer weinen!

(Deutsch von W. Storck)

ITALIEN

Von dem hochheiligen Wunder, das St. Franziskus tat, als er den grimmigen Wolf von Agobio bekehrte

Zu der Zeit, als der heilige Franziskus in der Stadt Agobio weilte, erschien im Lande ein ungeheurer Wolf, schrecklich und wild, der nicht nur die Tiere, sondern auch die Menschen fraß, Daher waren die Bürger in großer Angst; denn er näherte sich des öfteren der Stadt; und alle gingen in Waffen, wenn sie die Stadt verließen, als zögen sie zur Schlacht. Aber sie konnten sich mit alledem seiner nicht erwehren, wenn er einen allein traf; und aus Angst vor diesem Wolf kam es so weit, daß es keinen gelüstete, aus den Mauem herauszugehn.

Aus diesem Grunde wollte sich der heilige Franziskus, dem die Leute des Orts leid taten, zu diesem Wolf aufmachen, obwohl die Städter ihm abrieten. Er aber machte das Zeichen des heiligen Kreuzes und ging, sein ganzes Ver­trauen auf Gott setzend, mit seinen Gefährten zur Stadt hinaus. Und als die anderen Bedenken trugen weiterzugehen, nahm Franziskus allein seinen Weg dem Orte zu, wo der Wolf hauste.

Und siehe! Im Angesichte vieler Bürger, die hinausgeeilt waren, dieses Wunder zu sehen, kam der Wolf mit offenem Rachen auf den heiligen Fran­ziskus los. Bei seinem Nahen machte St. Franziskus das Zeichen des Kreuzes gegen ihn, rief ihn zu sich heran und sprach zu ihm also: „Komm hierher, Bruder Wolf; ich gebiete dir im Namen Christi, daß du nichts Böses tuest, weder mir noch irgendeinem.“ Und, o Wunder! Kaum hatte St. Franziskus das Kreuz geschlagen, als der schreckliche Wolf den Rachen schloß und in seinem Lauf anhielt; und auf das Geheiß kam er sanftmütig wie ein Lamm heran und legte sich still zu des heiligen Franziskus Füßen.

Da sprach St. Franziskus also zu ihm: „Bruder Wolf, du richtest viel Un­heil an hierherum und hast große Missetaten verübt, indem du ohne Gottes Erlaubnis seine Kreaturen verdarbest und tötetest; nicht allein, daß du die Tiere umgebracht und gefressen hast, sondern du hast die Dreistigkeit gehabt, Menschen, nach Gottes Bilde geschaffen, zu vernichten. Dadurch bist du des Galgens schuldig wie der schändlichste Räuber und Mörder; jedermann schreit und murrt gegen dich, und das ganze Land hast du zum Feinde. Ich aber will, Bruder Wolf, Frieden machen zwischen dir und ihnen; dergestalt, daß du ihnen kein Leid mehr zufügst, sie aber dich aller vergangenen Misse­tat entlassen und weder Menschen noch Hunde dich fürder verfolgen sollen.‘

Nach diesen Worten bezeugte der Wolf mit Bewegungen seines Leibes und des Schwanzes, mit Blicken und Neigen des Kopfes, daß er das annehme, was St. Franziskus sagte, und es halten wolle. Darauf begann St. Franziskus von neuem: „Bruder Wolf, dieweil es dir gefällt, diesen Frieden einzugehen und zu halten, so verspreche ich, dir für immer, solange du lebst, von den Einwohnern dieses Landes deine Kost zukommen zu lassen, so daß du nicht mehr Hunger leiden wirst; denn ich weiß wohl, daß du aus Hunger alles Böse getan hast. Doch weil ich für dich diese Gnade erwirke, so will ich, Bruder Wolf, daß du auch mir versprechest, weder Mensch noch Tier einen Schaden zu tun; versprichst du mir das?“ Und der Wolf gab durch Neigen des Kopfes offensichtlich kund, daß er es verspreche. St. Franziskus aber sagte: „Bruder Wolf, ich will, daß du auf dieses Versprechen den Handschlag verpfändest, damit ich darauf vertrauen kann.“ Und da St. Franziskus seine Hand aus­streckte, um das Pfand entgegenzunehmen, hob der Wolf seine rechte Tatze stracks empor und legte sie artig in die Hand des heiligen Franziskus, indem er ihm so das Treupfand gab, das er vermochte. Darauf sagte St. Franziskus: „Bruder Wolf, ich befehle dir im Namen Jesu Christi, daß du mit mir kommst, ohne Zaudern; und wir wollen gehen, diesen Frieden im Namen Gottes zu be­kräftigen.“ Und der Wolf ging gehorsam mit ihm wie ein sanftmütiges Lamm.

Als das die Bürger sahen, waren sie darüber aufs höchste verwundert. So­fort wußte man die Neuigkeit in der ganzen Stadt, daher alles Volk, Mann und Weib, groß und klein, jung und alt zum Marktplatz zog, um den Wolf mit St. Franziskus zu sehen. Da nun alles Volk versammelt war, erhob sich der heilige Franziskus, ihnen zu predigen, und sagte unter anderem, wie Gott solche Dinge und Heimsuchungen um ihrer Sünden willen zulasse; und wie­viel entsetzlicher das Feuer der Hölle sei, das für die Verdammten ewig währe, als der Grimm des Wolfes, der nur den Leib zu töten vermöge. Wie sei da der Rachen der Hölle zu fürchten, wenn eines kleinen Tieres Rachen eine solche Menge in Angst und Zittern halte! „Kehret euch also, ihr Lieben, zu Gott und tut gerechte Buße wegen eurer Sünden; und Gott wird euch befreien von dem Wolf in diesem und von dem Feuer der Hölle im künftigen Leben.“

Als St. Franziskus die Predigt geendet hatte, sagte er: „Hört, meine Brüder; der Bruder Wolf, welcher vor euch steht, hat mir versprochen und sein Wort verpfändet, mit euch Frieden zu halten und euch kein Leid zu tun in keinerlei Weise; ihr aber versprecht, ihm täglich das zu geben, dessen er bedarf. Und ich stelle mich als Bürgen für ihn, daß er diesen Pakt des Friedens unver­brüchlich halten wird.“

Darauf versprach das ganze Volk einstimmig, ihn regelmäßig zu verpflegen. Da sagte St. Franziskus vor allem Volk zum Wolfe: „Und du, Bruder Wolf, versprichst du ihnen den Frieden zu halten derart, daß du kein Leid tust, weder an Mensch noch Tier noch an irgendeiner Kreatur?“ Und der Wolf ließ sich auf die Kniee und senkte den Kopf; und mit sanften Bewegungen des Körpers, des Schwanzes und der Ohren bezeugte er, so gut es ging, daß er ihnen alles Punkt für Punkt halten wolle. Darauf St. Franziskus: „Bruder Wolf, wie du mir vor dem Tore ein Treupfand für dein Versprechen gabst, so will ich, daß du es auch vor allem Volke tuest und daß du mich um mein Versprechen und der Bürgschaft, die ich für dich geleistet habe, nicht zu-schanden kommen lassest.“ Darauf hob der Wolf die Tatze und legte sie in die Hand des heiligen Franziskus.

Hierüber und über die oben beschriebenen Begebenheiten war eine solche Fröhlichkeit und Verwunderung im ganzen Volk erwacht, sowohl wegen der Gottgefälligkeit des Heiligen als wegen der Neuheit des Wunders und des Friedens mit dem Wolf, daß alle begannen, zum Himmel zu rufen mit Lob und Preis für Gott, daß er ihnen den heiligen Franziskus gesandt, der sie kraft seines Verdienstes von dem Rachen des wilden Untiers erlöst hatte.

Danach lebte der Wolf noch zwei Jahre in Agobio; er ging artig von Tür zu Tür, ohne jemand ein Leid zu tun und ohne von jemand ein solches zu leiden, und wurde freundlich von den Leuten gefüttert; und wenn er so im Freien oder in den Häusern umherlief, geschah es niemals, daß ihm ein Hund nachbellte. Am Ende, nach zwei Jahren, starb Bruder Wolf vor Alter. Dar­über betrübten sich die Bürger sehr; denn wenn sie ihn so sanftmütig durch die Stadt wandern sahen, erinnerten sie sich umso lebhafter der Tugend und der Heiligkeit des heiligen Franziskus.

(Deutsch von R. G. Binding)

Wie der heilige Franziskus den Vögeln predigte und den Schwalben Ruhe gebot

Nicht lange nach seiner Bekehrung machte sich nach Gottes Geheiß St. Franziskus auf, im Lande zu predigen. Und er nahm sich zu Gefährten Bruder Masseo und Bruder Agnolo, beides heilige Männer.

Wie sie nun erfüllten Geistes dahinwanderten, ohne auf Weg und Steg zu achten, kamen sie an eine Burg, Savurniano mit Namen. Da begann der heilige Franziskus zu predigen. Zuvor aber gebot er den Schwalben, welche zwit­scherten, sie sollten Ruhe halten, bis er seine Predigt geendet hätte. Und die Schwalben gehorchten ihm. Er aber predigte mit solch hinreißendem Feuer, daß alle Männer und Frauen des Burgfleckens ihm nachfolgten und den Ort verlassen wollten. Doch ließ dies der heilige Franziskus nicht zu, sondern sprach zu ihnen: „Habt es nicht so eilig, hier fortzuziehen; denn ich werde euch aufgeben, was ihr zum Heil eurer Seelen zu tun habt.“ Und seitdem dachte er daran, den dritten Orden zu schaffen zum allgemeinen Heil aller Menschen. So verließ er sie mit seinem Trost und wohlvorbereitet zur Buße, machte sich auf und kam in die Gegend zwischen Cannaio und Bevagno. Wie er so in Inbrunst weiterzog, erhob er seinen Blick und sah auf den Bäumen zur Seite des Weges eine schier unermeßliche Schar von Vögeln sitzen. Dar­über verwunderte er sich und sagte zu seinen Genossen: „Wartet hier am Wege auf mich; ich will meinen Geschwistern, den Vögeln, predigen.“ Und er trat aufs Feld hinaus und begann den Vögeln zu predigen, welche auf der Erde saßen. Aber sogleich kamen die, welche auf den Bäumen saßen, zu ihm her­angeflogen, und alle verharrten unbeweglich, während der heilige Franziskus seine Predigt beendete. Und auch dann flogen sie nicht eher davon, als bis er ihnen seinen Segen erteilt hatte. Er aber wandelte, wie später Bruder Masseo dem Bruder Jakob von Massa erzählte, zwischen ihnen umher und streifte sie mit seiner Kutte, ohne daß sich einer rührte.

Die Predigt aber lautete: „Vögel, ihr meine lieben Geschwister, sehr ver­bunden seid ihr Gott, eurem Schöpfer, und sollt immer und allerorts sein Lob singen. Denn er hat euch die Freiheit gegeben, zu fliegen, wohin ihr wollt, und euch ein doppelt und dreifaches Kleid verliehen; er hat euren Samen in der Arche Noahs bewahrt, daß eurer nicht weniger würden. Dankbar müßt ihr ihm sein für das Element der Luft, das er euch zuwies. Ihr säet nicht und erntet nicht, und Gott ernährt euch doch, gibt euch Flüsse und Quellen, dar­aus zu trinken; gibt euch Berge und Täler zu eurer Zuflucht; hohe Bäume, eure Nester darin zu bauen; und ob ihr auch nicht zu spinnen noch zu nähen wißt, Gott kleidet euch und eure Jungen. Wie sehr also liebt euch euer Schöpfer, daß er euch so viel Gutes erweist? Hütet euch also, ihr meine Geschwister, vor der Sünde der Undankbarkeit und befleißigt euch allezeit, Gott zu loben.“

Bei diesen Worten des heiligen Franziskus begannen alle die Vögel die Schnäbel zu öffnen, die Hälse zu recken, die Flügel zu schlagen und ehrerbietig die Köpfe zur Erde zu neigen, und so mit Gebärden und Gesang zu bezeugen, wie große Freude ihnen der heilige Vater bereitete. An ihnen aber hatte der heilige Franziskus sein Ergötzen und sein Wohlgefallen und sah staunend die Menge der Vögel, ihre schöne Mannigfaltigkeit, ihre Aufmerksamkeit und Zutraulichkeit. Und für das alles pries er in ihnen voll Andacht den Schöpfer. Als schließlich die Predigt zu Ende war, schlug St. Franziskus das Zeichen des Kreuzes über sie und gab ihnen Urlaub, davonzufliegen. Da erhoben sich alle die Vögel in die Luft mit wunderbarem Gesang. Dann teilten sie sich nach den Richtungen des Kreuzes, das Franziskus über sie gemacht, in vier Schwärme; und der eine flog nach Sonnenaufgang, der andere nach Unter­gang, der dritte nach Mittag, der vierte nach Mitternacht. Und jede Schar sang ein wunderbares Lied auf ihrem Fluge. Damit kündeten sie, daß, wie St. Franziskus, der das Kreuz Christi als Banner trug, ihnen gepredigt und über sie das Zeichen des Kreuzes gemacht, nach welchem sie sich in die vier Richtungen der Welt verteilt hatten, also auch die Predigt vom Kreuz, von dem heiligen Franziskus erneut, nun durch ihn und seine Brüder in die ganze Welt getragen werden sollte. Die Brüder aber haben, gleich den Vögeln, nichts zu eigen auf dieser Erde und stellen allein in Gottes Vorsehung ihr Leben.

(Deutsch von R. C. Binding)

Trilussa, Der Hof des Löwen

Der Wildnis König sprach zu seiner Frau:
„Geliebtes Weib, du hältst ja sonst auf Sitte;
Wie kommt es, daß in deiner Damen Mitte
Ich eine ganz gemeine Kuh erschau?
Kann solcher Umgang deinen Glanz erhöhen? —“

„Verzeih“, fiel ihm die Löwin rasch ins Wort,
„Das Rind kam nicht durch mich an diesen Ort
Und ich war froh, es nicht bei mir zu sehen;
Doch ist die Kuh die Freundin eines Stiers,
Der sich in deinem Dienst emporgeschwungen —
Und seinethalben duld‘ ich sie gezwungen.
Du weißt ja gar nicht, wertgeschätzter Mann,
Wie diese Sippe uns noch schaden kann.“

„Ei,“ spricht der Leu, „das sind ja saubre Sachen,
Da muß ich aber gründlich Ordnung machen“ —
Und dekretiert am nächsten Tage schon:
Das Rindvieh bleibt in Zukunft fern dem Thron!
Er übte das Gesetz mit vieler Strenge
Und schloß sich ab von der gehörnten Menge.
So ward sein Hof von aller Schande frei
Und er ist König heut — der Wüstenei.

(Aus dem Italienischen von J. Deutsch)

Der Sperling

Ach seht doch wie der Vogel,
Den man den Sperling nennet,
Von heißer Lieb entbrennet,
Sich in den Lüften wieget!
Und um sein Weibchen flieget
Und flattert hin und her!
So möcht ich Sperlingsweibchen,
Das lang verlassen klagte,
Daß es ein Sperling wagte,
Und flöge zu mir her:
So einer, welcher wüßte,
Was wahre Liebe war!

(Deutsch von Kopisch)

Die Taube

0 Taube, die du flatterst durch die Lüfte,
Nur zwei der Wörter anzuhören bleibe!
Will eine Feder nehmen deinen Flügeln,
Daß einen Brief ich meiner Lieben schreibe.
Ich will mit meinem Blut die Feder netzen.
Mein Herz dann auf den Brief als Siegel setzen:
Und: ist er nun gesiegelt wie geschrieben.
Dann Täubchen, trag ihn hin zu meiner Lieben;
Und findst du sie in süßem Schlummer liegen:
Dann, Täubchen, magst du auch zur Ruhe fliegen.

(Deutsch von Kopisch)

FRANKREICH

Lafontaine, Die Ratte, die sich von der Welt zurückgezogen

Die Levantiner Mähr erzählt
Von einer Ratte, die müd‘ aller Erdensorgen,
Sich einen ries’gen Käs* erwählt,
Drin vor der Welt sie sich verborgen.
Es sah die Klausnerin darin erfüllt ihr Sehnen.
Sie grub mit Pfoten und mit Zähnen,
So daß in kurzer Frist lag in der Klaus‘ umher
Nahrung und Lager schon; was brauchte sie noch mehr?
Sie wurde dick und fett. Gott segnet reich mit Gut
Den, der ihm fromm Gelübde tut.
Bei ihr nun, die so heilig sehr,
Erschienen einmal einge Ratten,
Um ein Almosen sie, ein kleines, anzuflehen;
Sie mußten in die Fremde gehen
Und Hilfe suchen, weil blockiert die Katzen hatten
Die Rattenstadt Ratopolis,
Gezwungen waren sie zu reisen ohne Geld,
Weil sich so arm und rings umstellt
Die Rattenrepublik erwies.
Um wenig baten sie und hofften’s zu erlangen,
Eh vier, fünf Tage noch vergangen.
„0 Freunde,“ sprach die Klausnerin,
„Nichts gehen fürder mich mehr an die ird’schen Dinge;
Was könnt‘ ich Arme und Geringe
Wohl tun für euch, o sagt, worin
Euch beistehn? ich kann nur den Himmel für euch bitten.
Ich hoff er hilft euch auch, wenn ihr genug gelitten.“
Wie sie gesprochen diese Worte
Verschloß die Heil’ge ihre Pforte.

Wen habe mit der Ratte ich
Gemeint? wohl einen Mönch? 0 nein.
Ein Derwisch war es sicherlich,
Ich nehme an, ein Mönch muß stets barmherzig sein.

(Deutsch von Wege)

Lafontaine, Der Kopf und der Schwanz der Schlange

Zwei Teile an der Schlange sind
Gefährlich jedem Menschenkind,
Der Kopf und Schwanz. Die beiden kamen
Zu einem hochberühmten Namen,
Drum bei den Parzen, jenen grimmen.
Doch nun erhoben sie die Stimmen
Im Streite wem es zu sollt‘ stehen,
Voran zu gehen.
Den Kopf sah immer man voran dem Schwänze eilen.
Nun rief der Schwanz zum Himmel klagend
Und also fragend:
„Gelaufen bin ich so und so viel Meilen,
Mich fügend in des Kopfes Streben.
Meint er, daß ich soll stets so unterwürfig leben?
Bescheidner Diener bin ich nur.
Zum Bruder bin ich ihm gegeben,
Nicht, daß ich folge seiner Spur.
Wir beide sind von gleichem Blut,
Behandelt auch uns beide gleich.
Ich trag‘ so gut wie er es tut
Ein Gift in mir, an Schärfe reich.
Drum endlich höre nun mein Flehen,
Gib den Befehl zu meinem Heil,
Daß nun auch ich darf für mein Teil
Voran dem Bruder Kopfe gehen.
Ich will gewiß so gut ihn führen,
Daß niemand Leid soll drum verspüren.“

Recht grausam gütig hat der Himmel es gewährt.
Wenn er nachgiebig ist, bringt oft es große Pein,
Er müßte lieber taub für blinde Wünsche sein.
Hier war er’s nicht. Der nun die Führerschaft begehrt,
Könnt‘ ja am hellen Tage nicht
Sehn den geringsten Schimmer Licht;
Gar bald lief er an einen Mann,
An Bäume und an Felsen an.
Den Bruder führte er grad‘ in die Unterwelt.
Weh jedem Staate, der in solchen Wahn verfällt.

(Deutsch von Wege)

Lafontaine, Die Spinne und die Schwalbe

„0 Jupiter, deß Hirn auf neue Art
Seltsam geheimnisvoll entbunden ward
Von Pallas, die zur Feindin mir gegeben,
Hör‘ meine Klagen einmal nur im Leben!
Progne beraubt der Nahrung mich, sie streicht
Hoch durch die Lüfte, über’s Wasser leicht,
Nimmt mir die Fliegen vor der Türe fort,
Die mein doch wären. Sicher voll und schwer
Mein Netz ohn‘ den verwünschten Vogel war‘
Ich hab‘ es fest gewebt an gutem Ort.“
Also beklagte sich und grollte
Die Spinne, die war aus geschickter Stickerin
Geworden zur Bestrickerin,
Die alle fliegenden Insekten fangen wollte.
Doch beutegierig, trotz des Tierchens Jammer schoß
Die Schwalbe durch die Luft, die Fliegen weg zu fangen
Für ihre Jungen und für sich erbarmungslos.
Denn die gefräß’ge Brut trug stets danach Verlangen.
Mit offnen Schnäbeln und beständig schreiend lagen
Die Kleinen in dem Nest, erbettelnd was sie fand.
Die arme Spinne nur bestand
Aus Kopf und Beinen noch, die kaum mehr angewandt;
Da ward sie selbst auch fortgetragen.
Die Schwalbe streift‘ im Flug herunter das Gewebe,
Dran hing das Tierlein in der Schwebe.

Für jeden Stand ließ Zeus zwei große Tische breiten;
Es sitzen die geschickt und wachsam stark und groß
Am ersten, aber Rester bloß
Gibt’» für die Kleinen an dem zweiten.

(Deutsch von Wege)

Beranger, Die Schwalben

So seh‘ ich Schwalben euch noch einmal wieder,
Feldflücht’ge, wenn der rauhe Winter naht?
So seufzte, von der Ketten Last darnieder
gebeugt, am Strand des Mauren ein Soldat.

Ihr, denen Hoffnung lächelnd nachgezogen
bis hierher, wo zum Pfeile wird das Licht,
gewiß aus Frankreich seid ihr hergeflogen, —
sprecht ihr von meinem Vaterland mir nicht?

Von dem verborgnen Tal, wo ich geboren,
wo unbekannt zu sterben ich gehofft,
hab‘ ich euch um ein frisches Blatt beschworen, —
schon seit drei Jahren bat ich — ach so oft!
Dort, wo der Schmerlenbach sich schlängelnd bieget,
beim Erlenbusch, dort ist’s, am Wasser dicht,
wo heimlich unsre Schaubenhütte lieget, —
sprecht ihr von meinem stillen Tal mir nicht?

Ist eine nicht von euch zur Welt gekommen
am Dach, worunter ich als Säugling schlief?
Dann hat mitleidig sie wohl oft vernommen,
wie mich die arme Mutter sehnend rief:
Sie liegt im Sterben, — hört nicht auf zu wähnen,
sie höre meinen Tritt, — sie lauscht, — sie bricht
getäuscht in Tränen aus, in bitt’re Tränen, —
ihr redet mir von Mutterliebe nicht?

0 sagt mir, ist die Schwester schon vermählet?
Vernahmt ihr unsrer jungen Burschen Lied,
der Gäste Jubelruf? Wen sie gewählet,
ich ahnt* es schon, da ich vom Hause schied.
Und alle die Genossen meiner Siege,
sind sie gekehrt, o stattet mir Bericht,
Sind alle heimgekehret aus dem Kriege? —
Von so viel Freunden redet ihr mir nicht?

Kann sein, schon drängt sich über ihre Leichen
der Fremdling in mein Tal; jetzt wird vielleicht
mein Herz entweiht von fremder Söldner Zeichen,
und meiner Schwester Liebesglück erbleicht,
ach, keine Mutter betet meinethalben! —
Wohin ich bücke — Ketten, nirgends Licht!
Ihr, meines teuern Vaterlandes Schwalben,
von seinem Elend redet ihr mir nicht?

Francis Coppee, Drei Vögel

Ich sprach zur Taube: Flieg‘ und bring‘ im Schnabel
Das Kraut mir heim, das Liebesmacht verleiht!
Am Ganges blüht’s, im alten Land der Fabel.
Die Taube sprach: Es ist zu weit.

Ich sprach zum Adler: Spanne dein Gefieder,
Und für das Herz, das kalt sich mir entzog,
Hol‘ einen Funken Glut vom Himmel nieder!
Der Adler sprach: Es ist zu hoch.

Da sprach zum Geier ich: Reiß‘ aus dem Herzen
Den Namen mir, der drein gegraben steht!
Vergessen will ich lernen und verschmerzen.
Der Geier sprach: Es ist zu spät.
(Übersetzt von Emanuel Geibel)

Pierre Dupont, Die Ochsen

Zwei Ochsen, weiß mit braunen Flecken,
Hab‘ ich im Stall, ein prächtig Paar!
Von Ahorn ist der Pflug; der Stecken
Ein Stechpalmzweig, der Rinde bar.
Es schafft ihr Fleiß, daß grün das Feld mir
Im Winter, gelb im Herbst erstrahlt;
In einer Woche bringt mehr Geld mir
Das Paar, als ich dafür bezahlt.

Ach, müßt‘ ich sie verkaufen:
Eh’r wollt‘ ich gleich ersaufen;
Wohl lieb‘ ich sehr mein Weib — doch schüfe größre Not
Der ihre nicht mir als der Ochsen Tod.

Ihr seht die Schollen sie durchwühlen,
Die Furchen ziehend tief und grad,
An Tagen, kalten oder schwülen,
Ob Regen, ob Gewitter naht.

Und mach‘ ich Halt mal, um zu trinken:
Aus ihren Nüstern steigt ein Rauch;
Es setzt auf ihrer Hörner Zinken
Der Spatz sich hin, der kleine Gauch.

Ach, müßt‘ ich sie verkaufen:
Eh’r wollt‘ ich gleich ersaufen;
Wohl lieb‘ ich sehr mein Weib — doch schüfe größre Not
Der ihre nicht mir als der Ochsen Tod.

Stark sind sie wie die Traubenkelter,
Und sanft dabei wie Lämmer doch.
Ein Städter fragt mich jährlich: „Hält Er
Sie noch nicht feil? Der Preis — wie hoch?“
Er will, daß sie geschmückt durchwandeln
Am Fastnachtstag die Straßenreihn —
Dann gar dem Schlachter sie verhandeln!
Schön‘ Dank! sie sind und bleiben mein.

Ach, müßt‘ ich sie verkaufen:
Eh’r wollt‘ ich gleich ersaufen:
Wohl lieb‘ ich sehr mein Weib — doch schüfe größre Not
Der ihre nicht mir als der Ochsen Tod.

Wenn einst erwachsen unsre Kleine,
Und wenn dann unsres Königs Sohn
Zur Ehe sie begehrt: ich meine,
Ich gäbe all mein Geld ihm schon;
Doch will zur Mitgift er verlangen
Die Ochsen, weiß und braun gefleckt:
Mein Kind, so laß die Krone hangen.
Die nicht der Ochsen Wert uns deckt!

Ach, müßt‘ ich sie verkaufen:
Eh’r wollt‘ ich gleich ersaufen;
Wohl lieb‘ ich sehr mein Weib — doch schüfe größre Not
Der ihre nicht mir als der Ochsen Tod.

(Übersetzt von Adolf Strodtmann)

Leon Gozlan, Der Kolibri

Er ist so zart, daß ihn ein Hauch
Im Wald verweht, im dämmerkühlen,
So zart — ihn kann vom Blütenstrauch
Der Tau im Fall zur Erde spülen.

Er fürchtet nicht des Jägers Schjot.
Wie traf es ihn? Seht ihn dort fliegen —
Die kleinen Schwingen purpurrot
Vermag ein Härlein aufzuwiegen.

Ein Blümchen ist ihm Schlummerstatt,
Und treibt er schillernd durchs Geäste,
So ist’s, als ob ein Blütenblatt
Sich schaukelte im Spiel der Weste!

(Übersetzt von Hans v. Vintler)

Pierre Lachambeaudie, Der Esel als Musikus

Ein Esel sprach: „Ihr sollt es hören,
Wie ich die Laute schlagen kann.“
Er spielt, da lachte jedermann,
Doch ließ der Esel sich nicht stören.
Am Ende merkt er denn am Spott,
Er tue keine Wunder.
„Wenn ich nicht spielte wie ein Gott,“

Sprach er, als sich der Kreis der Hörer trennte,
„So ist die Laute schuld, der schlechte Plunder!‘
Die armen Instrumente!

(Übersetzt von Ludwig Pfau)

Charles-Marie Leconte de Lisle, Die Elefanten

Gleich einem Glutmeer, das in tiefem Schweigen
Sich endlos dehnt, erglimmt der rote Sand.
Erstarrte Wellen bis zum Wüstenrand,
Wo Säulen Rauches aus den Hütten steigen!

Kein Laut, kein Hauch. In ferner Höhle liegt
Der satte Löwe schlummernd. Die Gazelle
Trinkt in dem Palmenhain aus blauer Quelle,
Wo unters Dickicht sich der Panther schmiegt.

Kein Vogel kühlt mit raschen Flügelschlägen
Die Luft, wo riesengroß die Sonne hängt,
Manchmal sieht man, wenn sie die Glut bedrängt,
Der Schlangen Schuppenleib sich funkelnd regen. —

So flammt der Raum in sonnenheißer Ruh‘.
Doch durch die Weiten, durch die schlafgebannten,
Ziehn träge faltenreiche Elefanten,
Ein plumper Wanderzug, der Heimat zu.

Sie tauchen auf von fern, gleich braunen Massen,
Und graben, wie sie staubumwirbelt nahn,
Den Sand durchwatend in gerader Bahn,
Mit breitem, sicherm Fuße tiefe Gassen.

Ein alter Häuptling vorn. Von Rissen klafft
Sein Leib, dem Baumstrunk gleich, der morsch und spaltig.
Sein Haupt starrt wie ein Feld. Er wölbt gewaltig
Den Bug, indes er leicht sich vorwärts schafft.

In ewig gleichem Schritte geht er weiter
Und führt die staub’ge Schar zum Ziele hin.
Und, Furchen in die Dünen schneidend, ziehn
Die wucht’gen Pilger hinter ihrem Leiter.

Ihr Ohr hängt breit, ihr Rüssel schlaff und schwer.
Das Auge ist geschlossen. Von dem Bauche
Dampft glühnder Schweiß empor in weißem Rauche.
Rings summt ein ungestüm Insektenheer.

Doch ob der Durst sie quält, die Fliegen sausen,
Ihr schwarzer Rücken kocht im Sonnenbrand —:
Sie träumen wandernd vom verlaßnen Land,
Von Feigenwäldem, wo die Ihren hausen.

Der Strom, das Kind der großen Berge, naht,
Auf dem das Flußpferd brüllt, wo sie im blanken
Gewand des Mondscheins, weithin schattend, tranken,
Indes ihr Fuß das Röhricht niedertrat.

So wandern sie, gleich einem schwarzen Bande,
Beherzt und langsam, durch die Wüste weit.
Und leblos wieder starrt die Einsamkeit,
Als sie entschwinden fern am Himmelsrande.

(Übersetzt von Emil Ermatinger)

Emile Souvestre, Das Nest

Komm mit zum Rosenbusch, ich will dir etwas zeigen. —
Siehst du das Nestchen dort? dort in den schwanken Zweigen?
Sieh wie das Laub sich neigt und schützend es bedeckt!
Ein Bett aus Moos hält warm die junge Schar geborgen;
Sieh, wie sie schlummern! Komm! du brauchst nicht zu besorgen,
Daß deine Stimme sie erschreckt.

Die Mutter deckt sie noch besorgt mit dem Gefieder;
Ihr müdes Auge schließt und öffnet sich halb wieder,
Die Mutterliebe hält den Schlummer fern. Allein
Jetzt schläft sie ein. Sanft ruht sie nach der Müh‘ am Tage,
Und doch gehört ihr nur ein Nest im Rosenhage,
Dazu ihr Teil am Sonnenschein.

Sieh nur, wie klein ihr Heim, als könnt‘ es gar nicht passen!
Kaum kann die Mutter und die kleine Schar es fassen.
Doch hier ist Luft und Licht, und süß ist hier die Ruh‘,
Und das genügt für sie! Bald werden sie ausschwärmen;
Der Kleinen jedes kann sein Brüderchen erwärmen,
Ihr Fittich deckt sie alle zu.

Und wir, sterblich wie sie, nur Pilger hier auf Erden,
Baun Schlösser, ob wir gleich bald abberufen werden;
Und unsrer Wünsche Zahl verbittert uns das Blut:
Und unsrer Wünsche Zahl verbittert uns das Brot:
Mehr Luft, mehr Licht, mehr Raum, das Feld ist zu geringe,
Ein größer Haus — Bedarf es denn so vieler Dinge
Für unrse Liebe — und den Tod?

(Übersetzt von Fritz Gundlach)

Jules Renard, Die Kröte

Ein Stein war ihr Ahne, unter einem Stein lebt sie, und dieser wird dereinst ihr Denkmal sein.

Ich besuche sie öfters, und jedesmal, wenn ich ihren Stein aufhebe, wird mir bange, sie wiederzufinden, und bange, sie könnte nicht mehr da sein. Aber da ist sie wieder!

Aufgeschwollen wie die Börse eines Geizigen, liegt sie wohlgeborgen auf ihrer trockenen, sauberen Lagerstätte, die gänzlich von ihr ausgefüllt wird.

Nur das Regenwetter kann sie veranlassen, auszugehen und mir entgegen­zukommen.

Nach ein paar plumpen Sprüngen hält sie, auf ihren Schenkeln sitzend, inne und betrachtet mich mit geröteten Augen.

Mag die schnöde Welt sie als eine Aussätzige behandeln — ich für meinen Teil scheue mich nicht, neben ihr niederzukauern und mein menschliches Angesicht dem ihrigen zu nähern. Und auch den letzten Rest meines Ekels werde ich überwinden und dich, o Kröte, mit meiner Hand liebkosen.

In diesem Leben muß so manches geschluckt werden, was einem weit schlech­ter bekommt.

Gestern aber ließ ich mir leider einen Taktfehler zuschulden kommen. Als es aus all ihren aufgebrochenen Warzen gärte und heraussickerte, sagte ich zu ihr:

„Meine arme arme Freundin, ich will dir nicht wehe tun, aber es ist leider Gottes wahr — du bist häßlich!“

Da öffnete sie ihren heiß atmenden, zahnlosen Kindermund und entgegnete mir mit leicht englischem Akzent:

„Et toi?“

Jules Renard, Der Schwan

Er gleitet über den Teich hin wie ein weißer Schlitten, von Wolke zu Wolke. Denn es hungert ihn einzig nach flockigen Wolken, die er entstehen, einher­ziehen und im Wasser sich verlieren sieht. Eine von diesen begehrt er. Nach ihr zielt er mit dem Schnabel, und plötzlich versenkt er seinen mit Schnee bekleideten Hals.

Dann zieht er ihn wieder hervor, einem Frauenarm vergleichbar, der dem Ärmel entschlüpft. Es war umsonst.

Er schaut um sich: die aufgescheuchten Wolken sind entschwunden.

Aber nur für einen Augenblick ist er enttäuscht; denn die Wolken kommen in Bälde wieder, und dort drüben, wo die Wellenbewegungen des Wassers ersterben, bildet sich soeben eine neue.

Sachte, wie auf einem Federkissen liegend, rudert er dem neuen Ziel ent­gegen.

So fischt der Schwan in einemfort nach eiteln Spiegelbildern, und vielleicht stirbt er dereinst als ein Opfer dieser Illusion, ehe er ein einziges Stück Wolke gefangen hat.

Aber was rede ich da!

Jedesmal, wenn er untertaucht, durchsucht er mit seinem Schnabel den nahr­haften Schlamm und holt einen Wurm herauf. Und er wird fett wie eine Gans.

Alphonse Daudet, Die Ziege des Herrn Seguin

An Herrn Pierre Gringoire, lyrischen Dichter in Paris.

Du bleibst doch immer derselbe, mein armer Gringoire!

Wie! Man bietet dir eine Stelle als Berichterstatter für ein gutes Pariser Journal und du hast den Mut sie zurückzuweisen … Aber sieh dich doch an, armer Teufel! Sieh den durchlöcherten Überzieher, die ramponierten Beinkleider, das schmale Gesicht, auf dem der Hunger geschrieben steht. Dahin hat dich deine Leidenschaft für schöne Reime gebracht! Das hast du durch zehnjährige treue Dienste unter den Pagen des gnädigen Herrn Apollo erreicht… Schämst du dich nicht?

Werde doch Berichterstatter, dummer Teufel, werde Berichterstatter! Da wirst du schöne Thaler im Umsehen verdienen, du wirst bei Brebant speisen und kannst bei jeder ersten Vorstellung dich mit einer neuen Feder hinter dem Ohre zeigen . ..

Du willst nicht? durchaus nicht? … Du willst nach deiner Weise frei bleiben bis an das Ende.. . Nun wohl, so laß dir die Geschichte der Ziege des Herrn Seguin erzählen. Hoffentlich wirst du daraus lernen, was man ge­winnt, wenn man frei leben will.

Herr Seguin hatte noch nie Glück mit seinen Ziegen gehabt.

Er verlor sie alle auf gleiche Weise; eines schönen Morgens zerrissen sie ihren Strick, liefen fort in das Gebirge und dort oben fraß sie der Wolf. Nichts hielt sie zurück, weder die Liebkosungen ihres Herrn, noch die Furcht vor dem Wolfe. Es waren eben, wie es scheint, unabhängige Ziegen, die um jeden Preis ihre eigenen Herren sein und frei leben wollten.

Der wackere Herr Seguin, der kein Verständnis für den Charakter seiner dummen Tiere hatte, war ganz bestürzt. Er sagte sich:

„Da hört alles auf, die Ziegen langweilen sich bei mir; ich werde wohl keine einzige behalten.“

Dennoch verlor er den Mut nicht und, nachdem er sechs Ziegen auf die gleiche Weise verloren hatte, kaufte er eine siebente; nur trug er dieses Mal Sorge, eine ganz junge zu wählen, damit sie sich besser daran gewöhne, bei ihm zu bleiben.

Ach! Gringoire! Wie hübsch war die kleine Ziege des Herrn Seguin! Wie hübsch war sie mit ihren sanften Augen, mit ihrem Unteroffiziersbarte, mit ihren schwarzen, glänzenden Klauen, ihren gestreiften Hörnern und ihren langen weißen Haaren, die sie wie ein Mantel umhüllten! Fast war sie so reizend, wie Esmeraldas Zicklein, du erinnerst dich doch, Gringoire? — und dann, wie war sie gelehrig, wie einschmeichelnd; wie ließ sie sich melken, ohne sich zu rühren, ohne ihren Fuß in den Melknapf zu setzen. Ein wahrer Schatz von einer kleinen Ziege …

Herr Seguin hatte hinter seinem Hause ein Weißdorngehege. Dorthin brachte er seine neue Kostgängerin. Er band sie an einen Pfahl an der schönsten Stelle der eingehegten Wiese, trug Sorge dafür, daß der Strick lang genug war und kam von Zeit zu Zeit um nachzusehen, ob sie sich wohl befinde. Die Ziege war glücklich und tat sich in dem saftigen Grase eine solche Güte, daß Herr Seguin ganz entzückt war.

„Endlich,“ dachte der arme Mann, „endlich habe ich eine, die sich bei mir nicht langweilen wird!“

Herr Seguin irrte, seine Ziege langweilte sich.

Eines schönen Tages betrachtete sie das Gebirge und sprach zu sich:

„Wie muß es einem dort oben wohl sein! Welche Lust, in dem Heide­kraut herumzuspringen, ohne den verdammten Strick, der einem den Hals zuschnürt! — Für einen Esel oder für einen Ochsen mag es gut genug sein, in einem Gehege zu grasen! … Die Ziegen, die brauchen ein weiteres Feld.“

Von diesem Augenblick an schien ihr das Gras im Gehege unschmackhaft. Sie begann Langeweile zu empfinden. Sie magerte ab, ihre Milch fing an zu versiechen. Es war ein wahrer Jammer zu sehen, wie sie den ganzen Tag lang am Stricke zog, den Kopf nach dem Gebirge gekehrt, mit offenen Nüstern, traurig ihr Mäh, mäh! hervorstoßend.

Herr Seguin bemerkte wohl, daß seine Ziege etwas hatte, aber er wußte nicht, was .. . Eines Morgens, als er sie eben fertig gemolken hatte, kehrte sich die Ziege um und sprach zu ihm in ihrem Kauderwälsch:

„Hören Sie einmal, Herr Seguin, ich bekomme bei Ihnen die Schwindsucht, lassen Sie mich hinauf in das Gebirge gehen.“

„Ach! mein Gott! auch sie!“ rief Herr Seguin ganz versteinert und ließ vor Schreck den Melknapf fallen. Dann setzte er sich in das Gras neben seine Ziege und sprach:

„Wie, Blanquelle, du willst mich verlassen!“

Und Blanquette antwortete:

„Ja, Herr Seguin.“

„Fehlt es dir denn hier an Futter?“

„0 nein, Herr Seguin.“

„Oder bist du vielleicht zu kurz angebunden, willst du, daß ich den Strick länger mache?!“ „Das würde nicht der Mühe lohnen, Herr Seguin.“ „Nun, was fehlt dir denn eigentlich! Was willst du denn?“ „Ich will in das Gebirge gehen, Herr Seguin.“

„Aber, Unglückselige, weißt du denn nicht, daß der Wolf im Gebirge ist … Was willst du denn machen, wenn er kommt? …“

„Ich werde ihn mit meinen Hörnern stoßen, Herr Seguin.“

„Der Wolf verlacht deine Homer. Er hat mir Ziegen gefressen, die viel größere Hörner hatten als du .. . Du weißt doch, die arme alte Renaude, die voriges Jahr hier war? eine Kapitalziege, stark und boshaft wie ein Bock. Sie hat sich die ganze Nacht mit dem Wolf herumgeschlagen … dann, am Morgen, hat sie der Wolf doch gefressen.“

„Arme Renaude! … Doch das tut nichts, Herr Seguin. Lassen Sie mich in das Gebirge gehen.“

„Gütiger Gott!…“ sagte Herr Seguin; „was soll es denn nur mit meinen Ziegen werden? Also noch eine, die der Wolf mir fressen soll… Aber nein … ich werde dich retten, Undankbare, auch wider deinen Willen! Und da­mit du mir nicht etwa den Strick zerreißest, werde ich dich in den Stall ein­schließen und da sollst du für immer bleiben.“

Damit brachte Herr Seguin die Ziege in einen dunklen Stall, dessen Türe er vorsorglich doppelt verschloß. Unglücklicherweise hatte er das Fenster zu schließen vergessen, und kaum hatte er den Rücken gewendet, so ging die Kleine auf und davon …

Du lachst, Gringoire? Potztausend! Ich will es wohl glauben; du nimmst die Partei der Ziegen gegen den guten Herrn Seguin .. . Aber wir werden gleich sehen, ob dir das Lachen nicht vergeht.

Als die weiße Ziege in das Gebirge kam, da war alles ein Entzücken. Nie hatten die alten Tannen etwas so Hübsches gesehen. Man empfing sie wie eine kleine Königin. Die Kastanienbäume beugten sich bis zur Erde, um mit den Spitzen ihrer Zweige sie zu liebkosen. Der Goldginster öffnete seine Blüten, als sie vorübersprang, und duftete so stark er konnte. Das ganze Ge­birge machte ihr den Hof.

Du kannst dir denken, Gringoire, daß unsere Ziege glücklich war! Keinen Strick mehr, keinen Pfahl… nichts, was sie gehindert hätte zu springen, zu grasen ganz nach Belieben … Und welches Futter gab es da! Es reichte bis über die Hörner, mein Lieber! Und was für Kräuter! Saftig, zart, ein Allerlei von tausend schmackhaften Pflanzen . .. Das war etwas ganz anderes, als der Rasen dort im Gehege. Und welche Blumen!… Große blaue Glocken­blumen, purpurrote Fingerhüte mit langen Kelchen, ein ganzer Wald von wilden Blumen, strotzend von berauschendem Saft!…

Halb trunken wälzte sich die weiße Ziege darin, die Beine in der Luft, und rollte sich den Abhang hinunter, das welke Laub, die gefallenen Kastanien mit sich reißend … Dann plötzlich stand sie mit einem Sprunge wieder auf den Beinen. Hopp! fort war sie, den Kopf vorgestreckt flog sie über Stock und Stein . . . Bald war sie oben auf einem Felsen, bald unten auf dem Grunde einer Schlucht, oben, unten, überall… Man hätte glauben können, zehn Ziegen des Herrn Seguin wären im Gebirge.

Das kam daher, daß Blanquette eben vor gar nichts Furcht hatte.

Mit einem Sprung setzte sie über breite Gießbäche weg, die sie dabei mit Tropfen und Schaum bedeckten. Triefend streckte sie sich dann auf irgend­eine Felsenplatte und ließ sich von den Strahlen der Sonne trocknen… . Ein­mal als sie, eine Blüte des Goldregens zwischen den Zähnen, sich dem Rande einer Felsplatte näherte, bemerkte sie unten, ganz unten in der Ebene das Haus des Herrn Seguin und dahinter das Gehege. Das machte sie lachen bis zu Tränen.

„Wie klein das ist!“ sagte sie; „wie habe ich nur darin Platz finden können?

Die ärmste! Da sie so hoch oben stand, hielt sie sich für mindestens ebenso groß, wie die ganze Welt. ..

Das war fürwahr ein schöner Tag für die Ziege des Herrn Seguin. Bald nach links, bald nach rechts laufend fand sie sich gegen Mittag unter einer Herde Gemsen, die eben im Zuge war einen Strauch wilden Weins abzuknuspern. Unser kleiner Springinsfeld im weißen Gewände machte Aufsehen. Man gab ihr den besten Platz am wilden Weine und alle die Herren waren sehr galant gegen sie . . .  Ja es scheint selbst, — doch das muß unter uns bleiben, Gringoire, — daß ein Gemsenjüngling von dunkler Haarfarbe das Glück hatte, Blanquetten zu gefallen. Die beiden Liebenden verirrten sich eine oder zwei Stunden lang in dem Walde, und wenn du wissen willst, was sie dort ein­ander sagten, so magst du die geschwätzigen Quellen fragen, die unsichtbar unter dem Moose dahinfließen.

Plötzlich erhob sich ein frischer Wind. Das Gebirge ward violett; der Abend kam …

„Schon!“ sagte die kleine Ziege und blieb ganz erstaunt stehen.

Unten lagen die Felder in Dunst gehüllt. Das Gehege des Herrn Seguin verschwand im Nebel und von dem Häuschen sah man nur das Dach mit ein wenig Rauch. Sie hörte die Glöckchen einer Herde, die man nach dem Stalle zurückführte, und ihre Seele wurde ganz traurig .. . Ein Geier, der vom Fluge zurückkehrte, streifte sie im Vorbeifliegen mit den Flügeln. Sie schrak zusammen . .. dann erscholl aus dem Gebirge ein Geheul:

„Hu! Hu!“

Sie dachte an den Wolf; den ganzen Tag hatte die Ausgelassene nicht an ihn gedacht… Im selben Augenblicke ertönte weit unten im Tale ein Horn. Es war der gute Herr Seguin, der ein letztes Mittel versuchte.

„Hu! Hu!…“ heulte der Wolf.

„Komm zurück! Komm zurück!…“ rief das Horn.

Blanquette hatte Lust umzukehren, aber sie erinnerte sich an den Pfahl; an den Strick, an die Hecke um das Gehege und da dachte sie, daß sie nun sich nicht mehr an dieses Leben gewöhnen könne und daß es besser sei zu bleiben.

Der Klang des Hornes war verstummt…

Die Ziege hörte hinter sich ein Geräusch im Laube. Sie drehte sich um und sah in der Dämmerung zwei kurze Ohren, ganz aufgerichtet und zwei Augen, die durch das Dunkel leuchteten … Das war der Wolf.

Da saß er auf seinem Hinterteil, gewaltig groß, unbeweglich und blickte nach der kleinen weißen Ziege, die ihm schon im Voraus schmeckte. Der Wolf hatte keine Eile, wußte er doch bestimmt, daß er sie fressen würde; nur lachte er boshaft, als sie sich nach ihm umwendete.

„Ha! ha! die kleine Ziege des Herrn Seguin!“ und dabei fuhr er mit seiner dicken roten Zunge über die bläulichen Lefzen.

Blanquette fühlte, daß sie verloren war .. . Sie erinnerte sich an die Ge­schichte der alten Renaude, die sich eine ganze Nacht mit dem Wolf herum­geschlagen hatte, um am Morgen gefressen zu werden und dachte einen Augen­blick, es sei vielleicht besser, sich gleich fressen zu lassen; dann besann sie sich eines Besseren, senkte den Kopf, die Hörner nach vorn gerichtet und nahm Stellung, wie es einer tapfern Ziege des Herrn Seguin ziemte, die sie war . . . Nicht als ob sie die Hoffnung hegte den Wolf zu töten — Ziegen töten überhaupt den Wolf nicht, — sondern nur um zu sehen, ob sie so lange, wie Renaude, Stand halten könne …

Nun nahte das Ungeheuer und die kleinen Homer fingen an zu tanzen.

„Ah! die tapfere kleine Ziege! Mehr als zehnmal — ich lüge nicht, Grin­goire, — zwang sie den Wolf zurückzuweichen, um Atem zu schöpfen. Wäh­rend dieser minutenlangen Pausen pflückte das kleine Leckermaul in Eile noch ein Paar Halme des saftigen Grases, dann kehrte sie mit voller Schnauze zum Kampfe zurück … Das dauerte die ganze Nacht. Von Zeit zu Zeit sah die Ziege des Herrn Seguin die Sterne am klaren Himmel tanzen und sprach zu sich:

„Ach! könnte ich es doch bis zur Morgenröte aushalten!“

Ein Stern nach dem andern verlosch. Blanquette verdoppelte die Stöße ihrer Hörner, der Wolf schnappte immer gieriger zu … Ein blasser Licht­schein erhob sich am Horizonte … Das Krähen eines heiseren Hahnes ertönte von einem Meierhofe herauf.

„Endlich!“ sagte das arme Tier, das nur noch den Tag erwartete um zu sterben; und sie streckte sich auf der Erde aus in ihrem schönen weißen Pelze, der ganz mit Blut befleckt war . . .

Dann stürzte der Wolf sich auf die kleine Ziege und fraß sie.

Lebe wohl Gringoire!

Die Geschichte, die ich dir erzählt habe, ist nicht von mir erfunden, Kommst du jemals in die Provence, so werden die Leute dir oft von der Ziege des Herrn Seguin erzählen, welche sich eine ganze Nacht mit einem Wolfe hemmschlug und dann am Morgen hat sie der Wolf gefressen.

Du verstehst mich doch Gringoire:

Und dann am Morgen hat sie der Wolf gefressen. —

Guy de Maupassant, Liebe

… Ich habe eben unter den vermischten Nachrichten einer Zeitung ein Liebesdrama gelesen. Er hat zuerst sie getötet und dann sich. Also liebten sie sich. Was gehen er und sie mich an? Nur ihre Liebe interessiert mich, nicht, weil sie mich rührt oder wunder nimmt, weil sie mich bewegt oder nach­denklich stimmt, sondern weil sie mir eine Jugenderinnerung ins Gedächtnis zurückruft, eine seltsame Jugenderinnerung, bei der mir die Liebe erschien, wie den ersten Christen am Himmel das Kreuz.

Mir hat die Natur alle Instinkte und Sinne des Naturmenschen gegeben, die nur durch allerlei Überlegung und Beweggründe der Zivilisation abge­schliffen sind. Ich liebe die Jagd leidenschaftlich und das erlegte, blutende Tier, Blut auf seinem Gefieder, Blut an meinen Händen, machen mir das Herz höher schlagen.

In jenem Jahr kam die Kälte gegen Ende des Herbstes ganz plötzlich. Und einer meiner Vettern, Karl von Rauville lud mich ein, mit ihm in Sumpf und Teich bei Tagesanbruch Enten zu schießen.

Mein Vetter war ein rothaariger, kräftiger, bärtiger Landjunker von vierzig Jahren. Er war ein etwas stumpfer, liebenswürdiger Mensch, von heiterem Charakter und von jenem gallischen Geist beseelt, der auch mittelmäßige Menschen zu ganz angenehmen Gesellschaftern macht. Er bewohnte einen schloßartigen Hof in einem breiten Tal, das ein Wasserlauf durchzog. Rechts und links lagen bewaldete Hügel, alte herrschaftliche Wälder, in denen noch wunderbare, mächtige Bäume standen und wo es den besten Federwildstand dieses Teiles von Frankreich gab. Ab und zu schoß man Adler; und Zug­vögel, die sonst beinahe nie in unseren zu sehr bevölkerten Landstrich kommen, fielen immer in diesen hundertjährigen Waldungen ein, als ob sie ein Stück dieses altehrwürdigen Waldes kennten oder wieder erkennten, der stehen ge­blieben war, um ihnen bei ihrer kurzen, nächtlichen Rast als Schutz zu dienen.

Im Tal dehnten sich große Wiesen aus von Wassergräben durchzogen und durch Hecken abgeteilt. Weiter unten verlor sich dann das Flüßchen, das oben kanalisiert gewesen, in weitem Sumpf und Moor. Dieser Sumpf, das wundersamste Jagdgebiet, das mir je vorgekommen, war der ganze Stolz meines Vetters, der ihn unterhielt wie einen Park. In dem gewaltigen Schilf, das ihn überall bedeckte, belebte, in dem es rauschte und wogte, waren gerade Wege ausgeschnitten, worauf über das tote Wasser flache Boote, die mit Hilfe von Stangen vorwärts gestoßen wurden, stumm dahinglitten, indem sie die Weiden streiften und die schnellen Fische durch das Röhricht hetzten und die Wild­enten, deren schwarzer, spitzer Kopf schnell verschwand, zum Untertauchen zwangen.

Ich liebe Wasser über alles; das Meer, wenn es auch zu groß und wild ist, als daß man es sich unterjochen könnte, die hübschen Flüsse, die aber doch davoneilen, entfliehen, und vor allem den Teich, in und an dem eine ganze Welt von Wassertieren lebt. Der Sumpf ist eine Welt für sich, ganz verschieden von allem anderen. Er hat sein eigenes Leben, seine ständigen Bewohner und seine Wandergäste, eigene Stimmen, eigene Geräusche und vor allem etwas Wundersames. Es gibt oft nichts Seltsameres, nichts Beunruhigenderes, nichts, das einen mehr erschrecken kann, als so ein Bruch. Woher kommt diese selt­same Angst, die über diesen niedrigen, mit Wasser bedeckten Ebenen schlum­mert? Sind es die unbestimmten Geräusche im Schilf, die fantastischen Irr­lichter, die tiefe Stille, die in ruhigen Nächten darauf ruht? Oder die selt­samen Nebelgestalten, die wie Totengewänder über die Weiden streichen. Oder ist es das ewig leise Glucksen und Plätschern, so leicht, so weich, und manchmal fürchterlicher doch als das Kanonengebrüll der Menschen oder die Donner des Himmels. Es macht aus Sumpf und Bruch Traum-Länder, vor denen man sich hüten muß, die ein gefährliches, seltsames Geheimnis bergen.

Nein. Etwas anderes ruht darauf, ein anderes Wunder, tiefer, ernster schwebt darüber in den dichten Nebeln. Vielleicht das Mysterium der Schöpfung selbst. Denn ist nicht in diesen stehenden, schlammigen Gewässern, in der schweren Nässe der feuchten Erde, unter der Sonnenglut, der erste Lebenskeim ent­sprossen und ans Licht gestiegen?

Ich kam abends bei meinem Vetter an. Es war eine Kälte, daß die Steine hätten platzen können.

Um ein halb vier Uhr morgens wollten wir aufbrechen, damit wir gegen ein halb fünf Uhr an unserem bestimmten Stande wären. Dort hatte man aus Eisstücken eine Hütte gebaut, um uns Schutz zu bieten gegen den fürchter­lichen Wind, der bei Tagesanbruch einsetzt, jenen eisigen Wind, der die Haut entzwei schneidet wie mit einem Messer, der ein Prickeln verursacht, als würde man mit vergifteten Nadeln gestochen und einen packt wie mit der Zange und brennt wie mit Feuer.

Mein Vetter rieb sich die Hände und sprach:

— So eine Kälte ist mir noch nie vorgekommen, heute Abend um sechs hatten wir schon zwölf Grad unter Null.

Nach der Mahlzeit warf ich mich auf mein Bett und schlief beim Scheine des Feuers ein, das im Kamin flammte.

Punkt drei Uhr weckte man mich. Ich zog einen Schafspelz an und ging zu meinem Vetter Karl, der in einen Bärenpelz geschlüpft war. Wir schütteten zwei Tassen glühend heißen Kaffee hinab, denen wir zwei Gläser Kognak folgen ließen. Und dann brachen wir auf in Begleitung eines Jägers und unserer beiden Hunde Plongeon und Pierrot.

Sofort bei den ersten Schritten draußen fühlte ich mich durchkältet bis auf die Knochen.  Es war eine jener Nächte, wo die Erde vor Kälte tot zu sein scheint. Die Kälte wird dann so gewaltig und tut so weh, als faßte sie einen an. Kein Lufthauch regt sich, es ist, als stünde die Luft unbeweglich still und die Kälte beißt, bohrt, trocknet, tötet die Bäume, die Pflanzen, die Insekten; sogar die kleinen Vögel fallen von den Zweigen auf den harten Boden und werden hart wie der Erdboden unter der eisigen Umarmung der Kälte.

Der Mond stand im letzten Viertel, bleich neigte er sich zur Seite, als ob er umfallen wollte im großen Himmelsraum und so schwach wäre, daß er nicht mehr weiter gehen könnte und nun dort oben bleiben müßte, weil auch ihn die eisige Kälte festgebannt. Der Mond warf ein trauriges, schwaches Licht auf die Erde herab, jenen sterbenden, fahlen Schein, mit dem er uns immer beim Abnehmen bestrahlt.

Karl und ich gingen Seite an Seite vornübergebeugt dahin, die Hände in den Taschen, das Gewehr unter dem Arm. Wir hatten Tücher unter die Sohlen gebunden, um auf dem gefrorenen Fluß nicht auszurutschen. So waren unsere Schritte unhörbar geworden. Und ich betrachtete den weißen Dampf, den der Atem unserer Hunde in der Luft abzeichnete.

Wir waren bald am Sumpf gebiet angekommen und betraten eine jener Alleen im trockenen Schilf, die schnurgerade in diesen niedrig stehenden Wald hineingeht.

Unsere Ellenbogen streiften die langen, herunterhängenden Blätter, so daß es leise hinter uns raschelte. Und wie noch nie packte mich die wundersame, mächtige Stimmung, die der Sumpf ausübt. Er war tot, tot vor Kälte, da wir doch darauf gehen konnten, mitten durch diesen Wald von trockenem Rohr.

Plötzlich entdeckte ich bei einer Biegung der Allee die Eishütte, die man gebaut hatte, um uns Schutz zu gewähren. Ich trat ein und da wir noch bei­nahe eine Stunde bis zum Aufbruch der Wandervögel zu warten hatten, wickelte ich mich in eine Decke und versuchte mich zu wärmen.

Ich lag auf dem Rücken und betrachtete den wunderlich gestalteten Mond, der durch die durchsichtig eisige Wand unseres Polarhauses gesehen, vier Hörner zu haben schien.

Aber die Kälte des gefrorenen Sumpfes, die Kälte dieser Mauern, die Kälte, die vom Firmament herabstrahlte, durchdrang mich so fürchterlich, daß ich anfing zu husten.

Mein Vetter Karl wurde ängstlich und meinte:

— Ach was, wenn wir auch heute nicht viel zur Strecke bringen, ich möchte doch nicht, daß Du Dich erkältest. Wir wollen Feuer machen.

Und er gab dem Jäger Befehl, Schilf abzuschneiden.

Das wurde in der Mitte unserer Hütte, die oben ein Loch hatte, daß der Rauch abziehen konnte, aufgehäuft. Und als die rote Flamme längs der hellen, kristallenen Wände emporleckte, begannen sie ganz langsam zu schmelzen, nur ganz wenig, als ob die Eisblöcke schwitzten. Karl, der draußen geblieben war, rief mir zu:

  • Komm mal raus, das mußt Du sehen.

Und ich ging hinaus und blieb erstaunt stehen. Unsere konisch geformte Hütte sah wie ein mächtiger Diamant aus, in dessen Innerem ein Feuer brannte, das plötzlich auf dem gefrorenen Boden des Sumpfes entfacht war und da drinnen sah man zwei phantastische Gestalten, unsere Hunde, die sich wärmten.

Aber ein seltsamer, im Räume verlorener Schrei erklang uns zu Häupten. Der Schein unseres Feuers weckte die wilden Vögel.

Nichts packt mich so, wie dieser erste Schrei des Lebens, in der Dunkelheit, ehe am Horizont das erste Licht des Wintertages anbricht. Mir ist, als ob zu dieser eisig kalten Morgenstunde der Schrei, den das Gefieder eines Tieres dort oben dahin trägt, wie ein Seufzer sei der Weltenseele!

Karl befahl:

Löschen Sie das Feuer aus, es wird Tag.

In der Tat erblich der Himmel und ganze Schwärme Wildenten zogen in langen Ketten hin und huschten über das Firmament.

Im Dunkel zuckte ein Feuerstrahl auf. Karl hatte einen Schuß abgegeben und die beiden Hunde stürzten davon.

Nun legten wir Minute nach Minute, einmal er, einmal ich, die Gewehre an, sobald über dem Schilf der Schatten eines dahinfliegenden Schwarmes erschien. Und Pierrot und Plongeon brachten uns wedelnd und außer Atem immerfort ein paar blutende Tiere geschleppt, die uns oftmals noch anäugten. Der Tag war angebrochen, ein heller Tag.  Die Sonne stieg am anderen Ende der Allee empor, und wir dachten daran, aufzubrechen, als noch zwei Vögel mit gerade ausgestrecktem Hals und weit ausgebreitetem Gefieder über unseren Köpfen dahinzogen.   Ich schoß.  Einer fiel mir beinahe zu Füßen. Es war eine Krickente mit silbernem Bauchgefieder.   Da klang im weiten Raume über mir eine Stimme, eine Vogelstimme. Ein kurzer, wiederholter, herzzerreißender Schrei. Und das Tier, das kleine, seinem Schicksal noch entronnene Tier fing an, oben im Blau des Himmels über uns zu kreisen, indem die tote Begleiterin suchte, die ich in den Händen hielt. Karl war niedergekniet, hatte das Gewehr an die Backe gerissen, zielte und •artete, bis der Vogel nahe genug wäre.

Du hast das Weibchen heruntergeholt, sagte er, und das Männchen wird nun nicht von hier weichen!

Und in der Tat blieb es da. Es zog immer Kreise um uns und klagte von oben herab. Und nie hat ein Schrei der Qual mir mehr das Herz zerrissen als dieser Verzweiflungsruf des armen Tieres dort oben in der Luft.

Ab und zu flog es wieder davon beim Drohen des Gewehrlaufes, der seinem Fluge folgte. Es schien bereit zu sein, den Weg wieder fortzusetzen, ganz allein durch die Himmelsweiten. Aber es konnte sich nicht dazu entschließen und kam wieder zurück, um sein Weibchen zu suchen.

— Laß sie mal hier liegen, sagte Karl, er wird nachher schon näher kommen.

Und in der Tat kam die Ente, ohne sich um die Gefahr zu kümmern, ver­rückt in ihrer Tieresliebe zu dem anderen Geschöpf, das ich erlegt hatte.

Karl schoß. Es war, als ob man eine Schnur, an der der Vogel gehangen, durchschnitten hätte. Ich sah einen schwarzen Schatten herunterschießen und hörte das Aufschlagen im Schilf. Und Pierrot brachte mir das Tier.

Ich steckte sie beide, schon kalt, in dieselbe Jagdtasche und — an jenem Tage noch fuhr ich nach Paris zurück.

(Deutsch von Ompteda)

Guy de Maupassant, Die Wildgänse

Rings tiefes Schweigen herrscht, kein Vogelruf wird laut,
Die Ebne schimmert weiß, so weit das Auge schaut,
Und grauer Himmel deckt das Feld, das tief verschneite,
Auf dem die Rabenschar nach karger Beute späht.
Da plötzlich durch die Luft ein seltsam Rauschen geht:
Der wilden Gänse Volk zieht droben hin ins Weite.
Sie fliegen pfeilgeschwind, den Hals weit vorgestreckt,
Dahin in jäher Hast, als ob Gefahr sie schreckt,
Und pfeifend tönt der Wind von ihren Flügelschlägen.
Die erste, die den Schwärm der Wanderer der Luft
Führt über Land und Meer, Gebirge, Wald und Kluft, ,
Mahnt jeden Augenblick die Säumigen und Trägen
Mit ihrem gellen Schrei zu größrer Schnelligkeit.
Ein flatternd Doppelband, so zieht die Karawane
Dahin mit lautem Lärm, und an des Himmels
Plane Entfaltet sie im Flug ein Dreieck groß und breit. —

Doch ihre Schwestern gehn, die zahmen, auf der Heide,
Vor Kälte fast erstarrt, dahin so steif und schwer;
Ein Kind im Lumpenkleid führt pfeifend sie zur Weide;
Wie Schiffe, schwer an Fracht, so schwanken sie einher.
Sie hören über sich das wilde Schrein und Brausen,
Sie richten hoch den Kopf, und wie sie droben sehn
Das freie Wandervolk des Himmels Raum durchsausen,
Da recken sie sich auf, um auch davonzugehn.
Die Flügel heben sie, doch will kein Flug gelingen;
Und was im Innern schlief, wacht auf aus tiefem Traum:
Die Sehnsucht, frei zu sein und sich dahinzuschwingen,
Den wilden Schwestern gleich, durch endlos weiten Raum
Zu Ländern, fern geahnt, wo lindre Lüfte weben.
Verstört nun laufen sie ins Schneegefild hinein,
Und gar verzweiflungsvoll ertönt ihr kläglich Schrein,
Mit dem sie lange noch den Schwestern Antwort geben.

(Übersetzt von Arthur Schmidt-Halensee)

Emile Zola, Das Katzenparadies

Eine Tante hatte mir eine Angorakatze hinterlassen, die wohl die dümmste Bestie ist, die ich kenne. Diese Katze hat mir eines Winterabends, vor dem verglimmenden Kaminfeuer, folgende Geschichte erzählt.

I.

Ich war damals zwei Jahre alt und wohl die fetteste und naivste Katze, die man sich denken konnte. In diesem zarten Alter bekundete ich noch ganz den Eigendünkel eines die Annehmlichkeiten des häuslichen Herdes ver­achtenden Tieres. Und wie viel Dank schuldete ich doch der Vorsehung, die mich zu eurer Tante gebracht hatte! Die gute Frau vergötterte mich. In der Tiefe eines Schrankes besaß ich ein echtes, rechtes Schlafzimmer mit Federkissen und dreifacher Decke. Die Kost war dem Lager ebenbürtig. Nie Brot, nie Suppe, immer nur Fleisch, gutes blutiges Fleisch.

Nun denn: inmitten all dieser Freuden und Genüsse fühlte ich nur einen Wunsch, hatte ich nur einen Traum: mich durchs geöffnete Fenster hinauszuschleichen und auf die Dächer zu flüchten. Die Liebkosungen schienen mir fade, die Weichheit meines Bettes erregte mir Ekel, ich war fett, daß mirs vor mir selbst graute. Und den ganzen Tag langweilte ich mich in meinem Glück.

Ich muß erwähnen, daß ich vom Fenster aus, wenn ich den Hals nur ein wenig reckte, das Dach gegenüber erblickte. Dort wälzten sich an jenem Tage vier Katzen mit gesträubtem Fell und hochaufgerichtetem Schwanz mit wildem Freudengeheul im Sonnenglanz auf den blauen Schiefern. Ein so wunderliches Schauspiel hatte ich noch nie gesehen.

Seit Jenem Tage stand meine Überzeugung fest. Das wahre Glück war nur auf diesem Dache zu finden, hinter diesem Fenster, das man so sorgsam schloß. So wußte ich, schloß man auch die Türen der Schränke, in denen man das Fleisch verwahrte.

Ich faßte den Vorsatz zu entfliehen. Es mußte im Leben noch anderes geben als blutiges Fleisch. Dort winkte das Unbekannte, das Ideal! Eines Tages vergaß man das Küchenfenster zu schließen. Ich sprang auf ein kleines Dach, das sich unterhalb des Küchenfensters befand.

II.

Wie waren die Dächer so schön. Breite Dachrinnen begrenzten sie und strömten köstliche Düfte aus. Mit unsagbarer Wollust verfolgte ich diese Rinnen, während meine Pfote in einem feinen, unendlich weichen, mollig warmen Kot versank. Mir wars als wandle ich auf Samt. Und die Sonne schien so warm und ihre heißen Strahlen schmolzen mein Fett.

Ich darf euch nicht verhehlen, daß ich an allen Gliedern zitterte. Meine Freude war eine mit Furcht und Beklemmung gemischte. Besonders deutlich entsinne ich mich einer entsetzlichen Erregung, die mich beinah aufs Pflaster geworfen hätte. Drei vom Giebel eines Hauses herabkollernde Katzen kamen mit furchtbarem Miauen auf mich zu. Als sie mein Erschrecken sahen, lachten sie mich aus und sagten, sie hätten nur im Spaß miaut. Ich begann mit zu miauen. Es war allerliebst. Die Kerle besaßen nicht meine fette Dummheit. Sie machten sich über mich lustig, als ich wie eine Kugel auf den von der Sonne durchglühten Zinkplatten umherrollte.

Ein alter Kater aus der Gesellschaft fühlte sich in besonderer Freundschaft zu mir hingezogen. Er machte sich erbötig, meine Erziehung zu übernehmen, ein Anerbieten, das ich mit Dank annahm.

Ach! wie weit lag das mollige Heim eurer Tante hinter mir. Ich trank aus der Dachrinne und keine gezuckerte Milch hatte mir je so süß geschmeckt. Alles erschien mir gut und schön. Ein Katzenfräulein spazierte vorbei, ein ganz entzückendes Geschöpf, dessen Anblick mich mit ungekannter Erregung erfüllte.

Bis dahin waren diese Geschöpfe mit dem so gottvoll geschmeidigen Fell mir nur im Traume erschienen. Wir stürzten der Neuankommenden entgegen, meine drei Genossen und ich. Ich eilte den anderen voran und wollte der entzückenden Katzenjungfrau mein Kompliment machen, als einer meiner Kameraden mich entsetzlich in den Hals biß. Ich stieß einen Schmerzens-schrei aus.

„Bah!“ beruhigte mich der alte Kater, indem er mich fortzog: „Du wirst noch genug andere sehen!“

III.

Nach einstündigem Spaziergang spürte ich einen Riesenhunger. „Was speist man denn auf den Dächern?“ fragte ich meinen Freund, den Kater.

„Was man findet,“ belehrte mich dieser.

Diese Antwort brachte mich in Verlegenheit, denn so eifrig ich auch suchte — ich fand nichts. Endlich fand ich in einer Mansarde eine junge Arbeiterin, die ihr Frühstück bereitete. Auf dem Tisch vor dem Fenster lag ein schönes Kotelett von appetitlichstem Rosa.

„Das ist mein Fall,“ dachte ich in aller Unschuld. Und ich sprang auf den Tisch und ergriff das Kotelett.

Die Arbeiterin aber versetzte mir, sobald sie mich erblickte, mit dem Kehr­besen einen furchtbaren Schlag auf das Fell. Ich ließ das Fleisch fahren und suchte mit einem entsetzlichen Fluche das Weite.

„Was denkst du nur?“ schalt mich der Kater. „Das Fleisch auf den Tischen ist nur dazu da, von Ferne angeschmachtet zu werden. In den Dachrinnen mußt du suchen.“

Daß das Fleisch in den Küchen nicht den Katzen gehörte, das war eine Wahrheit, die mir stets unbegreiflich blieb. Mein Magen begann ernstlich sich zu empören. Der Kater brachte mich mit der Versicherung, daß man die Nacht abwarten müsse, vollends zur Verzweiflung. In der Nacht würden wir in die Straßen hinabsteigen, die Kehrichthaufen durchwühlen. Die Nacht abwarten — wie ruhig er das sagte, mit welch verhärteter Philosophie!

Ich fühlte mich einer Ohnmacht nahe bei dem bloßen Gedanken an dieses endlose Fasten.

IV.

Langsam kam die Nacht heran, eine Nebelnacht, die mir die Glieder er­starren machte. Bald fing der Regen zu fallen an; ein feiner durchdringender, von heftigen Windstößen gepeitschter Regen. Durch die verglaste Öffnung einer Treppe stiegen wir von unseren Dächern herab.

Wie häßlich die Straße mir erschien! Das war nicht mehr die wohlige Wärme, der helle Sonnenschein, das waren nicht mehr diese glänzenden, lichtübergossenen Dächer, auf denen sich’s köstlich faulenzen ließ. Meine Pfoten glitten auf dem feuchten Pflaster aus. Mit bitterer Wut gedachte ich meiner dreifachen Decke und meines Federkissens.

Kaum waren wir auf der Straße angelangt, als mein Freund, der Kater, zu zittern begann. Er machte sich klein, ganz klein und schlich verstohlen die Häuser entlang, indem er mir befahl, ihm so schnell als möglich zu folgen.

In das erste Haustor, das er fand, flüchtete er sich in größter Eile und ließ ein zufriedenes Brummen hören. Als ich ihn über diese Flucht befragte, ant­wortete er mir:

„Hast du jenen Mann mit der Butte und dem Haken gesehen?“ „Ja.“

„Nun, wenn er uns erblickt hätte, er hätte uns gepackt, am Spieß gebraten und verspeist.“

„Am Spieß gebraten und verspeist!“ rief ich. „Aber gehört denn die Straße nicht uns?“ Man isst nicht und wird gegessen!…

V.

Indessen hatte man die Kehrichthaufen vor den Häusern geleert. Ver­zweifelt wühlte ich in den Haufen. Ich fand zwei oder drei magere Knochen in Schutt und Asche vergraben.

Da begriff ich, wie köstlich das frische Fleisch ist. Mein Freund, der Kater, durchwühlte die Misthaufen mit künstlerischem Verständnis.

Bis zum Morgen ließ er mich umherlaufen, hetzte mich auf jedes Pflaster, Zehn Stunden lang blieb ich im Regen, an allen Gliedern zitterte ich vor Kälte. Verdammte Straße, verdammte Freiheit — wie sehnte ich mich nach meinem Gefängnis!

Als der Tag kam und er mich kraftlos schwanken sah, fragte er mich mit seltsamer Miene:

,,Hast du genug davon?“

„0 ja!“ erwiderte ich.

„Du willst nach Hause zurückkehren?“

„Gewiß, wie aber das Haus wiederfinden?“

„Komm. Als ich dich gestern morgen von dort herauskommen sah, wußte ich wohl, daß eine fette Katze wie du nicht für die Freuden der Freiheit ge­schaffen ist. Ich kenne deine Wohnung, ich will dich bis vor deine Tür führen.“

Er sprach das mit solcher Einfachheit, der würdige Kater. Als wir ange­langt waren, sagte er mir Lebewohl, ohne die geringste Rührung zu bekunden.

„Nein!“ rief ich, „so können wir uns nicht trennen. Du mußt mit mir kommen. Wir wollen dasselbe Bett und dasselbe Fleisch miteinander teilen. Meine Herrin ist eine brave Frau . ..“

Er ließ mich nicht ausreden.

„Schweig!“ sagte er barsch, „du bist ein Narr. In deiner weichen Wärme ginge ich zu Grunde. Euer Treibhausleben ist gut für entartete Katzen. Die freien Katzen werden nie um den Preis eines Gefängnisses deine Leckerbissen und deine Federbetten erkaufen. — Adieu!“ —

Und er kehrte über die Dächer zurück. Ich sah seine große magere Sil­houette unter Liebkosungen der aufsteigenden Sonne sich vor Behagen schütteln.

Als ich eintrat, ergriff eure Tante die Rute und verabreichte mir eine Züchtigung, die ich mit tiefer Freude empfing.

Ich schwelgte in dem köstlichen Gefühl warm zu haben und geschlagen zu werden. Während sie mich schlug, gedachte ich mit Entzücken des Bratens, den sie mir nachher geben würde.

„Seht Ihr,“ schloß meine Katze, sich vor dem Kamin ausstreckend, „das wahre Glück des Paradieses, mein lieber Herr, besteht darin, eingesperrt zu werden und Schläge zu bekommen in einem Raum, in dem ein Stück Fleisch sich befindet.

Ich spreche im Sinne der Katzen.

Charles Baudelaire, Die Katze

Komm, schöne Katze, und schmiege dich
An mein Herz, halt zurück deine Kralle.
Laß den Blick in dein Auge tauchen mich,
In dein Aug‘ von Achat und Metalle.

So oft dich mein Finger gemächlich streift,
Deinen Kopf und Rücken zu schmeicheln,
Und trunkene Luft meine Hand ergreift,
Die magnetischen Glieder zu streicheln:

Schau ich im Geist meine Frau.
Der Strahl Ihres Blicks, mein Tier, gleicht dem deinen,
Ist tief und kalt wie ein schneidender Stahl.
In schmiegsamem Spiel haucht den feinen,
Gefährlichen Duft, wie Schmeichelgruß,
Ihr brauner Leib von Kopf zu Fuß.

Charles Baudelaire, Der Albatros

Oft fängt die Mannschaft auf den Schiffen zum Vergnügen
Sich Albatrosse ein, Seevögel kühn beschwingt,
Die still und ruhevoll auf ihren weiten Zügen
Dem Fahrzeug folgen, wie es durch die Salzflut dringt.

Sobald auf das Verdeck sie die Gefangnen bringen,
So hängen voller Scham, verstört und ungeschickt,
Die Könige des Azurs die mächt’gen, weißen Schwingen
Wie Ruder rechts und links, hinschleifend und geknickt.

Der Wandrer, leicht beschwingt, daß er die Luft durchschweife,
Wie häßlich ist er nun, wie plump, verhöhnt und schwach.
Der eine kitzelt ihm den Schnabel mit der Pfeife,
Der andre spottend macht sein lahmes Wanken nach.

Der Dichter ist der Fürst der stolzen Wolkenthrone,
Der Bogenschützen trotzt und lacht des Seesturms Wehn;
Doch hindern auf dem Land, umringt von lautem Hohne,
Die Riesenflügel den Gewaltigen am Gehn.

Maurice de Guerin, Der Centauer

Ich empfing mein Leben in den Höhlen dieser Gebirge. Wie der Fluß dieses Tales, dessen anfängliche Tropfen von irgendeinem Felsen rinnen, der in einer tiefen Grotte weint, so fiel der erste Augenblick meines Lebens in die Dunkelheiten eines entlegenen Aufenthaltes, ohne sein Schweigen zu stören. Wenn unsere Mütter ihre Entbindung nahen fühlen, ziehen sie sich in ihre Höhlen zurück, und im Hintergrunde der ödesten, deren Dunkel un­durchdringlich ist, gebären sie, ohne eine Klage zu erheben, Früchte, die schweigsam sind wie sie selbst. Ihre mächtige Milch läßt uns ohne Mattigkeit oder zweifelhaften Kampf die ersten Schwierigkeiten des Lebens überstehen; trotzdem verlassen wir unsere Höhlen später als ihr eure Wiegen. Denn wir sind der Ansicht, daß man die ersten Zeiten des Daseins in Zurückgezogenheit verbringen und einhüllen muß wie Tage, die voll sind von den Göttern. Mein Wachstum nahm seinen Verlauf fast ganz in den Dunkelheiten, in denen ich geboren war. Das Innerste meines Aufenthaltes befand sich so tief in dem Gebirge, daß ich nicht die Richtung des Ausgangs gewußt hätte, wenn nicht manchmal die Winde sich in dieser Öffnung verirrt und Frische und plötzliche Erregung hineingeworfen hätten. Manchmal auch kehrte meine Mutter zu­rück, umgeben von dem Duft der Täler und berieselt von den Wellen, die sie häufig aufsuchte. Dann beunruhigten diese Heimkünfte, bei denen sie mich niemals über die Täler und Flüsse aufklärte, und die doch alle Schauer in ihr zurückließen, meine Sinne, und ich strich ganz erregt in meinen Dunkel­heiten umher. Was sind das für Draußen, sagte ich mir, an denen meine Mutter sich begeistert, und was herrscht dort so Machtvolles, das sie so oft zu sich ruft? Und was für Gegensätzlichkeiten empfindet man dort, daß sie jeden Tag in anderer Ergriffenheit zurückkommt? Meine Mutter kehrte einmal heim von tiefer Freude belebt, und dann wiederum traurig, sich schleppend und wie verwundet. Die Freude, die sie brachte, prägte sich von weitem in gewissen Linien ihres Ganges aus und verbreitete sich auf ihren Blicken. Sie teilte sich mir mit, ich fühlte sie in meiner ganzen Seele; aber die Nieder­geschlagenheiten gewannen mich stärker und rissen mich noch weiter in Ver­mutungen hinein, mit denen mein Geist sich trug. In solchen Augenblicken beunruhigte ich mich an meiner Stärke, ich erkannte eine Kraft in mir, die nicht einsam bleiben konnte, und indem ich die Arme zu schütteln oder meinen Trab in den weiten Dunkelheiten der Höhle zu verdoppeln begann, bemühte ich mich in den Schlägen, die ich ins Leere tat, und in dem Ungestüm meiner Schritte, das ich anhub, eine Richtung zu entdecken, nach der meine Arme sich ausbreiten und meine Füße mich tragen sollten … Seitdem habe ich meine Arme um die Brust der Centauern gewunden und um die Körper der Helden und um die Stämme der Eichen; meine Hände haben sich an den Felsen ver­sucht, an den Wassern, den unzähligen Pflanzen und den zartesten Abdrücken der Luft, denn ich hebe sie in die blinden und ruhigen Nächte empor, damit sie die Hauche ergreifen und daraus die Zeichen ziehen, um meinen Weg zu prophezeien; o Melampos, sieh meine Füße, wie abgenutzt sie sind! Und wenn ich auch erstarrt bin an dieser äußersten Grenze des Alters, es gibt doch noch Tage, wo ich im vollen Lichte auf den Gipfeln diese Tänze meiner Ju­gend, wie in der Höhle, schwinge und in derselben Absicht die Arme werfe und alle Reste meiner Schnelligkeit gebrauche.

Diese Erregungen wechselten ab mit langen Zeiten, die frei waren von jeder unruhigen Wallung. Dann nahm nur das eine Gefühl von meinem gan­zen Wesen Besitz, daß ich wuchs und daß mein Leben aufstieg in meinem Innersten. Ohne Lust an meiner Wildheit und zurückgezogen in völlige Ruhe, kostete ich ungestört das Wohlwollen der Götter, das sich in mir ausbreitete. In Ruhe und Dunkelheiten wächst der geheimnisvolle Zauber des Lebens­gefühls. Ihr Dunkelheiten, die ihr die Höhlen dieser Gebirge bewohnt, euern schweigsamen Sorglichkeiten verdanke ich die verborgene Erziehung, welche mich so kräftig genährt hat, und das sehr reine Leben, das ich unter euerm Schütze gekostet habe, wie es mir aus dem Schöße der Götter kam! Als ich aus euerm Obdach herniederstieg in das Licht des Tages, wankte ich und grüßte es nicht, denn es bemächtigte sich meiner mit Heftigkeit und berauschte mich wie ein unseliger Trank, der plötzlich in mein Inneres geschüttet war, und ich empfand, daß meine Natur, die bis dahin so fest und einfach gewesen, in Erschütterung kam und viel von sich selbst verlor, als ob sie verstreut werden sollte in die Winde.

0 Melampos! der du das Leben der Centauern wissen willst, durch welchen Willen der Götter bist du zu mir geführt worden, dem ältesten und traurigsten von allen? Seit langer Zeit übe ich nichts mehr aus von ihrem Leben. Ich verlasse diesen Berggipfel nicht mehr, wohin das Alter mich gebannt hat. Die Spitze meiner Pfeile dient mir nunmehr dazu, feste Pflanzen zu entwurzeln; die ruhigen Seen kennen mich noch, aber die Flüsse haben mich vergessen. Ich will dir ein paar Sätze aus meiner Jugend sagen; aber diese Erinnerungen, einem gestörten Gedächtnis entstammt, ziehen sich hin wie eines kargen Opfers Flut, die aus einer beschädigten Urne fällt. Ich habe dir leicht die ersten Jahre dargestellt, denn sie waren ruhig und vollkommen; das einfache Leben tränkte mich allein, das bleibt im Gedächtnis und erzählt sich ohne Mühe. Ein Gott, den man ersuchte, sein Leben zu erzählen, würde es in zwei Worte legen, Melampos!

Der Gebrauch meiner Jugend war hastig und voll Erregtheit. Ich lebte von Bewegung und kannte keine Grenze meiner Schritte. In dem Stolz meiner freien Kräfte irrte ich umher, mich verbreitend nach allen Seiten dieser Ein­öden. Eines Tages, als ich einem Tale folgte, das die Centauern wenig be­suchen, entdeckte ich einen Menschen, der am jenseitigen Ufer dem Flusse nachging. Es war der erste, der sich meinem Anblick bot, ich verachtete ihn. Das ist ja, sagte ich mir, im höchsten Falle die Hälfte meines Wesens! Wie kurz seine Schritte sind und wie schwer sein Gang! Seine Augen scheinen voll Traurigkeit den Raum zu messen. Ohne Zweifel ist das ein Centauer, der von den Göttern verstoßen wurde und dazu erniedrigt, sich so fortzu­schleppen.

Oft erquickte ich mich von meinen Tagesmühen in dem Bett der Flüsse. Die eine meiner Hälften blieb in den Wassern verborgen und arbeitete er­regt, sie zu übersteigen, während die andere sich ruhig erhob und meine müßi­gen Arme sich gut über den Wellen hielten. Ich vergaß mich so inmitten der Wogen, mich ganz der Hinreißung ihres Laufes überlassend, die mich weit entführte und ihren wilden Gast zu all den Entzückungen der Ufer geleitete. Wie häufig, von der Nacht überrascht, folgte ich dem Fließen unter den Schatten, die sich ausbreiteten und bis in den Grund der Täler den nächtlichen Einfluß der Götter niederlegten! Mein hitziges Leben mäßigte sich dann bis zu dem Grade, daß es in mir nur ein leichtes Gefühl meines Daseins ließ, das in meinem ganzen Wesen sich gleichmäßig verbreitete, wie in den Wassern, die ich durch­schwamm, die Lichter der Göttin, welche durch die Nächte wandelt. Melam­pos, mein Alter ersehnt die Flüsse; friedlich zumeist und eintönig folgen sie ihrem Schicksal mit mehr Ruhe als die Centauern und einer Weisheit, die wohltätiger ist als die der Menschen. Wenn ich aus ihrem Schöße stieg, war ich gefolgt von ihren Gaben, die mich ganze Tage lang begleiteten und nur langsam von mir wichen, wie Düfte.

Eine wilde und blinde Unbeständigkeit beherrschte meine Schritte. In­mitten des heftigsten Laufes überkam es mich, plötzlich meinen Galopp ab­zubrechen, als ob ein Abgrund vor meinen Füßen läge oder ein Gott vor mir erhoben stünde. Diese plötzlichen Regungslosigkeiten ließen mich mein Leben wieder empfinden, das ganz erregt war von dem Ungestüm, in dem ich mich befand. Ehemals schnitt ich in den Wäldern die Zweige ab und hielt sie beim Laufen über mein Haupt; die Schnelle des Laufes hob die Beweglichkeit des Blattwerks auf, das nur ein leichtes Schauern von sich gab; aber bei der ge­ringsten Ruhe kam wieder der Wind und die Bewegung in den Zweig, und wieder war er voll wechselnden Murmelns.  So rauschte mein Leben, wenn ich plötzlich mein heftiges Rennen unterbrach, das ich mir entlang den Tälern gönnte, in meinem ganzen Inneren. Ich hörte, wie es mich kochend durch­rann und wie das Feuer rollte, das bei dem leidenschaftlichen Durchrasen des Raumes in mir erwacht war.  Meine erhitzten Flanken kämpften gegen seine Flut an, die sie von innen bestürmte, und kosteten in diesen Leidenschaften den Genuß, der nur den Ufern des Meeres bekannt ist: ohne jeden Verlust ein bis zur Überfülle gestiegenes und erregtes Leben einzuschließen. In­dessen neigte sich das Haupt dem Winde entgegen, der mir seine Frische zutrug, und betrachtete den Gipfel der Gebirge, die in wenigen Augenblicken fern geworden waren, die Bäume der Ufer und die Wasser der Flüsse; diese getragen von ziehenden Läufen, jene fest im Schöße der Erde und nur durch ihr Blattwerk bewegt, das den Hauchen der Luft ergeben ist und in ihnen seufzt.  „Ich allein, sagte ich mir, bin frei in der Bewegung und trage nach meiner Willkür mein Leben von einem Ende dieser Täler zum andern. Ich bin glücklicher als die Gießbäche, die von den Bergen fallen und nicht wieder hinaufsteigen.   Das Getöse meiner Schritte ist schöner als die Klagen der Wälder und die Geräusche der Wogen; es ist der Widerhall des umherschweifen­den Centauern, der sich selbst den Weg weist.“ So, während meine erhitzten Flanken die Trunkenheit des Laufes hatten, fühlte ich höher oben den Stolz, und ich wandte den Kopf und hielt einige Zeit inne, um meine rauchende Kruppe zu betrachten.

Die Jugend ist den grünenden Wäldern gleich, die von den Winden be­unruhigt werden: sie schüttelt nach allen Seiten die reichen Gaben des Lebens, und immer herrscht irgendein tiefes Raunen in ihrem Blattwerk. Ich lebte mit der Hingebung der Flüsse, unaufhörlich Cybelen atmend im Bett der Täler oder auf dem Gipfel der Gebirge, und sprang überall auf, wie ein blindes, entfesseltes Leben.  Aber wenn die Nacht, erfüllt von der Ruhe der Götter, mich auf der Neigung der Berge fand, führte sie mich zum Eingang der Höhlen und besänftigte mich, wie sie die Wellen des Meeres besänftigt, und ließ in mir nur leichte Schwingungen dauern, die den Schlaf zerstreuten, ohne meine Ruhe zu stören. Auf der Schwelle meines Schlupfwinkels liegend, die Flanken in der Höhle versteckt, den Kopf unter dem Himmel, folgte ich dem Schau­spiel der Dunkelheiten. Dann fiel das fremde Leben, das mich während des Tages erfüllt hatte, tropfenweise von mir ab und kehrte zurück in den fried­lichen Schoß der Cybele, wie nach einem Gewitterguß die Reste des Regens, die an dem Blattwerk haften, niedersinken und ihre Wasser vereinigen. Man sagt, daß die Meergötter während der Dunkelheiten ihre tiefen Paläste ver­lassen und sich auf den Vorgebirgen niedersetzen und ihre Blicke über die Ströme ausbreiten. So wachte ich, zu meinen Füßen ein Leben ausgebreitet, ähnlich dem entschlummerten Meere.   Hingegeben an ein deutliches und volles Dasein, erschien ich mir wie kaum geboren und als ob mich die tiefen Wasser, die mich in ihrem Schoß empfangen hatten, auf der Höhe des Ge­birges zurückgelassen hätten wie einen Delphin, den die Wellen Amphitrites auf den Syrten vergessen haben.

Meine Blicke liefen frei umher und gewannen die fernsten Punkte. Wie immerfeuchte Ufer blieben die Berge gegen Sonnenuntergang von Lichtern behaftet, die schlecht von den Schatten weggetrocknet waren. Dort ragten in fahlen Klarheiten nackte und reine Gipfel empor. Dort sah ich alsbald den Gott Pan herabsteigen, immer einsam, oder den Chor gesonderter Gottheiten oder irgendeine Nymphe, trunken von Nacht. Bisweilen durchschnitten die Adler des Berges Olymp die Höhe des Himmels und verflogen sich in den hinaus­geschobenen Sternbildern oder unter den erregten Gehölzen. Der Geist der Götter, der sich manchmal regte, störte plötzlich die Ruhe der alten Eichen.

Du jagst nach der Weisheit, Melampos, die das Wissen vom Willen der Götter ist, und irrst unter den Völker wie ein Sterblicher, vom Schicksal ver­stört. Es gibt in diesen Gegenden einen Stein, der bei jeder Berührung einen Ton von sich gibt, wie Saiten eines Instrumentes, die zerreißen, und die Men­schen erzählen, daß Apollo, der in diesen Einöden seine Herde trieb, diese Melodie dort zurückgelassen habe, als er seine Leier auf diesen Stein legte. O Melampos! Die umherirrenden Götter haben ihre Leier auf die Steine gelegt; aber keiner . . . keiner hat sie dort vergessen. In den Zeiten, als ich in den Höhlen wachte, glaubte ich manchmal die entschlummerte Cybele in ihren Träumen zu überraschen und hoffte, daß die Mutter der Götter, von den Traumbildern verraten, einige Geheimnisse preisgeben würde; aber ich habe nichts erfahren als Töne, die im Hauche der Nacht sich auflösten, oder Worte, undeutlich wie das Schäumen der Ströme.

,,0 Makareus!“ sagte eines Tages der große Chiron, dessen Alter ich nach­ging, „wir sind beide Centauern der Gebirge, aber wie entgegengesetzt sind unsere Handlungen! Du siehst es, alle Sorgen meiner Tage bestehen im Auf­suchen von Pflanzen, und du, du gleichst jenen Sterblichen, die auf den Wassern oder in den Wäldern einige Bruchstücke der zerbrochenen Schalmei des Gottes Pan gesammelt und an ihre Lippen geführt haben. Seitdem haben diese Sterb­lichen aus den Trümmern des Gottes einen wilden Geist eingezogen oder viel­leicht irgendeine geheime Glut gewonnen; sie gehen in die Wüsten, tauchen unter die Wälder, verfolgen die Flüsse, verlieren sich in die Gebirge, unruhig und von einer unbekannten Absicht getragen. Die Stuten, die im entlegensten Scythien sich an den Winden erregen, sind nicht wilder als du und nicht trauriger am Abend, wenn der Aquilon nachläßt. Suchst du die Götter, Ma­kareus! und woher die Menschen stammen, die Tiere und die Grundstoffe des ewigen Feuers? Aber der alte Ozean, der Vater aller Dinge, behält die Geheimnisse in sich zurück, und die ihn umgeben, singen und schließen einen ewigen Chor um ihn und verdecken, was seinen halbgeöffneten Lippen im Traume entgleiten könnte. Die Sterblichen, welche die Götter durch ihre Tugend rührten, haben aus ihren Händen Leiern empfangen, um die Völker zu entzücken, oder neue Saaten, um sie zu bereichern, aber nichts aus ihrem unerbittlichen Munde.

„In meiner Jugend bog mich Apollo zu den Pflanzen und lehrte mich, aus ihren Adern wohltätige Säfte zu schöpfen. Seitdem habe ich treulich die große Behausung dieser Gebirge gewahrt, unruhig, aber mich doch un­aufhörlich auf die Suche nach den einfachen Dingen wendend und die Tu­genden mitteilend, die ich entdeckte. Siehst du dort den kahlen Gipfel des Berges Oeta? Alkides hat ihn geplündert, um seinen Scheiterhaufen zu bauen. 0 Makareus! Die Halbgötter, Kinder der Götter, breiten das Fell der Löwen auf die Scheiterhaufen und verzehren sich auf dem Gipfel der Gebirge! Die Gifte der Erde zerstören das Blut, das sie von den Unsterblichen empfingen! Und wir Centauern, erzeugt von einem tollkühnen Sterblichen in dem Schöße eines Nebels, der einer Göttin ähnelte, was erwarten wir von Jupiters Hilfe, der den Vater unseres Geschlechtes zerschmetterte? Der Geier der Götter zerreißt ewig die Eingeweide des Arbeiters, der die ersten Menschen gebildet hat. 0 Makareus! Menschen und Centauern erkennen als ihre Erschaff er die Entwender ewiger Vorrechte an, und vielleicht ist alles, was sich außer den Unsterblichen regt, ein Diebstahl, den man an ihnen beging, ein leichtes Teil ihrer Natur, von dem allmächtigen Hauche des Schicksals weit weggetrieben, wie ein fliegendes Saatkorn. Man hat verbreitet, daß Aegeus, der Vater des Theseus, unter der Schwere eines Felsens, am Rande des Meeres, die Er­innerungen und Zeichen versteckte, an denen sein Sohn eines Tages seine Geburt erkennen könnte. Die eifersüchtigen Götter haben an irgendeiner Stelle die Zeugnisse von der Abstammung der Dinge versteckt; aber an den Rand welches Meeres haben sie den Stein gerollt, der sie bedeckt, o Makareus!“

So war die Weisheit, zu der mich der alte Chiron brachte. Dem äußersten Alter preisgegeben, nährte der Centauer in seinem Geiste die höchsten Ge­spräche. Seine noch kühne Büste senkte sich kaum auf die Flanken, die sie in einer leichten Neigung überstieg wie eine Eiche, die in den Winden traurig wird, und die Kraft seiner Schritte litt kaum unter dem Verlust der Jahre. Man könnte meinen, daß er noch Reste der Unsterblichkeit in sich barg, die er einst von Apollo empfangen, aber diesem Gott zurückgegeben hatte.

Ich, Melampos, ich neige mich ins Alter, ruhig wie der Untergang der Stern­bilder. Ich bewahre noch genug Kühnheit, um die Höhe der Felsen zu ge­winnen, wo ich mich verzögere in Betrachtung der wilden, unruhigen Wolken, oder um die regnerischen Hyaden am Horizonte kommen zu sehen, die Pleiaden oder den großen Orion; aber ich fühle, daß ich abnehme und mich rasch verliere, wie ein Schnee, der auf den Wassern schwimmt, und daß ich nächstens gehen werde und mich mit den Flüssen eine, die in den weiten Schoß der Erde strömen.

BELGIEN

Maurice Maeterlinck, Der Hochzeitsflug

Ich glaube es sind sehr wenige, die das Hochzeitsgeheimnis der Bienen­königin belauscht haben, denn diese Hochzeit vollzieht sich in dem unend­lichen, blendenden Brautbett des Sommerhimmels. Aber man kann den Auf­bruch der Braut und die todkündende Rückkehr der Gattin unter Umständen beobachten.

Trotz ihrer Ungeduld wartet sie im Schatten ihrer Tore Tag und Stunde ab, bis ein wundervoller Morgen sich aus der Tiefe der azurenen Himmels­urne in den hochzeitlichen Raum ergießt. Sie liebt den Augenblick, wo noch ein Rest von Tau auf Blatt und Blüten schimmert, wo die letzte Frische der sinkenden Morgenröte noch gegen die Glut des Tages anringt, wie eine Jung­frau in den Armen eines Kriegsmannes, und die kristallenen Laute des Mor­gens in dem Schweigen des nahenden Mittags noch nicht ganz verhallt sind.

Dann erscheint sie auf der Schwelle, unbeachtet von den Arbeitsbienen, die ihren Geschäften obliegen, oder auch von ihren betörten Töchtern um­ringt, je nachdem sie Schwestern im Stocke zurückläßt oder nicht mehr er­setzt werden kann. Sie fliegt zuerst rückwärts, läßt sich zwei bis dreimal auf das Flugbrett nieder, und erst, wenn sie Lage und Anblick ihres Königreiches, das sie noch nie von außen gesehen hat, genau in ihren Geist aufgenommen hat, fliegt sie in gerader Linie scheitelwärts ins Blaue, und erreicht so Höhen und eine Lichtzone, zu denen die anderen Bienen sich nie in ihrem Leben aufschwingen. Die Drohnen drunten, die sich träge auf den Blumen wiegen, haben die Erscheinung gesehen und den magnetischen Duft eingesogen, der sich alsbald bis zu den nachbarlichen Bienenstöcken verbreitet. Sofort sam­meln sich die Horden und tauchen, ihrer Fährte folgend, in das Meer der Heiterkeit, dessen kristallene Grenzen sich immer weiter verschieben. Freude­trunken über den Gebrauch ihrer Flügel und dem herrlichen Gesetze der Art getreu, das ihr den Liebsten zuführt und nur den stärksten allein in ihre äther­ferne Einsamkeit hinaufdringen läßt, steigt sie immerfort, und die blaue Mor­genluft strömt zum ersten Male in ihre Luftgefäße und braust wie ein himm­lisches Blut in den tausend strahlenförmigen Luftröhren ihrer beiden Lungen, welche die Hälfte ihres Körpers einnehmen und sich vom weiten Räume nähren. Sie steigt immerfort, bis sie eine öde Zone erreicht, wo kein Vogel ihr Mysterium stört. Sie steigt immerfort, und schon zerteilt und vermindert sich der ungleiche Schwärm unter ihr. Die Schwachen und Kranken, die Greise und Mißratenen, die schlecht Ernährten der kraftlosen und herunter­gekommenen Völker stehen von ihrer Verfolgung ab und verschwinden im Leeren. Nur eine kleine Schar von Unermüdlichen schwebt noch im unend­lichen Räume. Noch eine letzte Anspannung der Flügel, und der Auser­wählte der unbegreiflichen Mächte hat sie eingeholt, umarmt und durch­drungen, und von doppeltem Schwünge beflügelt, kreist das eng verschlun­gene Paar einen Augenblick im tödlichen Delirium der Liebe.

Francis Jammes, Betrachtung über eine Schnepfe

„Ich bin eine Schnepfe. Um die Zeit, in der der herbstliche Ozean fürchter­lich wird und die Schiffe im gelben und schwarzen Himmel tanzen, wohne ich hier, denn ich mische mich nicht ein in die verschiedenen großen Ange­legenheiten der Natur, ich Schnepfe, die ich nicht weiß, daß tausend und tausend Kreolenjungfrauen jetzt verblüht sind wie feurige Rosen im zerstören­den Hauche eines Vulkans. Hier wohne ich, zwischen den Binsen und einer Lache, in der Gleichförmigkeit von Tag um Tag. Mein Tal zieht von Norden nach Süden, es ist morastig, waldverwachsen und traurig. Aber es stimmt recht hübsch überein mit meinem Kleide, das wie ein totes Blatt gefärbt ist, und man könnte mich schon für eine Dame nehmen, wenn ich da mit meinem Stocke, der mein Schnabel ist, spazieren gehe … Man weiß von mir auch, daß ich die schönsten Augen auf der Welt habe, und daß von ihnen die Sage geht, sie weinten, bevor ich sterbe.“

„Kommen Sie und sehen sie mich in meinem Salon an! Wissen Sie denn, wie der Salon einer Schnepfe aussieht? Die Jäger mögen Ihnen davon erzählt haben. Haben Sie Ihnen aber auch gesagt, was ein Schnepfenspiegel ist? Das ist nämlich etwas, daß ein bißchen schwierig zu erklären ist. Meine Spiegel sind aus blankem Silber und haben einen dunklen Punkt in der Mitte … sie sind das, was ich hinter mir fallen lasse. Mein Parfüm ist das frischgeschlagene Holz. Lieben Sie den Geruch von Heu? 0, in der Natur sind alle Gerüche vereinigt. Würziger aber riecht doch nichts als der Saft der Erle, den der Holz­hauer abzapft. Das ist ein Geruch, der schön ist, während doch Gerüche für gewöhnlich nur gut sind. Aber dieser Dutt ist schön wie das Blut, das in der stillen Stunde aufsteigt in die Wangen des Heidekrautes, wenn die Sonne müde ihre Haare auflöst und sich lang über den Hügel hinstreckt. Wenn ich meine Füße auf das setze, was von einem Erlenstamme am Erdboden übrig­bleibt, kommt es mir vor, als ob ich auf duftenden Purpur trete und ich die Königin von Saba bin.“

„Die Wohnung, die ich habe, ist gottlob recht brauchbar. Ein paar Ver­besserungen täten ihr freilich schon not: der Wind hat nämlich die Dach­schindel aus Blättern, die mir der Dachdecker Frühling darauf gelegt hat, schon wieder zerblasen. Der Herr Herbst hat sie durch Klematisfrüchte er­setzt — aber die saugen mit ihrem Flaum den Regen aus der Luft.“

„Ich habe nur ein Erdgeschoß. Der Flur ist ein Wassergraben, dunkel genug, daß ich darin ordentlich sehe. Man weiß ja, daß meine Augen das grelle Licht schlecht vertragen. Mir ist auch ein einfacher Stern lieber als die beste Kerze. Der Herr hat mir gesagt: ,Geh, kleine Schnepfe. Ich schenke dir alle Sterne des Himmels, daß sie dir leuchten.'“

„Mein Park ist unermeßlich, er schließt die ganze Welt in sich. Aber ich gehe doch erst in die Berge, mir kleine Eisstückchen zu holen, wenn die große Hitze kommt. Denn man muß es verstehen, seine Wünsche einzuschränken — sonst muß man die Geschichte vom Weinberge des Naboth wieder von frischem beginnen. Ich wohne also hier, sage ich Ihnen, zwischen diesen Binsen und der Lache, und ich komme auch kaum fort von meinem runden moosigen Platze da und von der Quelle, deren Wasser ein Hirt in einen Dachziegel geleitet hat, von dem jetzt, durch einen Stein festgehalten, ein Kastanienblatt herunter­hängt. Man darf aber nicht vielleicht glauben, daß es da weiter unten nicht eine herrliche Landschaft gibt: die Ufer und Inseln des Wildbaches, wo in­mitten von rosa Nebeln der Herr Reiher auftaucht und wieder verschwindet, ie nachdem der Nebel sich hebt oder sich ausbreitet. Und in einiger Ent­fernung von ihm unter dem silbernen Himmel schnellen über das silberne Wasser die Silberfische, auf die er lauert, empor.“

„Ich wünsche mir, glücklich und verborgen wie ein Veilchen zu leben. Eine Schnecke in der Schale genügt für mein erstes Frühstück, währenddessen ich entzückt bin von all dem Nebel, der von jedem Zweige fällt wie ein Hagel­schauer aus lauter Regenbogen. Was brauche ich auch Luxus und Eitelkeit? Wenn ich doch lieber das große Buch der Natur lesen könnte, das Buch, von dem ich selber ein bescheidenes Exemplar bin. Sehen nicht wirklich meine Rückenfedern aus wie der Ledereinband eines ganz alten Folianten — und die Federn auf meiner Brust wie seine bunten Ränder? Ja, ich lese in mir selber, in dem wirklichen Buche, das ich bin, und ich muß nicht meine Zuflucht zu all den Mitteln nehmen, deren sich die unwissenden Dichter bedienen. Was ich weiß, weiß ich ordentlich, weil ich es mir nicht nur vorstelle, sondern es mit dem Schnabel und den Füßen angreifen kann, und weil es doch die Frucht meiner Erfahrungen und meiner Weisheit ist.“

„Was ich weiß? Ich weiß, daß ich gerade vor mich hinmarschiere, die Füße auf der Erde und den Kopf im Himmel. Ich weiß, daß es ganz gewöhnliche Sachen gibt, über die man sich doch sehr wundern muß. Und ich weiß, daß die Welt zusammengesetzt ist aus lauter Schnepfen, die gar keine Schnepfen sind. Ich weiß, daß ich leide, wenn man mir Blei in meine Flügel schießt. Ich weiß, daß ich glückklich bin, wenn ich im Mondschein durch das sanfte Gras der Waldränder irre, mit gezählten Schritten, den Kopf nach rechts und links drehend und bereit, mit der Spitze des Schnabels die Würmer aufzupicken. O, von was für wunderbaren Nächten habe ich nicht schon die Quellen singen ge­hört, wenn ich mir in ihnen säuberlich die Füße wasche! 0 das fließende Blau, das die Schatten des Gebüsches liebkost, bis sie zittern und den ersten Himmelschlüsseln weichen!“

„Ich weiß, daß ,es muß sein‘ ein großes Wort ist, und daß danach mein ganzes armes Tierleben abgewandelt wird. Es muß sein, daß ich, wenn es April wird, diese wunderbaren Täler verlasse und es meinem Fluge anheim­gebe, dahin zu fliegen, wohin er fühlt, daß nun geflogen werden muß. Das habe ich verstehen gelernt, daß so einfach dahinzureisen besser ist, als sich abzuquälen mit Landkarten, Kompass und Sextant, mit alldem, wodurch die Menschen Schiffbruch leiden. Es muß sein, sage ich, ist ein großes Wort! Darum habe ich Schnepfe mir auch nicht mein Dasein durch Weltkarten, Luftballons, Dampfmaschinen und Theorien verwirrt, denn es mußte sein, daß ich Flügel habe. Und so ist meine ganze Wissenschaft ganz einfach die, daß ich mich auf meinen Schnabel, meine einzige Bussole, verlassen kann, um inmitten der Schneefelder (die die Orangenblütenhaine des Gebirges sind) die süßeste Braut wiederzufinden.“

So spricht die kleine Schnepfe. Und ich beneide die kleine Schnepfe um ihren guten Sinn und um ihr Glück. Kleine Schnepfe, es gibt noch anderes Blei als das, das dir durch die Flügel schlägt: das Blei, das ich im Herzen trage. Und andere Stechpalmen gibt es als die, die sich mit Moos umgeben, so daß du verlockt bist, darauf auszuruhen: die Stechpalmen, die meine Schläfen kränzen und die mein einziger Lorbeer sind.

0, warum hat Gott mir nicht wie dir Flügel gegeben? O, warum kann ich, wenn der Duft des Flieders den liebesbleichen Frühling in seinem Gewände schwanken und hinsinken macht, und wenn der Seidelbast wieder blüht, nicht am Rande der durchstürmten Schlucht die erwarten, von der ich getrennt bin? 0 kleine Schnepfe, warum bin ich nicht lieber in deinem kleinen Salon aus welken Blättern geblieben, um im langen Regnen dem Seufzen der Winter­winde zuzuhören, anstatt in diesem Zimmer zu sitzen und meinen Betrach­tungen nachzuhängen, indes der Herd braust wie der Ozean und mir im Uhrenschlagen geschieht, als ob ich eine reine und traurige Stimme wieder­hörte.

Kleine Schnepfe, möge das wilde Wetter mit dir gnädig verfahren! Die Windstöße sollen deine Spuren verwischen, so daß der Hund sie morgen nicht spüren kann, sich von seinem Herrn prügeln lassen muß und endlich schlamm­beschmiert, verdutzt, den Schweif eingeklemmt, zurückkommt, ohne dich ge­funden zu haben!

Francis Jammes, Das Paradies der Tiere

Ein armes altes Pferd stand mit seinem Wagen träumend vor der Tür eines elenden Wirtshauses, in dem Weiber kreischten und Männer grölten. Es regnete, Mitternacht war nahe. Das arme dürre Pferd wartete nun hier tod­traurig mit herabgesunkenem Kopfe und schwachen Beinen, daß ihm das Ver­gnügen der wüsten Menschen da drinnen endlich erlauben möchte, in seinen elenden stinkenden Stall zurückzukommen. Schreiende Zoten von Männern und Weibern klangen ihm in seinen halben Schlaf. Mit Mühe hatte es sich in der langen Zeit daran gewöhnt und verstand nun mit seinem armen Hirn, daß der Schrei der Dirnen nichts Bedeutsameres sei als der ewig gleiche Lärm des Rades, das sich dreht.

Diese Nacht nun träumte ihm verschwommen von einem kleinen Füllen, das es einmal gewesen war, von einer Wiese, auf der es, noch ganz rosig, seine Sprünge gemacht hatte, und von seiner Mutter, die ihm zu trinken gegeben hatte. Da stürzte das alte Pferd plötzlich tot hin auf das schmutzige Pflaster.

Das Pferd kam an das Tor des Himmels. Ein großer Weiser stand davor und wartete, daß Sankt Petrus käme und ihm öffne. Er sagte zu dem Pferde: „Was willst du denn hier? Du hast kein Recht, in den Himmel zu kommen. Ich habe das Recht, denn ich bin von einer Frau geboren worden.“ Das alte Pferd erwiderte ihm: „Meine Mutter war eine liebe Stute. Sie war alt und aus­gesogen von den Blutsaugern, als sie starb, ich komme jetzt, um den lieben Gott zu fragen, ob sie hier ist.“ Da öffnete das Tor des Himmels seine beiden Flügel den Einlaßheischenden und das Paradies der Tiere lag vor ihnen. Das alte Pferd erkannte sogleich seine Mutter, und auch diese erkannte es, und sie begrüßten einander wiehernd. Da sie nun beide auf der großen himmlischen Wiese standen, hatte das Pferd eine große Freude, denn es erblickte alle seine Gefährten aus dem einstigen Elend wieder und es sah, daß sie für immer glück­lich waren. Alle waren da: die, die ausgleitend und stolpernd einst auf dem Pflaster der Städte Steine geschleppt hatten und lahmgeschlagen vor den Lastwagen zusammengebrochen waren. Die waren da, die mit verbundenen Augen zehn Stunden im Tage im Karussell die Holzpferde gedreht hatten, und die Stuten, die bei den Stierkämpfen an den jungen Mädchen vorbei­gerast waren, die rosig vor Freude sahen, wie die Leidenskreaturen ihre Ein­geweide durch den glühenden Sand der Arena schleiften. Und viele, viele andere noch waren da. Und alle gingen nun in Ewigkeit über das große Ge­filde der göttlichen Stille.

Alle Tiere waren glücklich. Zierlich und geheimnisvoll. Selbst dem lieben Gott, der ihnen lächelnd zusah, ungehorsam, spielten die Katzen mit einem Knäuel Bindfaden, den sie mit leichter Pfote weiterrollten, voll des Gefühles geheimer Wichtigkeit, die sie nicht mitteilen wollten. Die Hündinnen, die guten Mütter, verbrachten ihre Zeit damit, ihre winzigen Jungen zu säugen. Die Fische schwammen ohne Angst vor dem Fischer dahin. Der Vogel flog, ohne den Jäger zu fürchten. Und so war alles. Und nicht einen Menschen gab es in diesem Paradiese.

RUSSLAND

Der Kuckuck

Kam aus der Ferne ein Kuckuck geflogen,
flog durch Berg und Hain;
war aus seinem Fittich eine Feder gefallen,
in die Donau hinein.

0, gleich der bunten verlornen Feder
die der Strom fortreißt —
schwebt mein Leben im fernen Lande
einsam, Verwaist.

Floß mein Leben hin, wie auf der Welle
ein einsam Blatt…
Fort! was wahr ich den Goldring,
den er uns gegeben hat…

(Deutsch von Bodenstedt)

Iwan Turgenjeff, Das Insekt

Mir träumte, es säßen unser etwa zwanzig Personen in einem großen Saale mit offenen Fenstern.

Frauen, Kinder, Greise befanden sich darunter… Die Unterhaltung drehte sich um irgendeinen alltäglichen Gegenstand und ging laut und wirr durcheinander.

Plötzlich schwirrte ein großes Insekt von etwa drei Zoll Länge mit einem harten Geräusch ins Zimmer … schwirrte herein, flog ein paar Mal im Kreise herum und setzte sich an die Wand.

Es hatte Ähnlichkeit mit einer Fliege oder Wespe. Der Rumpf war schmutzig­braun ; dieselbe Farbe hatten auch die flachen, rauhen Flügel, die gespreizten Füßchen waren federig, der Kopf groß und eckig, wie bei einer Libelle; und dieser Kopf und diese Füßchen waren hellrot, gleichsam blutig.

Dieses seltsame Insekt zappelte mit den Füßchen und drehte seinen Kopf unaufhörlich auf und ab, rechts und links. Dann riss es sich plötzlich von der Wand los, flog summend durchs Zimmer — und setzte sich wieder, indem es von neuem ohne sich von der Stelle zu rühren, seine widerlichen, peinlich berührenden Bewegungen machte.

In uns allen erregte es Abscheu und Furcht — ja fast Schrecken. . . . Nie­mand von uns hatte jemals etwas ähnliches gesehen, alle schrien: „Jagt das Ungetüm fort!“ — alle schwenkten von weitem abwehrend ihre Taschen­tücher … aber keiner wagte näher zu treten . . . und wenn das Insekt auf­flog, dann wichen alle unwillkürlich bei Seite.

Nur einer aus unserer Gesellschaft, ein junger Mann mit bleichem Antlitz, sah uns alle mit verwunderten Blicken an. Er zuckte die Achseln, lächelte und konnte durchaus nicht begreifen, was mit uns vorging und weshalb wir so aufgeregt waren. Er selbst sah kein Insekt, hörte nicht das widerliche Schwirren seiner Flügel.

Plötzlich schien das Insekt ihn starr anzublicken, flog auf, schmiegte sich fest an seinen Kopf und stach ihn oberhalb der Augen in die Stirn.

Der Jüngling ließ ein leises Stöhnen vernehmen — und fiel tot zu Boden.

Die unheimliche Fliege schwirrte sogleich von dannen … Jetzt erst er­rieten wir, was für ein Gast das war.

Iwan Turgenjeff, Die Natur

Mir träumte, ich befände mich in einem großen unterirdischen Saal mit hohen Gewölben. Er war ganz erfüllt von einem gleichmäßigen, ebenfalls unterirdischen Licht.

Mitten im Saal saß eine majestätische Frauengestalt, angetan mit einem grünfarbigen, faltenreichen Gewände. Das Haupt auf die Hand gestützt, schien sie in tiefes Sinnen verloren.

Ich begriff sofort, daß diese Frau die — Natur war, und ehrfurchtsvolle Scheu durchdrang mich bis ins Innerste gleich einer plötzlichen Kälte.

Ich näherte mich dieser Frau, und nachdem ich mich tief verbeugt hatte, rief ich aus:

„0 du unsre gemeinsame Mutter, an was denkst du? Sinnst du über die zukünftigen Schicksale der Menschheit nach? Oder darüber, wie sie zur höchsten Vollkommenheit gelangen, wie sie des größten Glücks teilhaftig werden könne?“

Langsam richtete die Frau ihre dunklen, drohenden Augen auf mich. Ihre Lippen bewegten sich — und ich vernahm eine durchdringende Stimme, wie das Dröhnen des Eisens.

„ Ich sinne darüber nach, wie sich den Fußmuskeln des Flohs größere Kraft verleihen lasse, damit er sich leichter vor seinen Feinden retten könne. Das

Gleichgewicht zwischen Angriff und Verteidigung ist gestört. Es muß wieder hergestellt werden.“

„Wie!“ stammelte ich, „daran denkst du? Aber sind wir, die Menschen, denn nicht deine bevorzugten Kinder?“

Die Frau runzelte ein wenig die Brauen.

„Alle Geschöpfe sind meine Kinder,“ sprach sie; „und ich sorge für sie alle in derselben Weise — und in derselben Weise werden alle von mir ver­nichtet.“

„Aber das Gute … die Vernunft… die Gerechtigkeit,“ stammelte ich wieder.

„Das sind Menschenworte,“ entgegnete die eiserne Stimme. „Ich kenne weder Gut noch Böse… Eure Vernunft ist mir nicht Gesetz — und was ist Gerechtigkeit? … Ich gab dir das Leben, ich werde es dir wieder nehmen und es andern geben: Würmern oder Menschen … gleichviel wem … Und du, wehre dich bis dahin und belästige mich nicht!“

Ich wollte noch etwas erwidern … doch rings um mich her begann die Erde dumpf zu stöhnen und zu beben — und ich erwachte.

A.K. Tolstoi, Die Wölfe

Wenn das Kirchdorf entschlummert
und kein Lied mehr erklingt,
wenn ein graulicher Nebel
ob den Sümpfen erblinkt —
dann verlassen die Wälder
und durchstreifen die Felder
fraßbegierig neun heulende Wölfe.

Auf den ersten, den grauen,
Struppen Haars, folgen flugs
sieben nachtschwarze Wölfe;
als Beschließer des Zugs
keucht der neunte, der rote.
Mit bluttriefender Pfote
lahmt er nach seinen grauen Gefährten.

Nichts erschreckt und verscheucht sie.
Wenn durchs Kirchdorf sie gehn,
bellt kein Hund und der Bauer
bleibt entsetzenbleich stehn.
nicht ein Glied kann er rühren,
kann den Atem nicht führen —
nur ein Angstgebet stammelt die Lippe.

Sie umschleichen die Kirche
und betreten gemach
das Gehöfte des Priesters;
dann enthuschen sie jach
zu der Schenke und lauern,
ob sie drin von den Bauern
keine sündigen Reden erlauschen.

Mußt mit Kugeln, mit dreizehn,
dein Gewaffen versehn
und mit Ziegenhaarpfropfen,
willst den Kampf bestehn.
Feure ruhig: vor allen
wird der graue Wolf fallen,
und dann stürzen die andern von selber.

Kräht der Hahn dann den Dörfler
aus dem Morgenschlaf wach —
siehst du liegen die Leichen
von neun Weibern am Bach:
Rechts die eine, die graue,
links die lahme im Taue,
alle blutig — Gott gnade uns Sündern!

(Deutsch von Fr. Fiedler)

Fjodor Sollogub, Die Krähe

Eine Krähe fliegt. Sie erblickt einen Bauern und fragt ihn:
— Bauer, du Bauer?
— Was willst du? — fragt der Bauer.
— Kannst du uns Krähen zählen?
— Ach, du Schelmin, was ist das für ein Wunsch, — flieg fort, sonst könnte es dir schlecht ergehen.
Die Krähe fliegt fort, begegnet einem Kaufmann und fragt den:
— Du, Kaufmann, kannst du uns Krähen zählen?
Aber der Kaufmann antwortet:
— Mit solchen Kleinigkeiten geben wir uns nicht ab, unsere Sache ist der Handel.
Die Krähe fliegt weiter, begegnet einem Schüler, und wohl dem allerkleinsten aus der ganzen Schule, und sie fragt ihn:
— Du, Schüler, kannst du uns Krähen zählen? Er aber antwortet:
— Ich kann alles zählen, ich verstehe bis zu einer Million zu zählen und sogar noch weiter. Ich habe mein Rechenbuch gut im Kopfe.
Aber die Krähe entgegnet ihm:
— Und doch wirst du die Krähen nicht zählen können.
— Nein, ich werde sie wohl zählen können, — sagt der Schüler. Und begann zu zählen:
— Eins, zwei, drei…
Aber da fliegt ihm die Krähe auch schon in den offenen Mund und beißt ihn in die Zunge. Der Schüler weint und spricht:
— Hinfort werde ich euch Krähen niemals mehr zählen, denn da ihr beißt, so sollt ihr ungezählt weiter leben.

Leo Tolstoi, Leinwandmesser’s Tod

Wenn Leinwandmesser in dieser Nacht wieder seinen Erinnerungen nach­hängen wollte, so riss ihn Waska aus solchen Gedanken heraus. Er warf ihm eine Decke über und sprengte auf ihm davon. Bis zum Morgen ließ er Ahn vor der Tür der Schenke neben einem Bauernpferde stehen. Sie beleckten sich gegenseitig. Am Morgen kam Leinwandmesser wieder zur Herde und kratzte sich unaufhörlich.

„Da juckt es mich ja ganz nichtswürdig,“ dachte er.

So vergingen fünf Tage. Der Roßarzt wurde gerufen. Der sagte höchst vergnügt:

„Das ist Räude. Verkaufen Sie ihn an die Zigeuner.

„Wozu? Dann mag er lieber abgestochen werden, aber schnell, damit er einem bald aus den Augen kommt.“

Es war ein stiller, klarer Morgen. Die Herde war auf das Feld gegangen; Leinwandmesser war zu Hause geblieben. Da kam ein sonderbarer, hagerer, schwarzhaariger, schmutziger Mann, dessen Rock ganz mit etwas Schwarzem bespritzt war. Das war der Abdecker. Er ergriff, ohne den Schecken anzusehen, den Riemen des Halfters, das man ihm angelegt hatte, und führte ihn. weg. Leinwandmesser ging ruhig mit, ohne sich umzusehen; wie immer schleppte er die Beine nur mühsam weiter und verwickelte sich mit den Hinter­füßen im Stroh.

Als er aus dem Tor herauskam, streckte er den Hals nach dem Brunnen hin; aber der Abdecker zog ihn fort und sagte: „Das hat keinen Zweck.“

Der Abdecker und Waska, der ihm folgte, gingen nach einer kleinen Tal­mulde hinter dem Ziegelschuppen und machten da halt, als ob an diesem ganz gewöhnlichen Orte etwas Besonderes wäre. Der Abdecker übergab Waska das Halfter, zog sich den Rock aus, streifte die Hemdsärmel auf und holte aus dem Stiefelschaft ein Messer und einen Schleifstein hervor. Der Wallach reckte den Kopf nach dem Riemen hin; er wollte aus Langerweile daran kauen; aber er konnte ihn nicht erreichen. Er seufzte und schloß die Augen. Seine Unterlippe hing herab, so daß die abgenutzten gelben Zähne sichtbar wurden, und er schlummerte bei dem Geräusche des Messerwetzens ein. Nur das kranke Bein mit der Beule, das er seitwärts herausgestellt hatte, zuckte mit­unter. Plötzlich fühlte er, daß ihn jemand unter den Unterkiefer faßte und ihm den Kopf in die Höhe hob. Er öffnete die Augen. Vor ihm befanden sich zwei Hunde. Der eine schnupperte nach dem Abdecker hin; der andere saß da und blickte den Wallach an, als ob er gerade von diesem etwas erwartete. Der Wallach sah sie an und rieb sich mit dem Backenknochen an der Hand, die ihn hielt.

„Sie wollen mich gewiß wieder kurieren,“ dachte er. „Nun, meinetwegen I Und wirklich fühlte er, daß etwas mit seiner Kehle vorgenommen wurde. Er empfand einen Schmerz, zuckte zusammen, schlenkerte mit einem Beine; aber er hielt sich aufrecht und wartete, was nun weiter kommen werde. Was weiter kam, war, daß ihm etwas Flüssiges in großem Strome über den Hals und die Brust lief. Er seufzte so tief, daß sich sein ganzer Leib bewegte. Und es wurde ihm leichter, weit leichter.

Der ganze schwere Druck des Lebens war von ihm genommen!

Er schloß die Augen und neigte den Kopf, — niemand hielt ihn ihm fest. Dann begannen seine Beine zu zittern, der ganze Körper zu schwanken. Er war darüber nicht sowohl erschrocken, als vielmehr verwundert…

Alles war ihm so neu. Er wunderte sich und machte eine krampfhafte Be­wegung nach vorn, nach oben … Aber vergebens; die Beine verschoben sich zwar von ihrer Stelle, versagten aber dann den Dienst; er neigte sich zur Seite; und als er die Füße anders zu setzen versuchte, fiel er nach vorn und auf die linke Seite nieder.

Der Abdecker wartete, bis die Zuckungen aufgehört hatten, und jagte die

Hunde weg, die näher herangerückt waren. Dann ergriff er den Wallach an den Beinen, drehte ihn auf den Rücken, befahl Waska, das eine Bein festzu­halten, und machte sich daran, das Fell abzuziehen.

„Es war ein ganz brauchbares Pferd,“ bemerkte Waska.

„Wenn das Tier nur nicht so abgemagert wäre, dann wäre das Fell ganz gut,“ sagte der Abdecker.

Die Herde kam am Abend auf der Anhöhe vorüber, und diejenigen Tiere, die am linken Rande der Herde gingen, sahen unten etwas Rotes, womit sich die Hunde eifrig zu schaffen machten; darüber flogen Krähen und Geier. Der eine Hund hatte die Vorderbeine gegen den Kadaver gestemmt und riss, mit dem Kopfe hin und her schlagend, das, was er gepackt hatte, mit hör­barem Geräusche ab. Die braune Stute blieb stehen, streckte den Kopf und den Hals aus und zog lange die Luft ein. Nur mit Mühe konnte sie weiter­getrieben werden.

: In dem alten Walde, unten in einer dicht mit Gestrüpp bewachsenen Schlucht, heulten zur Zeit des Frührotes auf einer kleinen freien Stelle ver­gnügt etliche großköpfige junge Wölfe. Es waren ihrer fünf: vier fast gleich große und ein kleiner, bei dem der Kopf größer war als der Rumpf. Eine magere im Haaren begriffene Wölfin, die ihren vollen Bauch mit den herab­hängenden Zitzen an der Erde hinschleppte, kam aus dem Gebüsch heraus und setzte sich den jungen Wölfen gegenüber hin. Diese standen im Halb­kreise vor ihr. Sie trat zu dem kleinsten, ließ den Schwanz tief hinunterhängen, beugte die Schnauze hinab, und indem sie dann einige krampfhafte Bewegun­gen machte und den mit spitzen Zähnen besetzten Rachen öffnete, warf sie mit starker Anstrengung ein großes Stück Pferdefleisch aus. Die größeren Wölfchen drängten sich an sie heran; aber sie wandte sich drohend gegen sie und ließ alles dem kleinsten zukommen. Dieser zog, wie in Wut, knurrend das Fleischstück unter sich herunter und begann zu fressen. Ebenso spie die Wölfin auch dem zweiten, dem dritten und allen fünfen Fleisch hin und streckte sich dann ihnen gegenüber1 auf die Erde, um sich zu erholen.

Eine Woche darauf lagen bei dem Ziegelschuppen nur noch der große Schädel und zwei Schenkelknochen; alles übrige war hierhin und dorthin verschleppt. Im Sommer nahm ein Bauer, welcher Knochen sammelte, auch diese Schenkelknochen und den Schädel mit fort und verkaufte sie.

BALKAN

Balkanmärchen. Deutsch von August Leskien

I. Wie Adam den Tieren Namen gab und woher der Storch das Klappern gelernt hat.

Als Gott den Adam geschaffen und ihm den Namen Mensch gegeben hatte, schuf er auch alle Tiere, die es auf dieser Erde gibt, groß und klein, aber Namen gab er ihnen nicht, sondern wollte hören, wie Vater Adam die Tiere nennen wird. Gott wußte wohl die Namen aller Tiere, aber er erwies dem Vater Adam die Ehre und brachte alle Tiere vor ihn, daß er jeglichem den Namen gäbe. „Sohn Adam,“ sprach Gott, „ich mache dir etwas zu tun mit den Tieren da, die ich geschaffen habe; ich trage dir auf, ihnen Namen zu geben, denn alle Tiere sollen dir dienen, und darum mußt du auch jedes Tier bei Namen rufen können.“ Nach Gottes Befehl kamen nun alle Tiere vor Adam, verneigten sich vor ihm wie vor ihrem Zaren, und Adam gab einem jeden seinen Namen. Als so alle Tiere beim Vater Adam vorbeimarschiert waren, ordneten sie sich, ver­neigten sich vor ihm und gingen jedes an die Arbeit, die ihm Gott verordnet hatte.

Adam richtete sich nun auf und sprach zu den Obersten der Tiere: „Hört mich an, ihr Obersten, ich befehle euch, darauf bedacht zu sein, jeder für seine Untergebenen, daß jedes Tier ein Handwerk lernt und darin seine Arbeit hat; eins mag singen, eins pfeifen, eins mit den Flügeln rauschen, andere mit Armen und Beinen etwas verrichten. Mit einem Wort, jedes soll lernen was es kann, aber irgend etwas muß es verstehen; mag es das niedrigste Handwerk sein, lernen muß es. Nach vierzig Tagen erwarte ich euch hier an dieser Stelle, daß jedes Tier seine Kunst vor mir zeige. Und ihr Untergebenen, habt ihr gehört, was ich euren Obersten befohlen habe? Jedes von euch soll gehorsam das Handwerk lernen, das sein Oberster lehren wird. Wer nicht bis zum vier­zigsten Tage irgendeine Kunst gelernt hat, soll wissen, daß er dann vor der ganzen Versammlung beschämt wird, weil er nichts gelernt hat.“

Darauf gingen die Tiere fort, und jeder Oberste bemühte sich, seine Unter­gebenen irgendein Handwerk zu lehren. So waren neununddreißig Tage ver­gangen, und sie fingen an, die Tiere herbeizurufen und in Herden zu ver­sammeln, jede Art besonders, um nun zum Vater Adam zu gehen und das Handwerk zu zeigen, das jedes Tier von seinem Obersten gelernt hatte.

Der Oberste der Störche allein hatte vergessen, seine Störche irgend etwas zu lehren, aber zum Glück für die Störche hatte er davon gehört, wie man die anderen Tiere zusammenrief, daß sie zum Vater Adam gehen und zeigen sollten, was sie in den vierzig Tagen gelernt hatten. „Daß Gott erbarm,“ dachte er bei sich, als er merkte, daß er Adams Befehl vergessen hatte, „ich esse da immer Frösche und Schlangen und vergesse, meine Störche ein Handwerk zu lehren; das ist eine schöne Geschichte, wie wird das vor Vater Adam aus­gehen, ich werde da mit Schanden bestehen.“ In solchen Gedanken flog er zu seinem Nest und verfiel in Nachdenken, wie er es anfangen sollte, noch eine Kunst zu lernen und seine Störche zu lehren, daß er sich vor dem Vater Adam nicht zu schämen brauche.

Zu der Zeit spazierte der Baumhacker (Specht) von Baum zu Baum und klopfte an die Bäume, damit die Ameisen herauskämen und er sie verzehren könnte. Er wollte auch mit den Seinen zum Vater Adam, um dies sein Hand­werk zu zeigen.

Während nun der Storch nachdenklich dastand, hörte er das Klopfen des Baumhackers: tak, tak, tak!, und versuchte gleich, mit seinem Schnabel das Klopfen nachzumachen, aber so wie der Baumhacker brachte er es nicht her­aus, denn er vernahm nur, wie dessen Klopfen von einem nahen Berge wider­hallte, und statt tak, tak hörte er klak, klak. Dies Geklapper versuchte er mehr­mals, lernte es, versammelte sofort die Störche und lehrte sie klappern, wie er es selbst konnte, und am nächsten Morgen machten sie sich auf zum Vater Adam, ihre Kunst zu zeigen.

Am vierzigsten Tage waren alle Tiere bei Vater Adam versammelt, und als sie sich in Herden aufgestellt hatten, fragte er jeden, was er gelernt habe. Da fingen alle nach der Reihe an ihre Kunst zu zeigen. Zuerst brüllte der Löwe mächtig, so daß alle Tiere erschraken. Da verlieh ihm Adam, daß er Zar über alle Tiere sein sollte. Als der Esel das sah, beneidete er den Löwen und brüllte ebenfalls aus Leibeskräften, aber kein Tier erschrak vor seinem Gebrüll, und Adam verlieh zwar dem Esel, daß er brüllen dürfe, aber so, daß niemand vor seinem Gebrüll und Geschrei erschrecke. Daher kommt es, daß der Esel immer brüllt, um die Tiere zu erschrecken, weil er meint, er sei eben so gut wie der Löwe. Nach ihnen zeigten alle Tiere ihre Künste: einer singt, einer pfeift, einer kann mit den Flügeln, andere mit Armen und Beinen etwas ausrichten, und so zeigte jeder, was er konnte, zuletzt auch die Störche ihr Klappern. Die aber, die nichts gelernt hatten, verurteilte Vater Adam, für alle Zeit stumm zu sein. Und wirklich, so verblieben alle Tiere bei den Namen, wie sie Adam ihnen gegeben hatte, und bei den Künsten, die er ihnen damals verliehen hatte, so daß von da an bis heute und in alle Ewigkeit einige singen und auf die Weise miteinander reden und sich untereinander verstehen, andere aber stumm sind und sich nur durch Zeichen verständigen.

II. Beg und Fuchs.

Es lebte einmal in einem Dorfe ein Beg, der hatte nichts als ein Pferd, einen Jagdhund und eine Flinte; andere Beschäftigung hatte er nicht als die Jagd, und davon ernährte er sich. Eines Tages ging er auf die Jagd, zu Pferde, die Flinte auf der Schulter, den Hund neben sich, und zog auf das Gebirge. Als er dort auf eine ebene Stelle gekommen war, band er sein Pferd an eine Buche und ließ es dort, er selbst ging mit der Flinte auf der Schulter weiter durch den Wald. Während er so im Gebirge jagte, kam ein Fuchs zu seinem Pferde und legte sich daneben.

Der Beg verweilte längere Zeit im Walde, erlegte aber nur ein Reh. Als er nun zu seinem Pferde zurückkam, verwunderte er sich, da er den Fuchs neben dem Pferde liegen sah, legte gleich an und wollte ihn erschießen. Als der Fuchs das merkte, sprang er auf und bat den Beg, ihn nicht zu erschießen, er wolle ihm sein Pferd getreulich schützen und behüten.   Auf diese Bitte erbarmte sich der Beg und ließ den Fuchs am Leben; dann bestieg er sein Pferd, legte das Reh auf die Kruppe, nahm den Fuchs mit und ging nach Hause. Da bereitete er sich aus dem Reh das Abendessen, und das Eingeweide gab er dem Fuchs, damit auch der ein Abendessen habe. Am anderen Morgen zog der Beg wieder auf die Jagd und nahm zur Gesellschaft den Fuchs mit. Auf derselben Ebene band er wieder das Pferd an die Buche und ging ins Gebirge jagen; den Fuchs ließ er da, das Pferd zu bewachen. Während er fort war, blieb der Fuchs eine Zeitlang mit dem Pferd allein, aber bald kam ein Bär und wollte das Pferd auffressen; doch der Fuchs bat ihn, er möge dem Pferde nichts tun, sondern auf dessen Herrn warten, dabei würde ihm wohl sein, denn der Beg würde ihnen beiden bei sich zu Hause Nahrung geben. Der Bär ging darauf gern ein, legte sich mit dem Fuchs hin und wartete auf die Rückkehr des Herrn von der Jagd. Als der Beg zurückkam, verwunderte er sich( da er den Bären mit dem Fuchs bei dem Pferde liegen sah, faßte gleich nach seiner Flinte und legte auf den Bären an. Der Fuchs aber bat ihn, er möge dem Bären nichts tun, er wolle mit dem zusammen das Pferd bewachen und jederzeit zu Diensten sein. Darauf setzte der Beg die Flinte ab, warf die zwei Rehe, die er erlegt hatte, hinter sich aufs Pferd und begab sich in Ge­sellschaft von Bär und Fuchs nach Hause. Am nächsten Tage ging er wieder­um ebenso auf die Jagd; diesmal erschien ein Wolf, und auch den nahm er mit nach Hause; das nächste Mal kamen eine Maus und ein Maulwurf, dann wieder ein Wolf und der Vogel Kumrikuscha, der war so groß, daß er ein Pferd und einen Menschen wegtragen konnte.  Alle diese Tiere fütterte der Beg zu Hause; zuletzt kam auch noch ein Hase zu der Gesellschaft. Eines

Tages sprach der Fuchs zu dem Bären: „Geh, lieber Bär, bring einen Baum­stumpf her, auf den will ich mich setzen und euch einen Befehl geben, ihr aber sollt mir gehorchen.“ Darauf ging der Bär gleich in den Wald und brachte einen großen Baumstumpf; der Fuchs stieg hinauf und begann seine Rede: „Merkt auf, wir wollen unseren Beg verheiraten.“ Darauf antworteten die anderen: „Gut! Aber wie? Wir wissen ja nicht, wo wir ein Mädchen für ihn finden sollen.“ Darauf sagte der Fuchs: „Der Zar hat eine Tochter, mit der wollen wir unseren Beg verheiraten. Deshalb geh du Kumrikuscha vor den Palast des Zaren und warte, bis seine Tochter zum Spaziergang herauskommt, dann ergreife sie und bringe sie hierher.“ Da begab sich Kumrikuscha sogleich vor den Zarenpalast und wartete auf die Tochter. Gegen Abend kam sie mit ihrer Dienerin heraus, um einen Spaziergang zu machen, Kumrikuscha flog herzu, ergriff sie, setzte sie auf den  Rücken, und nun fort des Weges, den er gekommen war.

Als der Zar vernahm, was seiner Tochter geschehen war, wurde sehr er be­kümmert und versprach sogleich dem viele Schätze, der sie ihm wiederfinden würde; aber ganz vergeblich, denn niemand wollte es unternehmen. Da auf einmal fand sich eine Zigeunerin ein, ging zum Zaren und sagte: „Herr, was willst du mir geben; ich werde sie dir wiederfinden.“ Als der Zar das hörte, wurde er froh und rief: „Fordere was du willst, wenn du sie nur findest.“ Darauf ging die Zigeunerin nach Hause, nahm ihre Bohnen und zauberte da­mit nach alter Weise; dadurch erfuhr sie, daß die Zarentochter sich weit weg befinde, zehn Tagereisen von da, und rüstete sich gleich zur Reise dahin. Sie nahm ihren Teppich und eine Peitsche, setzte sich auf den Teppich und hieb mit der Peitsche darauf. Da erhob sie sich in die Luft und flog grades-wegs in die Gegend, wo der Beg sich mit der Zarentochter befand. Etwas entfernt vom Hofe des Begs ließ sie sich nieder, ließ Teppich und Peitsche dort zurück, schlich um das Gehöft herum und wartete, daß die Zarentochter zum Spaziergang herauskäme.   Nach einiger Zeit kam sie wirklich, die Zi­geunerin eilte gleich auf sie zu und fing ein Gespräch mit ihr an. Als sie so im Gespräch sich ziemlich weit vom Hofe entfernt hatten, forderte die Zigeunerin die Zarentochter auf mit ihr zu kommen, und diese folgte ihr. Da erblickte sie den Teppich, den die Zigeunerin ausgebreitet hatte und sagte: „Da ist ein Teppich, setzen wir uns darauf!“ Das kam der Zigeunerin gerade recht, sie liefen beide zu dem Teppich hin und setzten sich darauf. Darauf nahm die Zigeunerin die Peitsche, tat einen Hieb auf den Teppich und erhob sich in die Luft, gradeswegs zu dem Zaren. Als der seine Tochter erblickte, wurde er froh und beschenkte die Zigeunerin reichlich, die Tochter aber schloß er in ein Zimmer ein und verbot ihr, jemals irgendwohin herauszugehen, gab ihr auch zwei Dienerinnen bei, die sie bedienen sollten.

Als der Fuchs vernahm, was aus der Frau des Begs geworden war, ver­sammelte er seine Genossenschaft und hielt ihnen eine Rede: „Wir haben zwar unseren Beg mit der Zarentochter verheiratet, aber man hat sie uns ge­stohlen, und nun ist unser Beg wieder Junggesell. Deshalb müssen wir ihm jetzt die Zarentochter wieder holen, aber das ist nicht leicht für uns, denn der Zar hat sie eingeschlossen und läßt sie nirgendhin herausgehen. Darum will ich mich in eine schöne bunte Katze verwandeln, geziert mit allen Farben, und will unter dem Fenster der Zarentochter spielen. Wenn sie mich sieht, wird sie ihre Dienerinnen schicken mich zu fangen; ich lasse mich aber nicht fangen, ehe sie selbst kommt; und wenn sie kommt, dann erscheine du dort, Kumrikuscha, ergreife sie und bringe sie gleich zu unserem Beg; ich will schon zusehen, daß ich heil davonkomme und sie mich nicht fangen.“ Als so der Fuchs alle angewiesen hatte, wie sie verfahren sollten, stimmten alle zu. Darauf nahm Kumrikuscha den Fuchs unter seine Flügel und flog in das Reich, wo die Zarentochter sich befand, gradeswegs zu dem Zarenpalast. Dort ließ der Vogel sich sanft nieder, der Fuchs verwandelte sich sogleich in eine bunte Katze, geziert mit allen Farben, ging unter den Altan der Zarentochter und fing dort an zu spielen und herumzutanzen. Als sie das bemerkte, schickte sie gleich ihre Dienerinnen, die Katze zu fangen und sie ihr zu bringen. Die Dienerinnen gingen auch gleich hinab und versuchten auf alle Weise, die Katze zu fangen, aber die ließ sich nicht greifen. Darauf kam die Zarentochter selbst herab sie zu fangen, und sobald sie auf die Katze zuging, fand sich Kumri­kuscha dort ein, packte sie und eilte mit ihr zurück, der Fuchs lief hinterher. Als der Zar vernahm, was mit seiner Tochter geschehen war, ließ er seine Jagdhunde los, um die Katze zu fangen, die da gespielt hatte. Als die Katze merkte, daß die Hunde sie fangen wollten, schlüpfte sie in eine Höhle, die Hunde konnten sie da nicht herausziehen und kehrten um; die Katze kam wieder heraus, verwandelte sich in den Fuchs und ging dem Kumrikuscha nach, der dem Beg schon die Zarentochter, seine Frau, gebracht hatte.

Als nun der Zar sah, daß er seine Tochter nicht wieder bekommen konnte, rüstete er ein gewaltiges Heer und führte es gegen die Tiere. Da rief der Fuchs alle Tiere, die mit ihm bei dem Beg waren, zusammen: den Bären, den Wolf, den Hasen, den Maulwurf, die Maus und den Vogel Kumrikuscha, und sprach zu ihnen: „Seht, der Zar hat sein Heer gegen uns ausgeführt und will uns alle vertilgen; also laßt auch uns gegen ihn unsere Tierscharen aufbieten. Wie­viel Bären kannst du, lieber Bär, zusammenbringen?“ — „Dreihundert.“ — „Und du, Wolf, wieviel Wölfe?“ — „Fünfhundert.“ — „Und du, Hase, wie­viel Hasen?“ — „Achthundert.“ — „Und du, Maus, wieviel Mäuse?“ — „Dreitausend.“ — „Und du, Maulwurf, wieviel Maulwürfe?“ — „Acht­tausend.“ — „Und du, Kumrikuscha, wieviel kannst du von den Deinigen zusammenbringen?“ — „Etwa zwei- oder dreihundert.“ — „Gut, so geht alle und sammelt so viel jeder gesagt hat; wenn ihr sie zusammenhabt, führt sie hierher, ich werde euch dann angeben, was ihr zu tun habt.“ Als der Fuchs seine Rede geendet hatte, gingen sie alle in die Wälder und sammelten das Heer. Nach einiger Zeit vernahm man von allen Seiten ein furchtbares Ge­schrei und Getöse, das Bärenheer, das Wolfsheer und alle anderen kamen von überallher herbei. Als sie nun alle hübsch beisammen waren, trat der Fuchs unter sie und begann zu ihnen zu reden: „Ihr Bären und Wölfe rückt zuerst aus, und wenn das Zarenheer im ersten Nachtlager ist, zerreißt ihr alle ihre Pferde; ihr Hasen lässt euer Wasser in die Kanonen, daß sie nicht losgehen können. Im zweiten Nachtlager zernagt ihr Mäuse ihnen alle Sättel, denn sie werden wieder Pferde gekauft haben.  Im dritten Nachtlager grabt ihr Maul­würfe rings um das Heer des Zaren fünfzehn Ellen in die Breite und zwanzig Ellen in die Tiefe; und ihr Kumrikuschas werft von oben mit Steinen, wenn das Heer morgen heranrückt.“ Damit gingen alle ab. Im ersten Nachtquartier des Zaren kamen die Bären und Wölfe und zerrissen in der Nacht alle Pferde des Heeres. Das meldeten am nächsten Morgen die Soldaten dem Zaren, der wurde nachdenklich, was das sein könnte, kaufte aber gleich wieder andere Pferde und zog mit seinem Heere weiter.  Im zweiten Nachtlager kamen in der Nacht die Mäuse und zernagten alle Sättel. Das bemerkten in der Frühe die Soldaten, meldeten es sogleich dem Zaren, der kaufte andere Sättel und zog weiter.  Beim dritten Nachtlager schickte der Fuchs die Maulwürfe, die um das ganze Heer des Zaren fünfzehn Ellen breit und zwanzig Ellen tief graben sollten.  Um ihnen die Arbeit zu erleichtern, schickte er die Bären mit, die ihnen helfen sollten die Erde herauszuschaffen.  Etwa um Mitternacht ver­teilten sich die Maulwürfe rings um das Heer und fingen an unter der Erde zu graben, nur an einer Stelle ließen sie ein Loch, durch das sie die Erde hin­auswerfen wollten; die Bären warteten draußen und trugen die Erde weg, etwas von dem Heere entfernt. Am nächsten Morgen stieg das Heer des Zaren zu Pferde und zog weiter.  Da aber fingen sie an in die Erde einzusinken, und der Fuchs schickte die Kumrikuschas, von oben Steine auf sie zu werfen. Als nun der Zar sah, daß sein Heer zugrunde geht, rief er aus: „Lasst uns um­kehren ! Das ist eine Strafe Gottes dafür, daß wir gegen die Tiere zu Felde gezogen sind.   Mögen sie meine Tochter behalten, die sie entführt haben.“ Darauf wandten sie sich sogleich zum Rückzug, aber auch dort fingen sie wieder an einzusinken. Da rief der Zar: „Wenn uns schon Gott damit straft, daß die Erde unter uns birst, warum treffen uns noch Steine von oben?“ Nach und nach kamen alle um sammt dem Zaren. Einige Zeit nachher verlegte der Fuchs seinen Thron nach Stambul und begann dort zu herrschen; der Beg gab die Jagd auf und lebte mit dem Fuchse vergnügt in Stambul, die Zaren­tochter blieb seine Frau, die ihm niemand mehr gestohlen hat.

III. Die Nachtigall Gisar.

Es war einmal ein König, der hatte drei Söhne; sein Verlangen war immer nach Moschee und Gebet. So baute er eine schöne Moschee, und als die Bau­leute fertig waren, ging er hin zu beten. Während er betete, kam ein Derwisch und sagte zu ihm: „Die Moschee ist schön, aber das Beten ist unwirksam.“ Als der König das gehört hatte, riss er die Moschee von Grund aus nieder und baute anderswo eine noch schönere.  Als sie fertig war, ging er wieder hin zu beten; der Derwisch kam und sagte dasselbe wie vorher. So riss der König auch diese Moschee wieder ab und baute eine andere; darauf verwendete er so viel Geld, daß er sein ganzes Vermögen ausgegeben hatte, das ganze Königreich. Als auch die dritte Moschee fertig war, ging er wieder hin zu beten. Während seines Gebetes kam der Derwisch und sagte wieder dieselben Worte. Da erhob sich der König, ging in seinen Palast und saß betrübt da, denn um nochmals die Moschee abzureißen und eine neue zu bauen, hatte er nichts mehr, und falls er beten ginge, wäre das Gebet unwirksam. Seine Söhne be­merkten, daß er so in Gedanken und sehr betrübt dasaß und sprachen: „Was hast du, Vater, daß du so betrübt bist? Wir haben noch Vermögen, wir sind ja Könige; warum bist du so in Gedanken versunken?“ Der König antwortete ihnen : „Ich habe mein ganzes Vermögen auf die Moschee verwendet, und das Beten gelingt mir nicht.“ Darauf sagten die Söhne: „Warum bleibt dir das Gebet unwirksam?“   Er antwortete: „Jedesmal wenn ich in der Moschee bete, kommt ein Derwisch und spricht zu mir: ,Das Beten ist unwirksam‘.“ Darauf sagten die Söhne: „Geh morgen in die Moschee und bete, wir wollen draußen bleiben und aufpassen, daß wir den Derwisch greifen, damit wir sehen, was das auf sich hat.“ So geschah es, der Derwisch kam wie sonst und sagte zu dem König: „Die Moschee ist schön, aber das Beten ist unwirksam.“ Als nun der Derwisch sich anschickte aus der Tür zu gehen, ergriffen ihn die Söhne und sagten zu ihm: „Warum sprichst du die Worte: die Moschee ist schön, und das Beten ist unwirksam?“  Der Derwisch antwortete: „Diese Moschee ist sehr schön, wie sonst keine in der Welt, aber sie müßte noch die Nachtigall Gisar haben, und die müßte darin singen, dann würde sie etwas sein, was es sonst in der Welt nicht gibt.“ Die Söhne fragten: „Wo ist die Nachtigall Gisar? Wir wollen gehen und sie holen.“ Der Derwisch antwortete: „Ich habe davon gehört, aber wo sie ist, weiß ich nicht.“ Da ließen sie den Derwisch gehen, gingen in den Palast und sagten zu ihrem Vater: „Der Der­wisch hat uns gesagt, daß die Nachtigall Gisar fehlt, aber wo die ist, weiß er auch nicht; jetzt wollen wir gehen und sehen, daß wir herausfinden, wo sie ist.“   So machten sich die drei Söhne auf, die Nachtigall Gisar zu suchen. Als sie etwa zwanzig Tagereisen gemacht hatten, kamen sie an einen Ort, wo sie auf drei Wege trafen, an jedem war ein Stein, auf dem etwas geschrieben stand; an zwei Wegen besagte die Schrift: „Wer diesen Weg geht, kommt zurück,“ und an einem stand geschrieben: „Wer diesen Weg geht, kommt nicht mehr zurück.“ Die drei Brüder blieben nun da stehen und berieten sich, und der jüngste sagte: „Wir wollen uns hier trennen und jeder seinen Weg einschlagen; hier wollen wir unsere drei Ringe lassen, und wer zuerst zu­rückkommt, soll gehen und die anderen suchen.“ Sie ließen die Ringe unter einem Stein, umarmten sich und gingen auseinander. Der jüngste nahm den Weg, wo geschrieben stand: „Wer diesen Weg geht, kommt nicht mehr zu­rück,“ die beiden anderen gingen die Wege, auf denen man zurückkommen konnte.  Der eine der beiden älteren Brüder ging in eine Stadt und wurde Barbier, der andere in eine andre Stadt und machte ein Kaffeehaus auf; dort blieben sie und besorgten ihre Geschäfte. Der jüngste, der den Weg genommen hatte, auf dem man nicht zurückkommen sollte, geriet in eine Wildnis, wo es kein Dorf, kein Gasthaus und nirgends einen Menschen gab, nur wilde Tiere und andere wilde Geschöpfe. Unterwegs traf er auf eine wilde Frau, die kämmte ihr Haar mit Ginster; der Bursche ging hin, kämmte sie mit einem Kamm und nahm ihr den Schmutz und die Läuse ab, die sie auf dem Kopf hatte; und als er sie so davon befreit hatte, sagte sie zu ihm: „Was möchtest du von mir dafür, daß du mir diese Wohltat getan und mich von den Läusen befreit hast?“ Er antwortete: „Ich möchte nicht, daß du mir etwas gibst, aber ich möchte dich etwas fragen, und wenn du es weißt, sag’s mir.“ Sie fragte darauf: „Was willst du mich fragen? ‚ Der Bursche antwortete: „Ich suche die Nach­tigall Gisar; hast du irgendwo von ihr gehört, da du doch im Gebirge herum­wanderst?“ Darauf sagte sie: „Hier ist der Vogel, den du suchst, nicht; kehr nur wieder um, denn hier sind lauter wilde Tiere; auch ich, der ich doch ein wilder Mensch bin, bin niemals über das Gebirge gegangen, denn dort sind sehr große wilde Tiere.“ Der Bursche erwiderte: „Ich gehe, und wie es Gott gibt, möge es geschehen.“ Damit ging er von ihr fort und stieg auf einen Berg. Dort sah er ein Haus, das war das Haus des Tigers; dahin ging er. Der Tiger war nicht zu Hause, nur seine Frau, die war beim Brotbacken. Der Bursche redete sie an, und sie antwortete: „Was wolltest du hier? Mein Mann kommt jetzt, und der wird dich fressen.“  Er sagte darauf: „Da ich jetzt einmal da bin, macht mit mir, was ihr wollt.“ Als nun die Zeit kam, daß die Tigerfrau das Brot in den Backofen schieben sollte, verstand sie die Kohlen nicht anders auszubreiten als mit ihren Brüsten; dabei verbrannte sie sich jedesmal und war zehn Tage krank. Als der Bursche das sah, sprach er zu ihr: „Laß mich die Kohlen ausbreiten,“ schnitt einen Zweig ab und breitete sie damit aus. Als die Frau so gelernt hatte, Brot zu bereiten ohne krank zu werden, freute sie sich sehr, aber der Bursche tat ihr leid, daß der Tiger kommen und ihn fressen würde. Als sie nun das Brot aus dem Ofen genommen hatte, gab sie dem Burschen zu essen und versteckte ihn dann in einer Kiste.

Darauf kam der Tiger nach Hause, fand seine Frau nicht krank, sondern auf den Füßen und sagte ärgerlich zu ihr: „Warum hast du heute kein Brot bereitet?“ Sie antwortete: „Ich habe Brot bereitet,“ und er: „Wenn du das Brot bereitetest, wurdest du immer krank, warum bist du jetzt nicht krank geworden?“ Sie antwortete: „Ich habe ein Mittel gefunden, mich nicht zu verbrennen, wenn ich Brot bereite“; darauf zeigte sie es ihm und sagte: „Wenn ich hier einen Menschen hätte, der mich lehrte, mich beim Brotbereiten nicht zu verbrennen, was würdest du mit ihm machen?“ Der Tiger antwortete: „Mit dem Menschen würde ich mich verbrüdern.“ Da ließ sie den Menschen aus der Kiste heraus und sagte zu ihrem Manne: „Der ists, der mich belehrt hat,“ und so umarmten sich der Mensch und der Tiger und schlössen Freund­schaft, und der Tiger fragte ihn: „Weshalb bist du hierhergekommen?“ Der Mensch antwortete: „Ich suche einen Vogel, den man die Nachtigall Gisar nennt, hast du etwas von dem gehört oder nicht?“ Darauf sagte der Tiger: „Hier ist dieser Vogel nicht, aber ich habe einen Bruder, der ist sehr alt, die Augenlider sind ihm heruntergefallen und decken die Augen zu, so daß er nicht sehen kann; dahin sollst du gehen“; auch zeigte er ihm den Weg zu dem Hause und befahl ihm an: „Wenn du nahe zu dem Hause kommst, wirst du die Frau des Löwen, meines Bruders, treffen; sie ist alt; sie hat sich gerade umgewandt und sieht auf das Haus zu; ihre Brüste hat sie über die Schultern zurückgeworfen. Du mußt nun von rückwärts kommen und die Brust in den Mund nehmen; dann wird sie zu dir sagen: Wer bist du, der da meine Brust nimmt, und du antworte: Ich bin dein Sohn, ich erkenne dich als meine Mutter. Dann wird mein Bruder von drinnen fragen: Wer ist da?, und du sagst darauf sogleich: Ich bin der Freund deines Bruders, des Tigers, und er schickt mich zu dir wegen einer Angelegenheit, die mich angeht. Er wird dann sagen: Komm herein. Du gehst hinein und hebst ihm die Augenlider auf, daß er dich sehen kann. Er kann wissen, wo die Nachtigall Gisar ist, wenn er es aber nicht weiß, geh nicht weiter, sondern kehre um.“ Darauf umarmten sich der Tiger und der Bursche und gingen auseinander, der Bursche tat, wie ihm der Tiger geheißen hatte und fragte den Löwen, ob er wisse, wo die Nachtigall Gisar sei. Der Löwe antwortete: „Der Vogel ist nirgends, kehre um, denn von hier weiter sind wilde Geschöpfe aus der Geisterwelt, so daß auch ich nicht dadurch kom­men kann, der ich doch der König der wilden Tiere bin.

Aber der Bursche kehrte nicht um trotz allem, was ihm der Löwe sagte, sondern nahm Abschied von ihm und ging den Weg, von dem ihm der Löwe gesagt hatte, er solle ihn nicht gehen. So ging er eine lange Strecke, da er­schienen drei Adler und machten den Mund auf, um den Burschen zu fressen. Er aber zog den Säbel, hieb dem einen den Flügel, dem anderen das Bein, dem dritten den Schnabel ab. Darauf gingen sie ihres Weges, und der Bursche setzte auch seinen Weg fort. Nach einer Weile sah er plötzlich ein Haus auf einer großen Ebene und ging darauf zu; dort traf er eine alte Frau, die einen Kringel auf die Glut gelegt hatte und ihn buk. Als sie ihn sah, rief sie aus: „Was wolltest du hier, mein Sohn? Meine Töchter werden kommen und dich fressen.“ Der Bursche antwortete: „Da ich nun einmal hier in deiner Hand bin, mach mit mir, was du willst.“ Da nahm die Alte den Kringel vom Feuer und gab ihm zu essen. Darauf deckte sie den Tisch mitten im Hause, stellte mitten darauf eine Schüssel mit Wasser, setzte rings um den Tisch die Speise auf und schloß dann den Burschen in einen Schrank ein, ließ ihm aber ein Loch, damit er sehen könne, was geschähe. Da sah der Bursche nach kurzer Zeit den Adler kommen, dem er den Flügel abgehauen hatte, der kam zum Fenster herein, ging zu der Wasserschüssel auf dem Tisch, badete sich und wurde ein Mädchen. Bald darauf kamen auch die anderen Adler, die er ver­wundet hatte, badeten sich und wurden zu Mädchen. Die sagten nun zu der Alten, ihrer Mutter: „Es riecht uns nach Menschen.“ Die Alte antwortete: „Ihr kommt von Menschen, darum riecht es euch danach.“ Als nun die Mäd­chen gegessen hatten, sagte die Alte: „Wenn ich hier einen Mann hätte, was würdet ihr mit ihm machen?“ Darauf sagte die älteste: „Bei der Seele des Mannes, der mir den Flügel abgehauen hat, ich werde ihm kein Leid antun“; und die zweite sagte: „Bei der Seele dessen, der mir das Bein abgehauen hat, ich werde ihm kein Leid antun.“ Ebenso sprach auch die jüngste; darauf ließ die Alte den Burschen heraus und er sagte: „Ich bin der, der euch verwundet hat.“

Da freuten sie sich sehr, daß sie dem Burschen wieder begegnet waren, und fragten ihn: „Weshalb bist du hierhergekommen?“ Er antwortete: „Ich suche die Nachtigall Gisar, und wen ich auch gefragt habe, bis ich hierhergekommen bin, keiner wußte etwas von ihr.“ Sie aber sagten: „Wir wissen, wo die Nachtigall Gisar ist, aber wenn du zu Fuß gehen willst, geschweige, daß du nicht durchkommst bis dahin, aber auch wenn du durchkommst, sind es drei Jahre Reise, bis du an den Ort kommst.“ Darauf sagte er: „Aber was soll ich tun?“, und sie sprachen: ,,Du sollst uns etwas Gutes erweisen, was wir von dir wünschen, dann wollen wir dich in einer Stunde dahin bringen, und du kannst die Nachtigall nehmen.“ Der Bursche fragte: „Was wünscht ihr von mir, was soll ich euch erweisen?“, und sie sagten: „Du sollst drei Mo­nate bei uns bleiben, bei jeder von uns einen Monat.“

Nach den drei Monaten brachten sie ihn an den Ort, wo die Nachtigall Gisar war. Aber die Besitzerin der Nachtigall war die Schöne der Erde und Königin; an ihrem Hofe hatte sie fünfhundert Wächter, an der äußeren Tür wachte der Wolf, an der zweiten der Tiger, an der Tür ihres Gemaches der Löwe. Dorthin brachten den Burschen seine Freundinnen und setzten ihn im Hofe ab gerade zu der Zeit, als alle die Männer, der Wolf, der Tiger, der Löwe und auch die Schöne der Erde eingeschlafen waren, und er ging hindurch und in ihr Gemach. Dort hatte sie vier Kerzen angezündet und andere vier standen auf dem Tisch nicht angezündet; die angezündeten waren beinahe zu Ende. Als nun der Bursche hineinkam, zündete er die vier frischen Kerzen an, löschte die brennenden aus, nahm den Käfig mit der Nachtigall Gisar und ging hin­aus. Aber als er aus der Tür trat, erwachten alle, doch ehe sie ihn ergreifen konnten, nahmen ihn seine Freundinnen auf und brachten ihn wieder in ihr Haus. Dort blieben sie noch einige Zeit zusammen, dann sagte der Bursche: „ Jetzt bringt mich in mein Land,“ und sie brachten ihn an den Ort, wo er »ich früher von seinen Brüdern getrennt hatte. Dort ging er zu dem Stein, wo sie die Ringe gelassen hatten und fand die Ringe seiner Brüder. Nun schlug er den Weg ein, den seine Brüder genommen hatten, fand den einen als Barbier, den anderen als Kaffeewirt, und sagte zu ihnen: „Kommt, wir wollen zum Vater gehen; ich habe die Nachtigall Gisar gefunden und mit­gebracht.“

So machten sich die drei Brüder zusammen auf den Weg zu ihrem Vater. Unterwegs bekamen sie Durst; eine Quelle fanden sie nicht, trafen aber auf einen Brunnen, doch hatten sie nichts, womit sie Wasser schöpfen konnten. Da sagten die beiden älteren zu dem jüngsten Bruder: „Steig du hinein und schöpfe uns Wasser, daß wir trinken können.“ Damit banden sie ihn an ein Seil und ließen ihn hinab, schnitten aber das Seil durch und gingen davon. Aber der Brunnen hatte kein sehr tiefes Wasser, so daß der Bursche hätte er­trinken können, sondern es reichte ihm nur bis an den Hals, so daß der Kopf draußen blieb. Als so die beiden den jüngsten Bruder in den Brunnen ge­worfen hatten, hörte die Nachtigall Gisar auf zu singen. So nahmen sie den Vogel und brachten ihn zu ihrem Vater. Der fragte nach dem jüngsten „Was habt ihr mit ihm gemacht?“ Sie antworteten: „Er ist ein Gauner geworden und treibt sich überall in den Städten herum.“

Da zog nun die Königin, die Schöne der Erde, aus; sie kam, den König zu bekriegen und den Mann zu fordern, der den Vogel genommen hatte. Da machte sich der älteste Bruder auf und ging zu ihr; sie fragte ihn: „Du bist gekommen und hast die Nachtigall Gisar genommen?“ Er antwortete ja. Darauf sagte sie: „An welcher Stelle hast du sie gefunden?“ Er antwortete: „Auf einer Zypresse.“ Da ließ sie ihn niederwerfen und ihre Leute mussten ihn prügeln, bis er unter den Schlägen starb. Als der zweite Bruder vernahm, daß sie den ältesten getötet hatte, und als sie die Kanonen auf den Königs­palast richtete und auch die Stadt und den Palast halb zerstört hatte, da ging er dann aus Furcht zu seinem Vater und sagte ihm die Wahrheit, was sie ge­tan hatten, daß sie den jüngsten Bruder in den Brunnen geworfen hatten. Der König schickte sogleich Leute hin, die holten den jüngsten Sohn halb tot aus dem Brunnen, er konnte gerade noch atmen, aber kein Wort hervor­bringen. Nach einigen Tagen kam er zu sich und sprach wieder. Sobald er sprach, fing die Nachtigall Gisar an zu singen und sang so schön, daß alle Leute von Sinnen kamen. Als die Schöne der Erde die Stimme der Nach­tigall hörte, schickte sie sogleich Leute, die von dem Tor des Königspalastes bis zu ihrem Dampfschiff rotes Tuch ausbreiten mussten. Nun stieg der Königs­sohn zu Pferde, nahm die Nachtigall in die Hand und ritt über das Tuch. Als die Leute ihn so reiten sahen, erschraken sie sehr und dachten: „Jetzt wird die Schöne der Erde die Stadt um und um kehren“; aber sie irrten sich. Als der Königssohn nahe bei dem Dampfschiff war, kam die Schöne der Erde heraus und empfing ihn; sie gingen auf das Schiff, und sie fragte ihn: „Wo hast du die Nachtigall Gisar genommen?“, und er erzählte ihr getreulich, wie er den Vogel genommen hatte. Nun wurden sie einig und heirateten sich; so bekam der Königssohn die Schöne der Erde, und sie leben noch heute, freuen sich ihres Lebens und herrschen als Könige.

IV. Der Wolf mit dem eisernen Kopfe.

Es war einmal ein Hirt. Eines Tages, als er die Schafe hütete, kam aus dem Walde der Wolf mit dem eisernen Kopf und sprach zu ihm: „Peter, jetzt will ich dich auffressen.“ Peter legte sich aufs Bitten: „Tu es nicht, Wölflein, tu es jetzt nicht; warte, bis ich mich verheirate, dann komm zur Hochzeit und friß mich.“

Der Wolf willigte ein, da er hoffte, auf der Hochzeit außer dem Hirten noch einen zu erbeuten. Bis es zum Heiraten kam, hatte der Hirt den Wolf ganz vergessen. Aber als der Hochzeitszug zu Wagen mit der Braut am Walde vorbeikam, trat der Wolf mit dem eisernen Kopf heraus und vor sie hin und rief: „Steig vom Wagen, Peter, daß ich dich fressen kann.“ Und mein Peter sprang ab, um nur die übrigen Hochzeitsleute zu retten, und lief davon; der Wolf hinter ihm her. • Peter rannte und rannte, sah sich zuweilen um, aber der Wolf war immer hinterher. So war er beständig bis zum Abend gelaufen; als es gegen die Nacht ging, bemerkte er ein Haus und stürzte hinein. Dort sah er eine alte Frau, wie sie den Ofen heizte und mit bloßen Händen das Feuer schürte. Das war die Sonnenmutter. Peter schnitt schnell seinen Hemden­schoß ab und wickelte ihre Hände hinein; die Sonnenmutter aber fragte ihn: „Woher kommst du, Christenmensch?“ — „Die Not hat mich hergetrieben; der Wolf mit dem eisernen Kopf verfolgt mich, vor dem habe ich Schutz ge­sucht.“ Da gab sie ihm zu essen und sie legten sich schlafen. Am nächsten Morgen wollte Peter weitergehen; beim Abschied schenkte ihm die Sonnen­mutter ein rotes Tuch und sprach zu ihm: „Da, nimm dies Tuch, Peter; wenn du an ein Gewässer kommst, schwinge das Tuch darüber, das Wasser wird sich dann teilen und du kannst trockenen Fußes hindurchgehen. Dann schwinge das Tuch wieder und das Wasser wird sich wieder schließen. Ebenso mach es, wenn du an einen Wald kommst.“

Er bedankte sich sehr bei ihr und ging fort. Aber kaum hat er sich etwas vom Hause entfernt, ist auch der Wolf mit dem eisernen Kopfe wieder da und stürzt hinter ihm her, und Peter läuft wieder los. So kam er an ein Wasser, schwenkte das rote Tuch, das ihm die Sonnenmutter gegeben hatte, darüber, das Wasser zerteilte sich und er kam wie auf trockenem Boden ans andere Ufer. Da schwenkte er wieder das Tuch, das Wasser schloß sich zusammen und der Wolf mit den eisernen Zähnen blieb diesseits. Peter ging nun weiter, aber der Wolf sprang ins Wasser und schwamm auf die andere Seite hinüber, und wieder hinter Peter her; dem blieb nichts übrig, als wieder zu laufen. Der Wolf hatte ihn beinahe eingeholt, da bemerkte er ein Haus und stürzte hinein. In dem Hause wohnte die Mondesmutter. „Grüß Gott, Mondesmutter,“ sagte Peter und küßte ihr die Hand. — „„Gott helf dir, Christenmensch. Was gibt’s Gutes?““ — „Gar nichts Gutes,“ antwortete Peter, „mich ver­folgt da der Wolf mit dem eisernen Kopf und ich bin in dein Haus geflohen.“ Die Mondesmutter gab ihm zu essen und sie gingen schlafen.

Als Peter am nächsten Morgen weiterging, gab ihm die Mondesmutter einen kleinen Brotlaib: „Nimm diesen Laib, und wenn du in Not kommst, leg ihn beim Schlafengehen unter den Kopf, dann wirst du sehen, was sich ereignen wird.“ Peter bedankte sich bei ihr und ging. Aber so wie er sich vom Hause entfernte, wartete der Wolf mit dem eisernen Kopf schon auf ihn, und wieder hinter ihm her, und Peter, was bleibt ihm übrig, muß rennen. So läuft er und läuft und der Wolf immer hinter ihm. Schon wollte er ihn packen, da erreicht Peter einen dichten Wald, schwenkt das Tuch, die Bäume treten auseinander und er fährt hinein. Dann schwenkt er wieder das Tuch, und der Wald schließt sich wieder so dicht, daß keine Ameise hätte durch können. Aber der Wolf mit dem eisernen Kopf hat auch eiserne Kiefer und eiserne Zähne und fängt an die Bäume zu benagen. Er nagt und nagt, daß die Splitter nur so um ihn fliegen. Der Wald war sehr groß, aber der Wolf nagt einen Baum nach dem anderen durch; sie fallen um, und er kommt hin­ein. Als Peter nun mitten im Walde war, legte er den Brotlaib unter den Kopf und wandte sich zum Schlafen. Als er am anderen Morgen aufgewacht war, da gab es was zu sehen: um ihn stehen drei Tiere, Löwe, Bär und Luchs, sehen ihn an und wedeln mit den Schweifen. Peter zerbrach den Brotlaib in drei Stücke und gab sie ihnen. Aber der Wolf mit dem eisernen Kopf hatte die ganze Nacht an dem Walde genagt und hatte ihn beinahe durchgenagt. Da schwenkte Peter das Tuch nach der anderen Richtung hin und der Wald tat sich auf. Er kam mit seinen Tieren ins Freie, schwenkte das Tuch und schloß den Wolf im Walde ein. Nun machte er sich mit seinen drei Tieren nach Hause auf. Unterwegs überfiel ihn die Dunkelheit bei einer Hütte; er ging hinein; auf der Ofenbank saß eine alte Frau. „Guten Abend, Mutter.“ — „„Gott segne dich, Peter, woher kommst du?““ — „Es verfolgt mich da der Wolf mit dem eisernen Kopf,“ antwortete er, ahnte aber nicht, daß die Alte die Mutter des Wolfes mit dem eisernen Kopf war und erzählte ihr alles der Reihe nach, wie es gewesen war, zuletzt sagte er: „Und so habe ich ihn in den großen Wald da eingeschlossen.“

Damit gut; die Wolfsmutter tat, als wüsste sie von nichts und sagte zu Peter: „Möchtest du bei mir als Hirt bleiben? Mein Hirt ist davongegangen und ich habe niemand, der mir die Schafe hüte.“ Peter wollte nichts davon hören und sagte, er sehne sich nach Hause, habe gerade geheiratet und die junge Frau verlassen. Als aber die Alte nicht nachließ und guten Lohn versprach, willigte er endlich ein und sie wurden einig. Als sie nun schlafen gehen sollten, sagte die Wolfsmutter zu ihm: „Gib das rote Tuch her, Peter, ich will’s verwahren, daß du es nicht verlierst.“ Das wollte Peter durchaus nicht, da sie aber wieder wie eine Zigeunerin quälte, gab ers ihr; und als Peter eingeschlafen war, stahl sie sich leise fort, ging zum Walde und machte ihren Sohn frei.

Am anderen Tage, als Peter die Schafe auf die Weide getrieben hatte, beriet sich der Wolf mit seiner Mutter, wie er Peter ans Leben könnte. Offen wagte er nicht ihn anzugreifen, weil ihn die drei Tiere behüteten. „Aber weißt du was?“ sagte der Wolf zu seiner Mutter, „grabe da, wo er morgen die Schafe melken wird, eine große Grube und decke sie mit Brettern zu. Ich verberge mich darin, und wenn er anfängt, die Schafe zu melken, springe ich heraus und fresse ihn.“ Was sie ausgedacht hatten, führten sie auch aus; sie gruben eine große Grube, bedeckten sie mit Brettern, und der Wolf versteckte sich darin. Aber als Peter die Schafe molk, legten sich seine Tiere gerade auf die Bretter und so konnte der Wolf nichts machen. Als nun Peter wieder hinter den Schafen herging, kam der Wolf mit den eisernen Zähnen aus der Grube heraus und sagte zu seiner Mutter: „Ich hätte ihn schon lange, aber ich habe Angst vor seinen Tieren, daß sie mir den Pelz waschen. Aber weißt du was? Wenn er morgen wieder auf die Weide geht, hänge dich mit Bitten an ihn, daß er die Tiere dalässt; wenn du die dann einschließt, werde ich leicht mit ihm fertig.“

Als Peter sich am anderen Morgen mit den Schafen aufmachte, legte sich die Wolfsmutter aufs Bitten, daß er die Tiere zu Hause ließe. Peter wollte sich nicht darauf einlassen, aber als sie ihm zusetzte wie eine Zigeunerin, ließ er sich anführen und ließ ihr seine Tiere da; sie fütterte sie und schloß sie ein.

Darauf lief der Wolf mit den eisernen Zähnen geradeswegs hinter Peter her, und der, als er ihn von weitem bemerkte, wußte was los ist und legte sich aufs Laufen, kam in den Wald, und — wohin konnte er sonst — kletterte auf einen hohen Baum. Aber da war auch der Wolf und fing an, den Baum zu benagen und als er ein Stück herausgenagt hatte, rief er: „Komm herab, Peter, daß ich dich fressen kann.“ Als Peter sah, daß der Wolf daran war, den Baum durchzunagen, zog er einen Schuh aus, warf ihn dem Wolf hin und sagte: „Da hast du meinen Schuh, nage daran, während ich den Wald rufe, daß der ganze Wald und alle Vögel hören, daß ich sterben muß.“ Darauf rief er, was die Kehle hergab.

Das hörte der Luchs und sagte zum Löwen und Bären: „Es kommt mir vor, als riefe unser Herr.“ — „Ach, sei still,“ antworteten sie, „du hast dich überfressen und träumst da was.“ Währenddes hatte der Wolf den Schuh auf­genagt und rief: „Komm herab, Peter, daß ich dich fressen kann.“ Peter warf auch den anderen Schuh vom Baum herab. „Da, Wölflein, nun nage, während ich noch einmal rufe, daß der ganze Wald und alle Vögel hören, daß ich sterben muß.“ — So rief er noch einmal.

Darauf meinte der Bär: „Auch mir kommt vor, daß unser Herr ruft.“ — „„Ach, sei still da, du hast dich überfressen und faselst im Traum.““

Der Wolf hatte nun auch den zweiten Schuh durchgenagt. Da warf ihm Peter seinen Hut hin und rief zum drittenmal. Jetzt hörte es auch der Löwe und sagte: „Ja, da ruft wirklich unser Herr.“

Die Tiere sprangen auf und wollten hinaus; jawohl, da war die Tür zuge­schlossen.  Da gruben sie sich unter der Mauer durch und rannten dahin. wo die Stimme zu hören war. Als sie ankamen, stand der Baum nur noch auf einem dünnen Streifen Holz, gerade daß er nicht umfiel. Die Tiere stürzten sich auf den Wolf mit den eisernen Zähnen und zerrissen ihn in kleine Stücke.

Darauf stieg Peter vom Baum herab, ging zum Hause der Alten, hetzte die Tiere auf sie und die zerrissen sie. Nun begann er im Hause nach seinem Tuch zu suchen, und fand dabei ungezähltes Geld, das die Alte versteckt hatte. Das lud er auf einen Esel, trieb die Schafe vor sich her und ging mit seinen Tieren nach Hause.

Dort lebte er hernach mit seiner jungen Frau lange Zeit glücklich und zu­frieden.

Alexander Petöfi, Schnell ist der Vogel, schnell der Sturm

Schnell ist der Vogel, schnell der Sturm,
Schnell der Blitz,
Doch der Alföld-Betyar ist noch
Schneller gewiß.

Heute stahl er sich ein Fohlen
In Kecskemet,
Nach Szent-Märton am selben Tag
Nimmt er den Weg.

Morgen schon verkauft er das Roß
In Fehervar,
Verkauft’s und stiehlt ein andres gleich
Vom Markt allda.

Übermorgen in Becskerek
Reitet er frank
Einen schlanken feinen Falben:
Die Prügelbank.

(Deutsch von Otto Hauser)

IRLAND

Irisches Elfenmärchen, Die Kuh mit den sieben Färsen

Lorenz Cotter besaß ein kleines Gut in der Gegend von dem See Gur und gedieh dabei; denn er war ein guter, fleißiger Mann, der bis an seinen Tod still und ruhig darauf gelebt haben würde, wenn ihn nicht ein Unglück be­troffen hätte, von dem ihr sogleich hören sollt.

Nah am Wasser gehörte ihm ein feines Stück Wiesenland, wie man es sich nicht besser wünschen kann, um dessen Ertrag er aber schmählich gebracht wurde, und niemand konnte sagen, durch wen. Ein Jahr um das andere fand es sich immer auf dieselbe Weise zugrunde gerichtet. Die Einfriedigung war im gehörigen Stand und kein Grenzstein verrückt; des Nachbars Vieh konnte keinen Schaden gestiftet haben, denn es war gekoppelt; aber wie es nun ge­schehen mochte, das Gras auf der Wiese wurde zu großem Verluste für Lorenz völlig verdorben.

Was in der weiten Welt soll ich nur anfangen?, sagte Lorenz Cotter zu Thomas Welch, seinem Nachbar, einem ehrsamen Mann: „das bißchen Wiese, wofür ich schwere Abgaben entrichten muß, bringt mir so viel wie nichts ein, und die Zeiten sind bitter schlecht genug; sie brauchten nicht noch schlimmer zu werden.“

„Ihr redet wahr, Lorenz,“ versetzte Welch, „die Zeiten sind bitter schlecht; aber ich glaube, wenn Ihr bei Nacht wachen wolltet, Ihr könnt bald dahinter kommen; Michel und Diether, meine beiden Jungen, sollen mit euch wachen; es ist zum Erbarmen, daß ein so ehrlicher Mann, wie Ihr seid, auf so schimpf­liche Weise zugrunde gehen sollte.“

Dieser Übereinkunft gemäß nahmen die folgende Nacht Lorenz Cotter und Weichs beide Söhne ihren Posten in einer Ecke der Wiese. Es war eben Voll­mond, der sein Licht über den ruhigen See ergoß; kein Wölkchen war am Him­mel zu sehen, kein Laut zu hören, als der Schrei der Wachteln, die sich ein­ander über das Wasser hin zuriefen.

„Jungen, Jungen!“, sagte Lorenz, „schaut auf, schaut auf, aber ums Leben macht kein Geräusch und rührt euch keinen Schritt, bis ich das Wort sage.“

Sie schauten und sahen eine dicke fette Kuh in Begleitung von sieben milch­weißen Färsen über die glatte Fläche des Sees sich nach der Wiese zu bewegen.

„Das ist nicht Tim Dwyers, des Pfeifers Kuh, die sich alles Fleisch von den Knochen getanzt hat“, flüsterte Michel zu seinem Bruder.

„Ihr Jungen“, sprach jetzt Lorenz Cotter, der die saubere Kuh mit ihren sieben weißen Färsen schönstens auf der Wiese angelangt sah, „sucht mir zwischen sie und den See zu kommen; wir wollen sie geradezu in den Pfand­stall treiben, gleichviel wem sie gehören.“

Die Kuh mußte aber diese Worte vernommen haben; denn augenblicklich wendete sie sich in größter Eile zu dem Ufer des Sees und sprang hinein vor ihrer aller Augen; hinter ihr liefen die sieben Färsen; doch die Jungen ge­wannen ihnen den Vorsprung ab und hatten große Mühe, sie von dem See weg zu Lorenz Cotter hinzutreiben.

Lorenz trieb die sieben Färsen in den Pfandstall; es waren prächtige Tiere, und nachdem er sie daselbst drei Tage lang gehalten hatte, ohne daß sich ein Eigentümer meldete, so nahm er sie heraus und brachte sie auf eines seiner Grundstücke. Sie wuchsen und gediehen mächtig, bis in einer Nacht das Gatter offen gelassen wurde und des morgens die sieben Färsen fort waren. Lorenz konnte nichts wieder von ihnen in Erfahrung bringen, und ohne Zweifel waren sie in den See zurückgegangen. Woher sie nun kamen und welcher Welt sie zugehörten, Lorenz bekam ihretwegen kein Hälmchen Gras mehr von der Wiese. Aus Verdruß gab er sich ans Trinken, und der Trunk, sagt man, hat ihn getötet.

Fiona Macleod, Das Robbenlied

Ich bin es, Manus Mac Codrum.
Ich sage euch das, dir, Anudra, mein Blutsverwandter,
Und dir, Neil, mein Großvater, und dir, und dir, und dir!
Ja, ja, Manus ist mein Name, Manus Mac Manus!

Ich selbst bins und kein andrer,
Euer Bruder, o Robben der See!
Gebt mir Blut vom Rotfisch
Und einen Biß vom fliegenden Sgadan;
Die grüne Woge auf meinem Bauch
Und den Schaum in meinen Augen!
Ich bin euer Bruderbull, o Bullen der See,
Ein bessrer Bull als einer von euch, ihr knurrenden Bullen!
Komm zu mir, Gesell, Robbe mit weichem Pelzleib,
Weiß bin ich noch, doch rot werd‘ ich sein;
Rot von strömendem roten Blut, wenn einer mich angreift!
Aoh, aoh, aoh, aro, aro, ho-ro!
Ich war ein Mann, nun bin ich Robbe,
Gelben Schaum von den Lippen schütteln meine Hauer;
Gebt Raum mir, gebt Raum mir, Robben der See;
Gebt Raum, denn ich bin ein Verlobter der See,
Und dort seh ich die Seejungfrau,
Und mein Name, fürwahr, ist Manus Mac Codrum,
Der Robbenbulle, der einst ein Mann war, ara, ara!

Fiona Macleod, Der Robbenzauber

Ho, ro, o schwarze Robbe, o schwarze Robbe!
In dem Namen des Vaters,
Und des Sohnes,
Und des heiligen Geistes.
0 Robbe der Tiefsee, o schwarze Robbe!
Lausche dem Wort, das ich dir sage,
Ich, Phadric Mac Alastair Nhic Crae,
Der ich wohne in einem Haus auf dem Eiland,
Das bei Nacht und bei Tag du von Soa erblickst!
Denn ich lege Rosad auf dich,
Und auf das Robbenweib, das dich gewann,
Und die Robbenweiber, die dein sind.
Und die Jungen, die du hast;
Ja, auf dich und dein ganzes Geschlecht
Lege ich Rosad, o Rondubh, o Ron-a-mhara!
Und es komme kein Leid über mich und die Meinen,
Oder Fischzeug, oder Schlinge, die mir gehört,
Sei es beim Segeln in Sturm oder Nacht,
Oder wenn Mondschein füllt der Toten blinde Augen,
Kein Leid mir und den Meinen
Von dir und den Deinen!

ENGLAND

John Milton, An die Nachtigall

0 Nachtigall, wenn überm Wald verglommen
Das Abendrot, dann hält, was du gesungen
Des Jünglings Herz in Frühlingsdämmerungen
Wie Ahnung künftiger Liebe eingenommen.

Doch über den soll all ihr Segen kommen.
Dem dein melodisch Abendlied erklungen,
Eh ihm ans Ohr ein Kuckucksruf gedrungen;
Ich leider hab dich stets zu spät vernommen.

Und ward dir wirklich solche Nacht gespendet,
Komm, eh der Kuckuck mich verdammt, zu leiden!
Komm, sing mir jetzt, denn meine Jugend endet!

Und wagst du’s nur, so unhold mich zu meiden?
Ob Eros dich, ob dich die Muse sendet:
Steh ich nicht auf vertrautem Fuß mit beiden?

(Deutsch von Heinrich Leuthold)

Johann Gay, Der Hase und die vielen Freunde

Freundschaft und Liebe sind ein bloßer Name, wo nicht ihre Flamme auf einen Gegenstand eingeschränkt wird. Das Kind, an welchem viele Väter seinen Anteil haben, wird selten die Sorgfalt eines Vaters erfahren haben. Gleich also verhält sichs mit Freundschaften. Wer sich an viele hänget, findet selten einen Freund. Ein Hase, der auf eine freundliche Art, wie Gay, sich allen gefällig machte, war unter dem ganzen Gefolge von Thieren, welches entweder den Wald besuchet, oder auf dem Felde graset, bekannt. Seine Sorge war niemand zu beleidigen; und jedes Geschöpf war sein Freund.

Als er einst bey früher Morgendämmerung hervorkam, die thaubesprengte Ebene zu bekosten, höret er hinter sich das Geschrey des Jägers, und den Donner des langen Schießrohrs. Plötzlich fährt er auf und davon, steht still, und keichet nach Athem; er hört die Annäherung des Todes; er verdoppelt und mißt, noch einmal den Hund zu mißleiten, seinen labyrinthischen Kreis: bis er auf der öffentlichen Landstraße, ohnmächtig und furchtvoll, nach Athem schnappend, las.

Welche Entzückung entstand in seinem Busen, als er zuerst das Pferd ins Gesicht bekam!

Laß mich, sprach er, deinen Rücken besteigen, und meine Sicherheit einem Freunde zu danken haben; du weißt es, meine Füße verrathen meine Flucht. Der Freundschaft ist jede Bürde leicht.

Das Pferd versetzte: Armer ehrlicher Hase, es kränket mich in der Seele, dich in diesem Zustande zu sehen; tröste dich, die Hülfe ist nahe: denn alle deine Freunde sind im Nachzuge.

Er flehte hierauf zu dem ansehnlichen Stier; und der mächtige Herr ant­wortete also: Da jedes lebende Thier davon zu sagen weiß, daß ich dir auf­richtig Gutes wünsche; so kann ich, ohne dich zu beleidigen, die Freiheit eines Freundes mir herauszunehmen verlangen: die Liebe rufet mich von hinnen, meine Lieblingskuh erwartet mich bey jenem Gerstenhaufen; und wenn es auf eine Dame ankömmt, so weißt du, daß alles andere hintangesetzet werden müsse. Dich also zu verlassen, mögte unfreundlich erscheinen; doch siehe die Ziege ist gerade hinter mir.

Die Ziege merkte an, daß sein Puls sehr stark schlüge, daß ihm der Kopf schlackerte, und seine Augen schläfrig wären. Mein Rücken mögte dir Schaden thun, das Schaf ist nicht fern, und Wolle ist warm.

Das Schaf war schwach, und klagte, daß seine Seiten eine Last von Wolle tragen müßten; es sagte, daß es nur langsam sey, und bekannte seine Furcht: denn Hunde, sprach es, fressen sowol Schafe als Hasen.

Er wandte sich nun an das trabende Kalb, einen aufs äußerste gebrachten Freund vom Tode zu retten.

Dieses sprach: Kann ich, bey meinem zarten Alter, mich zu diesem wich­tigen Dienste verstehen? Aeltere und Geschicktere gingen dich vorbey; wie stark waren jene! Wie schwach bin ich! Sollte ich es auf mich nehmen, dich von hinnen zu tragen, mögten jene, meine Freunde es übel empfinden. Ent­schuldige mich demnach. Du kennest mein Herz. Doch, auch die besten Freunde müssen sich trennen! Wie werden wir alle um dich klagen! Lebe wohl: denn so eben erblicke ich die Hunde.

Johann Gay, Der Philosoph und die Phasanen

Der Weise, zu früher Tageszeit erwachend, nahm seinen Weg durch den dicken Wald, und schweifte, durch die Musik der Wälder gereizet, längst den dunkelen Krümmen umher.   Die zwitschernden Kehlen verlängerten von

Baum zu Baum die süß abwechselnden Noten; allein wo er vorbey ging, zog das Schrecken mit ihm, der Gesang ward abgebrochen, und die Zwitscherer entflohen. Die Drosseln schwatzeten erschrocken, und Nachtigallen entsetzten sich vor seinem Anblick. Alle Thiere liefen von ihm, den verhaßten Anblick zu vermeiden.

Woher der Schrecken eines jeden Geschöpfes? Fliehen sie unsere Gestalt, oder unsere Natur?

Als er nun so in nachsinnenden Gedanken umherwandelte, haschte sein Ohr unvernehmliche Accente. Mit behutsamen Tritten schritt er näher heran, da der dicke Schatten ihn dem Gesichte verbarg. Ein Phasan saß hoch auf einem Zweige, mit seiner ganzen zuhorchenden Brut um sich her, stolz auf den Segen seines Nestes, die Sorgen einer Mutter also ausdrückend:

Keine Gefahren sollen hier in Büschen den Genuß des Vergnügens beschleichen. Eher möget ihr dem Habichte und Geyer trauen, als dem Men­schen, dem ärgsten Thiere. In ihm findet ihr Undankbarkeit, ein seiner Art besonders eigenes Laster. Das Schaf, dessen jährliches Vlies er färbet, seine Gesundheit zu beschirmen, und seinem Stolze zu dienen, wird, den Hürden und den Feldern seiner Heimath entzogen, vor der grausamen Fleischbank geschlachtet. Die Schwärme, welche mit aemsiger Geflissenheit seine Bienen­stöcke mit Wachs und Honig füllen, beschäftigen sich vergebens ganze Sommer­tage hindurch; ihr Vorrath wird verkauft, und ihr Geschlecht ausgerottet. Was für einen Zoll entrichtet nicht die Gans! Sind nicht ihre Schwingen jeder Wissenschaft behülflich? Erklären sie .nicht die Herzen der Liebenden, und arbeiten sie nicht sklavisch, den Gewinnst des Kaufmanns zu erhöhen? Aber, was verschlägt nun dieser allgemeine Gebrauch? Er nimmt die Federkiele, und frißt die Gänse. Vermeidet demnach den Menschen; verabscheuet seine Wege; so wird Sicherheit euere Tage verlängern. Werden Dienste also be­zahlet; so glaubet sicherlich, daß man uns Phasanen spießen würde.

Johann Gay, Das Frauenzimmer und die Wespe

Als Doris an ihrem pflichtmäßigen Nachttische saß, ihre Schönheit über­denkend, war sie bald tiefsinnig, bald lustig, und verbrachte, sich anlehnend, die schwülen Stunden.

Da sie nun so in Fühllosigkeit lag, flog eine zornige Wespe um sie her. Bald näherte, bald entfernte sie sich, bald strebte sie nach ihrem Nacken, bald nach ihrer Wange. Vergebens vertheidigte ihr Fächer ihre Reize, Schnell kam sie wieder und beunruhigte sie von neuem. Und durchs Verjagen kühner ge­worden, setzte sie sich auf ihre Lippe, und schlürfte den Thau.

Die Schöne runzelte die Stirne und ward böse. Gütige Götter, rief sie aus, beschützet mich vor diesen quälenden Fliegen! Von allen Plagen, die der Himmel herabgesandt hat, ist eine Wespe die allerverdrüßlichste.

Das flatternde Insekt beklagte sich also: Werde ich denn für nichts gehalten, verschmäht und verachtet? Kann eine Beleidigung dieser Art euren Zorn erwecken? Schönheit war es, die das kühne Vergehen verursachte. Jene kirschfarbigen Lippen, welche Balsam duften, jene von jugendlicher Blüte so reifen Wangen flößten mir eine starke Begierde ein, der schönsten Pfirsiche, die je gewachsen ist, nachzustreben.

Schlage sie nicht, Hanngen, schrie Doris, und ermorde nicht diese Wespe gleich einer gemeinen Fliege; denn obgleich sie etwas frei ist, so ist sie doch, ihr Gerechtigkeit wiederfahren zu lassen, ein höfliches und manierliches Ge­schöpf. Nun eilet sie voll Entzücken davon, und rühmet, wo sie nur hin­kömmt, die ihr wiederfahrene Gunst. Sie prahlet, ihren süßesten Tee be­schlurfet zu haben, und zeiget noch den Zucker auf ihren Lippen.

Diese Nachricht empöret den frechen Haufen, und nun fliegen sie alle, sicher ihr Glück zu machen, hinweg. Sie nehmen Antheil an den Lecker­bissen des Tages, spielen rund um sie her, in lustiger Musik, und bald flattern sie, bald ruhen sie wieder, bald steigen sie empor, und berühren leicht ihre Brust. Sie wurden auch nicht verbannet, bis sie fand, daß Wespen Stacheln hätten, und sie die Wunde fühlte.

Thomas Moore, Die Biene

Bald, wenn die Biene hier
Summt um die Rose,
Dann, grad wie die Lose,
Komm ich zu dir!
Sie Blumen, ihr Lippen, süß, duftend und glüh —
Welch Finden, welch Finden für mich und für sie!

Dann jedes Beetes Zier
Naht sie mit neuer
Begierde — doch treuer
Bleib ich bei dir;
Sie sammelt bei Tausenden Süßigkeit sich,
Doch Tausender Süße in einer find ich.

(Deutsch von Freiligrath)

John Keats, Grille und Heimchen

Tot ist die Poesie der Erde nie.
Wenn in der Glut des Mittags sich die matten
Vöglein zu flüchten suchen in den Schatten,
tönt auf dem Rasen leise Melodie.
Das ist die Grille — in des Sommers Sonne
schwelgt sie und unersättlich im Genuß,
wenn sie ermattet endlich schweigen muß,
ruht sie im Duftgestäube, satt von Wonne.
Es stirbt die Poesie der Erde nimmer.
Am Winterabend, wenn im Schnee versunken
die Wiesen sind, ertönt aus dem Kamin
des Heimchens Ton, stark wird er, stärker immer,
und zu vernehmen glaubst du schlummertrunken
der Grille Zirpen aus der Wiese Grün.

(Deutsch von Schack)

Ernest Seton Thompson, Warum die Blaumeise einmal im Jahre den Verstand verliert

Vor langer, langer Zeit, als es noch keinen Winter im Norden gab, lebten die Blaumeisen lustig in den Wäldern mit ihrer ganzen Sippe und dachten an nichts, als sich ihr tägliches Leben im dichten Gebüsch so angenehm wie möglich zu machen. Aber am Ende sandte ihnen allen Mutter Sorge die warnende Botschaft, sie müßten nach dem Süden ziehen, denn arger Schnee und Frost kämen in ihr Gebiet und in ihrem Gefolge Hunger und Elend.

Die Spechtmeisen und andere Verwandte der Blaumeisen nahmen sich die Warnung zu Herzen und suchten Weg und Stunde des Südflugs zu erkunden. Tomtit aber, wie man die Blaumeise nach dem Klange ihres Liedchens nannte, der Führer seiner Brüder, lachte nur und schlug ein Dutzend Räder um einen Zweig, der ihm als Trapez diente.

„Nach dem Süden gehen?“ sagte er. „Ich nicht; mir gefällt’s hier sehr gut; und was Frost und Schnee betrifft, die hab‘ ich nie gesehen und glaube nicht daran.“

Aber die Spechtmeisen und die Goldhähnchen waren so geschäftig, daß schließlich auch die Blaumeisen von der Unruhe etwas angesteckt wurden und oft unterbrachen sie ihr Spiel eine Weile, um ihre Freunde zu befragen. Was sie aber erfuhren, gefiel ihnen nicht, denn es schien, sie sollten alle eine Reise machen, die sollte viele Tage dauern, und die kleinen Goldhähnchen seien gar schon auf dem Wege bis hin zum Meerbusen von Mexiko. Dazu sollten sie, um ihren Feinden, den Habichten, zu entgehen, zur Nachtzeit fliegen, und das Wetter war zu dieser Jahreszeit sicher stürmisch. So sagten die Blau­meisen, das sei alles Unsinn, und flogen allesamt davon mit lustigem Sing­sang und einander munter durch die Wälder jagend.

Aber ihren Vettern war es ernst. Geschäftig rüsteten sie sich zur Reise und suchten fürs erste das Notwendigste zu erfahren, das sie vom Wege wissen mußten. Der große weite Strom, der südwärts läuft, der Mond da oben und das Trompetengeschrei der Gänse sollten sie führen, und sie sollten auf ihrem Fluge in der Dunkelheit singen, um nicht voneinanderzukommen.

Die schwatzhaften, übermütigen Blaumeisen wurden immer lärmender, je weiter die Vorbereitungen für die Reise gediehen, und machten sich lustig über ihre Verwandten, die sich jetzt in großen Scharen in den Wäldern am Strom sammelten; und schließlich, als die rechte Zeit des Mondwandels ge­kommen war, erhoben sich die Vettern in einem einzigen Geschwader und flogen davon in dem gleißenden Dunkel. Die Blaumeisen sagten, ihre Vettern seien sämtlich verrückt, machten ein paar schlechte Witze über den Meer­busen von Mexiko, und dann ging’s wieder in munterem Jagen hinterein­ander her durch die Wälder, die übrigens jetzt allmählich immer einsamer zu werden schienen, während auch das Wetter zweifellos merklich kühl wurde.

Am Ende traten Frost und Schnee wirklich ein, und die Blaumeisen be­fanden sich in einer leidvollen Lage. Ja, sie wußten jetzt vor Schreck nicht aus noch ein, huschten hin und her und suchten vergebens nach einem, der sie über den Weg nach dem Süden belehren könnte. Wild flogen sie in den Wäldern umher, bis sie tatsächlich den Verstand verloren. Ich denke mir, es wird kein Eichhornnest und keinen hohlen Ast in der Nachbarschaft gegeben haben, worein nicht eine Blaumeise gekrochen wäre, um anzufragen, ob das der Meer­busen von Mexiko sei, oder ob man ihr den Weg dahin sagen könne. Aber niemand wußte darüber Bescheid, niemand ging den Weg, und der große Strom verbarg sich unter Eis und Schnee.

Um diese Zeit kam ein Bote von Mutter Sorge vorüber, den sie mit einer Botschaft an die Karibu im fernen Norden abgesandt hatte; aber auch er konnte den Blaumeisen nichts weiter sagen, als daß er nicht ihr Führer sein könne, da er keine Weisung dazu habe, und unter allen Umständen jetzt in anderer Richtung gehen müsse. Auch sei ihnen ja dieselbe Botschaft geworden, wie ihren Vettern, und die hätten sie „verrückt“ genannt; und soweit er Mutter Sorge kenne, würden sie es hier wahrscheinlich in all dem Schnee aushalten müssen, nicht nur diesmal, sondern in jedem folgenden Winter; so müßten sie nun zusehen, wie sie sich damit, so gut es eben gehe, abfänden.

Das waren traurige Nachrichten für die Tomtits, aber sie waren tapfere kleine Kerle, und da sie erkannten, es ließe sich nun einmal nichts ändern, so sahen sie auch zu, wie sie sich damit aufs beste abfänden. Ehe eine Woche herum war, zeigten sie sich wieder guter Dinge, turnten um die Zweige oder jagten einander wie zuvor. Immer waren sie noch der sicheren Überzeugung, der Winter werde bald aufhören. So voll waren sie von diesem Gedanken, daß sie sogar bei seinem Anfang, wenn ein frischer Schneesturm kam, fröhlich zueinander bemerkten, es sei ein „Frühlingszeichen“, und einer oder der andere aus der Schar erhob seine Stimme zu dem süßen kurzen, uns allen so wohl­bekannten Liedlein:

Lenz kommt

Ein anderer nahm es auf und sang:

Lenz erscheint

Und sie antworteten einander und wiederholten das Lied, bis die trübseligen Wälder von der guten Kunde widerhallten, und die Menschen lernten den tapferen kleinen Vogel liebhaben, der sein schweres Geschick so heiter zu tragen versteht.

Aber bis auf diesen Tag scheinen die Blaumeisen, wenn der eisige Wind durch die vereinsamten Wälder fährt, kurze Zeit ihren Verstand zu verlieren und sich in sinnloser Hast an allen möglichen sonderbaren und gefährlichen Plätzen zu verirren. Man kann sie dann in großen Städten oder mitten in der Prärie, in Kellern, in Schornsteinen und hohlen Bäumen finden, und triffst du wieder einmal einen von den Flüchtlingen an einem solchen Platze, so vergiß nicht, daß Tomtit einmal im Jahre den Verstand verliert und in diesen sonderbaren Schlupfwinkel geriet — auf der Suche nach dem Meerbusen von Mexiko.

Oscar Wilde, Die Nachtigall und die Rose

„Sie sagte, sie würde mit mir tanzen, wenn ich ihr rote Rosen brächte“, rief der junge Student; „aber in meinem ganzen Garten ist keine rote Rose.“ In ihrem Nest auf dem Eichbaum hörte ihn die Nachtigall, guckte durch das Laub und wunderte sich.

„Keine rote Rose in meinem ganzen Garten!‘ rief er, und seine schönen Augen waren voll Tränen. „Ach, an was für kleinen Dingen das Glück hängt. Alles habe ich gelesen, was weise Männer geschrieben haben, alle Geheim­nisse der Philosophie sind mein, und wegen einer roten Rose ist mein Leben unglücklich und elend.“

„Das ist endlich einmal ein treuer Liebhaber,“ sagte die Nachtigall. „Nacht für Nacht habe ich von ihm gesungen, obgleich ich ihn nicht kannte; Nacht für Nacht habe ich seine Geschichte den Sternen erzählt, und nun seh ich ihn. Sein Haar ist dunkel wie die Hyazinthe, und sein Mund ist rot wie die Rose seiner Sehnsucht; aber Leidenschaft hat sein Gesicht bleich wie Elfenbein gemacht, und der Kummer hat ihm sein Siegel auf die Stirn gedrückt.“

„Der Prinz gibt morgen Nacht einen Ball,“ sprach der junge Student leise, „und meine Geliebte wird da sein. Wenn ich ihr eine rote Rose bringe, wird sie mit mir tanzen bis zum Morgen. Wenn ich ihr eine rote Rose bringe, wird sie ihren Kopf an meine Schulter lehnen, und ihre Hand wird in der meinen liegen. Aber in meinem Garten ist keine rote Rose, so werde ich einsam sitzen, und sie wird an mir vorübergehen. Sie wird meiner nicht achten, und mir wird das Herz brechen.“

„Das ist wirklich der treue Liebhaber,“ sagte die Nachtigall. „Was ich singe, um das leidet er; was mir Freude ist, das ist ihm Schmerz. Wahrhaftig, die Liebe ist etwas Wundervolles! Kostbarer ist sie als Smaragde und teurer als feine Opale. Perlen und Granaten können sie nicht kaufen, und auf den Märkten wird sie nicht feilgeboten. Sie kann von den Kaufleuten nicht ge­handelt werden und kann nicht für Gold ausgewogen werden auf der Waage.“ „Die Musikanten werden auf ihrer Galerie sitzen,“ sagte der junge Student, „und auf ihren Saiteninstrumenten spielen, und meine Geliebte wird zum Klang der Harfe und der Geige tanzen. So leicht wird sie tanzen, daß ihre Füße den Boden kaum berühren, und die Höflinge in ihren bunten Gewändern werden sich um sie scharen. Aber mit mir wird sie nicht tanzen, denn ich habe keine rote Rose für sie“; und er warf sich ins Gras, barg sein Gesicht in den Händen und weinte. „Weshalb weint er?“ fragte ein kleiner grüner Eidechs, während er mit dem Schwänzchen in der Luft an ihm vorbeilief. „Ja warum?“ fragte ein Schmetterling, der einem Sonnenstrahl nachjagte.

„Er weint um eine rote Rose“, sagte die Nachtigall.

„Um eine rote Rose?“ riefen alle; „wie lächerlich!“ und der kleine Eidechs, der so etwas wie ein Zyniker war, lachte überlaut.

Aber die Nachtigall wußte um des Studenten Kummer und saß schweigend in dem Eichbaum und sann über das Geheimnis der Liebe. Plötzlich breitete sie ihre braunen Flügel aus und flog auf. Wie ein Schatten huschte sie durch das Gehölz, und wie ein Schatten flog sie über den Garten.

Da stand mitten auf dem Rasen ein wundervoller Rosenstock, und als sie ihn sah, flog sie auf ihn zu und setzte sich auf einen Zweig.

„Gib mir eine rote Rose,“ rief sie, „und ich will dir dafür mein süßestes Lied singen.“

Aber der Strauch schüttelte seinen Kopf. „Meine Rosen sind weiß,“ ant­wortete er, „so weiß wie der Schaum des Meeres und weißer als der Schnee auf den Bergen. Aber geh zu meinem Bruder, der sich um die alte Sonnen­uhr rankt, der gibt dir vielleicht, was du verlangst.“

So flog die Nachtigall hinüber zu dem Rosenstrauch bei der alten Sonnenuhr.

„Gib mir eine rote Rose,“ rief sie, „und ich will dir dafür mein süßestes Lied singen.

Aber der Strauch schüttelte seinen Kopf.

„Meine Roser sind gelb,“ antwortete er, „so gelb wie das Haar der Meer­jungfrau, die auf einem Bernsteinthrone sitzt, und gelber als die gelbe Nar­zisse, die auf der Wiese blüht, bevor der Mäher mit seiner Sense kommt. Aber geh zu meinem Bruder, der unter des Studenten Fenster blüht, und vielleicht gibt der dir, was du verlangst.“

So flog die Nachtigall zum Rosenstrauch unter des Studenten Fenster.

„Gib mir eine rote Rose,“ rief sie, „und ich will dir dafür mein süßestes Lied singen.“

Aber der Rosenstrauch schüttelte den Kopf. „Meine Rosen sind rot,“ ant­wortete er, „so rot wie die Füße der Taube und röter als die Korallenfächer, die in der Meergrotte fächeln. Aber der Winter machte meine Adern erstarren, der Frost hat meine Knospen zerbissen und der Sturm meine Zweige ge­brochen, und so habe ich keine Rosen dies ganze Jahr.

„Nur eine einzige rote Rose brauche ich,“ rief die Nachtigall, „nur eine rote Rose!  Gibt es denn nichts, daß ich eine rote Rose bekomme?“

„Ein Mittel gibt es,“ antwortete der Baum, „aber es ist so schrecklich, daß ich mir es dir nicht zu sagen traue.‘

„Sag es mir,“ sprach die Nachtigall, „ich fürchte mich nicht.“

„Wenn du eine rote Rose haben willst“, sagte der Baum, „dann mußt du sie beim Mondlicht aus Liedern machen und sie färben mit deinem eigenen Herzblut. Du mußt für mich singen und deine Brust an einen Dorn pressen. Die ganze Nacht mußt du singen, und der Dorn muß dein Herz durchbohren, und dein Lebensblut muß in meine Adern fließen und mein werden.“

„Der Tod ist ein hoher Preis für eine rote Rose,“ sagte die Nachtigall, „und das Leben ist allen sehr teuer. Es ist lustig, im grünen Wald zu sitzen und die Sonne in ihrem goldenen Wagen zu sehen und den Mond in seinem Perlenwagen. Süß ist der Duft des Weißdorns, und süß sind die Glocken­blumen im Tale und das Heidekraut auf den Hügeln. Aber die Liebe ist besser als das Leben, und was ist ein Vogelherz gegen ein Menschenherz? ‚

So breitete sie ihre braunen Flüge! und flog auf. Wie ein Schatten schwebte sie über den Garten, und wie ein Schatten huschte sie durch das Gehölz.

Da lag noch der junge Student im Grase, wie sie ihn verlassen hatte, und die Tränen seiner schönen Augen waren noch nicht getrocknet. „Freu dich,“ rief die Nachtigall, „freu dich; du sollst deine rote Rose haben. Ich will sie beim Mondlicht bilden aus Liedern und färben mit meinem eigenen Herz­blut. Alles, was ich von dir dafür verlange, ist, daß du deiner Liebe treu bleiben sollst; denn die Liebe ist weiser als die Philosophie, wenn die auch weise ist, und mächtiger als Macht, wenn die auch mächtig ist. Flammfarben sind ihre Flügel, und flammfarben ist ihr Leib. Ihre Lippen sind süß wie Honig, und ihr Atem ist wie Weihrauch.“

Der Student blickte aus dem Grase auf und horchte; aber er konnte nicht verstehen, was die Nachtigall zu ihm sprach, denn er verstand nur die Bücher.

Aber der Eichbaum verstand und ward traurig, denn er liebte die kleine Nachtigall sehr, die ihr Nest in seinen Zweigen gebaut hatte.

„Sing mir noch ein letztes Lied,“ flüsterte er; „ich werd mich sehr ein­sam fühlen, wenn du fort bist.“ Und die Nachtigall sang für den Eichbaum, und ihre Stimme war wie Wasser, das aus einem silbernen Kruge rinnt.

Als sie ihr Lied geendet hatte, stand der Student auf und nahm ein Notiz­buch und einen Bleistift aus der Tasche.

„Sie hat Form,“ sagte er zu sich, als er aus dem Gehölz schritt, „— sie hat ein Formtalent, das kann ihr nicht abgesprochen werden; aber ob sie auch Gefühl hat? Ich fürchte, nein. Sie wird wohl sein wie die meisten Künst­ler: alles nur Stil und keine echte Innerlichkeit. Sie würde sich kaum für andere opfern. Sie denkt vor allem an die Musik, und man weiß ja, wie egoistisch die Künste sind. Aber zugeben muß man, sie hat einige schöne Töne in ihrer Stimme. Schade, daß sie gar keinen Sinn haben, nichts ausdrücken und ohne praktischen Wert sind.“ Und er ging auf sein Zimmer und legte sich auf sein schmales Feldbett und fing an, an seine Liebe zu denken; bald war er ein­geschlafen.

Und als der Mond in den Himmeln schien, flog die Nachtigall zu dem Rosenstrauch und preßte ihre Brust gegen den Dorn. Die ganze Nacht sang sie, die Brust gegen den Dorn gepreßt, und der kalte kristallene Mond neigte sich herab und lauschte. Die ganze Nacht sang sie, und der Dorn drang tiefer und tiefer in ihre Brust, und ihr Lebensblut sickerte weg von ihr.

Zuerst sang sie von dem Werden der Liebe in dem Herzen eines Knaben und eines Mädchens. Und an der Spitze des Rosenstrauches erblühte eine herrliche Rose, Blatt reihte sich an Blatt wie Lied auf Lied. Erst war sie bleich wie der Nebel, der über dem Fluß hängt, bleich wie die Füße des Morgens und silbern wie die Flügel des Dämmers.  Wie das Schattenbild einer Rose in einem Silberspiegel, wie das Schattenbild einer Rose im Teiche, so war die Rose, die aufblühte an der Spitze des Rosenstockes.

Der aber rief der Nachtigall zu, daß sie sich fester noch gegen den Dorn presse. „Drück fester, kleine Nachtigall“, rief er, „sonst bricht der Tag an, bevor die Rose vollendet ist.“ Und so drückte die Nachtigall sich fester gegen den Dorn, und lauter und lauter wurde ihr Lied, denn sie sang nun von dem Erwachen der Leidenschaft in der Seele von Mann und Weib.

Und ein zartes Rot kam auf die Blätter der Rose, wie das Erröten auf das Antlitz des Bräutigams, wenn er die Lippen seiner Braut küßt. Aber der Dorn hatte ihr Herz noch nicht getroffen, und so blieb das Herz der Rose weiß, denn bloß einer Nachtigall Herzblut kann das Herz einer Rose färben. Und der Baum rief der Nachtigall zu, daß sie sich fester noch gegen den Dorn drücke. „Drück fester, kleine Nachtigall,“ rief er, „sonst ist es Tag, bevor die Rose vollendet ist“.

Und so drückte die Nachtigall sich fester gegen den Dorn, und der Dorn berührte ihr Herz, und ein heftiger Schmerz durchzuckte sie. Bitter, bitter war der Schmerz, und wilder, wilder wurde das Lied, denn sie sang nun von der Liebe, die der Tod verklärt, von der Liebe, die auch im Grabe nicht stirbt. Und die wundervolle Rose färbte sich rot wie die Rose des östlichen Himmels. Rot war der Gürtel ihrer Blätter, und rot wie ein Rubin war ihr Herz. Aber die Stimme der Nachtigall wurde schwächer, und ihre kleinen Flügel be­gannen zu flattern, und ein leichter Schleier kam über ihre Augen. Schwächer und schwächer wurde ihr Lied, und sie fühlte etwas in der Kehle.

Dann schluchzte sie noch einmal auf in letzten Tönen. Der weiße Mond hörte es, und er vergaß unterzugehen und verweilte am Himmel. Die rote Rose hörte es und zitterte ganz vor Wonne und öffnete ihre Blätter dem kühlen Morgenwind. Das Echo trug es in seine Purpurhöhle in den Bergen und weckte die Schläfer aus ihren Träumen. Es schwebte über das Schilf am Fluß, und der trug die Botschaft dem Meere zu. „Sieh, sieh!“ rief der Rosen­strauch, „nun ist die Rose fertig“; aber die Nachtigall gab keine Antwort, denn sie lag tot im hohen Gras, mit dem Dorn im Herzen.

Um Mittag öffnete der Student sein Fenster und blickte hinaus. „Was für ein Wunder und Glück!“ rief er; „da ist eine rote Rose! Nie in meinem Leben habe ich eine solche Rose gesehen. Sie ist so schön, ich bin sicher, sie hat einen langen lateinischen Namen“; und er lehnte sich hinaus und pflückte sie. Dann setzte er seinen Hut auf und lief dem Professor ins Haus, mit der Rose in der Hand.

Des Professors Tochter saß in der Einfahrt und wand blaue Seide auf eine Spule, und ihr Hündchen lag ihr zu Füßen.

„Ihr sagtet, Ihr würdet mit mir tanzen, wenn ich Euch eine rote Rose brächte“, sagte der Student. „Hier ist die röteste der Rosen der Welt. Tragt sie heut Abend an Eurem Herzen, und wenn wir zusammen tanzen, wird sie Euch erzählen, wie ich Euch liebe.“

Aber das Mädchen verzog den Mund. „Ich fürchte, sie paßt nicht zu meinem Kleid,“ sprach sie; „und dann hat mir auch der Neffe des Kammerherrn echte Juwelen geschickt, und das weiß doch jeder, daß Juwelen mehr wert sind als Blumen“.

„Wahrhaftig, Ihr seid sehr undankbar“, rief der Student gereizt; und er warf die Rose auf die Straße, wo sie in die Gosse fiel, und ein Wagenrad ging darüber. „Undankbar?“ sagte das Mädchen; „ich will Euch was sagen: Ihr seid sehr ungezogen — und dann: wer seid Ihr eigentlich? Ein Student, nichts weiter. Ich glaube, Ihr habt nicht einmal Silberschnallen an den Schuhen, wie des Kammerherrn Neffe.“ Und sie stand auf und ging ins Haus.

„Wie dumm ist doch die Liebe,“ sagte sich der Student, als er fortging; „sie ist nicht halb so nützlich wie die Logik, denn sie beweist gar nichts und spricht einem immer von Dingen, die nicht geschehen werden, und läßt einem Dinge glauben, die nicht wahr sind. Sie ist wirklich etwas ganz Unpraktisches, und da in unserer Zeit das Praktische alles ist, so gehe ich wieder zur Philo­sophie und studiere Metaphysik.“ So ging er wieder auf sein Zimmer und holte ein großes staubiges Buch hervor und begann zu lesen.

Jerome K. Jerome, Thomas Henrys Entartung

Die achtbarste Katze, die ich jemals kennen gelernt habe, war Thomas Henry. Sein ursprünglicher Name war Thomas, aber es schien albern, ihn so zu rufen. Die Familie von Hawarden hätte ebenso gut daran denken können, Herrn Gladstone als „Bill“ anzureden. Er kam zu uns aus dem Reformklub, via den Fleischer, und sobald ich ihn sah, fühlte ich, daß unter allen Londoner Klubs dies der einzige war, aus dem er kommen konnte. Sein Dunstkreis von ge­diegener Würde und versteinertem Konservatismus schien ihm anzuhaften. Warum er den Klub verließ, vermag ich in diesem Zeiträume nicht mit Be­stimmtheit anzugeben, aber ich bin geneigt, zu vermuten, es war die Folge eines Streites mit dem neuen Chef, einer anmaßenden Persönlichkeit, die das ganze Feuer für sich beanspruchte. Der Fleischer, der von dem Zwist hörte und uns als eine katzenlose Familie kannte, schlug einen Ausweg aus der Sack­gasse vor, der von der Katze und dem Koch zugleich freudig begrüßt wurde. Der Abschied zwischen ihnen war, wie ich glaube, rein formell, und Thomas langte an, für uns günstig gestimmt.

Meine Frau empfahl, sobald sie ihn sah, Henry als einen passenderen Namen. Mich dünkte die Vereinigung beider noch angemessener, und dem­gemäß wurde er in der Stille des häuslichen Kreises Thomas Henry gerufen. Wenn wir mit Freunden von ihm sprachen, erwähnten wir ihn als Thomas Henry, Wohlgeboren.

Er befreundete sich mit uns in seiner ruhigen, zurückhaltenden Weise. Er erkor meinen eigenen persönlichen Armstuhl für sich und hielt an ihm fest. Eine gewöhnliche Katze hätte ich hinausspediert, aber Thomas Henry war nicht die Katze, die man fortjagt. Hätte ich ihm klar gemacht, daß ich seine Anwesenheit in meinem Armstuhle mißbilligte, so bin ich überzeugt, er würde mich angesehen haben wie etwa die Königin Viktoria, wenn diese gnädige Dame mich freundschaftlich besucht und ich ihr mitgeteilt hätte, ich bäte sie, einen anderen Nachmittag bei mir vorzusprechen. Er würde aufgestanden und weg­gegangen sein, aber nie wieder mich angeredet haben, so lange wir unter dem­selben Dache lebten.

Damals verweilte eine Dame bei uns — sie wohnt jetzt noch bei uns, aber sie ist nunmehr älter und besitzt mehr Einsicht — die keine Achtung vor Katzen hatte. Ihre Schlußfolgerung war: da der Schwanz aufrecht stehe und einem bequem an die Hand reiche, so sei er das natürliche Anhängsel, an dem man eine Katze aufhebe. Sie litt ferner unter dem Irrtum: das richtige Verfahren eine Katze zu füttern, sei, daß man ihr Sachen ins Maul stopfe, und ihr höch­ster Genuß eine Ausfahrt in einem Puppenwagen. Ich fürchtete Thomas Henrys erste Begegnung mit dieser Dame. Ich hatte Angst, sie würde ihm eine falsche Vorstellung von unserer Familie geben, und wir würden in seinen Augen einbüßen.

Aber ich hätte mir alle Sorgen sparen können. Thomas Henry hatte etwas an sich, das Dreistigkeit hemmte und Vertraulichkeit dämpfte. Sein Verhalten ihr gegenüber war freundschaftlich, aber fest. Zögernd und mit einer neuge­borenen Achtung für Katzen streckte sie furchtsam ihre Hand nach seinem Schwänze aus. Er schlug ihn sanft auf die andere Seite und blickte sie an. Es war weder ein zorniger noch ein beleidigter Blick. Es war der Ausdruck, mit dem Salomo das Entgegenkommen der Königin von Saba aufgenommen haben mochte. Er drückte Herablassung aus, verbunden mit Zurückhaltung.

Er war wirklich eine höchst feine Katze. Einer meiner Freunde, der an die Lehre von der Seelenwanderung glaubt, war überzeugt, er sei Lord Chesterfield. Er schrie niemals nach Nahrung wie andere Katzen. Er saß bei den Mahlzeiten neben mir und wartete, bis er bedient wurde. Er fraß nur das Knöchelnde einer Hammelkeule und guckte übergares Rindfleisch gar nicht an. Einer unserer Gäste bot ihm einmal ein Stück Knorpel an. Er sagte nichts, aber er verließ still das Zimmer, und wir sahen ihn nicht wieder, bis unser Freund abgereist war.

Doch jeder hat seinen Kaufpreis, und Thomas Henrys Kaufpreis war Enten­braten. Thomas Henrys Verhalten in Gegenwart eines Entenbratens wurde eine psychologische Offenbarung für mich. Es zeigte mir zugleich die niedrigere und mehr tierische Seite seiner Natur. In Gegenwart eines Entenbratens wurde Thomas Henry einfach und ausschließlich eine Katze, beherrscht von den wilden Gelüsten seiner Rasse. Seine Würde fiel von ihm ab wie ein Mantel. Er krallte nach Entenbraten, er kroch um seinetwillen auf dem Bauche. Er hätte sich dem Teufel für Entenbraten verkauft.

Wir vermieden demgemäß dies besondere Gericht. Es war schmerzlich, den Charakter einer Katze so völlig entwürdigt zu sehen. Außerdem gab sein Betragen, wenn Entenbraten auf dem Tische war, den Kindern ein schlechtes Beispiel.

Er war eine Leuchte unter allen Katzen der Nachbarschaft. Man hätte seine Uhr nach seinen Bewegungen stellen können. Nach dem Mittagessen unternahm er unabänderlich einen halbstündigen Gesundheitsbummel auf dem Platze; Punkt 10 Uhr nachts kehrte er an die Hoftür zurück und um 11 schlief er bereits in meinem Armstuhl. Er befreundete sich nicht mit anderen Katzen. Er fand kein Gefallen am Raufen; und ich zweifle, ob er — selbst in seiner Jugend — jemals geliebt hat. Seine Natur war zu kalt und verschlossen; weibliche Gesellschaft betrachtete er mit äußerster Gleichgültigkeit.

So führte er ein unsträfliches Dasein den ganzen Winter über. Im Sommer nahmen wir ihn mit aufs Land. Wir dachten, der Luftwechsel würde ihm gut tun; er wurde entschieden dick. Ach, armer Thomas Henry — das Land wurde sein Verderben! Was den Wechsel hervorbrachte, kann ich nicht sagen; vielleicht war die Luft zu stärkend. Er glitt den moralischen Abhang mit furchtbarer Geschwindigkeit hinab. In der ersten Nacht blieb er bis 11 aus. In der zweiten kam er überhaupt nicht heim. In der dritten kam er früh um 6 zurück und brachte nur die Hälfte seines Kopfschmucks mit. Natürlich war eine Dame beteiligt; in der Tat — nach dem Radau zu schließen, der die ganze Nacht hindurch dauerte, müssen es eigentlich ein Dutzend gewesen sein. Er war jedenfalls eine schöne Katze, und sie begannen tagsüber ihn zu besuchen. Dann begannen Herrenkatzen, die gekränkt waren, ihn ebenfalls zu besuchen und Erklärungen zu fordern — die Thomas Henry, um gerecht gegen ihn zu sein, stets bereitwillig gab.

Die Dorf jungen pflegten den ganzen Tag umherzuliegen, um die Raufereien zu beobachten; und zornige Hausfrauen stürzten beständig in unsere Küche, um tote Katzen auf den Tisch zu schleudern und den Himmel und mich um Gerechtigkeit anzurufen. Unsere Küche wurde ein wahres Leichenhaus für Katzen, und ich mußte einen neuen Küchentisch kaufen. Die Köchin sagte, es würde ihre Arbeit vereinfachen, wenn sie einen Tisch ausschließlich für sich haben könnte. Sie sagte, es mache sie ganz verwirrt, so viele tote Katzen unter ihren Braten und Gemüsen herumliegen zu haben; sie fürchte sich, einen Missgriff zu tun. Demgemäß wurde der alte Tisch unter das Fenster gestellt und den Katzen gewidmet. Und danach erlaubte sie niemandem wieder, eine Katze — und wenn sie noch so tot war — an ihren Tisch zu bringen.

„Was soll ich mit ihr tun?“ hörte ich sie bei einer Gelegenheit eine auf­geregte Dame fragen; „sie braten?“

„Es ist meine Katze,“ sagte die Dame; „jawohl, das ist sie“!

„Ei nun, ich mache heute keine Katzenpastete,“ antwortete unsere Köchin. „Legen Sie sie auf den richtigen Tisch, das hier ist mein Tisch!“

Zuerst war „Gerechtigkeit“ in der Regel mit einer halben Krone zufrieden. Aber im Verlaufe der Zeit schlugen Katzen auf. Ich hatte bisher Katzen als einen billigen Artikel betrachtet und ich war überrascht über den Wert, den man ihnen beilegte. Ich begann ernstlich an Katzenzucht als ein Gewerbe zu denken. Nach den im Dorfe gangbaren Preisen hätte ich ein Einkommen von Tausenden gehabt.

„Sehen Sie, was Ihr Vieh getan hat,“ sagte ein wütendes Frauenzimmer, das mich mitten während des Essens hatte herausrufen lassen.

Ich sah hin. Thomas Henry hatte ein räudiges, abgemagertes Tier „ab­getan“, das weit glücklicher tot als lebendig gewesen sein muß. Hätte das arme Geschöpf mir gehört, so hätte ich ihm gedankt, aber manche Leute wissen nie, wann’s ihnen wohl ist.

„Ich würde diese Katze nicht für eine Fünfpfundnote hingegeben haben“, sagte die Dame.

„Das ist Ansichtssache“, erwiderte ich. „Aber ich persönlich denke, Sie würden unklug gewesen sein, dies auszuschlagen. So wie das Tier ist, fühle ich mich nicht geneigt, Ihnen mehr als einen Schilling zu geben. Wenn Sie glauben, Sie fahren anderswo besser mit ihm, so gehen Sie nur hin.

„Er war mehr ein Christ als eine Katze“, sagte die Dame.

„Ich nehme keine toten Christen,“ antwortete ich fest, „und selbst wenn ich es täte, würde ich Ihnen für ein derartiges Exemplar nicht mehr als einen Schilling geben. Sie mögen ihn als einen Christen oder als eine Katze be­trachten — aber in beiden Fällen ist er nicht mehr als einen Schilling wert“.

Wir einigten uns schließlich auf 19 Pence.

Die Menge der Katzen, mit denen Thomas Henry fertig zu werden verstand, überraschte mich ebenfalls. Ein reines Gemetzel schien unter den Katzen vor sich zu gehen.

Als ich eines Abends in die Küche kam — denn ich hatte es mir angewöhnt, jetzt die Küche jeden Abend zu besuchen, um die tägliche Lieferung toter Katzen zu besichtigen — fand ich unter anderen eine merkwürdig gezeichnete, schwarz und gelbgefleckte Katze auf dem Tische liegen.

„Diese Katze ist einen halben Sovereign wert“, sagte der Besitzer, der Bier trinkend dabei stand.

„Ihre Katze hat ihn gestern getötet“, fuhr der Mann fort. „Es ist eine Sünde und Schande.‘

„Meine Katze hat ihn dreimal getötet,“ erwiderte ich. „Am Sonnabend wurde er als Frau Hedgers Katze getötet — am Montag wurde er für Frau Myers getötet. Ich war am Montag nicht ganz sicher, aber ich hatte meinen Verdacht und machte mir Notizen. Jetzt erkenne ich ihn. Ich rate Ihnen, begraben Sie ihn, bevor er ein Fieber erzeugt. Mir ist es gleich, wie viele Leben eine Katze hat — ich bezahle nur für eins.“

Wir gaben Thomas Henry alle Gelegenheit sich zu bessern; aber er sank nur immer tiefer und fügte Wilddieberei und Hühnerstehlen seinen anderen Verbrechen zu, und ich bekam es satt, für seine Laster zu zahlen.

Ich beriet mich mit dem Gärtner, und der Gärtner sagte, er hätte schon früher Katzen auf solche Wege geraten sehen.

„Wissen Sie ein Mittel dagegen?“ fragte ich.

„Ei nun,“ erwiderte der Gärtner, „ich habe gehört, daß eine Dosis von Ziegelstein und Teich im allgemeinen recht gut ist.“

„Wir wollen ihn mit dieser Dosis just vor dem Schlafengehen behandeln,“ antwortete ich. Der Gärtner verabreichte sie, und wir hatten keine weitere Not mit ihm.

Armer Thomas Henry! Es zeigt uns, wie der Ruf der Achtbarkeit von der bloßen Abwesenheit der Versuchung abhängen kann. Im Dunstkreis des Reformklubs geboren und erzogen — welcher Herr könnte da mißraten? Es tat mir leid um Thomas Henrv, und ich habe seitdem niemals wieder an den moralischen Einfluß des Landaufenthalts geglaubt.

Jack London, Wenn die Natur ruft

Im Laufe des Jahres mit dem kälteren Wetter zogen sich auch die Elche tiefer in das Land. Schon einmal hatte Buck ein Schmaltier gerissen, aber er wünschte sich würdigere Gegner. Am liebsten hätte er ein starkes Stück ge­habt, und das trat ihm in der Morgendämmerung einst in den Weg. Ein Sprung von zwanzig Elchen kam aus der Flußgegend herauf, und unter ihnen ein starker Schaufler. Er war entsetzlich aufgeregt, und als das wohl sechs Fuß hohe Tier dem Hunde gegenüberstand, war das sicherlich ein so würdiger Gegner, wie er ihn sich nur wünschen konnte. Nach allen Seiten stieß das mächtige Tier seine Schaufeln, die wohl sieben Fuß Durchmesser hatten; die kleinen Augen blickten scharf und drohend, und es schnaubte vor Wut beim Anblick des Hundes.

Aus einer Flanke stand der Schaft eines Pfeiles hervor, der bunte Federn trug, wie die Indianer sie zu gebrauchen pflegen. Von dem Instinkt aus ur­alten Jagdtagen geleitet, versuchte Buck nun zunächst, den Elch von den übrigen abzuschneiden. Das war kein leichtes Werk. Er bellte und sprang vor ihm her, stets nahebei, doch immer gerade noch außerhalb des Bereiches der schweren Schaufeln und der mächtigen Hufe, von denen ein Tritt genügt hätte, ihn zu zermalmen. Es war dem Elch nicht möglich, voranzukommen, und seine Wut steigerte sich immer mehr. In solchen Augenblicken ging er zum Angriff über, doch Buck wich jedesmal aus und griff ihn dann von der Seite an. Oftmals, wenn er den Elch von den übrigen getrennt zu haben glaubte, kamen drei oder vier der jüngeren Stücke zurück und machten sich mit Buck zu schaffen, bis der alte Schaufler wieder bei dem Sprung angelangt war.

Aber die Geduld, mit der die Spinne endlose Stunden lang regungslos im Netz sitzt und der Panther im Hinterhalte lauert, die Geduld, die all den Tieren eigen ist, die ihre Nahrung lebend jagen, die bewies auch Buck in der Verfolgung des Elches. Er reizte die jungen Tiere, plagte die älteren mit seinem Gekläff und versetzte die Kälber in Angst und Schrecken. Einen halben Tag lang ging das so. Von allen Seiten griff Buck an, so daß die Elche überhaupt nicht zur Ruhe kamen, und immer wieder schnitt er dem alten Elch den Weg ab, bis dieser schließlich vor Wut schnaubte.

Der Tag ging bald zu Ende, und die Sonne sank im Nordwesten. Die Dunkel­heit kam schon früh, und die Nächte begannen lang zu werden. Die jungen Elche mußten dem alten immer häufiger zu Hilfe kommen, und der Weg, den sie an diesem Tage zurückgelegt hatten, war kurz. Und doch mußten sie, ehe der Winter hereinbrach, noch weit wandern, aber es schien ihnen, als ob der lästige Quälgeist sie so bald nicht freigeben würde. Und all sein Tun galt immer nur dem einen von ihnen. Nur dieser, nicht der ganze Sprung war in Gefahr. Nur sein Leben wurde gefordert, und es galt doch nicht so viel, als das von all den anderen.

Als die Schatten der Bäume lang und schräg fielen, stand der alte Elch allein und sah dem abziehenden Sprunge nach.  Da gingen sie hin, die Tiere, die er so lange geführt hatte, die er beschützt und beherrscht hatte. Er sah ihnen nach, bis daß sie im dämmerigen Licht verschwanden. Er konnte ihnen nicht folgen, denn vor ihm her hüpfte und bellte ein erbarmungsloser Feind, der es ihm verbot, und doch so klein war, daß einer seiner Hufe ihn hätte zertreten können. Er hatte ein langes, langes Leben hinter sich, ein Leben voll mutiger Kämpfe; und dies sollte nun sein Ende sein: der Tod von den Zähnen eines Geschöpfes, das ihm kaum bis an die Knie reichte.

Nun hatte er Tag und Nacht keine Ruhe; Buck ließ ihn nie zufrieden, ließ ihn kein Blättchen vom Strauch pflücken, keinen Tropfen Wasser aus dem Bach schöpfen. Er durfte seinen brennenden Durst nicht stillen und hörte doch das Wasser oft unter seinen Füßen rauschen. In heller Verzweiflung flog er oft in langen Fluchten davon. Dann war es Bucks Ehrgeiz durchaus nicht, ihm hart auf den Fersen zu bleiben; er ließ sich Zeit, denn er holte ihn doch, wenn es sein mußte, in wenigen leichten Sprüngen ein. Er ließ den Elch auch ruhig lange Zeit stehen und legte sich still daneben, und griff erst an, wenn er sich äsen oder tränken wollte.

Der schwere Kopf unter den großen Schaufeln sank immer tiefer zur Erde, der Gang wurde von Stunde zu Stunde unsicherer. Der Elch verhoffte jetzt oft und lange, die Muffel berührte fast das weiche Moos, die Lauscher hingen schlaff nach vorn, und Buck fand Zeit genug, für sich selbst Nahrung zu suchen.

Wenn er still dalag und den Elch im Auge hatte, dann war es Buck manch­mal, als ob etwas vorging im Lande. Als die Elche einzogen, schien auch etwas anderes gekommen zu sein, aber er wußte nicht, was es war. Er konnte es nicht sehen, nicht hören und nicht riechen, aber mit einem anderen namenlosen Sinn vernahm er es doch. Es gingen seltsame Dinge vor, und wenn er die Sache mit dem Elch erledigt hatte, wurde es Zeit, danach zu sehen.

Endlich am Abend des vierten Tages zog er den alten Schaufler nieder. Einen Tag und eine Nacht schenkte er sich Ruhe und fraß sich satt. Dann trat er erfrischt den Rückweg an. Im kurzen gleichmäßigen Trab ging es voran, immer geradeaus, ohne Zeitverlust; ohne auch nur eine unnötige Schleife zu machen, lief er gerade auf das Lager zu; keine Magnetnadel hätte genauer die Richtung zeigen können.

Und immer sicherer wurde er, daß etwas im Lande geschehen sei, von dem er nichts wußte. Er hörte die Vögel davon reden, die Eichhörnchen darüber schelten, und der Wind flüsterte geheimnisvoll davon. Dann und wann blieb er stehen, sog die frische Morgenluft in langen Zügen ein, aber mit ihr auch etwas, das ihn zu einem eiligeren Laufe antrieb. Erst als er in das Tal einbog, wo das Zelt stand, gebrauchte er Vorsicht.

Er kam auf eine Fährte, und diese Fährte führte geradeaus in das Lager, wo John Thornten war. Die Rückenhaare sträubten sich, seine Augen glühten, jeder Nerv an ihm bebte. Er wußte jetzt alles, nur das Ende noch nicht. Seine Nase hatte es ihm gesagt, in wessen Fußspuren er trat. Er empfand eine Stille des Waldes, die er nie empfunden; alles Vogelleben war tot; kein Eichhörnchen rührte sich. Nur eins sah er, ein kleines graues Kerlchen, das sich dicht an einen rauhen, grauen Stamm drückte.

Wie ein Schatten glitt Buck dahin, aber plötzlich war es ihm, als würde er mit eisernem Griff zur Seite gezogen. Er folgte der Weisung seiner Nase und fand im Dickicht Moor. Da lag sein Herr — lang ausgestreckt, tot, von Pfeilen durchbohrt, deren befederte Enden aus seinem Körper heraussahen.

Hundert Schritt weiter stieß Buck auf einen der neuen Schlittenhunde, die Thornten in Dawson gekauft hatte. Er lag im letzten Todeskampf. Vom Lagerplatz kam das Geräusch vieler Stimmen und ein eintöniger Singsang. Etwas weiter fand er Hans auf dem Gesicht liegend, mit Pfeilen bedeckt, wie ein Stachelschwein mit Stacheln. Im selben Augenblicke konnte er den Platz vor dem Zelt übersehen, und vor seinen Augen glühte es blutigrot. Es war die Welle der Wut, die ihn überlief. Er wußte es selbst nicht, daß er es war, der das Geheul ausstieß, das jetzt die Luft erschütterte. Es war das letzte Mal in seinem Leben, daß die Leidenschaft bei ihm Herr wurde über den Verstand: die Liebe zu John Thornten ließ ihn den Kopf ver­lieren.

Es waren Yeehats-Indianer, die dort auf dem freien Platze vor dem Zelt ihre Tänze aufführten und dazu sangen. Plötzlich hörten sie ein furchtbares Geheul und sahen ein Tier, wie sie noch keins gesehen hatten. Es war Buck, der sich zwischen sie stürzte. Er sprang auf den ersten zu, es war grade der Häuptling, warf ihn zu Boden und riß ihm die Gurgel auf, daß das Blut weit umherspritzte. In der nächsten Minute hatte er es mit dem zweiten geradeso gemacht, und auch über den dritten fiel er schon her. Er quälte sein Opfer nicht; dazu ließ er sich nicht Zeit. Von rechts nach links, nach hinten, nach vorn sprang er, zerriß, zerbiß und zermalmte, was ihm in den Weg kam. So schnell ging alles, und so eng hatten die Indianer zusammengesessen, daß sie nicht einmal ihre Pfeile gebrauchen konnten. Ein junger Krieger, der mit dem Speer nach Buck warf, traf einen anderen Indianer mit solcher Macht durch die Brust, daß das Speerende zum Rücken wieder herauskam. Eine Panik entstand, und Todesgeschrei durchgellte die Luft. Alle flohen in den Wald, als ob der böse Geist hinter ihnen wäre.

Und wie der leibhaftige Satan gebärdete sich Buck in seiner Wut. Es war ein Schicksalstag für die Yeehats. Weit über das Land wurden sie zerstreut, und erst eine Woche später sammelten sie sich in einem entlegenen Tale; es waren ihrer aber nicht mehr viele. Als Buck von ihrer Verfolgung zurück­kam, fand er zunächst Peter, der schon auf seinem Lager im Schlafe erschlagen war. Thorntens verzweifelten Kampf las er aus den Fußspuren im Sande und verfolgte sie bis hinunter an den tiefen dunklen See. Am Ufer, die Vorder­füße im Wasser, lag Skeet, treu bis in den Tod. Der See aber war trübe und schlammig, und was er enthielt, war nicht zu sehen. Buck aber wußte es. John Thorntens Fußspuren führten hinein, aber nicht wieder heraus.

Den ganzen Tag lag der Hund dort oder wanderte ruhelos um das Zelt. Der Tod war ein Aufhören jeder Bewegung, jedes Lebens; das hatte er oft beobachtet und er wußte, daß John Thornten tot war. Er fühlte eine große Leere in sich und ein Gefühl des Schmerzes, wie Hunger. Aber es war ein Hunger, der nie gestillt werden konnte. Zu Zeiten, wenn er den Spuren der Yeehats nachjagte und wieder ein paar zu Tode brachte, dann vergaß er den Schmerz wohl auf Augenblicke, und Stolz erfüllte sein Herz. Er hatte das edelste Wild gehetzt, Menschen gejagt, Menschen getötet, und zwar nach dem Gesetze des Reißzahnes, mit dem Recht des Stärkeren war es geschehen. Er beschnüffelte die Toten neugierig. Sie waren so leicht zu töten; mit einem Polarhund gab es einen viel härteren Kampf. Menschen waren keine würdigen Gegner, wenn sie nicht Knüppel oder Speere hatten; er würde sie nie mehr fürchten, höchstens die Waffen in ihrer Hand.

Die Nacht kam, und der Vollmond stand still am Himmel über den dunklen Bäumen. Buck lag traurig am Ufer des Sees. Da tönte ein Laut zu ihm her­über, den er kannte. Er klang so nah und klang doch fern. Es war der Ton, den er schon oft in einer anderen Welt gehört hatte, der Ton, den seine Er­innerung ihm bewahrt hatte. John Thornten war tot; jetzt wollte er dem Rufe folgen, denn das letzte Band war zerrissen, das ihn an die Menschheit knüpfte.

Auf ihren Jagdzügen waren die Wölfe durch das Land der Ströme und Seen bis hier in das Tal gezogen. Im Mondschein kamen sie daher wie ein Silberstreifen, und Buck stand hoch aufgerichtet, sie zu erwarten. Sie standen starr vor Schrecken, als sie ihn plötzlich sahen, und es dauerte lange, bis der kühnste unter ihnen zum Angriff vorsprang. Buck faßte ihn gut und brach ihm das Genick. Dann stand er wieder da, regungslos und still. Drei andere versuchten ihr Heil und zogen sich blutüberströmt zurück. .

Plötzlich fielen alle zusammen über ihn her, und nur seine fabelhafte Ge­wandtheit konnte ihn retten. Er schnappte nach rechts und nach links, war hier und dort zu gleicher Zeit, allerwärts und nirgends. Er mußte sich vor­sehen, daß er sich den Rücken freihielt.  Langsam ging er rückwärts bis an die Bucht am See. Dort hatten die Goldsucher beim Goldwaschen einen Haufen Sand und Steinchen aufgeworfen. Sich rückwärts schiebend, drängte er sich hinein, so daß er von drei Seiten geschützt war und sich nur nach vorne zu verteidigen brauchte.

Und so gut verstand er es, daß die Wölfe sich nach einer halben Stunde miß­mutig zurückzogen. Sie schnaubten vor Wut, und ihre weißen Zähne leuch­teten unheimlich vor Mordbegier. Sie wußten aber nicht, was sie zunächst tun sollten; einige legten sich mit gespitzten Ohren nicht weit von Buck hm, andere standen und beobachteten ihn scharf, während wieder andere zum Wasser hinuntergingen und tranken. Endlich kam ein Wolf näher. Es war ein alter, magerer, halb lahmer Geselle; er hob die Nase schnuppernd in die Luft und kam dann freundlich knurrend näher. Da erkannte Buck in ihm seinen wilden Bruder, mit dem er eine ganze Nacht und einen Tag durch die Wildnis gezogen war.

Dann trat ein alter, mit Narben bedeckter Wolf herzu, der anscheinend auch freundlich gesinnt war. Buck aber fletschte die Zähne und knurrte grimmig. Da setzte sich der Wolf, richtete die Nase empor zum Mond und stieß ein jämmerliches Geheul aus. Buck horchte auf. Das war der Ruf, jetzt erkannte er ihn genau, und eine unbestimmte Macht zwang ihn hervorzukommen, sich neben den Alten zu setzen und einzustimmen. Dann kam einer nach dem anderen heran, beschnupperte ihn und schloß sich dem Geheul an. Plötzlich aber sprang der alte Wolf auf und lief dem Walde zu, die anderen Wölfe folgten. An der Seite des wilden Bruders stürmte auch Buck laut bellend davon.

Es dauerte nicht lange, bis die Yeehats bemerkten, daß die Wölfe ihr Aus­sehen änderten. Einige hatten tiefbraune Flecken am Kopfe und ein weißes Mal vor der Brust. Und immer, wenn sie die Wölfe sahen, bemerkten sie an der Spitze des Rudels einen ungeheuer großen Wolf. Sie nannten ihn den Geisterwolf und fürchteten ihn mehr als alle anderen. Sie wußten wohl, daß er es war, der ihr Lager bestahl und ihre Fallen beraubte, aber er tat es mit solcher Schlauheit, daß sie ihm nichts anhaben konnten. Sie gaben es auch auf, sich gegen ihn zu wehren, denn er zerriß alle ihre Hunde und fürchtete selbst ihre tapfersten Krieger nicht. Es waren viele, die sie schon mit aufge­rissenem Halse gefunden hatten, und stets waren Spuren in der Nähe, die größer waren, als die eines gewöhnlichen Wolfes.

Jedes Jahr bei Beginn des Winters, wenn die Elche in die wärmeren Gegen­den ziehen, und die Yeehats ihnen folgen, dann vermeiden sie ein gewisses Tal. Viele Frauen verhüllen ihr Gesicht, wenn am Lagerfeuer davon gesprochen wird, was einstmals geschehen ist, als der böse Geist dort zum ersten Male gesehen wurde.

Dieses stille Tal aber hat einen Bewohner, und das ist ein großer Wolf mit seidenglänzendem, prächtigem Fell. Dort, wo aus verrotteten Säcken von Elchhaut ein glänzender gelber Strom zwischen den langen Grashalmen fließt, liegt er oft stundenlang und starrt still vor sich hin; manchmal geht er auch hinunter und sieht in das dunkle Wasser des stillen Sees, und ein Geheul, schrill und jämmerlich, erfüllt die Luft.

Er ist nicht immer hier. Wenn die Wölfe vor den langen Winternächten des Nordens fliehen und ihren Beutetieren zum Süden folgen, dann läuft Buck in langen Sätzen an der Spitze des Rudels und stimmt beim bleichen Scheine der Mitternachtssonne mit ein in den uralten Sang der Wölfe.

AMERIKA

E. A. Poe, Der Rabe

Eine Mittnacht einst gar traurig saß und sann ich müd und schaurig
über alten Folianten von vergeßner Weisheit schwer.
Und schon nickend mit dem Kopfe war mir plötzlich, daß es tropfe,
Nein, genauer noch, als klopfe sacht an meine Türe wer.
Ein Besucher, meint ich, sicher pocht an meine Türe wer.
Einzig dies nur und nichts mehr.

Oh, ich weiß noch alles. War es nicht im Sterbemond des Jahres?
Im Kamin die Funken warfen Geisterschatten zu mir her.
Sehnsuchtvoll des Morgens harrt‘ ich, denn umsonst in Bücher starrt‘ ich.
Nicht um sie getröstet ward ich, die ich einst geliebt so sehr,
Die nun Engeln heißt Lenore, einst von mir geliebt so sehr,
Hier genannt von keinem mehr.

Und das seidne Knisterrauschen in des Vorhangs Purpurbauschen
Weckte ein phantastisch Graun mir, wie ich’s nie gefühlt bisher.
Und das Herz schlug mir so mächtig, daß ich mehrmals ganz bedächtig
Vor mir hinsprach: „Mitternächtig pocht nur an die Türe wer.
Ein Besuch nur. Sicher pocht nur an die Zimmertüre wer.“
Einzig dies nur und nichts mehr.
Wieder ruhig jetzt und fester, ging ich an die Tür: „Mein Bester
Oder meine Beste,“ sprach ich, „wollt verzeihn, ich bitte sehr.
Doch mit schlafesmüdem Kopfe schien mir erst, als ob es tropfe,
Bis ich sicher war, es klopfe leise an die Türe wer.“
Und weit auf die Türe tat ich. Wer war draußen, dacht‘ ich, wer?
Dunkel einzig und nichts mehr.

Tief ins Dunkel spähend, lauernd, stand ich lange, zweifelnd, schauernd,
Träume träumend, wie kein andrer Sterblicher geträumt bisher.
Doch nur meines Herzens Pochen hat die Stille unterbrochen,
Und kein Wort sonst ward gesprochen als: „Lenore!“ kummerschwer,
Und ein Echo gab es wieder flüsternd mir und kummerschwer,
Einzig dies nur und nichts mehr.

Nun zurück ins Zimmer kehrend, innen mich in Brand verzehrend,
Hört‘ ich neuerlich das Klopfen, etwas lauter denn vorher.
„Ah, vom Fensterladen kommt es,“ sprach ich, „aber sicher frommt es,
Nachzusehn, und etwas Promptes zu erfahren ist nicht schwer.
Laß das Herz ein wenig still sein, und die Lösung ist nicht schwer:
Nur der Wind ist’s und nichts mehr.“

Aufstieß ich das Fenster schatternd, und herein, gemessen flatternd,
Kam ein großer alter Rabe aus der frommen Vorzeit her.
Und, nicht eben mit Turnüre, ganz, als ob sich’s so gebühre,
Setzt‘ er gleich sich ob der Türe, stolz wie nur, ich weiß nicht wer.
Auf die Pallasbüste eben ob der Türe wie nur wer,
Setzte sich und saß — nichts mehr.

Als er nun so majestätisch wie ein ebenholzner Fetisch
Saß und sah, da mußt‘ ich lächeln, war mein Herz auch kummerschwer.
Sprach: „Tonsur ja magst du haben, kommst doch sicher nicht um Gaben
Ernst- und ältster aller Raben, von dem nächt’gen Strande her.
Sag, wie heißt du, werter Kömmling vom pluton’schen Strande her?“
Sprach der Rabe: „Nimmermehr!“

Staunen mußt‘ ich, wie er also deutlich und in jedem Fall so
Unverhofft die Antwort sagte — klar, wenn auch nicht inhaltschwer.
War auch etwas ungemeiner, oder weiß mir irgendeiner,
Daß ein Vogel über seiner Zimmertür gesessen wär‘,
Auf der Pallasbüste über seiner Tür gesessen wär‘
Mit dem Namen „Nimmermehr“?

Doch der Rabe, einsam dort nur saß er, sprach das eine Wort nur,
Und es war, ob seine ganze Seele in dem Worte wär‘,
Saß nur schweigend, düstrer Laune, plusterte nicht eine Daune,
Bis ich dann kaum mehr als raune: „Morgen wird gewiß auch er,#
Wie die Freunde, wie die Hoffnung morgen weiterziehn auch er.“
Sprach der Vogel: „Nimmermehr!“

Und er sprach das Wort so klüglich, und es paßte so vorzüglich,
Daß ich sagte: „Sicher hat er das von seinem Herren her.
Der so grausam viel Verluste vom Geschick erleiden mußte,
Daß er nur zu sagen mußte, nur in steter Wiederkehr,
Als ein Grablied seiner Hoffnung in so bittrer Wiederkehr,
Dieses „Nimmer-nimmermehr“.

Doch wie er so majestätisch stets noch saß gleich einem Fetisch,
Rückt‘ ich lächelnd ein Fauteuil vor Vogel, Tür und Büste her;
Dann, mich in den Samt versenkend, alles mir zusammendenkend,
Nur auf dies mein Sinnen lenkend, forscht‘ ich, was die Meinung wär‘,
Was doch dieses alt gespenstisch düstern Vogels Meinung wär
Mit dem Krächzen: „Nimmermehr.“

So im Stuhle sitzend fragt‘ ich’s, doch mit keiner Silbe sagt‘ ich’s
Meinem Gaste, dessen Blick nun in mich drang, als brenne er.
Dieserlei Gedanken nährend, lehnt‘ ich in den Polstern, während
Von der Lampe mild verklärend über ihren Sammet her
Sanftes Licht kam, über ihren violetten Sammet her,
Wo sie ruht, ach! nimmermehr!

Dann — war dichter nicht die Luft hier? Wob nicht unsichtbar ein Duft hier?
Kamen, Weihrauchfässer schwingend, Engel nicht vom Himmel her?
„Ärmster!“ rief ich, „Gottes Boten bringen Lethe, mohnesroten,
Zum Vergessen dir der Toten, die du einst geliebt so sehr;
Trink ihn und vergiß die Tote, die du einst geliebt so sehr!“
Sprach der Rabe: „Nimmermehr!“

„Seher!“ sprach ich, „Unglücksseher, Vogel oder Teufel eher!
Ob dich der Versucher oder nur der Sturm dich sandte her —
Hier, wo alles Graun und Graus ist, voll Gespensterspuk das Haus ist,
Unverschüchtert, wie du aussiehst, sag mir wahrhaft, gib Gewähr: Ist kein Balsam denn in Gilead? — Sag mir, sag mir, gib Gewähr!“
Sprach der Rabe: „Nimmermehr!“

„Seher!“ sprach ich, „Unglücksseher, Vogel oder Teufel eher!
Bei dem Himmel, bei dem Gott, der dein- und meiner ist, erklär‘:
Nun in Kummer ganz verloren, find‘ ich einst an Edens Toren,
Find‘ ich wieder einst Lenoren bei den Engeln, licht und hehr?
Find‘ ich wieder einst Lenoren, rein und heilig, licht und hehr?
Sprach der Rabe: „Nimmermehr!“

„Sprichst du so, dann nimm den Rat an,“ rief ich, „Vogel oder Satan:
In den Sturm hinaus und wieder zum pluton’schen Strande kehr!
Keine Feder laß zurücke, schwarzes Zeichen deiner Tücke!
Will allein sein, mach dich flügge! Geh und laß die Büste leer!
Hack nicht weiter in das Herz mir, laß mir Tür und Büste leer!
Sprach der Rabe: „Nimmermehr!“

Und der Rabe, stets noch sitzt er, stets noch mit den Augen blitzt er
Von der weißen Pallasbüste über meiner Türe her.
Und es glühn die nimmersatten Dämonaugen, und im matten
Lampenschimmer fällt sein Schatten auf die Dielen breit und schwer,
Ach, und meine Seele wird sich, aus dem Schatten breit und schwer,
Sich erheben — nimmermehr!

(Deutsch von Otto Häuser)

E. A. Poe, Die schwarze Katze

Die Geschichte, die ich hier erzählen werde, ist eine der unheimlichsten und zugleich eine der einfachsten. Ich erwarte nicht, daß man sie glaubhaft finden wird, und verlange dies auch nicht. Es würde in der Tat ein Wahn­sinn sein, dies in einem Falle beanspruchen zu wollen, wo ich selbst sogar das Zeugnis meiner eigenen Sinne verwerfen möchte. Indessen wahnsinnig bin ich nicht, und sicherlich war es auch kein Traum. Morgen aber muß ich sterben, und so will ich heute meine Seele von einer schweren Bürde befreien. Zunächst beabsichtige ich hier dem Urteile der Welt klar und bündig und ohne weitere Erörterungen eine Reihenfolge rein häuslicher Begebenheiten zu unterbreiten. In ihrer weiteren Entwicklung sind diese Begebenheiten für mich die Ursache des Entsetzens, der Qual und des schließlichen Ver­derbens geworden. Ich will jedoch nicht versuchen, eine Erklärung darüber aufzufinden. Mir haben sie wenig anderes als Schauder verursacht. Anderen Personen mögen sie weniger schrecklich als sonderbar erscheinen. Vielleicht wird es irgendeinem späteren Denker gelingen, das, was jetzt als Wahngebilde erscheint, auf einen natürlichen Vorgang zurückzuführen. Eine besonnenere und logischere Denkkraft als die meinige, und die nicht mit einer so raschen Erregbarkeit verbunden ist, wird in den Dingen, die ich nur mit Schauder und Grausen erzählen kann, vielleicht nichts weiter als eine gewöhnliche Reihen­folge ganz natürlicher Ursachen und Wirkungen erblicken.

Von Kindesbeinen an war ich wegen meiner lenksamen und sanften Ge­mütsart bekannt gewesen. Die Zärtlichkeit meiner Gefühle hatte mir von jeher den Spott meiner Spielkameraden zugezogen. Namentlich hatte ich eine besondere Liebhaberei für Tiere, und durch die Nachsicht meiner Eltern war es mir gestattet, eine große Auswahl von Lieblingen zu halten. Mit diesen verbrachte ich den größten Teil meiner Zeit, und es waren meine glücklichsten Stunden, wenn ich sie fütterte und liebkoste. Je mehr ich heranwuchs, je mehr entwickelte sich auch diese Seite meines Wesens, und als ich im Mannes­alter stand, war sie für mich eine Hauptquelle des Vergnügens. Personen, die selbst Liebhaberei und Neigung für einen treuen und klugen Hund ge­hegt haben, werde ich die besondere Art und Weise, oder die aus solcher Nei­gung entstehende innige Befriedigung nicht weiter zu erklären brauchen. Die selbstlose und aufopferungsfähige Anhänglichkeit eines Tieres muß dem­jenigen unmittelbar zum Herzen sprechen, der häufig Gelegenheit hatte, in Bezug auf Freundschaft und Treue, die Armseligkeit und Unbeständigkeit der Menschen zu erproben.

Ich heiratete beizeiten, und war hoch erfreut, bei meiner Frau eine der meinigen entsprechende Gemütsart zu finden. Als sie meine Liebhaberei für Haustiere bemerkte, ließ sie keine Gelegenheit vorübergehen, die angenehmsten Arten derselben zu erwerben. So hatten wir Vögel, Goldfische, einen schönen Hund, Kaninchen, einen kleinen Affen und eine Katze.

Die letztere war ein auffallend großes und schönes Tier, ganz und gar schwarz und bis zu einem erstaunlichem Grade klug. Was ihre Klugheit betrifft, so machte meine Frau, die innerlich nicht ganz frei von Aberglauben war, häufig Anspielungen auf die alte volkstümliche Anschauungsweise, nach welcher die schwarzen Katzen für verkleidete Hexen galten. Nicht, als ob meine Frau es in diesem Punkte jemals ernsthaft gemeint hätte; ich erwähne der Sache überhaupt aus keinem anderen Grunde, als weil ich mich zufälligerweise gerade jetzt wieder daran erinnere.

Pluto — dies war der Name der Katze — war mein bevorzugter Liebling und Spielgenosse. Ich allein fütterte ihn, und er begleitete mich auf Schritt und Tritt, im ganzen Hause herum. Nur mit Mühe war er davon zurück­zuhalten, daß er mir nicht auch auf die Straße hinaus folgte.

In dieser Weise dauerte unsere Freundschaft mehrere Jahre lang, und wäh­rend derselben hatten mein Temperament und mein Charakter, wie ich nicht ohne Erröten gestehen muß, in Folge jenes Teufels: der Unmäßigkeit, — eine vollständige Umwandlung nach der schlimmen Seite hin erlitten. Mit jedem Tage nahm meine Verstimmung zu, wurde ich selbst reizbarer und schonungsloser gegen die Gefühle anderer. Selbst meiner Frau gegenüber gestattete ich mir eine rücksichtslose Sprache, und schließlich vergriff ich mich sogar körperlich an ihr. Man kann sich denken, daß auch die Schar meiner Lieblinge die Veränderung in meiner Stimmung empfinden mußte. Nicht nur, daß ich sie vernachlässigte, sondern ich mißhandelte sie auch. In­dessen für Pluto bewahrte ich immerhin noch so viele Rücksicht, die mich wenigstens davon abhielt, ihn zu mißhandeln, wie ich mir kein Gewissen daraus machte, es die Kaninchen, den Affen oder sogar auch den Hund zu tun, wenn der Zufall oder ihre eigene Anhänglichkeit sie mir in den Weg führte. Meine Krankheit gewann es immer mehr über mich — denn was gäbe es wohl für eine Krankheit, die dem Hange zum Alkohol zu vergleichen wäre? Schließ­lich begann auch Pluto, — der jetzt alt und folglich etwas launenhaft wurde, — begann also auch Pluto die Wirkungen meiner schlechten Laune zu er­fahren.

Eines Abends, als ich aus einer meiner gewohnten Kneipen in der Stadt sehr betrunken heimkehrte, bildete ich mir ein, die Katze vermeide meine Gegenwart. Ich griff nach ihr, wobei sie mir, wahrscheinlich in der Furcht vor meiner Heftigkeit, mit ihren Zähnen eine leichte Schramme auf meiner Hand verursachte. Augenblicklich wurde ich von einer wahrhaft dämonischen Wut erfaßt, so daß ich mich selbst nicht mehr kannte. Es war, als ob mein ursprüngliches Wesen plötzlich von mir gewichen sei, und eine mehr als teuf­lische, vom Schnaps gespornte Bosheit zuckte mir in jeder Fiber. Ich zog ein Federmesser aus meiner Tasche, öffnete es, packte das arme Tier an der Kehle, und stach ihm bedachtsam eins seiner Augen aus der Höhle heraus! Während ich diese fluchwürdige Schändlichkeit niederschreibe, überläuft es mich abwechselnd glühend heiß und mit eiskaltem Schauder.

Als ich am anderen Morgen die Dünste des nächtlichen Gelages verschlafen hatte, und die Vernunft mir zurückkehrte, fühlte ich mich wegen des Ver­brechens, dessen ich mich schuldig gemacht hatte, von einer Empfindung verfolgt, welche in der Mitte schwankte zwischen Schauder und Gewissens­qual. Aber es war nur eine vorübergehende und wirkungslose Empfindung, denn meine Seele blieb in ihrer Tiefe unberührt davon. Ich stürzte mich aufs Neue in Unmäßigkeiten und bald war im Wein jede Erinnerung an die Tat mit fortgeschwemmt.

Mittlerweile begann die Katze langsam zu genesen. Die Höhle des ver­lorenen Auges bot allerdings einen schauerlichen Anblick dar, aber das Tier schien durchaus keinen Schmerz mehr zu leiden. Wie früher ging es im Hause umher, floh aber entsetzt davon, wie man sich denken kann, sobald ich in seine Nähe kam. Es war mir von meiner früheren Liebhaberei noch so viel ge­blieben, daß ich diese augenscheinliche Abneigung von Seiten eines Geschöpfes, das mir einst so anhänglich und treu gewesen war, anfangs schmerzlich emp­fand. Aber es dauerte nicht lange und diese Empfindung begann einem Ge­fühle der Erbitterung zu weichen. Dann stellte sich auch bald, wie zu meinem schließlichen und unwiderruflichem Verderben, ein Geist des Widerspruchs bei mir ein, der mich dazu drängte, mit störrischer Verhärtung bei meiner Verkehrtheit zu beharren. Mit diesem Geist befaßt die Philosophie sich nicht. Dennoch bin ich wie von dem Leben meiner Seele davon überzeugt, daß dieser Geist des Widerspruchs eine der angeborenen Regungen ist, welche das mensch­liche Herz bewegen, — daß er zu den ursprünglichsten Trieben gehört, welche dem Charakter des Menschen die Richtung geben. Wem wäre es nicht viele hundert Male begegnet, daß er sich bei einer niedrigen und törichten Handlung überrascht hätte, die er aus keinem anderen Grunde beging, als weil er wußte, daß sie verboten war? Haben wir nicht, trotz unserer besseren Einsicht eine fortwährende Neigung, das Gebot zu verletzen, nur weil das Verbotene als Verbotenes uns reizt? Dieser Geist des Widerspruchs stellte sich also, wie ich schon sagte, bei mir ein, um mein Verderben zu vollenden. Es war dieser unergründliche, selbst quälerische Drang der Seele, ihrer eigenen besseren Natur zuwider, das Unrecht nur um seiner selbst willen zu begehen, — der mich anstachelte, die dem unschuldigen Tiere zugefügte Beschädigung weiter zu treiben und schließlich zu vollenden. Eines Morgens nahm ich eine Schlinge, streifte sie kaltblütig über den Hals der Katze und hängte sie an den Ast eines Baumes auf. Unter meinen eigenen strömenden Tränen und mit den bittersten Vorwürfen im Herzen erhing ich das Tier; erhing es, trotzdem ich wußte, daß es mich geliebt hatte und tief empfand, daß es mir keine Ursache zur Mißhandlung gegeben hatte; erhing es, weil ich wußte, daß, indem ich dies tat, — ich eine Sünde beging — ja vielleicht eine Todsünde, die das unsterb­liche Teil meines Wesens so gefährden konnte, daß meine Seele — wenn dies möglich ist — von der unendlichen Gnade des allbarmherzigen und allge­rechten Gottes auf ewig ausgestoßen bleiben würde.

In der Nacht, welche dem Tage, an dem ich diese grausame Tat verübt hatte, folgte, wurde ich plötzlich durch Feuerlärm aus dem Schlafe aufgeschreckt. Die Vorhänge meines Bettes hatten sich schon entzündet; das ganze Haus stand in Flammen! Nur noch mit genauer Not gelang es uns, meiner Frau, einem Diener und mir, der Feuersbrunst zu entrinnen. Alles wurde vernichtet. Mein ganzes Hab und Gut war dahin! und ich überließ mich von nun an der Verzweiflung.

Ich bin über die Schwachheit hinaus, in Bezug auf diese Heimsuchung und jene von mir begangene Schändlichkeit einen Zusammenhang, wie zwischen Ursache und Wirkung, nachweisen zu wollen. Aber, indem ich hier eine Ver­kettung von Tatsachen mitteilte, möchte ich dabei auch nicht ein einziges Glied übergehen. Am folgenden Tage nach der Unglücksnacht suchte ich die Brandstätte auf. Die Mauern waren bis auf eine einzige eingestürzt. Diese, die allein noch aufrecht stand, erwies sich als eine nicht sehr dicke Scheide­wand, welche ungefähr in der Mitte das Haus durchsetzt hatte, und gegen die das Kopfende meines Bettes gestanden hatte. Der Bewurf war hier in auf­fallender Weise von der Einwirkung des Feuers verschont geblieben, — eine Tatsache, die ich dem Umstände zuschrieb, daß der Bewurf erst kürzlich auf­getragen war.  Vor dieser Mauer hatte sich eine dicht gedrängte Menschenmenge angesammelt, und viele der Anwesenden schienen ihre besondere Auf­merksamkeit einer bestimmten Stelle zuzuwenden, die sie einer genauen und eifrigen Prüfung unterzogen. Die Worte: „seltsam!“, „sonderbar!“ und andere ähnliche Ausrufungen erregten meine Neugierde. Ich trat heran, und er­blickte auf der weißgetünchten Oberfläche der Mauer, wie im Bas-Relief darauf eingegraben, die Gestalt einer riesengroßen Katze. Die Umrisse waren mit einer wahrhaft wunderbaren Sorgfalt ausgeführt, und — um den Hals des Tieres war ein Strick gewunden.

Beim ersten Anblick dieser Spukerscheinung — denn für etwas anderes konnte ich dies kaum halten — geriet ich außer mir vor Staunen und Ent­setzen. Schließlich aber kam mir das Nachdenken zu Hilfe. Ich erinnerte mich, daß der Garten, worin ich die Katze erhängt hatte, gerade an das Haus stieß. Sobald also der Feuerlärm entstanden war, hatte sich dieser Garten augenblicklich mit Menschen gefüllt. Einer von diesen mußte das Tier vom Ast des Baumes abgeschnitten und es durch das offene Fenster in mein Zimmer hineingeworfen haben, wahrscheinlich in der Absicht, mich aus dem Schlafe aufzuwecken. Beim Einsturz der anderen Mauern mußte irgendein Zufall das Opfer meiner Grausamkeit tiefer in die frisch aufgetragene Masse des Be­wurfs eingedrückt haben. Durch den Kalk in Verbindung mit den Flammen und dem tierischen Alkali des Kadavers war dann das Abbild, so wie ich es sah, vollendet worden.

Obgleich ich mich in dieser Weise wegen der hier erzählten aufregenden Tatsache mit meiner Vernunft, wenn auch nicht so ganz mit meinem Ge­wissen, rasch abfand, so verfehlte sie darum nichtsdestoweniger, meine Phan­tasie in Aufregung zu erhalten. Monate lang wollte es mir nicht gelingen, mich von den wegen der Katze auftauchenden Hirngespinsten zu befreien; und während dieser Zeit kehrte in mein Gemüt eine unbestimmte Empfindung zurück, die wie Reue erschien, es aber doch nicht war. Ich ging so weit, den Verlust des Tieres zu bedauern und mich in den elenden Schlupfwinkeln, welche ich jetzt am meisten zu besuchen pflegte, nach einem anderen Lieb­ling derselben Gattung und von einigermaßen ähnlicher Erscheinung umzu­sehen, der den Platz des früheren wieder ausfüllen sollte.

Als ich einstens in der Nacht, nur noch halb meiner Sinne mächtig, in einer mehr als gewöhnlichen Lasterhöhle so da saß, wurde meine Aufmerksamkeit plötzlich auf einen schwarzen Gegenstand hingelenkt, der oben auf einem un­geheuren Oxthof voll Branntwein oder Rum, das in der Ausstattung des Lokales ein Hauptstück bildete, sich hingekauert hatte. Einige Minuten lang blickte ich unverwandt nach dem in die Höhe gerichteten Boden des Fasses, und was mich jetzt am meisten in Erstaunen setzte, war, daß ich den darauf ruhenden

Gegenstand nicht schon früher bemerkt hatte. Ich ging darauf zu und be­rührte ihn mit der Hand. Es war eine schwarze Katze — eine sehr große – vollkommen so groß wie Pluto, und ihm in jeder Hinsicht, mit Ausnahme eines einzigen Abzeichens, täuschend ähnlich; Pluto hatte am ganzen Körper auch nicht ein einziges weißes Haar gehabt. Diese Katze dagegen hatte einen großen, wenn auch in seinen Umrissen undeutlich hervortretenden, weiß ge­sprenkelten Flecken, der beinah die ganze Brust bedeckte.

Bei meiner Berührung stand das Tier sofort auf, fing an laut zu schnurren, rieb sich gegen meine Hand, und schien über meine Beachtung hoch erfreut zu sein. Dies war gerade so ein Tier, wie ich es suchte. Ich machte dem Wirt sogleich ein Erbieten, um es zu erstehen. Dieser jedoch machte durchaus keinen Anspruch darauf, — da er nichts von der Katze wisse, — sie zuvor nie gesehen habe.

Ich fuhr fort, sie zu streicheln, und als ich mich anschickte, nach Hause zu gehen, bezeigte das Tier eine Neigung, mir zu folgen. Ich gestattete ihm, dies zu tun, und im Weitergehen bückte ich mich dann und wann, um es zu streicheln. Als es im Hause angekommen war, wußte es sich gleich einzuge­wöhnen, und wurde auch sofort ein großer Liebling meiner Frau.

Ich meinerseits fühlte bald in mir eine Abneigung gegen das Tier entstehen. So trat gerade das Gegenteil ein von dem, was ich erwartet hatte; allein — ich weiß nicht, wie oder warum es so war — aber seine augenscheinliche Zärt­lichkeit für mich war mir eigentlich unangenehm und widerte mich an. Nach und nach verwandelten sich diese Gefühle der Abneigung und des Wider­willens sogar in erbitterten Haß. Ich wich der Katze aus; ein gewisses Gefühl der Beschämung und die Erinnerung an meine frühere grausame Tat hielten mich davon ab, sie körperlich zu züchtigen. So vergingen mehrere Wochen, ohne daß ich sie schlug oder in irgendeiner anderen Weise sonderlich miß­handelt hätte. Aber allmählich — ja, sogar sehr allmählich — fing ich an, sie mit unaussprechlichem Widerwillen zu betrachten, und ihrer unerträg­lichen Gegenwart schweigend zu entfliehen, wie dem giftigen Hauch der Pest.

Was jedenfalls dazu beitrug, meinen Widerwillen gegen das Tier zu ver­schärfen, war: daß ich gleich an demselben Morgen, als ich es mit nach Hause genommen hatte, die Entdeckung machte, daß es, wie Pluto, um eins seiner Augen gebracht sein mußte. Für meine Frau dagegen war dieser Umstand nur ein Grund mehr, die Katze umso lieber zu haben. Wie ich bereits er­wähnte, besaß sie in hohem Grade jene Tierfreundlichkeit, die einst ein her­vortretender Zug meines eigenen Wesens, und die Quelle vieler meiner ein­fachsten und reinsten Freuden gewesen war.

Indessen war es, als ob sich mit meinem Widerwillen gegen die Katze, deren eigene Vorliebe für mich gesteigert hätte. Sie folgte meinen Schritten mit einer zudringlichen Beharrlichkeit, daß der Leser sich schwerlich einen Be­griff davon machen kann. Wo ich mich hinsetzen mochte, wollte sie unter meinen Stuhl kriechen, oder mir auf die Knie springen, mich mit ihren wider­wärtigen Liebkosungen zu überhäufen. Wenn ich aufstand, um fortzugehen, kroch sie mir zwischen die Füße, daß ich in Gefahr geriet, zu fallen, oder sie klammerte sich mit ihren langen scharfen Krallen an meine Kleider an und kletterte mir bis zur Brust herauf. Obgleich es mich bei solchen Gelegen­heiten stachelte, sie durch einen Schlag zu vernichten, fühlte ich mich doch davon zurückgehalten, teils durch die Erinnerung an mein früheres Verbrechen, hauptsächlich aber — ich will es nur lieber gleich gestehen — aus wirklicher Furcht vor dem Tiere selbst.

Diese Furcht bestand nicht gerade darin, daß ich erwartet hätte, dasselbe werde mir irgendeine erheblich körperliche Verletzung zufügen, — und doch würde ich außer Stande sein, meine Empfindung durch eine andere Art der Erklärung begreiflich zu machen. Ich bin beinah beschämt, es gestehen zu müssen, – selbst in dieser Verbrecherzelle vermag ich es nicht ohne Be­schämung zu gestehen, — daß der Schauder und das Entsetzen, die ich dem Tiere gegenüber empfand, durch ein reines Hirngespinst, wie man sich nur eins denken kann, gesteigert wurden. Meine Frau hatte mich wiederholt auf die Form des Fleckens aufmerksam gemacht, der durch die weißen Haare ge­bildet wurde. Wie ich schon gesagt habe, bestand hierin der einzige sichtbare Unterschied zwischen diesem sonderbaren Tiere und dem von mir getöteten Pluto. Der Leser wird sich noch erinnern, daß dieses Abzeichen, wenn es auch fast die ganze Brust bedeckte, ursprünglich doch nur sehr undeutlich in seinen Umrissen gewesen war. Aber, in ganz allmählichen und kaum merk­lichen Steigerungen, die meine Vernunft sich lange bemühte, als eingebildete zu verwerfen, trat dieses Abzeichen schließlich mit einer furchtbaren Deut­lichkeit der Umrisse hervor. Es stellte jetzt einen Gegenstand dar, den es mich schaudert zu nennen; — und dies vor allem war die Ursache meines Abscheues und meiner Furcht, und weshalb ich mich gern von dem Ungeheuer befreit hätte, nur daß ich es nicht wagte! Das Abzeichen hatte jetzt — ich spreche es aus — die Gestalt eines scheußlichen, eines spukhaften Dinges angenommen: — es war ein Galgen! — 0, trauriges und furchtbares Werkzeug der Schande und der schnöden Bestrafung — der Seelenmarter und des Todes!

Und jetzt war ich wirklich elend; elend über alle Grenzen eines rein mensch­lichen Elendes hinaus! Und ein vernunftloses Tier, — von dessen Geschlecht ich eins verächtlich zerstört hatte, — ein vernunftloses Tier vermochte es, mir — mir, dem Menschen — dem nach dem Ebenbilde des allerhöchsten Gottes geschaffenen Menschen — so viel unerträgliches Elend zu bereiten. Ach, ich wußte nichts mehr von dem Segen der Ruhe! weder bei Tage, noch bei Nacht. Den Tag über ließ das Tier mich nicht einen Augenblick allein, und während der Nacht fuhr ich in jeder Stunde mit unaussprechlicher Angst aus fürchterlichen Träumen auf, um mein Gesicht von dem Atem des spuk­haften Untieres angehaucht zu fühlen! — um meine Brust von dem Druck seines schweren Gewichts, — wie von der Verkörperung eines grauenhaften Nachtgespenstes, das ich nicht die Kraft hatte abschütteln zu können — ewig belastet zu fühlen!

Unter der Wucht solcher Qualen erlag in mir der schwache Rest guter Re­gungen, der mir noch verblieben war. Schlimme Gedanken wurden die ein­zigen Begleiter meiner Seele — die finstersten und schlimmsten Vorstellungen! Die mürrische Verdüsterung meiner gewöhnlichen Stimmung steigerte sich zum Haß gegen alles in der Welt und gegen die ganze Menschheit. Ach, meistens war es meine still duldende Frau, die mit der größten Gelassenheit das unglückliche Opfer der plötzlich und häufig eintretenden zügellosen Aus­brüche meiner Wut wurde, der ich mich von nun an rücksichtslos und blind­lings hingab.

Eines Tages begleitete die beklagenswerte Dulderin mich, irgendeines häuslichen Geschäftes wegen, in den Keller des alten Hauses, welches unsere .Armut uns genötigt hatte, zu beziehen. Die Katze, welche mir auf den Stufen ‚er steilen Treppe hinabfolgte, war schuld daran, daß ich beinah kopfüber hinuntergestürzt wäre. Dies brachte mich außer mir, und eine Axt ergreifend, “ ergaß ich der kindischen Furcht, die bisher meine Hand zurückgehalten hatte. Ich führte einen Streich nach dem Tiere hin, der sicherlich augenblicklich tödlich gewesen wäre, wenn er so, wie ich ihn beabsichtigte, niedergefallen wäre, Aber meine Frau, die mit der Hand meinen Arm ergriff, hatte den Streich aus seiner Richtung gebracht. Diese Einmischung stachelte meine Wut zu wahrhaft teuflischer Raserei auf. Ich riß meinen Arm aus den Händen meiner rau los und schlug die Axt tief in ihren Schädel ein. Ohne auch nur einen Seufzer auszustoßen fiel sie tot auf der Stelle nieder.

Gleich, nachdem dieser schändliche Mord vollbracht war, machte ich mich sofort und mit aller Überlegung daran, den Leichnam zu verbergen. Ich wußte, daß ich ihn weder am Tage, noch in der Nacht aus dem Hause fort­schaffen konnte, ohne dabei Gefahr zu laufen, den Argwohn der Nachbarn zu erwecken.  Mancherlei Pläne kamen mir in den Sinn. Einmal dachte ich daran, den Körper in kleine Stücke zu zerlegen, und diese durch Feuer zu ver­nichten. Dann wieder beschloß ich, in dem Fußboden des Kellers ein Grab auszuhöhlen. Wiederum überlegte ich mir, ihn lieber in den Brunnen zu werfen, der sich auf dem Hofe befand; — oder ihn unter den gewöhnlichen Vorkehrungen wie eine Ware in eine Kiste zu verpacken und diese durch einen Packträger aus dem Hause fortbringen zu lassen. Endlich geriet ich auf einen Ausweg, der mir bei weitem besser zu sein schien, als alle früheren Pläne. Ich beschloß, den Leichnam in die Wand des Kellergewölbes einzumauern, wie es historischen Berichten zufolge die Mönche des Mittelalters mit ihren Opfern gemacht haben sollen.

Der Keller war zur Ausführung eines solchen Planes sehr geeignet. Die Wände waren mit dünnem Mauerwerk und erst kürzlich überall mit grobem Mörtel verstrichen worden, der bei der feuchten Atmosphäre noch nicht fest angetrocknet war. Überdies war an einer der Mauern ein Vorsprung, hinter dem sich ein falscher Kamin oder eine Feuerstelle befand, die man ausgefüllt und dann die Stelle den übrigen Wänden des Kellers wieder gleich gemacht hatte. Ich zweifelte nicht, daß es mir gelingen würde, die Ziegelsteine an dieser Stelle leicht herauszubrechen, den Körper hineinzufügen, und das Ganze, wie es zuvor gewesen war, wieder ausmauern zu können, so daß von keines Menschen Auge irgendetwas Verdächtiges zu entdecken sein würde.

Und diese Voraussetzung täuschte mich nicht. Mit einem Brecheisen ge­lang es mir leicht, die Steine herauszuheben, und nachdem ich den Körper vorsichtig gegen die innere Mauer gelehnt hatte und ihn in dieser Stellung zu erhalten wußte, füllte ich mit geringer Mühe das ganze Mauerwerk wieder aus, wie es ursprünglich gewesen war. Da ich mir mit aller möglichen Vorsicht Mörtel, Sand und Haar verschafft hatte, bereitete ich daraus einen Bewurf, der von dem früheren nicht zu unterscheiden war, und verstrich damit sehr sorgfältig das neue Mauerwerk. Als ich mit diesen Vorkehrungen fertig war, hatte ich ein befriedigendes Gefühl, daß nun alles in Ordnung sei. An der Mauer war auch nicht die geringste Spur zu bemerken, daß irgendetwas Be­sonderes damit vorgegangen war. Mit der größten Sorgfalt säuberte ich den Fußboden vom Schutt, und dann mein Werk mit triumphierenden Blicken be­trachtend, sagte ich zu mir selbst: „Hier ist deine Mühe wenigstens keine ver­lorene gewesen.“

Das Nächste, was ich nun tat, war, mich nach dem Tiere umzusehen, das die Veranlassung zu so vielem Elend gewesen war. Endlich war ich fest ent­schlossen, die Katze umzubringen. Wäre sie mir in diesem Augenblicke in den Weg gekommen, so wäre ihr Schicksal auf der Stelle entschieden ge­wesen; aber es schien, als ob das schlaue Tier, noch beunruhigt durch den heftigen Ausbruch meines Zornes, es vermieden hätte, sich während meiner gegenwärtigen Stimmung blicken zu lassen.  Es ist unmöglich, zu schildern, oder auch nur sich vorzustellen, ein wie, tief befriedigendes Gefühl ich über die Abwesenheit des verabscheuten Tieres empfand. Auch die ganze Nacht über kam es nicht zum Vorschein; und so war es mir, seit seiner Aufnahme ins Haus, endlich wieder einmal vergönnt, wenigstens eine Nacht hindurch gesund und ruhig zu schlafen; ja, ich schlief sogar, obgleich meine Seele mit dem Gewicht eines Mordes belastet war.

Der zweite und auch der dritte Tag vergingen, und noch immer ließ mein dämonischer Plagegeist sich nicht blicken. Noch einmal war es mir vergönnt, in Freiheit aufzuatmen. Der Schrecken hatte das Ungeheuer für immer aus dem Hause vertrieben! Ich sollte es nicht mehr erblicken und ich war glück­selig darüber. Das Bewußtsein meiner schwarzen Tat störte mich nur wenig. Ein paar Nachfragen, die man getan hatte, waren rasch beantwortet gewesen. Selbst eine Nachforschung war angestellt worden, bei der aber natürlich nichts her­ausgekommen war. Ich betrachtete also meine Ruhe für die Zukunft als gesichert.

Am vierten Tage nach dem Morde erschienen jedoch ganz unerwartet einige Herren von der Polizei in meiner Wohnung und nahmen wiederum eine sorgfältige Durchsuchung des ganzen Hauses vor. Ich blieb dabei ganz ruhig; denn in der festen Überzeugung, daß der Ort der Verheimlichung nicht zu entdecken sei, konnte mich dies nicht im geringsten aus der Fassung bringen. Die Beamten befahlen mir, sie bei der von ihnen vorzunehmenden Durchsuchung zu begleiten. Nicht ein Winkel, nicht eine Ecke blieb dabei übersehen, und schließlich stiegen sie zum dritten oder vierten Male in den Keller hinunter. Keine Faser an mir zuckte, und mein Herz schlug so ruhig, wie bei jemandem, der in seiner Unschuld schläft. Ich begleitete die Herren in den Keller und ging mit ihnen von einem Ende bis zum anderen; die Arme über der Brust gekreuzt, ging ich leichten Mutes hin und wieder. Die Poli­zisten bezeigten sich durchaus befriedigt, und schon waren sie im Begriff fortzugehen. Die Freude meines Herzens war zu groß, um sie ganz verbergen zu können. Es stachelte mich förmlich, ihr, wenn auch nur durch ein Wort spöttischer Anspielung, Luft zu verschaffen, das zugleich die Polizisten in ihrer Überzeugung von meiner Unschuld bestärken sollte.

„Meine Herren“, sagte ich, als die Gesellschaft die Stufen hinaufstieg, „es freut mich, Ihren Argwohn beseitigt zu sehen, und ich wünsche Ihnen allen ein freundliches .Lebewohl!‘ und für die Zukunft ein wenig mehr Höf­lichkeit. Nebenbei gesagt, meine Herren, dies hier — dies ist ein sehr gut gebautes Haus.“ Im wahnsinnigen Verlangen, irgendetwas Unbefangenes zu sagen, wußte ich kaum selbst, was ich überhaupt nur noch sprach. „Ich möchte sagen, ein ausgezeichnet gut gebautes Haus. Diese Mauern, — wollen Sie schon gehen, meine Herren? — diese Mauern sind fest zusammengefügt.“ Und hier klopfte ich aus rein übermütiger Prahlerei mit einem Stock, den ich zu­fällig in d er Hand hatte, stark gegen das Mauerwerk, gerade an der Stelle, wo ich den Leichnam der Frau verborgen hatte, die das Weib meines Herzens gewesen war.

Aber, daß Gott mir gnädig sein möge und mich befreien aus den Krallen des Erzfeindes! Nicht sobald war der Schall meines Klopfens in der Stille verklungen, als von innen heraus wie von einer Stimme aus dem Grabe gleich­sam die Antwort erteilt wurde. Es war ein Geschrei, anfangs bald erstickt und abgebrochen, wie das Schluchzen eines Kindes, das dann aber rasch in ein lautes ununterbrochenes Gekreisch überging, das durchaus unnatürlich und nichts Menschlichem mehr ähnlich war. Ein Geheul, ein kreischendes Weh­klagen, als ob mit den gräßlichen Rufen eines wahnsinnigen Schreckens sich teuflisches Frohlocken vermischt hätte. Dergleichen kann nur der Hölle ent­steigen, wenn in ihren Todesqualen die vereinigten Kehlen der Verdammten ihr Wehgeschrei ausstoßen, worin sich das Frohlocken der über die Verdamm­nis höhnenden Teufel mischt.

Es wäre überflüssig, schildern zu wollen, was dabei in meinem eigenen Inneren vorging. Ich taumelte ohnmächtig an die gegenüberliegende Mauer zurück. Starr vor Entsetzen und Grauen blieben die Polizeibeamten im ersten Augenblick regungslos auf der Treppe stehen. Im nächsten waren ein Dutzend kräftiger Hände eifrig an der Mauer beschäftigt. Sie sank ein, und der bereits stark in Verwesung übergegangene und mit geronnenem Blut besudelte Leich­nam stand aufrecht vor aller Augen da. Auf dem Kopfe desselben hockte mit weit aufgesperrtem rotem Maul und dem glühenden einzigen Auge das scheußliche Tier, dessen dämonisches Gebaren mich zum Morde verleitet hatte, und dessen verräterische Stimme mich jetzt dem Henker überlieferte. Ich hatte das Ungeheuer mit in die Grabstätte eingemauert.

John Burroughs, Die „einsame Drossel“

Wenn ich in die Wälder eintrat und den kleinen Singvögeln lauschte oder die Stille um mich her bewunderte, stets erreichte mein Ohr ein Klang aus der Tiefe der Wälder, der für mich der schönste Klang in der ganzen Natur ist, nämlich der Sang der „Einsamen Drossel“. Ich höre ihn oft von weit her, vielleicht eine Viertelmeile entfernt, so daß nur der lautere und vollendete Teil der Musik zu mir dringt, und zwischen dem Chor von Zaunkönigen und Sylvien bemerke ich diesen rein und klar anhebenden Gesang, als wenn ein Geist aus der Höhe eine göttliche Begleitung anstimmte. Dieser Gesang be­rührt die Schönheitssaite in meinem Inneren und erweckt in mir eine rein religiöse Glückseligkeit, wie kein anderer Ton in der Natur. Er ist vielleicht mehr ein Abend- als ein Morgenpsalm, obgleich ich ihn zu jeder Stunde des Tages höre. Er ist sehr einfach und ich kann das Geheimnis seines Zaubers nicht ergründen. „O Sphärenmusik,“ scheint er zu sagen, „o heilig, heilig, o tritt hinweg, o steig hinan,“ unterbrochen von den zartesten Trillern und den schönsten Präludien. Es ist keine stolze volle Strophe wie die des Tanagragesanges, sie verursacht keine Leidenschaft oder Erregung, nichts Persönliches, aber es scheint die Stimme der ruhigen, stillen Feierlichkeit zu sein, auf die man in seinen besten Augenblicken gestimmt ist. Es atmet einen Frieden und eine tiefernste Freude, die nur die schönsten Seelen kennen mögen. Vor einigen Nächten erstieg ich einen Berg, um die Welt beim Mondschein zu sehen. Nahe dem Gipfel begann die „einsame Drossel“ nicht weit von mir ihren Nachtgesang. Indem ich, vom Mondlicht umflossen, dem Gesang aus einsamer Höhe ‚lauschte, erschien mir der Pomp unserer Städte wohlfeil und trivial.

Walt Whitman, Ich meine, ich könnte mich den Tieren zu­gesellen

Ich meine, ich könnte mich den Tieren zugesellen und mit ihnen leben, sie sind so ruhig und selbständig,
Ich stehe und betrachte sie lange, lange.
Sie schwitzen und wimmern nicht über ihre traurige Lage,
Sie liegen nicht im Dunkeln wach und weinen über ihre Sünden,
sie erregen in mir keinen Ekel, denn sie debattieren nicht über ihre Pflichten gegen Gott,
Kein einziges ist unzufrieden, kein einziges ist verrückt von der Manie, Sachen zu besitzen,
Kein einziges kniet vor einem andern oder vor seinesgleichen, der vor Tausen¬den von Jahren lebte, ein einziges ist „respektabel“ oder unglückselig auf der ganzen Erde.
So zeigen sie ihre Beziehungen zu mir, und ich erkenne sie an, Sie bringen mir Zeichen von mir selbst und beweisen deutlich ihren Anteil daran.
Ich wundere mich selbst, woher sie diese Zeichen haben können?
Bin ich selber dort vor riesigen Zeiträumen vorbeigegangen und habe sie auch lässig hinfallen lassen?
Ich selber, vorrückend, damals und jetzt und ewig?
Immer mehr sammelnd und offenbarend, mit Schnelligkeit,
Unendlich und von allerlei Gattung, gleich wie diese unter ihnen,
Nicht zu vornehm gegen diejenigen, die mir meine Erinnerungszeichen geben,
Hier suche ich mir einen aus, den ich liebe, und nun gehe ich brüderlich mit ihm.
Ein Prachtstück von einem Hengst, lebhaft und empfänglich für meine Lieb¬kosungen,
Sein Kopf ist hoch in der Stirn, breit zwischen den Ohren,
Die Glieder glänzend und geschmeidig, der Schweif streift den Boden,
Die Augen voll funkelnder Bosheit, die Ohren fein geschnitten, geschmeidig
in der Bewegung. Seine Nüstern blähen sich, wenn meine Fersen ihn umschließen, Seine wohlgebauten Glieder beben vor Lust, wenn wir im Kreise herumtoben.
Ich benutze dich nur eine Minute, mein Hengst, dann gebe ich dich frei, Wozu brauche ich deine Sprünge, da ich dich selbst im Galopp überholen kann? Selbst wenn ich sitze oder stehe, komme ich doch schneller weiter als du!
Ochsen, die ihr mit dem Joch und der Kette rasselt oder unter schattigem Blätterdach haltet, was ist es, das ihr in euren Augen ausdrückt?
Es scheint mir weit mehr als alles Gedruckte, das ich in meinem Leben gelesen.
Mein Schritt verscheucht Waldenterich und Ente auf meinen entlegenen, tagelangen Streifzügen.
Sie fliegen zusammen auf, langsam kreisend.
Ich glaube an diese beflügelten Zweckmäßigkeiten,
Und bekenne Rot, Weiß, Gelb, spielend in mir,
Und halte Grün und das Veilchen blau und die Federbuschkrone für ab¬sichtlich,
Und nenne die Schildkröte nicht wertlos, weil sie nicht etwas anderes ist; Die Elster im Walde hat die Tonleiter nicht studiert und trillert doch gut genug für mich,
Und der Anblick der kastanienbraunen Stute treibt beschämend alle Albern¬heiten aus mir.
Der wilde Gänserich lenkt seinen Flug durch die kühle Nacht, Ja—honk! ruft er, und es klingt wie eine Einladung,
Die Vorwitzigen mögen es für bedeutungslos halten, ich aber finde aufhorchend, Daß es seinen Zweck und Platz hat dort oben im winterlichen Himmel.

(Deutsch von Schlaf)

NORDLAND

Altdänisches Heldenlied, Des Leuen und König Dieterichs Kampf mit dem Lindwurm

Das war Meister König Dieterich, der wollt‘ von Bern ausreiten,
Da fand er einen Löwen und häßlichen Lindwurm miteinander so furcht¬bar streiten.
Der Lindwurm, der zog ihn fort!

Sie stritten einen Tag, sie stritten zwei, am‘ dritten Tag zur Nacht:
Da hätt der häßliche Lindwurm den Leu zur Erde gebracht.

Da aber rief der Leu aus Not, da er den König sah reiten:
„Du hilf mir, Herr König Dieterich, erlös‘ mich aus diesen Leiden.

Um deiner allerhöchsten Gewalt, befrei‘ mich, Meister Dieterich so mild,
Befrei‘ mich um des vergoldeten Löwen, den du führest in deinem Schild.

Bei deinem Namen hilf du mir, komm mir zum Trost, du König gut,
Weil ich stehe gemalt in deinem Schild, so feurig wie Feuersglut.

Lange stand der König Dieterich, das deucht‘ ihn wohlgetan:
„Ich will helfen diesem armen Leu, wie es auch möge ergahn!“

Das war Meister König Dieterich, der zog aus sein Schwert so gut,
Kämpfte mit dem häßlichen Lindwurm, sein Schwert stand tief im Blut.

Nicht säumen wollt‘ sich der gute Herr: wie hieb er da mit Macht!
So lange bis sein gutes Schwert ihm an dem Griff abbrach.

Der Lindwurm nahm ihn auf seinen Rück und das Roß unter seine Zunge:
So drängt‘ er in den Berg hinein zu seinen elf kleinen Jungen.

Das Roß warf er vor seine Jungen, in einen Winkel den Mann:
„Esset nun das kleine Stück, ich will zu schlafen gahn.

Esset nun die geringe Beut‘, ich will zu ruhen gahn:
Wann ich wieder aus dem Schlaf erwach‘, dann sollt ihr greifen den Mann.“

Der Meister König Dieterich suchte rings in dem Berg zur Hand, Da fand er das gute Schwert, das Adelring ist genannt.

Da fand er so stark ein Schwert und vergüldete Messer zwei:
„Gott gnade deiner Seel‘, König Siegfried! hier hast du gelassen deinen Leib!

Ich bin gewesen in mancher Schlacht, in Herrenfahrt mit dir, Doch nimmermehr hab‘ ich gewußt, daß du bist blieben hier.“

Das war Meister König Dieterich, der wollt‘ prüfen, ob das Schwert sei gut: Er hieb in den harten Fels, daß der Berg stand all in Glut.

Und da der junge Lindwurm den Berg in Flammen stehen sach: Wer hat den Bauer Zwietracht in sein eigen Haus gebracht?

Er gebärdete sich zornig viel und sah so böslich aus:
Wer hat den Bauer Zwietracht gebracht in sein eigen Haus?

Die andern Jungen sprechen in der Ecke, wo sie stehen:
„Weckst du unsre Mutter aus dem Schlaf, wie schlimm wird dir’s ergehen!“

Darauf der Meister König Dieterich so gram im Mute sprach: „Ich will wecken durch einen so furchtbaren Traum deine Mutter aus dem Schlaf.

Deine Mutter erschlug den König Siegfred, solch wohlgebornen Mann: Das will ich an Euch allen rächen mit meiner rechten Hand.“

Auf da wachte der alte Lindwurm, ihm ward dabei so bange: „Wer macht mir diese Unruhe, was ist das für ein Klang?“ —

„Das bin ich, König Dieterich, mich lüstet dir was zu sagen, Gestern unter deinem geringelten Schwanz hast du mich in den Berg ge¬tragen.“ —

„Du hau‘ mich nicht, König Dieterich, hier ist mein rotes Gold:
Es ist viel besser gelassen als getan, wir bleiben uns treu und hold.“ —

„Deinen falschen Listen trau‘ ich nicht, du willst mich gewißlich betören: Du hast ermordet so manchen Held, das ziemet sich nicht mehre.“ — „Hör du, Meister König Dieterich, o schlag zu Tod mich nicht: Ich weis‘ dir deine verlobte Braut, die versteckt im Berge liegt.

Zu oben bei meinem Haupte, da liegen die Schlüssel klein,
Zu nieden bei meinen Füßen, da kannst du zu ihr gehen ein.“ —

„Zu oben bei deinem Haupte, da will ich heben an, Zu nieden bei deinen Füßen, da will ich lassen ab.“

Erst schlug er den häßlichen Lindwurm und so auch seine elf Jungen; Doch könnt‘ er nicht aus dem Berg heraus vor giftigen Würmerzungen.

So grub er so tief eine Grube vor seinem linken Fuß, Auf daß er nicht umkomme in giftigem Würmerblut.

Da fluchte zuerst König Dieterich, er ward dem Löwen so feind: „Verwünscht soll st in der Löwe, ihn treffe Fluch und Pein!

Das hat mir getan der listige Leu: Gott laß es ihm schlecht ergehnl Hätt‘ er nicht gemalt gestanden in meinem Schild, mich hätt‘ getragen mein Roß dahin.“

Und als das hört der gute Leu, daß der König sich so sehr beklagt: „Du steh selber fest, König Dieterich, ich grabe mit starker Klau‘.“

Der Löwe gräbt, König Dieterich haut, der Berg steht in Glühen rot: Hätt‘ ihn der Leu nicht gegraben heraus, er hätt‘ sich gegrämet zu Tod.

Und da er erschlagen den häßlichen Wurm, dazu auch seine elf Jungen, Ist er mit schwerem Panzer und Schild aus dem Berg hervorgedrungen.

Und als er nun kam aus dem Berg, da trauert‘ er um sein Pferd; Er könnt‘ ihm viel gut vertrauen, sie waren treu einander so sehr.

„Hör du, Meister König Dieterich, du sollst dich nicht grämen so sehr: Setz dich auf meinen Rücken breit, ich trag dich so lustig daher.

So ritt er über die tiefe Tal‘ und über die Wiesen grün, So frei mit ihm der gute Leu drang durch den Wald dahin.

Der Leu und der König Dieterich, die blieben zusammen beid‘: Der eine hat den andern befreit von Jammer und großem Leid.

Sooft der König zu Land ausreit‘, der Löwe neben ihm lauft, Wann er wieder stille sitzt, in seinen Schoß legt er das Haupt.

Darum nannten sie ihn den Löwenritter, den Namen trug er mit Ehre; Jeden Tag, den sie im Leben gewannen, hatten sie lieb einander so sehre. Der Lindwurm, der zog ihn fort!

(Übertragen von Wilhelm Grimm)

Altfinnisch, Wäinämöinens Harfe

Wäinämöinen selbst, der alte,
Rudert eines Tags auf Sümpfen,
Und auf Seen des andern Tages,
Und am dritten Tag im Meere,
Stehend auf des Hechtes Schultern,
Auf des roten Lachses Finnen.
Er beginnt den Sohn zu fragen:
Stehn auf Reisig oder Stein wir,
Oder auf des Hechtes Schultern,
Auf des roten Lachses Finnen?
Und der Sohn erwidert eilig:
Nicht auf Stein und nicht auf Reisig,
Auf des Hechtes festen Schultern,
Auf des roten Lachses Finnen.
Wäinämöinen selbst, der alte,
Stieß das Schwert ins Meer danieder,
Und zerteilte so den Fisch,
Zog das Haupt in seinen Nachen,
Ließ den Schwanz im Meere liegen.
Eines blickt er an und wendet’s:
Was kann draus der Schmied verfert’gen?
Was kann draus der Schmieder schmieden?
Wäinämöinen selbst, der alte,
Nimmt auf sich des Schmiedes Arbeit,
Macht vom Bein des Hechts die Harfe,
Macht das Kantele von Gräten,
Und von Fischgeripp die Leier.
Und woraus der Harfe Schrauben?
Aus des großen Hechtes Zähnen,
Und woraus der Harfe Saiten?
Aus dem Haupthaar Kalevas.
Zu dem Sohne sprach der Alte:
Hole mir mein Kantele
Unter die gewohnten Finger,
Unter die gewohnten Hände!
Freude strömt nun über Freude,
Auf Gelächter folgt Gelächter,
Während spielet Wäinämöinen
Auf dem Kantele von Gräten,
Auf dem Fischgeripp der Leier.
Keines ward im Hain gefunden,
Sei es auf zwei Flügeln fliegend,
Sei es auf vier Füßen laufend,
Das nicht eilte, zuzuhören,
Während spielet Wäinämöinen
Auf dem Kantele von Gräten,
Auf dem Fischgeripp der Leier.
Selbst der Bär im Walde stieß
Mit der Brust sich gegen Zäune,
Während spielte Wäinämöinen
Auf dem Kantele von Gräten,
Auf dem Fischgeripp der Leier.
Selbst des Waldes alter Vater
Schmückte sich mit rotem Schuhband,
Während spielte Wäinämöinen
Auf dem Kantele von Gräten.
Selbst des Wassers gute Mutter
Zierte sich mit blauen Strümpfen,
Ließ im grünen Gras sich nieder.
Um das Saitenspiel zu hören,
Während spielte Wäinämöinen.
Auf dem Kantele von Gräten,
Auf dem Fischgeripp der Leier.
Und dem Wäinämöinen selbst
Flossen Thränen aus den Augen,
Dicker noch als Heidelbeeren,
Größer noch als Schnepfeneier,
Nieder auf den breiten Busen,
Von dem Busen auf die Beine,
Von den Beinen auf die Füße!
So durchnäßten Wasserperlen
Fünf von seinen Wollenmänteln,
Acht von seinen Zwillichröcken.

(Deutsch von Platen)

Bellmann, Der Fischfang

Auf, Amaryllis! Schlummre nicht weiter!
Still ist’s und heiter,
kühl die Luft:
farbig gezogen
schimmert der Bogen
hoch über Wogen,
Wald und Kluft!

Amaryllis, ferne sind Gefahren
Friedlich ruhen Neptuns wilde Scharen —
Traumgott darf nun länger nicht bewahren
Aug‘ dir und Lippe, die seufzet und ruft!

Komm auf den Fang! Das Netz ist zur Stelle —
Will auf die Welle jetzt mit dir!
Jäckchen, das rechte,
Schleiergeflechte
nimm, und die Hechte
locke mir!

Amaryllis, auf! erwach‘, du Kleine —
Lustige, laß heut‘ mich nicht alleine!
Im Delphinentanz und Morgenscheine
plätschern mit unserm Fischerkahn wir.

Ruten und Angeln, hole sie schnelle!
Sieh, es wird helle —
spute dich!
Süße, nicht schmollen!
Könntest du grollen,
wirklich nicht wollen?
Küsse mich!

Fahren wir zum seichten Sandesgrunde,
oder drüben nach dem grünen Sunde,
wo wir uns geeint zum Liebesbunde —
weißt du noch? Tirsis, der ärgerte sich!

Steig‘ in den Kahn mit Sang und Juchheien!
Lieb‘, in uns zweien
herrsche du!
Mag sich auch härmen
Aeol, und lärmen:
seliges Schwärmen
gibt mir Ruh!

Glücklich im erzürnten Flutensteigen,
still umschlungen, kann ichs nicht verschweigen,
daß mein Herz bis in den Tod dein eigen —
singt, ihr Sirenen, das Echo dazu!

(Deutsch von Gumppenberg)

Nordisches Volksmärchen, Der Hahn und der Fuchs

Es war einmal ein Hahn, der stand auf einem Misthaufen und krähte und schlug mit den Flügeln. Da kam der Fuchs herbei.

„Guten Tag,“ sagte der Fuchs. „Ich habe wohl gehört, daß du gut krähen kannst; aber kannst du auch auf einem Bein stehen und dabei krähen und schlafen, wie dein Vater das konnte?“ sagte Reineke Fuchs.

„O ja, das kann ich alles sehr gut,“ krähte der Hahn. Er stellte sich auf ein Bein, aber er schlummerte nur mit einem Auge; und als er dies getan hatte, warf er sich in die Brust und schlug mit den Flügeln, wie wenn er etwas Großes geleistet hätte.

„Das war sehr schön, ja es war fast ebenso schön, wie wenn der Pfarrer in der Kirche predigt,“ sagte der Fuchs. „Aber kannst du mir auch auf einem Beine stehen und krähen und mit beiden Augen schlafen? Das kannst du wohl doch nicht?“ sagte Reineke Fuchs. „Ja, ja, dein Vater, das war ein Staatshahn,“ sagte er.

„O ja, das kann ich auch,“ sagte der Hahn und stellte sich auf ein Bein und machte beide Augen zu! Aber hast du nicht gesehen! fiel der Fuchs über ihn her, packte ihn im Nacken, und warf ihn sich auf den Rücken, daß der Hahn noch nicht einmal fertig gekräht hatte, als es auch schon dem Walde zuging, so schnell den Fuchs seine Beine trugen.

Als sie eine alte Tanne mit tief herabhängenden Zweigen erreicht hatten, warf Reineke den Hahn auf den Rücken, setzte ihm den Fuß auf die Brust und wollte sich eben einen Leckerbissen herausbeißen.

„Du bist nicht so gottesfürchtig, wie dein Vater war,“ sagte der Hahn, „der bekreuzte sich und betete immer vor dem Essen,“ sagte er.

Aber Reineke wollte gottesfürchtig sein, — ja, warum auch nicht! — Er ließ den Hahn los und wollte die Pfoten über der Brust kreuzen und beten. Aber wip! flog der Hahn auf den Baum hinauf.

„Deshalb entgehst du mir doch nicht,“ sagte Reineke Fuchs im stillen. Er ging fort und kam mit ein paar Hobelspänen zurück; der Hahn guckte und guckte, was denn das sein könnte.

„Was hast du da?“ fragte er.

„0, das sind Briefe, die ich vom Papst in Rom bekommen habe,“ sagte der Fuchs. „Willst du mir nicht helfen, sie zu lesen, denn ich selbst bin des Lesens unkundig?“

„Ich würde es sehr gerne tun, aber gerade jetzt wage ich es nicht, denn dort kommt ein Jäger. Ich sitze hier hinter dem Stamm, und ich sehe ihn, ich sehe ihn!“

Als der Fuchs den Hahn von dem Jäger reden hörte, nahm er Reißaus und lief davon, so schnell er konnte. Diesmal hatte der Hahn den Fuchs überlistet!

Nordisches Volksmärchen, Vom Hasen, der verheiratet ge­wesen war

Es war einmal ein Hase, der ging draußen im Grünen spazieren. „Ah! Hurra! Hopsassa!“ schrie er, hüpfte und sprang und plötzlich machte er einen langen Purzelbaum; da saß er mitten drin im grünen Salatfeld. Jetzt kam der Fuchs herbeigeschlichen.

„Guten Tag, Herr Fuchs,“ rief der Hase. „Sie müssen wissen, ich bin heute so recht seelenvergnügt!   Ich hatte mich verheiratet —“ „Das war ja recht gut,“ sagte der Fuchs.

„Ach nein,“ entgegnete der Hase, „es war nicht so besonders gut, denn die Frau war nicht mehr die jüngste, und dazu eine böse Seele.“

„Das war gar nicht gut,“ sagte der Fuchs.

„0, es war aber auch gar nicht so besonders schlimm, denn sie hatte ordent­lich Batzen und überdies ein Haus,“ erwiderte der Hase. „Das war ja gut,“ sagte der Fuchs.

„Ach, es war gar nicht so besonders gut,“ entgegnete der Hase. „Denn das Haus verbrannte mit all unserem Hab und Gut.“ „Das war ja schlimm,“ sagte der Fuchs.

„O, es war nicht einmal so schlimm,“ fuhr der Hase fort, „denn die Alte verbrannte auch mit …

  1. Chr. Andersen, Der Schmetterling

Der Schmetterling wollte eine Braut haben und sich natürlicherweise unter den Blumen eine recht niedliche aussuchen. Zu diesem Zweck warf er einen musternden Blick über den ganzen Blumenflor und fand, daß eigentlich jede Blume recht niedlich war und recht still und ehrsam auf ihrem Stengel saß, wie es eben einer Jungfrau geziemt, wenn sie noch nicht verlobt ist.

Die Wahl drohte mühsam zu werden und diese Mühe gefiel dem Schmetter­ling nicht, deshalb flog er auf Besuch zum Gänseblümlein. Das Gänseblümlein, auch Marguerit genannt, von dem man behauptet, daß es wahrsagen kann, und das kann es auch. — Wenn Liebesleute, wie das oft geschieht, ein Blatt nach dem anderen von ihr abpflücken und bei jedem Blatt eine Frage über den Geliebten an sie stellen; er liebt mich? — Von Herzen? — Mit Schmerzen? — ein ganz klein wenig? — Ganz und gar nicht? — Sehr — und so weiter mehr. Jeder fragt natürlich in seiner Sprache, und so kam denn auch der Schmetter­ling, aber er pflückte kein Blatt vom Gänseblümlein ab, sondern er drückte jedem Blatt einen Kuß auf, denn er sagte sich, mit Güte kommt man weiter.

„Liebe Frau Gänseblümlein,“ so sagte er, „Du bist die klügste Frau unter allen Blumen! Bitte, bitte, sage mir, bekomme ich die — oder bekomme ich die _ oder bekomme ich die?“ — Das Gänseblümlein aber antwortete nicht, es hatte sich geärgert, da er doch Frau zu ihr gesagt hatte und da sie doch noch eine Jungfrau war, und das ist doch ein Unterschied! — Er fragte wieder, sie blieb stumm, und so mochte er auch wohl nicht weiter in sie dringen, sondern er flog fort und zwar geraden Wegs auf die Brautschau.

Es war in den ersten Tagen des Frühlings, alles grünte und blühte, duftete und sproßte, berauschend, berauschend. Ach, die kleinen Schneeglöckchen, „allerliebste kleine Konfirmandinnen,“ so sagte er, „aber eigentlich noch ein bißchen zu sehr Backfisch.“ Er wie alle anderen jungen Burschen liebten nun schon mehr die größeren Mädchen.    Er wandte sich deshalb den Anemonen zu, aber die waren ein bißchen bitter. Die Lindenblüte zu klein und dann hat sie so ’ne große Verwandtschaft. — Die Veilchen ein wenig zu schwärmerisch! Die Apfelblüte, ja, die sah sehr hübsch aus, fast wie eine Rose, aber sie blühte heute, um morgen wieder abzufallen, nein, die Ehe würde denn doch von zu kurzer Dauer sein, so meinte er.

Die Erbsenblüte war die, welche ihm am besten gefiel, sie sah nett aus und gehörte vor allem zu den häuslichen Mädchen, die hübsch und nett sind und doch für die Küche taugen; er war gerade im Begriff, um sie anzuhalten, da sah er dicht neben ihr an einer Schote eine Blüte, welche ganz welk herabhing. „Wer ist denn die da?“ so fragte er.  „Das ist meine Schwester,“ sagte die

Erbsenblüte. „Eure Schwester?“—- „Hm, ja dann sehen Sie später auch

so aus? Ach nein, dann lieber nicht!“ — Er flog fort, er war entsetzt. — Ja, aber welche liebte er denn? —

Der Frühling ging, der Sommer verstrich, der Herbst kam, er war immer noch unschlüssig. Die Blumen erschienen nun in den allerschönsten Ge­wändern, doch vergeblich, es fehlte ihnen der duftende Jugendsinn, und Duft begehrt das Herz, auch wenn es nicht mehr jung ist. Gerade davon war bei den Georginen und Klatschrosen wenig zu merken, so schön sie sich angetan hatten. Er wandte sich deshalb der Krauseminze zu ebener Erde zu, die hatte zwar kein Exterieur, aber Duft, — Duft —, und er hielt um sie an.

Die Krauseminze stand da steif und still auf ihrem Stengel und sagte erst gar nichts, doch schließlich antwortete sie: „Freundschaft, ja, aber Liebe, nein. Ich bin alt und Sie sind alt, wir können sehr wohl füreinander leben, aber heiraten? Nein, nein! Machen wir uns doch nicht zum Narren in unserem Alter, ich bitte Sie!“ — So kam es, daß der Schmetterling keine Frau bekam, er hatte zu lange gewählt und das soll man nicht. Der Schmetterling blieb ein Hagestolz, was man so sagt.

Der Herbst verstrich, es wurde kalt, wirklich keine Zeit mehr, um im Sommer-anzuge draußen herumzufliegen. Aber der Schmetterling flog ja auch gar nicht mehr draußen umher, sondern er war zufälligerweise unter Dach und Fach geraten, wo ein Ofen brannte und wo es sommerwarm war. ‚

Hier, sagte er, kann man schon leben, aber leben ist nicht genug, Freiheit braucht man, Licht und Sonnenschein und ein kleines Blümchen muß man haben — und er flog gegen die Fensterscheiben, wo die Topfgewächse standen, wurde gesehen, bewundert, auf eine Nadel gesteckt und in den Raritätenkasten ausgestellt; mehr konnte man nicht für ihn tun. — Jetzt sitze ich auf nem Stengel wie die Blumen, angenehm ist das freilich nicht, aber so ungefähr mag es wohl sein, wenn man verheiratet ist, man sitzt fest! Und so tröstete er sich denn einigermaßen.

Selma Lagerlöf, Jarro und Cäsar

Zu der Zeit, wo Nils Holgersson mit den Wildgänsen umherzog, wohnte am Takern ein Wildenterich namens Jarro. Er war noch jung und hatte erst einen Sommer, einen Herbst und einen Winter erlebt. Das war sein erster Frühling. Er war erst kürzlich von Nordafrika zurückgekehrt, und zwar sehr frühzeitig, denn als er am Takern anlangte, war dieser noch mit Eis bedeckt.

Eines Abends, als Jarro und die anderen jungen Erpel sich damit vergnügten, in ununterbrochenem Flug über dem See hin und her zu fliegen, erklangen plötzlich ein paar Schüsse, und Jarro wurde in die Brust getroffen. Er glaubte, er müsse sterben; aber damit der Jäger, der auf ihn geschossen hatte, ihn nicht finden und verspeisen solle, flog er weiter, so lange er nur konnte. Er über­legte nicht, wohin er flog, sondern suchte nur das Weite. Als ihn dann die Kräfte verließen und seine Flugkraft erlahmte, befand er sich nicht mehr über dem See, sondern über einem der großen Bauernhöfe am Takernstrand, und zum Tode erschöpft, sank er gerade vor dem Eingang dieses Hofes zu Boden. Kurz darauf ging ein junger Knecht über den Hof. Er sah Jarro und hob ihn auf. Aber Jarro, der nur noch in Frieden zu sterben wünschte, nahm seine letzten Kräfte zusammen und biß den Knecht derb in den Finger, damit er ihn loslasse.

Doch es gelang Jarro nicht, sich freizumachen; aber sein Angriff hatte doch etwas Gutes, denn der Knecht merkte, daß Jarro nicht tot war. Ganz behut­sam trug er ihn ins Haus hinein und zeigte ihn der Hofbäuerin, einer jungen Frau mit einem freundlichen Gesicht. Sie nahm dem Knecht Jarro sogleich ab, streichelte ihm den Rücken und trocknete ihm das Blut ab, das zwischen dem Flaum an seinem Hals hervorsickerte. Dann betrachtete sie ihn sehr genau, und als sie sah, wie schön er war mit seinem dunkelgrünen glänzenden Kopf, seinem weißen Halsband, seinem braunroten Rücken und seinen blauen Flügeldecken, dachte sie schließlich, es wäre schade, wenn er sterben müßte. Rasch richtete sie einen Korb her und bettete Jarro darein.

Jarro hatte die ganze Zeit mit den Flügeln geschlagen und loszukommen ver­sucht; als er aber merkte, daß die Menschen ihn nicht umbringen wollten, legte er sich mit einem Gefühl des Wohlbehagens in dem Korbe zurecht. Jetzt erst fühlte er, wie ermattet er von den Schmerzen und dem Blutverluste war. Die Hausfrau nahm den Korb auf, um ihn in eine Ecke am Herd zu tragen; aber ehe sie ihn niedersetzte, hatte Jarro schon die Augen geschlossen und war eingeschlafen.

Nach einer Weile erwachte Jarro dadurch, daß ihn jemand leise anstieß. Als er die Augen aufschlug, erschrak er so fürchterlich, daß ihm beinahe das Bewußtsein schwand. Jetzt war er verloren, denn vor ihm stand einer, der für ihn gefährlicher war als Menschen und Raubvögel. Niemand anders als Cäsar selbst, der langhaarige Hühnerhund, stand vor ihm und beroch ihn.

Welche geradezu erbarmungswürdige Angst hatte nicht Jarro im vorigen Sommer ausgestanden, so oft er, als ein kleines mit gelbem Flaum bedecktes Junges, den Ruf über das Röhricht hin ertönen hörte: „Cäsar kommt! Cäsar kommt!“ Und wenn er den braun- und weißgefleckten Hund mit dem zähne­fletschenden Maul durch das Schilf waten sah, glaubte er den Tod selbst vor sich zu sehen. Er hatte immer gehofft, die Stunde werde er nie erleben müssen, wo Cäsar ihm Auge in Auge gegenüberstehe.

Und jetzt hatte er zu seinem Unglück gerade in den Hof hinabfallen müssen, wo Cäsar daheim war, denn dieser stand vor ihm! „Was bist du denn für einer?“ brummte Cäsar. „Wie bist du denn ins Haus hereingekommen? Bist du nicht drunten im Röhricht daheim?“

Nur mit knapper Not brachte Jarro die Worte heraus: „Sei mir nicht böse, Cäsar, daß ich ins Haus hereingekommen bin! Ich kann nichts dafür. Eine Kugel hat mich getroffen, und die Menschen selbst haben mich in diesen Korb gebettet.“

„So, so, die Menschen selbst haben dich in den Korb gelegt,“ sagte Cäsar. „Dann haben sie gewiß die Absicht, dich zu heilen, obgleich sie meiner Meinung nach klüger daran täten, dich zu verspeisen, solange du in ihrer Macht bist. Aber hier im Hause herrscht jedenfalls Burgfriede. Du brauchst nicht so angstvoll auszusehen, wir sind jetzt nicht auf dem Takern.“

Damit machte Cäsar kehrt und legte sich vor dem flammenden Herdfeuer zum Schlafen nieder. Sobald Jarro begriff, daß diese gräßliche Gefahr über­standen war, überfiel ihn die große Mattigkeit aufs neue, und er schlief wieder ein.

Als Jarro wieder erwachte, sah er ein Gefäß mit Grütze und Wasser neben sich stehen. Er fühlte sich zwar noch sehr krank, aber Hunger hatte er trotz­dem, und so begann er zu fressen. Als die Hausmutter sah, daß es ihm schmeckte, trat sie herzu, streichelte ihn und sah sehr vergnügt aus. Hierauf schlief Jarro abermals ein; mehrere Tage lang tat er nichts als essen und schlafen.

Eines Morgens aber fühlte er sich so gesund, daß er aus dem Korb heraus­stieg und auf dem Boden hinlief. Aber er war noch nicht weit gekommen, als er auch schon umfiel und nicht mehr aufstehen konnte. Da kam Cäsar herbei, öffnete sein großes Maul und packte ihn. Jarro glaubte natürlich, der Hund wolle ihn totbeißen; aber Cäsar trug ihn in seinen Korb zurück, ohne ihm etwas zuleide zu tun. Dadurch faßte Jarro großes Vertrauen zu Cäsar; ja, bei seinem nächsten Gehversuch ging er geradewegs zu dem Hunde hin und legte sich neben ihn. Von da an waren die beiden gute Freunde, und Jarro lag jeden Tag ganz ruhig schlafend zwischen Casars Pfoten.

Ein paar Tage später war Jarro fast hergestellt, und er konnte schon durchs ganze Zimmer fliegen. Er wurde denn auch von der Hausfrau gestreichelt, und der kleine Junge pflückte die ersten hervorsprießenden Grashälmchen für ihn. Während die Hausfrau ihn streichelte, dachte Jarro, obgleich er jetzt wieder so gesund war, daß er, sobald es ihm beliebte, an den Täkern hätte hinabfliegen können, er wolle sich doch noch nicht von den Menschen trennen, ja, am liebsten möchte er sein ganzes Leben lang bei ihnen bleiben.

Aber eines Morgens in aller Frühe legte die Hausmutter eine Halfter oder Schlinge um Jarro, die ihn am Gebrauch seiner Flügel hinderte, und dann übergab sie ihn jenem Knecht, der ihn damals auf dem Hofe gefunden hatte. Der Knecht nahm ihn unter den Arm und ging mit ihm zum Täkern hinunter.

Während Jarro krank lag, war das Eis geschmolzen. Das alte vertrocknete Röhricht vom vorigen Jahre stand noch an den Ufern und Holmen, aber alle Wasserpflanzen hatten in der Tiefe Schößlinge getrieben, und die grünen Spitzen reichten schon bis zur Oberfläche des Wassers. Und jetzt waren fast alle Zugvögel zurückgekehrt. Die gebogenen Schnäbel der. Scharben sahen aus dem Schilf hervor, die Taucher schwammen mit einem neuen Halskragen um­her, und die Bekassinen sammelten eifrig Stroh zu ihren Nestern.

Der Knecht bestieg einen Kahn, legte Jarro auf den Boden und begann in den See hinauszustechen. Jarro, der sich jetzt daran gewöhnt hatte, nur Gutes von den Menschen zu erwarten, sagte zu Cäsar, der auch dabei war, er sei dem Knecht sehr dankbar, daß er ihn auf den See hinausfahre. Aber der Knecht hätte ihn nicht so fest zu fesseln brauchen, denn er wolle den Men­schen gar nicht entfliehen. Cäsar gab keine Antwort, er war an diesem Morgen äußerst wortkarg.

Das einzige, was Jarro ein wenig sonderbar vorkam, war, daß der Knecht seine Flinte mitgenommen hatte. Die guten Leute auf dem Hofe würden doch sicherlich keine Vögel schießen wollen. Und außerdem hatte ihm Cäsar ge­sagt, die Menschen gingen in dieser Jahreszeit nicht auf die Jagd. „Es ist Schonzeit,“ hatte er gesagt, „obgleich das für mich natürlich nicht gilt.“

Der Knecht ruderte zu einem der schilfumkränzten Sumpfholme hinüber. Hier stieg er aus, schichtete altes Röhricht zu einem großen Haufen zusammen und legte sich dahinter nieder. Die Schlinge um die Flügel und mit einer langen Schnur an das Boot angebunden, durfte Jarro umhergehen.

Plötzlich erblickte dieser einige von den jungen Wildenten, in deren Gesell­schaft er früher um die Wette über den See hin und her geschwommen war. Sie waren weit entfernt, aber Jarro rief sie mit einigen lauten Rufen herbei. Sie gaben ihm Antwort, und eine große schöne Schar näherte sich ihm. Bevor sie noch herangekommen war, begann Jarro von seiner wunderbaren Errettung und von der Güte der Menschen zu berichten. Aber schon knallten zwei Schüsse hinter ihm. Drei Enten sanken tot ins Röhricht. Cäsar platschte hinaus und fing sie auf.

Da verstand Jarro, — die Menschen hatten ihn gerettet, um ihn als Lock­vogel zu gebrauchen. Und das war ihnen auch geglückt. Drei Enten hatten um seinetwillen sterben müssen.

Es war ihm, als müsse er vor Scham selbst sterben, ja es war ihm, als ob ihn auch sein Freund Cäsar verächtlich ansehe; und als sie wieder in der Stube waren, wagte er nicht mehr, sich neben den Hund zu legen.

Am nächsten Morgen wurde Jarro abermals an den kleinen Holm gebracht. Auch diesmal gewahrte er bald einige Enten. Als er sie aber auf sich zufliegen sah, rief er ihnen zu: „Fort! Fort! Nehmt euch in acht! Fliegt wo anders hin! Hinter dem Schilfhaufen liegt ein Jäger im Hinterhalt! Ich bin nur ein Lockvogel!“ Und es gelang ihm wirklich, die Enten zu verhindern, in Schußweite heranzukommen.

Jarro hatte kaum Zeit, ein Grashälmchen zu verzehren, so eifrig war er auf der Wacht. Sobald sich ein Vogel näherte, schrie er ihm seinen Warnungsruf entgegen; er warnte sogar auch Taucher und Bläßhühner, obgleich er sie verabscheute, weil sie die Enten aus ihren besten Verstecken verdrängten. Aber seinetwegen sollte gewiß kein einziger Vogel ins Unglück geraten. Und dank Jarros Wachsamkeit mußte der Knecht heimkehren, ohne Gelegenheit zu einem einzigen Schuß bekommen zu haben.

Dessen ungeachtet sah Cäsar weniger mißvergnügt aus als am Tage vorher; und als es Abend wurde, nahm er Jarro ins Maul, trug ihn zum Herd hin und ließ ihn zwischen seinen Vorderpfoten schlafen.

Aber Jarro fühlte sich nicht mehr behaglich in der Stube; er war tief un­glücklich, und das Herz tat ihm weh bei dem Gedanken, daß die Menschen ihn nie lieb gehabt hätten. Wenn jetzt die Hausfrau oder der kleine Junge ihn streichelten, steckte er den Schnabel unter den Flügel und tat, als ob er schliefe.

Mehrere Tage hatte Jarro seine traurige Wacht gehalten, und man kannte ihn schon am ganzen Täkem. Eines Morgens, als er wie gewöhnlich rief: „Nehmt euch in acht, ihr Vögel! Kommt mir nicht nahe! Ich bin nur ein Lockvogel!“ sah er, auf einmal ein Tauchernest daher schwimmen. Dies war nun nichts besonders Merkwürdiges; es war ein Nest vom vorigen Jahre, und da die Tauchernester so gebaut sind, daß sie wie Boote auf dem Wasser schwimmen können, treibt häufig eines auf den See hinaus. Aber Jarro blieb doch stehen und betrachtete es, denn es schwamm geradeswegs auf den Holm zu, als ob es jemand über das Wasser steuere.

Als es näher kam, sah Jarro, daß ein kleiner Mensch, der kleinste, den er je gesehen hatte, in dem Nest saß und mit zwei Stäbchen ruderte. Und dieses Menschlein rief ihm zu: „Komm so nahe ans Wasser heran, als du kannst, Jarro, und halte dich zum Fliegen bereit!   Du wirst bald befreit werden.“

Einige Augenblicke später lag das Nest am Land, aber der kleine Ruderer verließ es nicht, sondern saß ganz still zwischen Zweigen und Halmen ver­borgen. Jarro verhielt sich auch beinahe regungslos. Der Gedanke, frei zu werden und seinem Unglück entfliehen zu können, hatte ihn förmlich gelähmt.

Das nächste, was geschah, war, daß eine Schar Wildgänse daherflog. Da kam Jarro wieder zu sich, und er warnte sie mit lauten Rufen; aber dessen ungeachtet flogen sie mehrere Male über dem Holm hin und her. Sie hielten sich so hoch in der Luft, daß sie außer Schußweite waren; aber der Knecht ließ sich trotzdem verleiten, ein paar Schüsse auf sie abzugeben. Kaum waren diese abgefeuert, als der kleine Knirps auf und ans Land sprang, ein kleines Messer aus der Scheide zog und mit einem raschen Schnitt Jarros Schlinge löste. „Flieg nun davon, Jarro, ehe der Knecht wieder geladen hat!“ rief er, während er selbst in das Nest zurücksprang und vom Lande abstieß. Der Jäger hatte die Augen auf die Gänse gerichtet und daher nicht gemerkt, daß Jarro befreit worden war. Aber Cäsar hatte besser acht gegeben, und gerade als Jarro die Flügel hob, stürzte er herbei und packte ihn im Nacken.

Jarro schrie zum Erbarmen, aber der Knirps, der ihn befreit hatte, sagte mit der größten Ruhe zu Cäsar: „Wenn deine Gesinnung so edel ist wie dein Aussehen, so kannst du nicht jemand bei einer so gemeinen Beschäftigung, ein Lockvogel zu sein, zurückhalten wollen.“

Als Cäsar diese Worte hörte, grinste er boshaft mit der Oberlippe, aber nach einem Augenblick ließ er Jarro los. „Flieg, Jarro!“ sagte er. „Du bist wirklich zu gut zu einem Lockvogel. Ich wollte dich auch nicht deshalb zu­rückhalten, sondern weil die Stube ohne dich so leer sein wird.“

Gustav Wied, Gebrüder Grün

Es waren einmal zwei Frösche, die waren Zwillingsbrüder und Jungge­sellen und hießen Quabbe und Krabbe.

Ganz unten auf dem Grund eines tiefen Lochs neben der großen Mergel­grube hatten sie ihr Haus. Und da unten saßen sie den ganzen Tag, jeder in seiner Ecke und sagten nicht einen Ton. Aber wenn der Abend kam und die Sonne untergegangen war, krabbelten sie aus ihrem Loch heraus und ver­bargen sich unter ein paar großen Huflattichblättern; und da lagen sie dann auf ihren fetten Bäuchen und lauerten darauf, ob sich etwas Eßbares zeigen wollte; denn das, was sie in dieser Welt am höchsten schätzten, war Essen; und das ist ja auch eine gute Sache, wenn man’s mit Maß genießt. Aber sie hatten nun so viele Jahre lang, die Gott der Herr hatte werden lassen, sich in einem Grade angefüllt, daß ihnen die Bäuche, mit Verlaub zu sagen, bis auf die Knie herabhingen und die Augen über einen halben Zoll aus dem Kopfe herausstanden. Ja, es war wirklich ein Paar schmucker Kavaliere. Und dabei waren sie so wichtig und von sich eingenommen, daß sie mehrmals dicht daran gewesen waren, vor Wut zu platzen, als ihnen jemand widersprach. Doch eines mußte man ihnen lassen: sie hielten zusammen; war der eine beleidigt, war der andere beleidigt.

„Sie sollten sich beide eine kleine Frau nehmen, meine Herren!“ sagte der Igel eines Abends, als er ans Wasser hinunterkam zum Trinken. „Eine Frau erfreut das Herz und versüßt das Leben! Und dann die Kinder!“ sagte er, und die Stacheln auf seinem Rücken sträubten sich vor Freude, „und dann die Kinder!“

Der Igel war nämlich Ehemann und Vater und er war froh darüber.

„Kümmern Sie sich um sich selbst!“ sagte Quabbe, der mit einem Regen­wurm aus dem Mundwinkel hängend dasaß, „es hat Sie niemand um Ihre Meinung gebeten!“

Und Krabbe ließ seine Augen noch weiter aus dem Kopf herausquellen, sah den Igel schief an und sagte:

„Das ist übrigens unser Wasser!“

„Um Gottes willen, entschuldigen Sie!“ sagte der Igel, der ein höflicher und gutmütiger Bursche war, „das wußte ich nicht! Aber Sie gestatten doch wohl, daß ich einen Mundvoll nehme?   Ich bin so durstig?“

Keiner der Brüder antwortete; sie mochten nicht, sie hatten alle beide den Rücken gewandt und saßen da und glotzten jetzt begehrlich nach einer schönen, grünen Fliege, die oben unter einem der Huflattichblätter einher spazierte; der eine war bange davor, daß der andere sie bekäme. Aber gerade als Krabbe sie seinem Bruder vor der Nase wegschnappen wollte, flog sie davon.

„Habt ihr mich?“ sagte die Fliege, und weg war sie.

„Man hat nicht immer Glück!“ bemerkte der Igel teilnehmend; er hatte seinen Durst jetzt gelöscht und glaubte zum Entgelt etwas sagen zu müssen, daß man ihm zu trinken erlaubt hatte.

„Gehen Sie doch gefälligst Ihrer Wege!“ sagte Quabbe.

„Es hat Sie niemand holen lassen!“ sagte Krabbe.

„Na, gute Nacht denn! Und guten Fang!“ nickte der Igel höflich; und damit kroch er fort.

„Nadelkissen!“ murmelte Quabbe und wandte seine Stielaugen ihm nach. „Spitzschnauze!“ sagte Krabbe.

Sie saßen eine Zeitlang schweigend, und nichts kam zur Nahrung vorbei, und sie wurden immer erboster. Der Unterkiefer hing ihnen ganz bis auf die »Brust, und sie schwitzten grün vor Bosheit.

„Ich glaube, der Igel sprach davon, daß wir uns verheiraten sollten?“ brummte Quabbe.

„Hö, ja,“ lächelte Krabbe säuerlich, „wenn Leute ins Unglück gekommen sind, dann wollen sie andere gern nachziehen. Er selbst sitzt da und hat das ganze Nest voller Jungen!“

„Kann man sie essen?“

„Ja, die Krähen machen sich viel daraus.“

„Hoffentlich werden die Krähen sie sich holen!“ sagte Quabbe. „Es ist ekelhaft, all die Jungen in die Welt zu setzen! Essen wollen sie alle mitein­ander.  Da bleibt ja bald für uns andere gar nichts mehr.“

„Das ist wahr und gewiß, Bruder!“ sagte Krabbe.

„Und das ist bloß von wegen der verdammten Liebe.“

„Und wegen der großen Heiratswut.“

So saßen sie da und redeten und murmelten und brummten die beiden lieben Brüder, bis in die Nacht hinein; und bald erschnappten sie eine Fliege und bald einen Nachtschwärmer und bald eine Mücke und schmatzten sie in sich hin­ein mit ihren breiten Kinnladen, daß es klang, als schlüge man ein Paar neue Handschuhe gegeneinander; aber satt wurden sie nicht, sagten sie, und erst gegen die Morgenstunde hin, als es begann hell zu werden, krochen sie zu ihrem Loch und ließen sich da auf den Boden plumpsen. Und da saßen sie dann, von morgens bis abends, und schliefen und verdauten und glotzten und ; stocherten sich die Zähne. Und dunkel war es da unten und feucht und trist; aber das gefiel ihnen gerade.

Doch darüber, oben in dem hellen Sonnenschein war Leben und Licht und Freude und Fröhlichkeit! Draußen über dem Wasser schwärmten Schmetter­linge und Libellen und setzten sich bald auf die eine Blume und bald auf die andere, kleine zierliche Fische schwammen oben im Wasser umher und schlugen mit den Schwänzen und spielten Greifen. Und hoch in der Luft kreisten Schwalben und Stare und genossen die Aussicht und sahen hinunter auf das Ganze und auf den Storch, der da unten in seinen langschäftigen roten Stiefeln herumspazierte, die Füße ganz vorsichtig hob, und sie wieder ganz stille hin­setzte, um kein Geräusch zu machen.

Mit einem Mal fiel sein Auge auf ein rundes Loch, das im Schlamm oben an der Wasseroberfläche war.

Gott weiß, wer da wohnen mag? dachte er und ging dorthin. Und als er neben dem Loche stand, legte er den Kopf auf die Seite und kuckte hinunter.

„Nehmen Sie sich in acht, nehmen Sie sich in acht!“ rief ein Schmetterling, der gerade vorbeigeflogen kam.

„Sind Sie verrückt, sind Sie verrückt?“ schrie eine Libelle, die dasaß und sich oben auf der Spitze eines Schilfrohrs sonnte, „sind Sie verrückt, sind Sie verrückt?“

Und eine kleine blaugrüne Fliege, die auf einem Wasserlilienblatt vorüber geschwommen kam, schrie auch: „Sind Sie verrückt?“ und wäre beinahe kopf­über ins Wasser gegangen vor Schreck.

„Aber Gott bewahre!“ sagte der Storch und ihm wurde ganz bedenklich zumute. „Wer wohnt denn da in dem Loch?“

„Die Gebrüder Grün!“ sagte die Libelle und schlug mit den Flügeln ein Kreuz bei dem bloßen Nennen des Namens.

„Die Gebrüder Grün!“ riefen die Fliegen unter den Huflattichblättern. „Die zwei schlimmsten Ungeheuer in der ganzen Welt!“

„Die Gebrüder Grün!“ pfiff der Regenwurm. „Gestern Abend fraßen sie meine Frau.“

„Darf ich fragen, zu welcher Tierklasse sie gehören?“ fragte der Storch. „Frösche, Frösche, Frösche!“ ertönte es von allen Seiten. „Na!“ sagte der Storch, „weiter nichts!   Dann kann man sie sich ja holen!“ “

Und er jagte ganz ungeniert den ganzen Schnabel hinunter in das Loch bis an die Augen.

Richtig, da saßen sie, die beiden Herren Gebrüder. An den Hinterbeinen zog er sie heraus und setzte sie vor sich hin.

„Laß mich los, Krabbe!“ schimpfte Quabbe und zappelte. „Ich will runter! Die Sonne scheint mir in die Augen! Ich will runter! Um Gottes willen! Der Storch!“

„Wollt Ihr uns fressen?“

„Ich habe die Absicht,“ sagte der Storch.

„Wir sind ja so alt und so zäh und so mager.“

„Ach, ihr werdet schon rutschen! Ihr seht nicht so aus, als ob ihr Not ge-
litten habt.“ ____

„Das ist Wassersucht!“ schrie Krabbe.

„Ich versichere Eure Hochbeinigkeit, das ist die reine und schiere Wasser-
sucht! ——- Sage du doch etwas, Quabbe!“

„Ich bin seekrank!“ sagte Quabbe, und es war nicht möglich, etwas anderes aus ihm herauszubekommen.

„Also kurzer Prozeß,“ sagte der Storch, „Eins, zwei. . .

Aber gerade, als er drei sagen wollte und mit dem Schnabel auf Quabbe einhauen, sprang Quabbe auf, setzte sich auf sein Hinterteil, streckte den einen Finger in die Luft und sagte:

„Wir wissen ein Igelnest!“

„Ein Igelnest?“ fragte der Storch und hob den Kopf.
„Ja, ja,“ nickte Krabbe eifrig.
„Wie viele sind darin?“
„Sechs Junge!“
„Sind sie fett?“
„Wie Bäckerkinder!“
„Haben sie Stacheln?“
„Ein paar ganz kleine, die nicht genieren werden!‘
„Ist es weit von hier?‘
„Zwei Schritt übers Feld hin!“
„Aber die Alten?“
„Die Alten sind aus; das sind sie immer um diese Zeit!‘
„Woher weißt du das?“
„Ja, es sind ja unsere besten Freunde!

„Gut!“ sagte der Storch entschieden. „Zeig‘ mir das Haus! Und behagt mir der Schmaus, sollt‘ ihr entschlüpfen! Wir wollen schnell machen! Igel­junge sind mein Leibgericht!

„Erst ein kleines Papier!“ schmeichelte Krabbe, der jetzt einen Teil seiner Fassung wiedergewonnen hatte. „Erst ein kleines Papier, Eure Hochbeinig­keit.“

„Das braucht es nicht zwischen uns!“ sagte der Storch. „Ihr habt ja mein Wort!“

„Bewahre,“ sagte Krabbe höflich. „Und das ist natürlich ausreichend. Aber ein kleines Papier um Lebens und Sterbens willen, wie es heißt!“

Und der Storch mußte sich eine Feder aus dem Schwanz reißen und auf ein Huflattichblatt schreiben, daß er sich verpflichte, Abstand davon zu nehmen, die Gebrüder Q. und K. Grün zu verspeisen, wofern sie ihm das versprochene Igelnest zeigten und wofern die Jungen nicht zu mager wären.

„Mager, nein, das sind sie nicht!“ sagte Krabbe eifrig. „Hier ist kaum mehr Nahrung aufzutreiben gewesen, so haben die Alten für sie zusammen­gescharrt! Das ist ekelhaft, wenn sich einer so mit allem vollfüllt, was er sieht.

„War das auf mich gemünzt?“ fragte der Storch.

„Aber keineswegs!“ sagte Krabbe und beugte sich ganz tief zur Erde. „Ab­solut nicht!   In keiner Weise! Das würde mir niemals einfallen!“ Und damit gingen alle drei zu dem Igelnest.

„Hier ist es!“ sagte Krabbe und bog das Gras zur Seite.

Und da lagen ganz richtig die sechs leckersten, kleinen Jungen und schliefen, die Schnauzen einander in die Seiten gebohrt.

Dem Storch traten Tränen in die Augen, als er sie sah.

„Das ist beinah Sünde an den Eltern!“ sagte er.

Aber in demselben Augenblick saß ihm schon ein Junges tief unten im Halse.

„Sehr gut, sehr gut!“ sagte er. „Ich habe schon schlechtere Sachen ge­schmeckt !“ Und er nahm ein Mundvoll dazu und ließ es ganz langsam hinab­gleiten.

„Gott, was muß Ihnen die Nahrung für ein Vergnügen bereiten!“ sagte Krabbe neidisch. „Bei Ihrem Hals!“

„Kann nicht klagen!“ sagte der Storch, er war mitten in Nummer drei.
„Und diese Speise ist nach Wunsch?“
„Ausgezeichnet!“
„Die Stacheln kratzen nicht?“
„Kann sie gar nicht spüren!“
„Ja, dann wünschen wir Ihnen gesegnete Mahlzeit zum Rest!“ sagte Krabbe und nahm seinen Bruder unter den Arm.
„Nein, wartet ein bißchen!“ sagte der Storch und vertrat ihnen den Weg. „Sie müssen erst meine Frau begrüßen!“
„Ihre Frau?“
„Ja, das wird sie freuen!“
„Denket an das Papier!“ sagte Krabbe und schwitzte aufs neue grün.

„Ja, ich werde Sie wahrhaftig nicht anrühren!“ beteuerte der Storch und legte seinen langen, biegsamen Hals über den Rücken zurück und klapperte mit dem Schnabel, so daß es weithin Echo gab.

„Das war ein widerlicher Laut!“ murmelte Quabbe.

„Ja,“ sagte der Storch, „aber er ist nützlich! Und da haben wir die Madame!“

In dem Augenblick rauschte es in der Luft; es war die Storchmutter, die geflogen kam. Sie umkreiste ein paarmal die Stelle, streckte die Beine von sich und schlenkerte mit ihnen, um festen Fuß zu fassen; und nun stand sie da. Aber ehe sie soweit gelangt war, hatte der Storchvater den Rest Igeljunge ver­schluckt; er beeilte sich in einer Weise, daß er das letzte beinahe verkehrt m den Hals bekommen hätte.

„Issest du?“ sagte Mutter Storch und sah ihn scharf an.

„O, eine ganze Kleinigkeit! Aber darf ich nicht vorstellen: Meine Frau . . . Gebrüder Grün!“

„Ah, welch brave Herren!“ lächelte die Frau.

„Ja, ich glaubte, es würde dich freuen, ihre Bekanntschaft zu machen, meine Liebe!“ nickte der Storch.

Die Zwillinge saßen da und schwitzten grün vor Angst und den „Kontrakt‘ hielten sie hoch in die Luft wie ein Schild.

„Der Kontrakt! Der Kontrakt!“ schrien sie.

„Wann hab‘ ich Kontrakt gemacht?“ sagte Frau Storch. „Sie erlauben schon.“   Weg waren sie, die Storchmutter hatte sie gefressen!

Der Storchvater stand auf einem Bein, er sah philosophisch aus und meinte: „T’ja, ein Mann kann für die Handlungen seiner Frau nicht verantwortlich gemacht werden.“

Johannes V. Jensen, Die Schwarzamsel

Langsam weicht der Schnee, obgleich das Jahr schon vorgeschritten ist und die Sonne Kraft hat; der Erdboden ist tief gefroren und der Wind kalt wie eine Dusche, denn er kommt von draußen, von all dem vielen Eis, das seit Monaten in den Fahrwassern um die dänischen Inseln herumtreibt.

Jetzt aber müßte es bald so weit sein. Die Zugvögel warten bereits an der Grenze darauf, daß Thüle geöffnet werde; die wenigen, die hier sind, fangen bei kleinem an, etwas zu sagen, nicht viel, nur einen kleinen Pieps, sie haben sich lange nicht gemuckst, jetzt aber wagen sie es doch, ihre Stimme zugunsten des Frühlings abzugeben.

Den Spatzen hat es während der letzten Jahre behagt, die Bäume in den Anlagen bei der Heiligen-Geist-Kirche zu besetzen; hier hocken sie in dichten Scharen, so daß es aussieht, als hingen die Zweige voll runder, dauniger Früchte. Und ein Gezwitscher veranstalten sie, besonders zur Abendzeit, wenn der kurze, schwindende Tag sich mit dem Licht der Bogenlampen vermischt; Leute, die unter den zwitschernden Bäumen spazieren, können nicht be­greifen, weshalb ihnen so sinnlos sommerlich zumute wird. Der Sperling ist unruhig geworden, man kann ihn mitten auf dem Fahrweg sitzen sehen, wo er sein vertragenes Winterkleid putzt, Luft unter die Flügel hereinläßt und sich rastlos hin- und herwendet; es scheint, daß ihm andere Dinge einge­fallen sind als das tägliche Brot. Hier und dort in den Bäumen des Boule­vards kann man ein Männchen sehen, das Anläufe zu herrlichen Kunsttänzen vor dem Liebchen macht, es dreht sich im Kreise mit radschlagendem Schwanz und hängenden Flügeln, es trippelt wie auf Feuer und zittert, während es den kleinen Schnabel zum Himmel hebt und, ach, ganz furchtbar tiriliert; das Ganze soll offenbar eine betäubende Ausstellung von Pracht und Augen­lust sein. Das kleine graue Spatzenweibchen aber beachtet den Freiertanz ganz und gar nicht, es fliegt von dem Wundermann fort auf die Straße hinab, um dort etwas zu suchen, das vielleicht eßbar ist, erst mit dem einen Auge, dann mit dem andern; der Mann ist seiner Zeit voraus. Eines Tages aber wird man Spatzenmutter mit einem langen güldenen Strohhalm im Schnabel über die Straße fliegen sehen, dann ist das Mirakel geschehen, das ihren Sinn geöffnet hat. Ach, wenn es doch bald geschähe!

Die Schwarzamsel schweigt. Sie hat sich den ganzen langen Winter in Gärten aufgehalten in der Nähe von Vogelbeerbäumen, die bis tief in die kalten Tage hinein ihre roten Beeren behalten haben; sie hat ihr scheues Gespensterleben hinter Bretterzäunen und in kahlen, schwarzen Büschen geführt, selbst schwarz wie Kohle und mit einem schwefelgelben Schnabel, wie eine Seele, die keinen Frieden finden kann, immer auf der Flucht, wenn man sie sah, immer stumm; denn das eigenartige, metallische Geschnatter, das sie von sich gibt, wenn sie flüchtet, ist nicht ihr eigentliches Wesen, es ist nur ein Wahnsinnsschrei, der sie in Wirklichkeit nur noch stummer macht; das Wesen der Schwarzamsel ist Gesang. Aber ihre Zeit ist noch nicht da.

Die Schwarzamseln, die den Winter über hierbleiben, sind nur Männchen. Die Weibchen ziehen mit dem übrigen Drosselzug nach dem Süden und sind noch nicht zurückgekehrt.

Auf dem Friedrichsberger Kirchhof braut der Frühling gar seltsam. Die Erde ist noch kalt, und die Stille im Garten der Toten wird weder von Mücken noch von anderem Sommergetier unterbrochen, hier schläft alles. Die Bäume stehen eigentümlich dick, mit draller Rinde da, schwellend von Wachstum, aber ohne Blätter.   Die Trauerweiden, die fürs Frühjahr beschnitten sind, sehen wie verwachsene Knöchel von mystischen, ausgestorbenen Tieren aus, und die dunklen, zurechtgestutzten Nadelbäume träumen hoffnungslos vom Süden.   Auf den Grabdenkmälern, die von entschwundenem Stil und von entschwundenen Zeiten erzählen,  liest man die bekannten, schweigenden Namen, während das Sausen der Großstadt wie eine Mauer am Horizont steht, eine ewige Fülle, die das Schweigen hier drinnen noch nährt. Die Straßen­bahn draußen in der Allee steigert ihre Fahrt mit einer lauten, zunehmenden Note — schon gut. Ein Dampfer heult draußen im Sund vor Sehnsucht nach dem Hafen. Ob der Kapitän auf der Brücke, der Heizer beim Kessel, diesem Kirchhof wohl einen Gedanken schenken?   Ein Mädchen mit feuerrotem Haar ger^: am Gitter vorbei, ohne einen Blick hineinzuwerfen.  Wozu auch?

— Hier ist gut sein. Oehlenschlägers Grab liegt tauwetternaß da, es blitzt kristallisch in dem rotbraunen Granit. „Charlotte“, liest man zwischen dem Efeu auf der Mauer, „geboren 1811, gestorben 1835″. Stille! Und wenn man sich die Bürde von Süßigkeit und Schmerz, die in toten Namen liegt, auf den Rücken geladen hat, schüttelt man sie wieder ab und geht davon. Hier ist es kalt, die Sonne aber wärmt durch die rauhe Luft, und wieder schau­dert einem vor diesem Frühlingsmysterium, vor der Winterluft, durch die die Strahlenwärme der Sonne dringt.

Vormittags, wenn die Sonne ein wenig von einem ziemlich klaren Himmel herabscheint, bevor die Wolken sich zusammenziehen, um das gewöhnliche Tag- und Nachtgleichewetter zu bilden, raschelt ein kleiner Vogel auf dem Kirchhof, ich weiß nicht, ob es ein Fink oder irgendein anderer kleiner Sänger ist. Er sitzt in einem Baum und grüßt die Sonne mit einem langen, ganz ge­dämpften Silberton, wie eine Zikade; es klingt wie ein weißer Sonnenstrahl, und ich sehe, wie der Vogel sich auf dem Zweige reckt, wie er sich lang macht und oben im Licht badet, wie er sich weich, mit dünnem Hals, zu etwas em­por schmiegt, was durch die Luft zu ihm herabkommt: die Liebkosung der Sonne. Zu anderen Zeiten bricht er in einen hellen, zarten Triller aus, der so klingt, als ob ein Stein über frischgefrorenes Eis hüpft, dann ruft er wahr­scheinlich sein Weibchen. Ich habe gesehen, wie die beiden sich schnäbelten: das Männchen saß auf einem Zweig, und das Weibchen kam unter ihm her­angeflogen, und indem er seinen Schnabel hinabreichte, biß sie sich darin fest und ließ sich frei in der Luft hängen, während sie beide mit den Flügeln schlugen und zitterten, so daß sie fast unsichtbar wurden, eine Doppelglorie von noch nicht reifer Wonne, der Ausdruck zweier unbewußter Herzen, daß sie sich freuten, auf den Frühling freuten.

Die Schwarzamsel aber ist allein. Sie flüchtet wie ein Schatten durch die Büsche auf dem Kirchhof, indem sie den Widerhall dieses messingkreischen­den, wilden Gelächters hinterläßt, das so klingt, als ob sie nie im Leben ein Sängerherz im Leibe gehabt hätte. Kommt man ihr zu nah, dann sieht sie einen unversöhnlich an, schwarz und mit einem Schnabel, der in die Hölle getaucht zu sein scheint, dann duckt sie sich und flattert lautlos hinter den Zypressen zu einem anderen Grabe.

Und dennoch ist es derselbe Vogel, den wir in einigen Wochen, vielleicht in einigen Tagen, auf einem der höchsten Grabsteine werden sitzen sehen, wo er sich in seinen blanken Federn der Sonne entgegenbrüstet, wie eine Seele, die über ihre zerbrochene Form triumphiert, die Kehle voll tiefer, herrlicher Flötentöne, eins mit dem Sonnenschein, brausend, den Schnabel von Gold! Dann ist das Weibchen heimgekommen.

Johannes V. Jensen, Der Kondignog

Ich bin einmal auf allen Vieren gegangen, und dessen erinnere ich mich bisweilen, wenn auch unklar in solchen Augenblicken, wo das Gefühl für die Zeit mich aus Müdigkeit oder Überanstrengung im Stich läßt. In meiner Jugend hatte der Tag oder das Jahr nicht denselben Wert für mich wie für Leute im allgemeinen; ich befand mich immer über oder unter oder im Um­kreis der gegenwärtigen Zeit. Nur einmal bin ich auf ganz unerklärliche Weise außerhalb der Zeit geraten, und zwar fühlte ich mich so durchgreifend isoliert, daß ich, ohne eigentlich Kummer darüber zu empfinden, mich auf die Vorder­glieder legen und abseits gehen mußte, ins Freie hinaus, um Gras zu fressen, oder unter einen Busch, um zu sterben. Noch jetzt empfinde ich zuweilen den eigenartigen Kälteschauer, das innere, unendliche Gefühl der Verlassen­heit, das mich wie ein Gift schüttelte, die seelische Übelkeit, die mich ganz kraftlos machte, bevor der Anfall kam. Noch heute rieselt es mir manchmal über den Rücken, wie es mir damals in meine Borsten kroch, ich fühle eine Art Erinnerung in meiner Haut an das beginnende und kalte Gefühl, an den tödlichen Anfall von „Gänsehaut“, womit es anfing, und dann weiß ich, daß es die Zeit war, die mich verließ, daß die namenlose Einsamkeit mir eine andere Haut gab und mich aus dem Dasein hinausführte, während ich gleichzeitig mitten drin blieb.

Wenn einst der bittere, unvermeidliche Schauder zurückkehrt, der letzte Kälteschauer in der Seele, bei dem man stirbt, dann werde ich meinen Zu­stand von damals wiedererkennen.

Es war in Madrid, mitten am Tage und im Sonnenschein auf dem Prado, als ich auf einer Bank saß und plötzlich verwandelt wurde, ohne daß ich oder irgendeine Macht der Welt es verhindern konnte. Ich war übrigens in einer ziemlich jämmerlichen Verfassung, hatte seit fünf Tagen nichts gegessen und mochte wohl für ein Krankenhaus reif sein. Mir aber schien es nicht, als ob mir etwas fehle, ich hatte alle meine Kräfte beisammen, und es behagte mir, hier so schweigend zu sitzen und die Leute im Sonnenschein an mir vorüber­ziehen zu lassen, Leute, die eine Sprache redeten, von der ich nur den Laut auffing. Ein Kennzeichen, daß ich nicht im Gleichgewicht war, bestand darin, daß der Tag mir ungewöhnlich wertvoll erschien, obgleich es nur ein ganz gewöhnlicher, sonniger Maitag war, mit Wärme am Morgen und zu­nehmender Hitze. Der Himmel war wolkenlos, aber weißlich unter der Herr­schaft der Sonne, die Bäume auf dem Prado blähten sich in all ihrer neu­entfalteten grünen Laubpracht wie Wesen, die um einander werben. Von den kreideweißen Häusern drüben auf der anderen Seite des Alameda kam ein stechender Geruch von Kohlensäure, den die Sonnenhitze aus den Mauern lockte, und man konnte gleichzeitig einen leisen Hauch spüren, eine Keller­atmosphäre von den Steinen drüben, die noch Kälte in sich bargen und sie nun um sich verbreiteten. Ein Mann mit einem Kühler auf dem Rücken ging an den Bänken vorbei und bot Wasser feil, agua, sagte er und sah mich ver­ständig, menschlich an — agua como Ia nieve, und ich weiß nicht, weshalb ich ihn wegen seines Blickes lieb gewann, weshalb ich mich so plötzlich und heftig zu dem einfachen Mann mit dem Wasserkübel hingezogen fühlte, daß ich hätte schreien und weinen können. Ach, und ich war so arm, daß ich nicht einmal ein Glas Wasser von ihm kaufen konnte. Während ich so da­saß, wurde ich immer mehr von stiller Liebe zu allem erfüllt, was ich sah, aber gleichzeitig wurde ich immer kränker. Nicht, daß mir etwas fehlte, aber ein versinkendes, ein hoffnungsloses Gefühl war mit dem Atmen verbunden, während die Zeit verging. Ja, während die Zeit verging. Es war, als sei ich es allein, der die Verantwortung trug, daß die Bäume so grün waren, daß die Sonne auf den Kies schien, daß der Springbrunnen so unaufhörlich irgend­wo hinter dem Laub plätscherte . .. Wenn ich nun müde würde und ver­sagte? Wenn die kleinen Kinder, die auf dem Kies dahintrippelten, stumm vor üppigem Wachstum, wenn niemand sie mehr lieb haben, wenn ich nicht mehr mit überquellendem Herzen und einem Meer von Freude auf den Lippen nach ihnen sehen würde? … Ja, dann würden sie wohl trotzdem dort trippeln. War ich es vielleicht, der sterben mußte, und darum an all diesen kleinen wunderbaren Dingen der Erde hing? Sterben … im Gegenteil, ich war ja von einer inneren göttlichen Kraft erfüllt, von einer panischen Schöpfer­kraft, die mich überall hinzuführen imstande war. Es war ein Schicksal in der Nähe, es lag etwas in der Zeit, nicht in der Luft. Ein anderes Wesen rührte sich in meinem Inneren, ich fühlte hin und wieder eine dunkle Qual, die umso unerträglicher wurde, als ich sie ganz gleichgültig kommen und gehen ließ.

In dem schmerzreichen Augenblick, als ich auf der Bank saß und die gegen­wärtige Zeit mir zu entschwinden begann, war ich bei völlig klarem Bewußt­sein. Ich dachte etwas Ähnliches wie: jetzt werde ich verrückt, oder jetzt sterbe ich, weil der Himmel eine andere Farbe annahm und ich ganz kalt wurde, während sich tausend feine Nadeln durch meine Poren zu ziehen schienen . . . 0, jetzt konnte ich die Bäume nicht mehr sehen, ich war blind, und wo waren meine Hände? Übelkeit… es gingen krampfartige Zuckungen durch meine Eingeweide, ich merkte, wie mein Hals vornüberfiel — so schwer war also mein Kopf — der plätschernde Springbrunnen wurde zum Weltenmeer, das mir durch die Ohren sauste, ich war in der Ewigkeit, dem schneidenden Nichts, der Stille, die mir durch die Seele dämmerte .. . Und mitten in dieser grenzenlosen Ohnmacht war ich bei vollem Bewußtsein, hatte hin und wieder die Vorstellung, daß ich sehen konnte. Sah ich nicht Bäume mit den Augen, obgleich ich nicht lebte und es nicht erfaßte, saß ich nicht auf einer Bank? Vielleicht konnte ich leben, wenn ich es noch wollte, obschon ich abwesend war, gebunden, ohne Sinne, ohne Körper und Glieder . . . und doch immer bei vollem Bewußtsein. So verlassen war ich.

Da geschah es, daß ich mich auf allen Vieren niederlegte und zu gehen begann, um fortzukommen. Und indem ich mich fortbewegte, kehrten meine Sinne zurück. Noch klang es fern in meinem Kopf vom Ewigkeitssturm, aber im übrigen lebte ich wieder und fühlte mich als der, der ich war. Ich bewegte meine kurzen, dicken Beine und sah, daß sie so waren, wie sie sein sollten, schmutzig fleischfarben und mit schiefrigen Pigmentflecken hier und da, auch die Hornnägel an meinen roten Klumpfüßen kannte ich wohl. Ich fühlte meinen Schwanz, meine Flughaut und meine Mähne, ich öffnete und schloß meinen Mund mit den schuppigen Lippen, und konstatierte einen sehr echten Hunger.

Ob ich ein Drache oder ein Basilisk war? Nein, entschuldigen Sie, ich war ein Kondignog, eine recht seltsame Menscheneidechse, ein in allen Zeit­perioden heimatloses Geschöpf. Ich hatte nichts Böses im Sinn, würde mich in der Wahl meiner Nahrung nicht irren oder etwas umstoßen, ich war auf einem Spaziergang begriffen und hatte mich auf den Prado verirrt, hatte aber selbst den Wunsch, mich wieder zu entfernen, wenn man mich nur pas­sieren lassen wollte …

Noch erfaßte ich nicht mein Unglück. Erst als ich ein Stückchen gegangen war und dem Mann mit dem Tonkühler begegnete, wurde es mir klar. Er betrachtete mich mit genau demselben Blick wie vorhin und machte mich höflich auf das aufmerksam, was er trug — agua, senor . .. agua fresca — wie zuverlässig und alltäglich seine Stimme klang, ich habe sie nie wieder ver­gessen können, wie gutmütig sein einfältiges Gesicht unter den grünen Bäumen leuchtete. . . Er aber sah mich, den Kondignog, nicht; nicht die geringste Scheu in seinem Blick verriet, daß er mich für das Fabeltier hielt, zu dem ich geworden war! Ich selbst konnte ja an meinem Schatten sehen, wie es um mich stand. Es war mir ein bitterer Kummer, daß er mich nicht sehen konnte, wie ich wirklich war.

Viele Menschen, sowohl Herren wie Damen, gingen an mir vorbei und streiften mich mit einem Blick, ohne augenscheinlich etwas anderes zu sehen, als daß ich ein menschliches Wesen war, wie sie selbst. Da wußte ich, daß ich verloren sei. Es siedete mir durch alle Nerven vor Schreck, ebenso wie vorhin, als ich verwandelt wurde, der Himmel veränderte seine Farbe, und statt der Häuser und Bäume schienen mir ringsum hohe, wehende Farnge­büsche aufzutauchen und kupferfarbige Sumpflöcher gerade vor mir; der Anblick wich wieder, schien aber gleichsam in ahnenden Umrissen hinter den sonnenbeschienenen Häusern stehen zu bleiben. Ich atmete tief auf, und verließ die Stadt.

Draußen in den warmen Mondnächten, auf dem wüstentrockenen, weiten Land, das Madrid umgibt und wo nur Mohn wächst, fand ich meine Kräfte wieder und ergab mich in mein Schicksal. Dort hörte ich zum erstenmal meine richtige Stimme, in einer Mitternachtsstunde, als ich mein Maul zum Mond erhob und mich ausweinte; ich hatte eine tiefe, brüllende Stimme, ein Jammer­geheul, das mich als Ausdruck für die Einsamkeit in der Welt ziemlich be­friedigte. Wie mein Kopf aussah, das erfuhr ich niemals; ich hätte mich leicht in einer Pfütze spiegeln und mir auf diese Weise Gewißheit verschaffen können; aber das wagte ich nicht, ich wußte, daß ich außerdem noch genug Entsetzen zu tragen hatte.

Übrigens grämte ich mich nicht weiter; ich war ja selbst der Schmerz. In der Gestalt des Tieres, zu dem Schwermut und Angst mich verwandelt hatten, amüsierte ich mich während der öden Nächte recht gut.   Ich verfiel darauf, zu spielen, unterhielt mich ganz allein im Mondschein mit den Fertigkeiten, die ein Kondignog besitzt, und über die ich zu meinem Staunen verfügte. Meine Kraft war phänomenal, und im Verhältnis dazu war ich geschmeidig; ich konnte Luftsprünge von zwanzig bis dreißig Metern Höhe machen, wobei ich mich sowohl meiner Flughaut wie meines Schwanzes bediente. Dieser Schwanz, mit dicken Hornknoten besetzt, war so kräftig, daß ich ganze Löcher damit in die Erdkruste schlagen konnte.  Wenn ich in die Höhe gesprungen war, machte ich mit einem Schlag in der Luft kehrt, und hatte Zeit mich um­zusehen, wo ich landen wollte, bevor ich wieder herunterkam. Einmal stürmte es, da begann ich zu bellen und in den Staubwolken zu galoppieren, bald in der Luft und bald auf der Erde; bevor ich es selbst recht wußte, war ich auf dem besten Wege nach der Sierra de Guadarama — Himmel und Hölle, wie war es herrlich, seine Kräfte so auszutoben, ich flog mehr als ich sprang, und bei so einem gewaltigen Flugsprung landete ich nicht auf der Erde, sondern in einem kleinen Binnensee .. . Oh, das war gar nicht unangenehm, denn ich schwamm ja wie ein Wesen, das nie ein anderes Element wie das Wasser be­wohnt hatte, ich schlug den ganzen See zu Schaum, kreiste auf einer Stelle herum, bis der Grund bloß lag und der See über seine Ufer trat, galoppierte darauf weiter in die Berge hinauf und wieder herunter, tat bisweilen einen Sprung von mehreren hundert Metern Tiefe die Abhänge hinab, landete immer auf meinen vier soliden Beinen und konnte jeden Stoß vertragen, ob ich auf Felsen oder auf weichen Boden fiel. Ich fand Geschmack daran, mich zu tummeln, ich sprang ins Meer, bei Gewitter, bei Nebel, ich vermischte meine Flughaut und meine Mähne mit den Wolken, schnappte nach den Hagelkörnern in der dünnen Luft, setzte in fliegenden Känguruhsprüngen über Wälder .. .   Und immer sehe ich blitzartig die eigentliche Wirklichkeit hinter den Dingen, in denen ich lebe, andere Farben, andere Gewächse, Schatten­risse im Nebel, wie von turmhohen Schachtelhalmen in einer dampfenden Atmosphäre, blaue Spiegelungen von Seen, worin es kochend brodelt wie von heißen Steinen auf dem Grund, Wirbel von springlebendigen Wolken am Himmel, um das blendende Feuer der Sonne herum, . . . bis ich die Küste erreiche und mich von den Klippen in die Brandung stürze. Ich streife meilen­weit im Atlantischen Ozean umher, streite mich mit den grünen Wogen, hüpfe hoch daraus empor, um den Mond zu erreichen, und grabe mich tief, tief, tief zu der ewigen Wassermacht des Grundes hinab, wo das Element wie ein bleiernes Gewand drückt, und wo blinde Ungeheuer, halb Pflanze und halb Tier, das schleimige Maul nach aufwärts gerichtet, hin- und herwogen, während sie das schwarze Wasser durch ihre Kiemen trinken.   Ich lasse mich weit draußen treiben, bis die Flut mich weckt und mich an das Land erinnert, ich sehe große, dunkle Dinge tief drunten in dem glasgrünen Wasser dahin­ziehen, Walfische, oder sind es die Schatten der formlosen Meerungeheuer einer anderen Welt?   Ich werfe mich zwischen schäumenden Wellenköpfen hin und her, die sich berghoch erheben und wieder gewichtlos verschwinden, ich lege mich mit meiner ganzen gespreizten Flughaut über die Sturzseen, bis jeder zitternde Tropfen im Meere dem feinsten Pulszweig meines Blutes zu begegnen scheint, schließlich gehe ich an Land und sitze vor Entzücken jammernd am Strande, rufe und brülle lange zum Sonnenuntergang hinüber, weine traurige Tränen und befinde mich außerordentlich wohl dabei.

Jetzt aber wanke ich wieder auf den nackten, sonnenbeschienenen Feldern in Madrids Umgebung umher, oder ich trotte mit meinen Klumpfüßen auf den Fußsteigen der Stadt, wobei mir die Flughäute zwischen den Beinen schlottern, Straße auf und Straße ab, und suche den Blick jedes Menschen, der mir begegnet, sehe tausend verschiedenen Menschen in die Augen, ob es nicht einen einzigen darunter geben sollte, der mich kennt, der mich sieht; alle aber begegnen meinem Blick ohne ihre Miene zu verändern, alle sind dem Kondignog gegenüber blind. Und ich weiß, daß es meine einzige Ret­tung ist, wenn ein Mensch, ein ganz gewöhnlicher Mensch mich sieht, wie ich bin, dann wird die Verzauberung weichen, früher nicht. Ich finde kei­nen. Trotzdem kann ich Madrid nicht verlassen, denn es will mir scheinen, daß ich hier, wo ich verwandelt worden bin, meine menschliche Gestalt zu­rückerlangen muß.  Hier bin ich der Zeit verlustig gegangen, und hier muß sie mir zurückgegeben werden.

Inzwischen hungere ich noch immer, denn in der Welt, in der ich lebe, gibt es keine Nahrung für mich, und die andere Wirklichkeit, die eigentlich zu mir gehört, kommt mir nie so nah, daß ich in sie eingehen kann — glücklicher­weise, denn nur in den Augenblicken großer panischer Angst rückt sie mir nahe; es ist, als müsse ich noch einmal sterben, um in sie einzugehen. Hin und wieder kommt es wie ein Schwindel über mich, und dann treten die Far­nengebüsche über meinem Kopf auseinander, dann sehe ich etwas wie dunkle Flecke im Tageslicht, Schatten von den Raubungeheuern einer anderen Welt, ich sehe, wie sie zueinander gleiten, und höre Laute, als ob sie düster husten und die Erde scharren — ich muß alle meine Kräfte zusammennehmen, um zu bleiben, wo ich bin. Bei plötzlichen Wendungen sehe ich einen Schimmer von olivengrünen Hälsen und Köpfen mit Entenschnäbeln, die sich wie Fabrik­schornsteine über die Häuser der Straßen recken . . . Soll ich bei denen enden, soll ich Tausende und aber Tausende von Jahren zurückversinken, bis ich meine Heimat als Kondignog gefunden habe?   Begegne ich niemand, der mich sieht und mich erlöst und mir meine menschliche Gestalt zurückgibt?

Ich habe auf einem Schneegipfel in der Sierra de Guadarama gesessen und mich mit dem jammervollsten Konzert unterhalten, das jemals aus der Kehle eines unseligen Geschöpfes gedrungen ist, ich habe die einsamen Tränen des Kondignogs vergossen, die am besten zu wilden Gegenden passen. Bisweilen sehne ich sie wieder herbei.

Außerhalb von Madrid liegt auf dem kahlen Felde ein Pulverturm, in der Nähe eines halbausgetrockneten Teiches, und dort fand ich meine Erlösung.

Ich hatte den Ort liebgewonnen, weil es dort so nach Einsamkeit roch. Der Teich lag immer still wie ein Metallspiegel in seiner Einfassung von rissigen Lehmufern da, das Wasser sonderte eine dünne Haut von Schlamm und Salz auf den spärlichen Grashalmen ab, die darauf wuchsen, und der Wasserspiegel rauchte immer mit einem bitteren Dunst unter der Strahlenwärrne der Sonne. Dicht dabei lag das Pulvermagazin, ein fensterloses, blindes Haus von Ze­ment mit verrosteten Eisenbolzen. An seinem Fuß wuchsen große Kletten mit Spinngeweben in den scharfen Samenständern; das Ganze roch so öde. Und in weiter Ferne hinter den unfruchtbaren, mohnbewachsenen Lehm­feldern erhoben sich die Vorposten von Madrid, hohe, klotzige Arbeiterkasernen und Fabriken, den Rauch der Stadt über sich im Sonnendunst.

Hier ließ es sich gut sitzen, mitten im schwirrenden Sonnenschein, der die Welt nach allen Seiten bloßlegte.

Und hier sah ich eines Mittags, als ich mich dem Ort näherte, einen feuer­roten Punkt, wie eine riesengroße Mohnblume. Alles war Sonnenschein, alles lag im offenen, blendenden Licht; nur ich brachte Dunkelheit mit mir, wo ich ging. Was war das für eine feuerrote Riesenblume, die sich am Ufer meines Teiches entfaltet hatte? Ich setzte mich in Trab, schlug die trockene Erdkruste mit meinem Schwanz, daß es dröhnte, tanzte auf meinen roten Klumpfüßen … was war es für eine große, gaffende Mohnblume, die an meinem Teich stand?

Es war ein roter Rock. Ein junges Weib saß am Ufer des Teiches, ein armes, obdachloses Mädchen, das wahrscheinlich aus einem der elendesten Hinterhöfe von Madrid stammte und eine Umherstreiferin geworden war wie ich selbst. Sie war achtzehn Jahre, dünn wie ein Weidenzweig, aber mit dickem, schwarzem Haar, das unbedeckt in der Sonne glänzte. Sie hatte ihre noch kindlichen, verhungerten Züge blau geschminkt, wie vornehme Spanierinnen es zu tun pflegen, aber ihre Blässe konnte dadurch nicht ver­deckt werden. Sie saß ganz still da, hatte sich wohl aus Hunger niedergesetzt. Vorher aber hatte sie sich diesen Platz ausgesucht, meinen Platz! Ich konnte ihr ansehen, daß ihre Eingeweide vor Hunger schrieen, ebenso wie die meinen … sie hatte eine Winde gepflückt und hielt sie in ihrer schlaffen Hand; sie war wahrscheinlich auf deren reichen, metallischen Duft aufmerksam ge­worden, weil die Not ihre Sinne empfänglich und dankbar gemacht hatte. Consuelo hieß sie.

Consuelos Augen, die so traurig leer und unschuldig waren, wie die eines Kindes, für das es keine Sünde gibt, und so verzagend, wie die Augen der­jenigen, die in der Sonne sitzen und hungern, begegneten den meinen, und sie erkannte mich gleich. Was intelligente und allwissende Männer in Madrid nicht sehen konnten, wofür gefühlvolle Damen blind waren, das ver­stand dieses arme, leidende Proletarierkind, das durch das Hungerfieber sehend geworden war. Wir waren beide gleich verzweifelt. Sie erkannte mein ganzes Elend als Kondignog. Ich wälzte mich vor ihr auf der Erde in einem Sturm von Schmerz .. . und während sie mir in die Augen sah, fühlte ich, wie meine menschliche Gestalt zurückkehrte, ich war gerettet.

DEUTSCHLAND

Der von Kürenberg, Ich zoch mir einen valken

Ich zoch mir einen valken mere danne ein jähr,
do ich in gezamete, als ich in wollte hän
und ich im sin gevidere mit golde wohl bewant,
er huop sich üf vil höhe und floue in anderiu lant.

Sit sach ich den valken schone vliegen.
Er fuorte an sinem fuoze sidine riemen,
und was im sin gevidere alröt guldin,
got sende sie zesamene, die gerne geliep wellen sinl

Der Marner, Der umgekehrte Igel

Trägt der Igel Stacheln außen an der Haut,
Ist es recht, sie stehn an ihrer Statt.
Anders hab ich manchen falschen Mann geschaut,
Der die Stacheln in dem Herzen hat.
Hüte dich vor ihm, und trau
Nicht dem umgekehrten Igel,
Der von innen rauh
Und von außen glatt ist wie ein Spiegel.

(Neuhochdeutsch von Friedrich Rückert)

Reinmar von Zweter, Mensch und Tier

Ein voller Mensch fünf Sinne hat,
Von denen jeder steht an seiner eigenen Statt,
Sehn, hören, fühlen, riechen, schmecken, wie sie Gott erschaffen.
Die Sinn‘ auch haben wilde Tier‘,
Und je an einem stark den einen finden wir,
Am Luchs, am Maulwurf, an der Spinn‘, am Geier und am Affen.
Scharf sieht der Luchs, der Maulwurf hört im Wühlen,
Die kleine Spinn‘ ist flink zum Fühlen,
Der Geier riecht, der Affe schmecket.
Sie übertreffen an dem Sinne
Den Menschen, daß sein Geist werd‘ inne,
Daß nicht zum Ziel die Sinn‘ ihm sind gestecket.

(Neuhochdeutsch von Friedrich Rücken)

Ulrich Boner, Von einem Hahn und einem Edelstein

Von ungefähr hat sich’s getan
Eines Tages, daß ein Hahn
Flog auf seines Herren Mist,
Wie das schon oft geschehen ist.
Er suchte sich dort Speise
Nach des Klugen Weise
Und fand — nicht könnt’s ihm nütze sein —
Dort einen großen Edelstein
Unwürdig liegen in dem Kot.
Da sprach er so: „Allmächt’ger Gott,
Umsonst hab‘ ich den Fund getan!
Ein Gerstenkorn mehr mir nützen kann
Als du. Nichts bist du nütze mir,
Was soll ich, unnütz‘ Ding, mit dir?
Vernimm’s, mir kann nicht nütze sein
Die Herrlichkeit und Schönheit dein.
Wenn Meister Hippokras dich fand‘,
Der besser dich gebrauchen könnt‘
Als ich, da ich nicht kenne dich.“
So warf der Hahn den Stein von sich,
Da er gar wertlos ihm erschien;
Ein Haferkorn bedünkte ihn
Viel mehr.

Dies Beispiel sei erzählt
Dem Toren, der den Kolben wählt,
Der mehr ihm als ein Königreich.
Dem Toren sind die alle gleich,
Die Weisheit, Kunst und Ehr‘ und Gut
Verschmähn in ihrem Torenmut;
Für die frommt nichts der edle Stein.
Dem Hund ist mehr ein Knochenbein
Als ein Pfund Gold, das glaube mir.
Also drängt hin der Toren Gier
In Sitten und Gebärde
Auf Üppigkeit der Erde.
Sie merken nicht des Steines Wert
Und sehn nicht, was dies Beispiel lehrt,
Und wie darin verborgen ist
Viel guter Sinn und weise List,
Die unbekannt den Narren sind.
Die Narren! Sehend sind sie blind.
Der Tor soll ruhig weiter gehn
Und hier dies Beispiel lassen stehn,
Denn keine Frücht‘ er daraus zieht,
Recht wie dem Hahnen ihm geschieht.

Mechthild von Magdeburg, Visionen

Der Fisch kann im Wasser nicht ertrinken,
Der Vogel in der Luft nicht versinken,
Gold ist im Feuer nie vergangen,
es wird da Klarheit und leuchtende Farbe empfangen.
Gott hat allen Kreaturen das gegeben,
daß sie nach ihrer Kreatur leben.

Unser Herr rühmt sich im Himmelreich
seiner minnenden Seele, die er auf Erden hat,
und spricht: Seht, wie sie gestiegen kommt,
die mich verwundet hat!
Sie hat den Affen der Welt von sich geworfen,
sie hat den Bären der Unkeuschheit überwunden,
sie hat den Löwen der Hochmut unter ihre Füße getreten,
sie hat dem Wolf der bösen Gier seinen Bauch zerrissen.
Seht! nun kommt sie gelaufen wie ein gejagter Hirsch
nach dem Bronn, der ich bin.
Sie schwingt sich auf wie ein Aar
aus der Tiefe in die Höhe.

Johann Fischart, Die Flohhatz

Nun, Bruder, was braucht es des Streit’s?
Jeder hält sein’s für’s größte Kreuz.
Du hast die Spinne, die dich plagt,
Und ich vermein‘, die mich stets jagt,
Die sei die Erzspinn‘ aller Spinnen,
Denn sie ist listig auch von Sinnen;
Zudem sie greulich gerüstet ist
Wider das Flöhvolk alle Frist.
Kommt aber List zur Grausamkeit,
Selbst der Verstand nicht Rettung beut.
Ja, daß mit einem Wort ich’s sage,
Die Weiber sind’s, darob ich klage,
Das sind die rechten Erzflöhspinnen,
Kaum kann man ihrem Netz entrinnen.
Sie nicht, wie deine, ein Netz spinnen,
Sie sind ja Tausendkünstlerinnen,
Sie weben alle Augenblicke,
Zu jagen uns in ihre Stricke,
Und, was doch wahrlich gar abscheulich,
Sie sind für sich allein nicht greulich.
Verführen auch aus bösem Mut
Die Kinder, das unschuld’ge Blut,
Und lehren sie statt Heiligkeit
Das Flöheknicken und Greulichkeit.
0 werdet schwere Rechenschaft
Ihr geben, wenn ihr’s nicht abschafft!
Ihr Mütter dürft niemand anklagen,
Daß aus der Art die Kinder schlagen,
Als euch, durch die sie belehret worden,
Wie sie unschuld’ge Wesen morden,
Die zarten Näglein gleich beflecken
Mit Blut — und sie darauf auch lecken.
0, ihr wißt nicht, was Blut vermag,
Es kocht in einem sein Lebtag,
Bis endlich es einmal ausbreche
Und sich an seinem Täter räche;
Auch schuldig Blut nagt an dem Mut,
Ich schweige, was unschuld’ges tut.
Wozu die Kinder gezogen man,
Das haftet ihnen ihr Lebtag an:
Sparta, die Stadt, wollt‘ einen Knaben
Von königlichem Stamm nicht haben
Zum König, weil sie hart‘ erfahren,
Daß er in seinen Kinderjahren
Den Vöglein stach die Augen aus;
Sie nahmen seine Art daraus,
Daß, wenn er’s Alter sollt‘ erlangen.
Noch Schlimmeres er würd‘ anfangen.
Was würde die gesagt doch haben
Zu unsern Mägdelein und Knaben,
Die die armen Flöhe nicht nur blenden,
Vielmehr sie töten gar und schänden!
Donnern bei Hitze Wolken sehr,
Will sich darüber wundern wer.
Das heißt, wenn Jugend ist mutwillig —
Die meint, es sei für sie so billig —,
Da es doch kalte Wolken nun,
Das heißt die alten Vetteln, tun,
Die doch auf der verschrumpften Haut
Nicht sollten fühlen, wenn man sie haut,
Dieweil bei ihnen der Schröpfer doch
Haut neunmal, eh‘ er kriegt ein Loch.
Aber (das Aber mich albern macht.
Nur halb hat’s, wer da Aber sagt)
Was soll ich von den Vetteln sagen?
Ich muß noch edler Geschlecht verklagen,
Ich mein‘ die zarten Jungfraunbilder,
Die sich auch nicht erzeigen milder.
Nein, sie sind unjungfräulich greulich,
Denen Blut doch sollte sein abscheulich,
Dieweil man mancher doch den Rüssel
Aufbrechen muß mit einem Schlüssel,
Wenn sie sich mit einer Nadel sticht:
Der Ochsenziemer es auch aufbricht!
Denn daß ich dir, mein Sommergesell,
Des Pudels Kern nun hererzähl‘,
So wisse, daß ein Jungfräulein
Mich hat geschoren so unfein.
Wenn auch das Beste die Füße taten,
Daß ich bin aus der Schlacht geraten.
Sind mir zurückgeblieben doch
Gesellen, Freund‘ und Altern noch.

Bruder Johannes Pauli, Von Hunden

Zu einem Wolf kam einst ein feister Hund. Der Wolf sprach zu ihm: Guter Gesell, wie lebst du, daß du also feist bist, und ich bin so mager? Der Hund antwortete: Ich diene einem Menschen, der gibt mir genug zu essen. Der Wolf sprach: So will ich mit dir gehn und will auch dienen! Als sie nun miteinandergingen, sah der Wolf des Hundes Hals an und sprach zu ihm: Wie kommt es, daß dein Hals so beschabt und kein Haar daran ist? Jener sprach: Bei Tage legt man mich gefangen und bindet mir ein Halsband um den Hals, das macht mich also blutig; aber wenn es Nacht ist, so bin ich ledig und frei! Da sprach der Wolf: Ade, Ade, lieber Gesell! Ich will lieber mager und frei als feist und gefangen sein!

Einer wurde im Walde ermordet, und Niemand wußte, wer es getan hätte. Da war des toten Mannes Hund, der ihn begleitet, wo er den Mörder sah, fiel er ihn an, als wollte er ihn fressen, sei es in der Kirche oder auf der Gasse. Endlich schöpfte man einen Argwohn auf ihn, weil ihm der Hund so feind war, und als man ihn ergriffen, bekannte er, er hätte es getan; da gab man ihm seinen Lohn. — Wollte Gott, daß die Menschen einander so treu wären oder nur ein Freund dem andern, als die Hunde ihren Herren sind!

Bartholomäus Krüger, Hans Clauert, der märkische Eulenspiegel erzählt

Clauert pflegte oftmals von sich selber zu erzählen. Wenn er bei guten Leuten war und sah, daß sie unlustig wurden, so fing er zuerst von seiner Kindheit an bis zu seinem Alter mit nachfolgenden Worten: „Als ich ein kleines Kindlein war und oftmals ersah, daß unsere Nachbarkinder aus dem Holze kamen und junge Vögel nach Haus brachten, die sie aus den Nestern genommen hatten, gedachte ich, auch einmal in den Wald zu gehen und Vogelnester zu suchen.

Da ich aber in den Wald kam, sah ich ein kleines Vöglein aus einem Baum fliegen. Ich ging hinzu, da fand ich ein kleines Löchlein, daß ich kaum einen Finger hineinbringen konnte. Und als ich den Finger hineinsteckte, fiel ich mit dem ganzen Leib hinterher in den Baum hinab. Darunter fand ich einen Teich, darin gebratene Fische gingen, und über dem Teiche war ein Butterberg, von dem die Butter von dem warmen Sonnenschein herab auf die gebratenen Fische troff. Von diesen Fischen aß ich mich so satt, daß ich aus dem Baum nicht wieder heraus kommen konnte.  Ich lief derhalben heim, holte eine Barte (Axt) und hieb mich aus dem Baum heraus.  Jedoch war mir’s leid, daß ich der ge­bratenen Fische nicht etliche mit mir genommen, davon ich hätte rühmen können. Es trug sich gleichwohl zu, daß am Wege ein großer Haufen Tauben saß. Darunter warf ich, daß die Federn so dick liegen blieben, daß ich meine Barte nicht wieder finden konnte. Ich lief eilends nach Haus, holte Feuer und zündete die Federn an. Da verbrannte die Barte und der Stiel blieb liegen, so daß ich also zu meinen Eltern nicht wieder zu kommen wagte. Ich gedachte mich deswegen auf die Wanderschaft zu begeben und kam zu einem Bauern. Da hätte ich gern getrunken, wußte jedoch nicht, worin ich Wasser schöpfen sollte. Weil mir aber als einem gar jungen und kleinen Kinde die Hirnschalen noch nicht recht zusammengewachsen waren, nahm ich den halben Teil der­selben vom Kopf herab, schöpfte Wasser darein und trank daraus. Es schmeckte mir auch das Wasser so wohl, daß ich darüber einschlief. Und als ich erwachte, war es fast Abend geworden.  Darüber erschrak ich sehr und lief ganz unbe­sonnen davon, kam in ein Dorf; da drosch ein Bauer die Erbsen auf dem Balken und das Stroh fiel herab, die Erbsen aber blieben auf dem Balken liegen. Dessen verwunderte ich mich sehr und fragte den Bauern, wie solches käme, daß die Erbsen auf dem Balken blieben. Der fragte mich wieder, wie ich mit dem halben Kopfe daherkäme.  Da gedachte ich erst an meine Hirnschale, lief alsbald zurück, fand sie auch und sieben Enteneier darin. Dieselben legte ich unter eine Henne und ließ sie ausbrüten. Daraus ward ein Pferd, sieben Meilen lang. Mit demselben verdiente ich viel Geld. Denn wenn die Leute über Land reisen wollten und am Kopf aufsaßen und das Pferd sich nur um­wendete, so waren sie vierzehn Meilen weg.  Und einstmals hatte ich etliche von Adel angenommen, die gern eilends wären an ihrem bestimmten Ort ge­wesen.  Und als sie fast dahin gekommen waren, mistete das Pferd, wendete sich auch um und wollte daran riechen und brachte die Edelleute noch einmal so weit zurück, als sie zuvor sich aufgesetzt hatten, weshalb sie vor Zorn mein Pferd mitten entzwei hieben. Dem wußte ich nicht besser zu helfen, als daß ich rote Weiden nahm und das Pferd damit wieder zusammen band. Die Weiden blieben in dem Pferde sitzen und wuchsen so sehr, daß ein ganzer Wald auf dem Pferde entstand, so daß auch die, so darauf ritten, zur Sommer­zeit im kühlen Schatten saßen. Dadurch erwarb mir das Pferd hernach viel mehr als zuvor; und gegen den Winter ließ ich die Weiden jährlich verhauen und löste aus denselben Holze so viel Geld, daß ich auf den heutigen Tag noch einen Zehrpfennig habe, sonst wäre ich längst zum Bettler geworden.“

Luther, Klageschrift der Vögel an Lutherum über seinen Diener Wolfgang Sieberger wegen Aufstellens eines Vogelherdes

Unserm günstigen Herrn, Doctori Martino Luther, Prediger zu Wittenberg.

Wir Drosseln, Amseln, Finken, Hänflinge, Stieglitzen samt andern frommen ehrbaren Vögeln, so diesen Herbst über Wittenberg reisen sollen, fügen Eurer Liebe zu wissen, wie wir glaublich berichtet werden, daß einer, genannt Wolf­gang Sieberger, Euer Diener, sich unterstanden habe, einen großen, frevent­lichen Thurst und etliche alte, verdorbene Netze aus großem Zorn und Haß über uns teuer gekauft, damit einen Finkenherd anzurichten, und nicht allein unsern lieben Freunden und Finken, sondern auch uns allen die Freiheit, zu fliegen in der Luft und auf Erden Körnlein zu lesen, von Gott uns gegeben, zu wehren vornimmt, dazu uns nach unserm Leib und Leben stellt, so wir doch gegen ihn gar nichts verschuldet noch solche emstliche und geschwinde Thurst um ihn verdient. Weil er denn alles, wie Ihr selbst könnt bedenken, uns armen, freien Vögeln (so zuvor weder Scheune noch Häuser noch etwas darin haben) eine gefährliche und große Beschwerung, ist an Euch unsere demütige und freundliche Bitte, Ihr wollet Euren Diener von solcher Thurst weisen, oder wo das nicht sein kann, doch ihn dahin halten, daß er uns des Abends zuvor streue Körner auf den Herd und morgens vor acht Uhr nicht aufstehe und auf den Herd gehe; so wollen wir denn unsern Zug über Witten­berg hinnehmen. Wird er das nicht tun, sondern uns also freventlich nach unserm Leben stehen, so wollen wir Gott bitten, daß er ihm steure, und er des Tages auf dem Herde Frösche, Heuschrecken und Schnecken an unserer Statt fange und zu Nacht von Mäusen, Flöhen, Läusen, Wanzen überzogen werde, damit er unser vergesse und den freien Flug uns nicht wehre. Warum braucht er solchen Zorn und Ernst nicht wider die Sperlinge, Schwalben, Elstern, Dohlen, Raben, Mäuse und Ratten? Welche Euch doch viel Leids tun, stehlen und rauben und auch aus den Häusern Korn, Hafer, Malz und Gerste enttragen, welches wir nicht tun, sondern allein das kleine Bröcklein und einzelne verfallne Kömlein suchen. Wir stellen solch unsere Sache auf rechtmäßige Vernunft, ob uns von ihm nicht mit Unrecht so hart wird nachgestellt. Wir hoffen aber zu Gott, weil unsere Brüder und Freunde so viel in diesem Herbst vor ihm blieben und entflohen sind, wir wollen auch seinen losen, faulen Netzen, so wir gestern gesehen, entfliehen. Gegeben in unserm himmlischen Sitz unter den Bäumen, unter unserm gewöhnlichen Siegel und Federn.

Hans Sachs, Sankt Peter mit der Geiß

Als Christus noch auf Erden weilte
Und Petrus stets auch mit ihm eilte,
Aus einem Dorf er einst mit ihm ging.
Beim Kreuzweg Petrus da anfing:
,0 Herre, Gott und Meister mein,
Mich wundert sehr die Güte dein,
Weil du als Gott allmächtig bist
Und läßt’s doch gehn zu aller Frist
In aller Welt gleich wie es geht,
Wie Habakuk sagt, der Prophet:
Gewalt und Frevel geht vor Recht,
Wer gottlos, übervorteilt schlecht
Mit Schalkheit die Gerechten und Frommen;
Auch könn‘ kein Recht zu End‘ mehr kommen.
Die Lehren gehn durcheinander sehr,
Gleich wie die Fische in dem Meer,
Wo immer einer den andern verschlingt,
Der Böse den Guten niederringt.
Drum steht es übel an allen Enden,
In obern und in niedem Ständen.
Dem siehst du zu und schweigest still,
Als kümmert‘ dich das Ding nicht viel,
Als hätt’st du nichts zu sagen darzu;
Doch könntest das Übel hindern du,
Gebrauchtest du recht die Herrschaft dein.
O sollt‘ ein Jahr ich Herrgott sein
Und haben auch Gewalt wie du,
Ich wollte anders schauen zu,
Viel besser führen Regiment
Im Erdreich über alle Stand‘.
Ich wollte steuern mit meiner Hand
Betrug, Krieg, Wucher, Raub und Brand,
Ich wollt‘ herstellen ruhig Leben.“
Der Herr sprach: „Petre, sag‘ mir eben:
Vermeinst du besser zu regieren
Und alles baß zu ordinieren,
Die Frommen zu schützen, die Bösen zu plagen?“
Sankt Peter tat hinwieder sagen:
„Ja, ’s müßt‘ auf Erden besser stehn,
Nicht also durcheinander gehn;
Ich wollt‘ viel besser Ordnung halten.“
Der Herr sprach: „So mußt du verwalten,
Petre, die hohe Herrschaft mein,
Sollst heute einmal Herrgott sein.
Schaff und gebeut nach deinem Mut,
Sei strenge, hart, mild oder gut;
Gib aus den Fluch oder den Segen,
Gib schön Wetter, Wind oder Regen,
Du magst bestrafen oder belohnen,
Magst plagen, schützen oder schonen —
In Summa, all mein Regiment
Leg‘ heute ich in deine Händ‘.“
Damit der Herrgott seinen Stab
Dem Petrus in die Hände gab,
Petrus war drob gar wohlgemut,
Ihn däucht‘ die Herrlichkeit sehr gut!
Indem kam her ein armes Weib,
Ganz mager, dürr und bleich von Leib,
Barfüßig in zerrissnem Kleide.
Die trieb ihre Geiß hin auf die Weide.
Da sie nun auf die Wegscheid‘ kamen.
Sprach sie: „Geh‘ hin in Gottes Namen!
Gott hüt‘ und schütz‘ dich immerdar,
Daß dir kein Übel widerfahr‘
Von Ungewitter, wilden Tieren,
Denn ich kann dich nicht weiterführen,
Weil ich um Tagelohn arbeite,
Damit ich hab‘ zu essen heute
Daheim mit meinen kleinen Kindern.
Geh‘ hin, wo du tust Weide finden,
Gott hüte dich mit seiner Hand!“
Indem die Frau sich wieder wandt‘
Ins Dorf, die Geiß ging ihre Straß‘.
Da sagt‘ der Herr zu Petrus das:
„Petrus, hast du das Gebet der Armen
Gehört? Du mußt dich ihrer erbarmen,
Weil ja den Tag bist Herrgott du;
Drum stehet dir auch billig zu,
Daß gut du nimmst die Geiß in Hut,
Wie sie von Herzen bitten tut.
Und sie behütest den ganzen Tag,
Daß sie sich nicht verirrt im Hag,
Nicht falle oder werd‘ gestohlen,
Daß Bär und Wolf sie sich nicht holen,
Auf daß sie Abends wiederum
Zurücke ohne Schaden kumm‘
Der armen Fraue in ihr Haus.
Geh‘ hin und rieht‘ das Ding wohl aus.“
Petrus nahm auf des Herren Wort
In seine Hut die Geiß sofort
Und trieb zur Weide sie hindann.
Da fing Sankt Peters Unruh‘ an:
Die Geiß war mutig, jung und frech,
Sie eilte weit von ihm hinweg,
Lief auf der Weide hin und wieder
Und stieg die Berge auf und nieder.
Tat hin und her durch die Büsche laufen.
Petrus mit Ächzen, Prusten, Schnaufen
Mußt‘ immer nachtrollen der Geiß.
Die Sonne schien gar überheiß,
Daß ihm der Schweiß hemiederrann.
Mit Unruh‘ bracht‘ der alte Mann
Den Tag hin bis zum Abend spat;
Ganz macht- und kraftlos, müd‘ und matt
Die Geiß er wieder heimwärts brachte.
Der Herr sah Petrum an und lachte
Und sprach: „Begehrst in deine Händ‘
Du länger noch mein Regiment?“
Drauf Petrus: „Lieber Herre mein,
Nimm wieder hin das Szepter dein
Und deine Macht: ich begehr‘ mit nichten,
Forthin dein Amt noch auszurichten.
Ich merke ja, daß ich kaum weiß,
Wie ich soll lenken eine Geiß
Ohn‘ Angst und viel Mühseligkeit.
0 Herr, vergib mir die Torheit,
Ich will fortan der Herrschaft dein.
So lang‘ ich leb‘, nicht reden ein.“
Der Herr sprach: „Petre, also tu‘.
Dann lebest du in stiller Ruh‘,
Und vertrau‘ in meine Händ‘
Das allmächtige Regiment.“

Andreas Gryphius, Auf Herrn Joachim Spechts Medici Hochzeit

Indem der Sternen Fürst von uns beginnt zu weichen,
Indem der Sommer stirbt, indem das grüne Kleid
Der Wiesen durch den Frost des Herbstes wird gemaiht,
Fängt auch der Vögel Schar an fern von uns zu schleichen.

Drum schauet unser Specht, weil alle Bäum erbleichen.
Auf die der Skorpion sein schädlich Gift ausspeit,
An welchem Ort er doch der Winter Grimmigkeit
Entgeh, und ob für ihn ein Nest sei zu erreichen.

Indem er also sucht, zeigt ihm Cupido an
Den Ort, in dem er sich gar sicher bergen kann;
Drauf ist er, Jungfrau Braut, in Euren Schoß geflogen,

In dem er voll von Lust sich seinen Sitz erkiest;
Und weil er Eurer Gunst gar hoch versichert ist,
Wird mancher junge Specht hier werden auf erzogen.

Martin Opitz, An die Bienen

Ihr Honigvögelein, die ihr von den Violen
Und Rosen abgemeyt den wundersüßen Saft,
Die ihr dem grünen Klee entzogen seine Kraft,
Die ihr das schöne Feld so oft und viel bestohlen,

Ihr, Feldbewohnerinn‘, was wollet ihr doch holen
Das, so euch noch zur Zeit hat wenig Nutz geschafft,
Weil ihr mit Dienstbarkeit des Menschen seid behaft‘,
Und ihnen mehrenteils den Honig müsset zollen?

Kommt, kommt zu meinem Lieb‘! Auf ihrem Rosenmund,
Der mir mein krankes Herz hat inniglich verwund’t,
Da sollt ihr Himmelsspeis‘ euch überflüssig brechen.

Wenn aber Jemand sie will setzen in Gefahr,
Und ihr ein Leid antun, dem sollst du, starke Schar,
Für Honig Galle sein, und ihn zu Tode stechen.

Christian Felix Weiße, Der Geizhals und der Affe

Ein Geizhals hatte einen Affen.
Ein Geizhals sein und den sich anzuschaffen,
Das klingt zwar sonderbar, doch war es wohl bedacht;
Gesellschaft kostet Geld, und Menschen können stehlen;
Der Affe trieb bloß seine Possen bis zur Nacht;
Vor ihm braucht‘ er nichts zu verhehlen,
Er könnt‘ im Gelde wühlen und Dukaten zählen,
Der schwatzte nicht, und kurz, er war nach seinem Sinn.

Einst rief der Glockenschlag ihn nach der Kirche hin;
Denn hier dacht‘ er durch Beten und durch Singen
Dem Himmel neuen Segen abzudringen.
Er ließ aus großer Eil‘ das Schreibpult offen stehn.
Petz, der den Haufen Geld erblickte.
Und den die Langeweile drückte.
Sinnt sich zum Zeitvertreib ein kleines Spielwerk aus.
Er holt ein Goldstück nach dem andern
Und läßt zum Fenster frisch hinaus
Die Louisdor und die Dukaten wandern.
Das war ein Lärmen um das Haus!
Wer laufen konnte, lief, und bald ward vom Gedränge,
So breit die Straße war, der Platz doch viel zu enge.

Ein jeder schrie: „Herr Petz, mir auch ein Stück!“
Man haschte, sprang und fiel, und wem zum Glück
Eins in die Hände fiel, dem kam es hoch zu stehen;
Ein Jubel war’s, dies Schauspiel anzusehen.

Indessen kam der Geizige zurück.
Er sah den Drang und rief: „Was gibt’s für Unglück hier?
Mein Geld! Mein Geld! — 0 weh! Es büße mir,
Komm‘ ich hinauf, verruchter Dieb, dein Blut!“
Hier schwieg er; denn ihm schloß die Lippen seine Wut. „
Herr,“ sprach ein alter Mann, „Herr, mäßigt Eure Hitze!
Das Geld ist Euch wie ihm und ihm wie Euch nichts nütze.
Der Affe wirft es weg, und Ihr? Ihr scharrt es ein.
Wer mag von euch der klügste sein?“

M. G. Lichtwer, Der Vogel Plätea und die Reiger

Der Vogel Plätea, nach andern Pelikan
Nach andern Löffelgans (das Tier hat viele Namen)
Griff einstmals zween Reiger an
Die aus dem nächsten Wasser kamen,
Und jagte diesen Herrn die Fische wieder ab,
Die sie im Teiche weggefangen;
Und strafte sie dabei, daß sie den Raub begangen.
Da dann ein Wort das andre sah.
O, rief ein Reiger: das ist schnöde!
Wir fangen unsre Kost mit Müh,
Ein fauler Schlemmer speiset sie!
Hier fiel der Plätea ihm trotzig in die Rede:
„Wie? Du begehrst noch ungescheut
Gestohlne Sachen zu behalten?
Euch soll man auch die Köpfe spalten!
Es lebe die Gerechtigkeit!“
Es ward der Raub hierauf sofort von ihm verzehret. —
Dergleichen Vogel wohnt noch itzt in mancher Stadt,
Der ebenfalls, wie der, verschiedne Namen hat,
Und die Gerechtigkeit nach seinem Vorteil ehret.
Man klagt darüber hier und da;
Wer zweifelt, frage nur die Leute.
Er straft die Dieberei und nährt sich von der Beute
Als wie der Vogel Plätea.

Pfeffel, Der Retter

Von einem Weih verfolgt, entrann
Ein Haselhuhn in eine Höhle;
Da sprang ein schlimmer Tyrann,
Ein rascher Fuchs, ihm an die Kehle.

Doch schnell macht es ein Jäger frei:
Sein Hund, der ihm die Spur verraten,
Zerriß den Fuchs, er schoß den Weih
Und ließ das gute Hühnchen — braten.

Pfeffel, Der Schakal

Ein Schakal fiel mit wildem Zahn,
Als einst das tapfre Heer der Briten
Am Ganges einen Sieg erstritten,
Die Körper der Erschlagnen an.

„Ha, Frevler!“ rief ein zweiter Trimm
Dem Untier zu, „bist du besessen?
Ich will dich lehren Menschen fressen!“
Er sprachs und zog sein Schwert nach ihm.

„Wer ist,“ so schlug das freche Vieh
Den frommen Zorn des Rächers nieder,
„Die größte Geißel deiner Brüder?
Du tötest, ich begrabe sie.“

Pfeffel, Die Nachtigall und der Star

Die gattenlose Philomele,
Die manche trübe Mitternacht
In leisen Klagen durchgewacht,
War krank und sang mit heitrer Seele
Ihr Abschiedslied. Ein fetter Star,
Der Feldpropst in dem Haine war,
Besuchte sie nach alter Mode.
Er schlich zur frommen Dulderin
Mit abgewandtem Blicke hin
Und sprach, nach mancher Episode,
Vom Krieg und Wetter, auch vom Tode.
„Ach!“ rief er aus, „dies ist ein Feind,
Vor dem auch Helden sich entfärben!“
„Wer Mut zu leben hatte, Freund,“
Versetzt sie, „hat auch Mut zu sterben.“

Pfeffel, Der Fischer und der Delphin

Ein Fischer fuhr an einen Felsen an.
Auf einmal barst sein kleiner Kahn
Und splitterte, wie sprödes Glas, in Stücken.
Er war dem bängsten Tode nah,
Als ihn ein frommer Delphin sah;
Er schwamm herbei, er lud ihn auf den Rücken
Und trug ihn glücklich an den Strand.
Schnell zog der Fischer ihn ans Land
Und sprach mit gnadenreichen Blicken:
„Dein Schicksal ist in meiner Hand;
Doch zum Beweis, daß auch wir Menschen edel denken,
So will ich dir das Leben schenken.“

B. H. Brockes, Die Bienen

Ich sah und hörte mit gar innigem Vergnügen
Die Bienen lieblichen Gemurmels fliegen.
Ich sah sie, teils um sich zu tränken,
Teils Honig und teils Wachs heraus zu ziehn
In jede Blüt‘ mit emsigem Bemühn
Die kleinen rauhen Häupter senken.
Ob sie sich gleich mit ihrem Raub beladen,
Tun sie dennoch den Blumen keinen Schaden;

Ich sah, wie sie die süße Last
Sobald sie etwas aufgefaßt,
Eh sie noch in die Luft mit frohem Summen schwebten,
An ihre Füße künstlich klebten,
Ja es läßt gar zu artig und zu süß,
Wenn manche Bien‘ an beiden Hinterbeinen
Recht ein paar lederne, schöngelbe Höschen wies.

0 wunderbarer Gott, fing ich vor Freuden an,
0 wunderbarer Gott, wer lebt auf dieser Erden,
Der deine weise Macht begreifen kann?
Die kleinste Kreatur erhebt des Schöpfers Preis,
Ein fliegend‘ Würmchen zeigt Witz, Vorsicht, Kunst und Fleiß.
Kein Mensch vermag so, wie die kleine Bien‘,
Aus Blumen Honigseim zu ziehn.
Wir wüßten nicht einmal ohn‘ ihre Lehre,
Daß in den Blumen Honig wäre.

Mein Gott, ach laß das Heer der kleinen Bienen
Mir doch zu einem Lehrbild dienen!
Laß mein betrachtendes Gemüte
Doch auch, wie sie, aus jeder Blüte
Durch die darauf mit Ernst gewandten Augen
Der wahren Andacht Honig saugen.
Laß meine Seele sich, o Gott, zu deinen Ehren
In jeder Blume holden Pracht
An deiner Weisheit, Lieb‘ und Macht
Mit fröhlichen Gedanken nähren!

B. H. Brockes, Der Frosch

In einem nahgelegnen Bach
Hört‘ ich ein lustiges Gewäsche
Geschwätziger und froher Frösche,
Das, ob es gleich die Stille unterbrach,
Mein frohes Denken doch nicht störte.
Ich fand, daß das verworrene Geschrei
Doch immer sei ein Einerlei.
Der eine quakt, viel hundert quarren,
Hier murret einer sanft, wenn dorten tausend knarren.
„Wreckeckeckecks“ schreit der: dort einer: Merk es, merk’s,
Merks!“ schrieen jetzt gar viel. Ich stutzte. Rufest du,
Sprach ich, o kleiner Frosch, dem Menschen: Merk es! — zu.
Gewißlich, du hast recht. Man macht so wenig Werks
Von aller Pracht und Schönheit, die die Welt
Zumal im Frühling, in sich hält,
Von allen göttlichen Geschöpf- und Wunder-Werken,
Daß wir nicht aufs Geschöpf, noch auf den Schöpfer merken;
Daß man gar selten des gedenket,
Der aller Dinge Herr, des Allgewaltigen,
Der alles Herrliche geschaffen und uns schenket,
Zu dem mein froher Dank die Seele lenket.
Ach möchte man doch, daß dies Stumpfheit, fassen
Und sich vom Fröschlein nicht erinnern lassen.
Zum wenigsten geh ich, bist du auch klein,
Beredter Frosch, auf deine Mahnung ein.
Du sollst, so oft du rufst, mein Lehrer,
Dein „Merks“ soll meine Lehre sein! —

Carl Friedrich Wegener, Lebenslauf eines Flohes

So verächtlich auch ein Floh in den Augen der meisten Menschen zu seyn scheint, so sehr auch unser Geschlecht, besonders von dem schönen Ge­schlechte, gehaßt wird, so feindselig man auch uns verfolgt und auszurotten sucht: so merkwürdig sind doch die Begebenheiten manches Flohes und die Rollen, welche er in seiner kurzen Lebenszeit zu spielen hat.

Es ist wahr, wir nähren uns von dem Blute der Menschen; aber — essen nicht auch die Menschen das Blut anderer Thiere? Machen sie nicht von dem Blute der Schweine Würste? Fangen sie nicht das Blut der geschlachteten Gänse sorgfältig auf, um es mit den Köpfen, Flügeln, Magen, Herzen, Lebern, Därmen und Füßen derselben zu kochen? Bedienen sie sich nicht des Ochsen­blutes in ihren Zuckersiedereyen? Und rauben sie nicht diesen Thieren mit dem Blute auch zugleich das Leben? Wer kann aber auftreten und sagen, daß jemals ein Mensch oder ein Thier von einem Floh getödtet worden? Von den Läusen, mit welchen wir oft wider unsern Willen in einer und ebenderselben Herberge wohnen müssen, von diesen verächtlichen, eckelhaften Thieren, welche sich mit uns garnicht vergleichen müssen, weil sie nur bey Gefangenen, bey armen Bettlern und andern armen und geringen Leuten gefunden werden, wir aber auch mit den vornehmsten und liebenswürdigsten Frauenzimmern umgehen können — sagt man zwar, daß sie Menschen bey lebendigen Leibe verzehren; aber so unhöflich, so grausam sind wir nicht. Wir lassen uns bloß das Blut der Menschen gut schmecken, ohne sie übrigens zu verletzen; und das Blut, welches wir ihnen aussaugen, können sie sehr leicht entbehren. Wenigstens werden sie durch den Verlust desselben nicht so entkräftet, als wenn sie sich ohne Noth schröpfen oder eine Ader öffnen lassen.

Überdies ist es ja nicht unsre Schuld, daß die Natur uns das Blut der Men­schen zur Nahrung angewiesen hat. Wären wir Falken, so würden wir uns Lerchen und andere Vögel greifen. Wären wir Füchse, so würden wir junge Hühner und anderes Federvieh schmausen. Wären wir Wölfe, so würden wir uns Lämmer und Schaafe stehlen. Wären wir Menschen, so würden wir viel­leicht auch die Kunst lernen, gekochtes und gebratenes Fleisch, Pasteten und Kuchen zu essen, Bier, Liqueurs, Limonade, Bavaroise, Punsch und Wein zu trinken. Aber wir sind Flöhe. Wir müssen mit der von der Natur für uns bestimmten Speise zufrieden seyn. Wir sind es auch und wir zeigen uns da-bey so mäßig, so bescheiden, als man es von gesitteten Flöhen nur immer fordern kann. Nie wird ein Floh sich durch Unmäßigkeit den Magen ver­derben, nie so viel zu sich nehmen, daß es ihm (wie man solches zuweilen wohl von Menschen siehet) wieder aus dem Halse stürzen müßte. Wir saugen das Blut nicht an solchen Oertern aus, wo man den Abgang desselben merken könnte. Nie wird man einen Floh auf der Wange oder auf den Lippen eines Frauenzimmers sehen. Wir wissen, daß die Frauenzimmer gern rothe Wangen und Lippen haben, daß sie, wenn die Natur ihnen diese Rothe versaget oder die Hand des Alters hinweggewischt oder eine ausschweifende Lebensart ge­raubet hat, diese Theile ihres Gesichtes roth färben. Wir werden uns daher wohl hüthen, ihnen da Blut zu rauben, wo sie es am wenigsten entbehren können. Nur an solchen Theilen ihres Körpers, welche desto reizender scheinen, je weißer sie sind, etwan an dem Halse, an der Brust, am Arme, am Fuße, am Unterleibe, suchen wir unsre Nahrung.

Man schätze also einen Floh nicht so geringe. Mancher Floh hat Gelegen­heit, viele Erfahrungen zu sammeln, wichtige Entdeckungen zu machen, mit den verborgensten Geheimnissen bekannt zu werden, die angenehmsten Reize in der Nähe zu bewundern und überhaupt ein so merkwürdiges Leben zu führen, daß es für die Nachwelt beschrieben zu werden verdient. — Mein Lebenslauf kann hiervon einen deutlichen Beweis geben. Ich will mich demnach nicht erst entschuldigen, daß ich als ein Floh der Welt meinen Lebenslauf vorlege. Er enthält so viel Merkwürdiges, daß man es der Mühe werth finden wird, ihn zu lesen. Von meiner Herkunft weiß ich nicht viel zu sagen.

Meinen ersten Wohnsitz habe ich in der Falte eines rothen Frießrocks ge­habt, welcher einer Köchinn gehörte. Hier habe ich in dem Frühling meines Lebens die ruhigsten und besten Tage gehabt; denn meine Gebieterinn war alt und häßlich, hatte aber sehr fleischige Lenden und süßes Blut. Ihr Frießrock hatte also keine Anfechtungen, sondern hing, am Tage von keiner wol­lüstigen Hand betastet, um das feiste Untertheil ihres Körpers, und lag des Nachts ruhig auf einem Stuhle vor ihrem Bette. Ganz ungestöhrt konnte ich aus meinem warmen Behältnisse auf ihren Körper hüpfen, mich an ihrem ge­sunden Blute satt saugen und dann wieder in mein Quartier zurückkehren. Zuweilen verjagte sie mich zwar von meinen Mahlzeiten, aber sie war zu faul, mich aufzusuchen. Kurz, ich lebte in dem Frießrocke einer alten Köchinn recht zufrieden. So lebt ein Mann im niedrigen Stande ohne Pracht, aber auch ohne Sorgen, ohne glänzendes Glück, aber auch ohne schimmerndes Elend! 0 ihr glücklichen Tage! Warum mußtet ihr so bald verschwinden? Meine Be­sitzerinn verschenkte aus Mitleiden ihren Frießrock und mich an eine ihrer Verwandtinnen, eine junge lüderliche Weibsperson. Bey dieser hatte ich keinen ruhigen Augenblick. Bald mußte ich vor einem Bedienten, bald vor einem Kutscher, bald vor einem Handwerksburschen aus einen Schlupfwinkel in den andern kriechen. Sie selbst stellte mir unablässig nach und hatte mich auch wirklich schon einmal erhascht; aber ich entschlüpfte den Fingern dieser Grau­samen und trieb mich solange in der Kinderstube auf der Erde herum, bis ich Gelegenheit fand, mich bey der Hausfrau, deren Kindermädchen sie war, einzuquartieren. Anfänglich war ich über meine Veränderung sehr vergnügt. Ich fand ein feines, sauberes Hemde, einen Unterrock von dem besten Molton und konnte aus allen Umständen schließen, daß ich an keinem geringen Orte sey. Wie freute ich mich, als ich mich in den feinen, weichen Unterrock ein­genistet hatte! Wie stolz sähe ich von dem Gipfel meines Glücks auf geringere Flöhe herab! Aber ich wurde bald gewahr, daß man nicht immer glücklich ist, wenn man vornehm lebt. Mitten in meinen vornehmen Aufenthalte quälten mich die Nahrungssorgen. Kaum setzte ich meinen kleinen Rüssel etwan an dem Fuße oder in die Seite meiner empfindlichen Besitzerinn an, um mir mein gewöhnliches Nahrungsmittel zu suchen, so sprang sie auf, schimpfte und fluchte auf mich und auf unser ganzes Geschlecht, durchsuchte ihr Hemde, ihre Strümpfe, ihren Unterrock und jagte mir ein solches Schrecken ein, daß ich am ganzen Leibe zitterte. Nur wenn sie in Gesellschaften war oder Besuch bey sich hatte, gelang es mir zuweilen, meinen Hunger zu stillen.  Ich wurde daher so mager wie ein Gerippe. So muß mancher Bewohner eines prächtigen Pallasts sich von bangen Sorgen foltern lassen, sieht um sein Lager blasse Schrecken stehen, und innere Angst verzehret ihn. Acht ganze Tage, für einen Floh ein halbes Jahr, mußte ich in den elendesten Umständen, zwischen Furcht und Angst zubringen. Von ungefähr geriet ich in die Beinkleider eines jungen Menschen, welcher der jungen reizenden Frau zuweilen einen angenehmen Zeitvertreib machte und dafür reichlich beschenkt wurde. In den Beinkleidern wollte es mir garnicht gefallen. Ich hatte zwar in denselben meine völlige Frei­heit und mein reichliches Auskommen, aber eine gewisse natürliche Neigung zu dem schönen Geschlechte erregte in mir den Wunsch, mich bald wieder in den Unterkleidern eines Frauenzimmers zu sehen.  Mein Wunsch wurde auch glücklich erfüllt. Der junge Mensch, dessen Beinkleider mir Zur Woh­nung dienten, war einer von denen säubern Herren, welche die Tempel der Venus fleißig besuchen. Bey einem solchen Besuche wurde ich in das Hemde einer Nymphe versetzt, mit welcher er die von der jungen Ehefrau erhaltenen Geschenke wieder durchbrachte. Von dem starken Gerüche, welcher aus dem mit wohlriechendem Wasser häufig besprengten Hemde und Unterrocke meiner neuen Herrschaft hervorduftete, bekam ich solche heftige Kopfschmerzen, daß mir alle Lust verging, mich nach Lebensmitteln umzusehen. Krank und ver­drießlich saß ich an dem Saume des Rocks, bis mich nach einer Stunde ein alter Herr, dessen Haar das Alter schon ziemlich weiß gebleicht hatte, mit dem Unterfutter seines Nachtkamisols auffieng. Ich konnte mich über die ver­liebte Hitze, mit welcher dieser Greis die Nymphe umarmte, nicht genug wundern.  Beym Weggehen gab er ihr einen harten Thaler und sagte: „Er­fahre ich, daß mein Sohn zu dir geht, so höret unsere Bekanntschaft auf, und du hast keinen Pfennig mehr von mir zu erwarten.“ — Das Unterfutter des Nachtkamisols war warm und weich.  Es wohnte sich ganz bequem in dem­selben, aber die Küche taugte nicht viel. Ein Paar alte dürre Lenden, ein zu­sammengeschrumpfter Leib waren eben nicht eine fette Weide für einen Floh, welcher sehr gesunden Appetit und bey seiner ersten Speisewirthinn — bey der fleischbegabten Köchinn — sieggewohnt hatte, gesundes, süßes Blut mit vollen Zügen einzusaugen. Ich weiß nicht, in was für einer Verbindung mein alter Wirth mit der ebenfalls schon ziemlich betagten Priorinn eines Klosters stand.   Genug, ich wurde bey einer heimlichen Unterredung mit derselben durch vieles Schütteln und Reiben genöthiget, zu ihr hinüber zu springen und in ihrem welken Busen eine Ruhestätte zu suchen. „In einem Kloster (dachte ich) wird man doch ein ruhiges Leben führen können.“ Aber wie sehr betrog ich mich in meiner Hoffnung! Nirgends hatte ich weniger Ruhe gehabt, als ich bey der alten Priorinn fand.  Mehr als einmal des Tages zog sie sich bis auf das Hemde aus, waschte sich den Hals, die Brüste, den Leib und rieb sich fast die Haut ab. (Sollte man wohl glauben, daß ein altes Weib noch so eitel seyn könnte?) Ich wußte alsdann nicht, wohin ich meine Zuflucht nehmen sollte. Verwünscht sey das Klosterleben! Verwünscht die Eitelkeit alter Weiber, welche sich noch das Fell reiben, um weiß zu werden und den Manns­personen zu gefallen! Ein Zufall erlöste mich aus den Kloster. Als meine Priorinn eine kranke Nonne besuchte, bey welcher sich der Beichtvater be­fand, war ich begierig, die Nonne, von deren Schönheit man im ganzen Kloster sprach, zu sehen. Ich wagte es, durch den Aermel der Priorinn auf ihre Hand zu kriechen, um sowohl die schöne Nonne zu sehen, als auch ein wenig frische Luft zu schöpfen. Sie wurde mich gewahr und wollte mich greifen; hatte auch schon einen von meinen langen Hinterfüßen zwischen ihren knöchernen Fin­gern ; aber ich ließ ein Gelenke von meinem Fuße im Stiche und hüpfte mit einem Balletsprunge in das Bette der kranken Nonne. — „Das verfluchte Un­geziefer (rief sie hinter mir her) ist so verwegen, daß es nicht einmal vor unserm heiligen Blute Respekt hat!“ Die kranke Nonne gab ihr zu verstehen, daß sie wegen einer Gewissenssache sich gern mit dem Pater allein unterreden möchte. Die Priorinn, welche sich vielleicht oft in einem ähnlichen Falle befunden hatte, begab sich hinweg, und der Pater untersuchte die Gewissenssache der schönen Kranken so genau, daß ich in seinen Ordenshabit eingewickelt aus dem Bette und endlich auch aus dem Kloster kam. Wie solches zugegangen, weiß ich selbst nicht; und wenn ich es auch wüßte, so würde ich es doch nicht sagen. Ein Floh muß verschwiegen seyn. Was würde daraus entstehen, wenn wir Flöhe alles, was wir sehen und hören, verrathen wollten? — Der Pater mußte an ebendemselben Tage noch mehrere Kranken besuchen. Unter sel­bigen befand sich eine junge Ehefrau, welche sich über die kaltsinnigen Be­gegnungen ihres Mannes krank gegrämt hatte und Trost begehrte. Es war eine heiße Sommernacht. Um das Amt eines Trösters desto kräftiger verwalten zu können, legte der Pater seinen Ordenshabit, in dessen Aermel ich zu logieren ge­würdiget wurde, auf einen Stuhl. Der Ehemann überraschte ihn. Der Tröster entsprang und ließ seinen Ordenshabit zurück. Ganz kaltblütig sagte der Ehe­mann: „Man muß dem ehrlichen Mann seinen Habit nachschicken.“ Er rief auch würkhch seinen Hausknecht: „Geht zu dem Pater xxx, macht ihm ein Kompliment von mir und sagt: ich schickte ihm seinen Habit, den er hier vergessen hätte.“ Der Hausknecht überbrachte dem beschämten Pater seinen Habit und mich. Ich blieb ganz still im Aermel sitzen. Der Pater wurde krank. Ich hatte also Zeit, meinen Lebenslauf aufzusetzen, ob ich gleich bey dieser gelehrten Arbeit, so wie die meisten Schriftsteller, hungern mußte. — Was mir weiter begegnet ist, das werde ich vielleicht künftig erzählen.

Ludwig Hölty, Auf den Tod einer Nachtigall

Sie ist dahin, die Maienlieder tönte,
Die Sängerin;
Die durch ihr Lied den ganzen Hain verschönte,
Sie ist dahin!
Sie, deren Ton mir in die Seele hallte,
Wenn ich am Bach,
Der durch Gebüsch im Abendgolde wallte,
Auf Blumen lag!

Sie gurgelte, tief aus der vollen Seele,
Den Silbersohlag:
Der Wiederhall in seiner Felsenhöhle
Schlug leis‘ ihn nach.
Die ländlichen Gesang‘ und Feldschalmeien
Erklangen drein;
Es tanzeten die Jungfrau’n ihre Reihen
Im Abendschein.

Auf Moose horcht‘ ein Jüngling mit Entzücken
Dem holden Laut,
Und schmachtend hing an ihres Lieblings Blicken
Die junge Braut:
Sie drückten sich bei jeder deiner Fugen
Die Hand einmal,
Und hörten nicht, wenn deine Schwestern schlugen,
0 Nachtigall!

Sie horchten dir, bis dumpf die Abendglocke
Des Dorfes klang,
Und Hesperus, gleich einer goldnen Flocke,
Aus Wolken drang;
Und gingen dann im Wehn der Maienkühle
Der Hütte zu,
Mit einer Brust voll zärtlicher Gefühle,
Voll süßer Ruh.

Ludwig Hölty, An ein Johanniswürmchen

Helle den Rasen, lieber Glühwurm, helle
Diese wankenden Blumen, wo mein Mädchen
Abendschlummer schlummerte, wo ich ihre
Träume belauschte!

Helle den Rasen, lieber Glühwurm, daß ich
Jede wankende Frühlingsblume küsse,
Jedes Silberglöckchen des grünen Rasens
Fülle mit Tränen!

A. F. E. Langbein, Die Wachtel und ihre Kinder

Hoch wallte das goldene Weizenfeld
und baute der Wachtel ein Wohngezelt.
Sie flog einst früh in Geschäften aus
Und kam erst am Abend wieder nach Haus.
Da rief der Kindlein zitternde Schar:
Ach, Mutter, wir schweben in großer Gefahr!
Der Herr dieses Feldes, der furchtbare Mann,
ging heut‘ mit dem Sohn hier vorbei und begann:
Der Weizen ist reif, die Mahd muß gescheh’n,
geh‘, bitte die Nachbarn, ihn morgen zu mäh’n.
Oh, sagte die Wachtel, dann hat es noch Zeit!
Nicht flugs sind die Nachbarn zu Diensten bereit.

Drauf flog sie des folgenden Tages aus
und kam erst am Abend wieder nach Haus.
Da rief der Kindlein zitternde Schar:
Ach, Mutter, wir schweben in neuer Gefahr!
Der Herr dieses Feldes, der furchtbare Mann,
ging heut‘ mit dem Sohn hier vorbei und begann:
Uns ließen die treulosen Nachbarn im Stich!
Geh‘ rings nun zu unsern Verwandten und sprich:
Wollt ihr meinen Vater recht wohlgemut seh’n,
so helfet ihm morgen sein Weizenfeld mäh’n.
Oh, sagte die Wachtel, dann hat es noch Zeit!
Nicht flugs ist die Sippschaft zur Hilfe bereit.

Drauf flog sie des folgenden Tages aus
und kam erst am Abend wieder nach Haus.
Da rief der Kindlein zitternde Schar:
Ach, Mutter, wir schweben in höchster Gefahr!
Der Herr dieses Feldes, der furchtbare Mann,
ging heut‘ mit dem Sohn hier vorbei und begann:
Uns ließen auch unsre Verwandten im Stich;
ich rechne nun einzig auf dich und auf mich.
Wir wollen, wenn morgen die Hähne kräh’n,
selbander uns rüsten, den Weizen zu mäh’n.
Ja, sagte die Wachtel, nun ist’s an der Zeit!
Macht schnell euch, ihr Kinder, zum Abzug bereit;
wer Nachbarn und Vettern die Arbeit vertraut,
dem wird ein Schloß in der Luft gebaut;
doch unter dem Streben der eigenen Hand
erblüht ihm des Werkes vollendeter Stand. —

Die Wachtel entfloh mit den Kleinen geschwind,
und über die Stoppeln ging tags drauf der Wind.

A. F. E. Langbein, Der Adler und die Schnecke

Adler: Wie find ich dich, du träges Tier,
Auf diesem Eichenwipfel hier?
Wie kamst du her? So rede doch!

Schnecke: Je nun — ich kroch.
Sein hohes Ehrenamt gewann
Nicht anders mancher Schneckenmann.

Abraham Gottheit Kästner, Der Gärtner und der Schmetterling

Ach gönne mir das Glück, mein Leben frei zu enden!
so bat ein Schmetterling in seines Fängers Händen.
„Noch wenig Tage sind zum Fliegen mir erlaubt,
was hilft die Grausamkeit, die mir auch diese raubt?
Du weißt, der Blumen Schmuck wird nicht durch mich versehret,
ein unvermißter Saft ist alles, was mich nähret.“

„Dein Flehen bringt mich nicht zu unbedachter Huld,“
sagt ihm der Gärtner drauf, „stirb jetzt für alte Schuld;
wollt‘ ich der Raupe Tat dem Schmetterling vergeben,
so wird sie hundertfach in deinen Jungen leben.“
Auch bei der Bess’rung Schein befiehlt des Bösen Tod
das Übel, das er tat, und mehr noch, das er droht.

Friedrich von Matthisson, Grabschrift einer Nachtigall

Still im Lorbeergebüsch ruht Philomelens
Leichter Schleier. Die Liebesgötter klagten,
Als ihr zärtlicher Maigesang verstummte.
Aber selig und frei entflog ihr Schatten
Zum elysischen Hain; dort neben Sapphos
Und Anakreons Amaranthenlaube
Woh nt in ewiger Jugend nun die holde
Frühlingssängerin. Wirf ein Lorbeerblättchen
Auf ihr Grabmal, o Wandrer! Ihren Manen
Opfr‘ ein liebendes Weib die erste Rose.

Friedrich von Matthisson, Der Schmetterling

Schöne Sylphide schweb‘ in Frühlingsäther,
Fleug‘ von Rose zu Rose! Schau im Bache
Fröhlich deine Blumengestalt vom zarten
Sprößling der Myrthe!

Heiter sei deines Daseins Maitag! Nimmer
Müss* ein Bienchen dich schrecken, wo du Nektar
Trinkst, und schonend fliege dir stets Cytherens
Vogel vorüber.

Wenn dich der Orkus aufnimmt, ruh‘ im Kranze
Platon’s, welcher, wie du der armen Menschheit,
Wonne, die Entschleierung Psyche’s, lehrte,
Schöne Sylphide!

Moritz Aug. v. Thümmel, Der Vogelsteller

Die Liebe und der Vogelfang
sind ziemlich einerlei,
es lockt der männliche Gesang,
er lockt — er lockt
Vögel und Mädchen herbei.

Sie achten ihrer Schwäche nicht,
denn ihre Herzen
sind in jugendlicher Zuversicht
betäubt — betäubt,
liebevoll, fröhlich und blind.

Zwar bei dem ersten Ausflug ist
das Vögelchen verzagt,
hält jeden Laut für Hinterlist,
wohin, wohin
es seine Flügelchen wagt.

Doch hüpft es bei dem zweiten Flug
mit jubelndem Geschwätz
von Baum zu Baum und dünkt sich klug
und hüpft, und hüpft
dem Vogelsteller ins Netz

Joh. Christ. Lichtenberg, Fragment von Schwänzen

Silhouetten.
Fragment von Schwänzen.
1. Heroische, kraftvolle.
A. Ein Sauschwanz.
B. Englischer Doggenschwanz.

A.

Wenn du in diesem Schwanz nicht siehest, lieber Leser, den Teufel in Sauheit, (obgleich hoher Schweinsdrang bei a) nicht deutlich erkennest den Schrecken Israels in c, nicht mit den Augen riechst, als hättest du die Nase drin, den niedern Schlamm, in dem er aufwuchs bei d, und nicht zu treten scheinst in den Abstoß der Natur und den Abscheu aller Zeiten und Völker, der sein Element war — so mache mein Buch zu; so bist du für Physiognomik verloren.

Dieses Schwein, sonst geborenes Ur-Genie, luderte Tagelang im Schlamm hin; vergiftete ganze Straßen mit unaussprechlichen Mistgeruch, brach in eine Synagoge bei der Nacht, und entweihete sie scheußlich; fraß, als sie Mutter ward, mit unerhörter Grausamkeit drei ihrer Jungen lebendig, und als sie endlich ihre kannibalische Wut an einem armen Kinde auslassen wollte, fiel sie in das Schwert der Rache, sie ward von den Bettelbuben erschlagen, und von Henkersknechten halb gar gefressen.

B.

Der du mit menschlichem warmen Herzen die ganze Natur umfängst, mit andächtigem Staunen dich in jedes ihrer Werke hinführst, lieber Leser, teurer Seelenfreund, betrachte diesen Hundeschwanz, und bekenne, ob Alexander, wenn er einen Schwanz hätte tragen wollen, sich eines solchen hätte schämen dürfen. Durchaus nichts weichlich, „hundselndes, nichts damenschösigtes, zuckernes,“ mausknapperndes, winziges Wesen. Überall Mannheit, Drang­druck, hoher erhabener Bug und ruhiges, bedächtliches, kraftherbergendes Hinstarren, gleichweit entfernt von untertänigem Verkriechen, zwischen den Beinen, und hühnerhündischer, wildwitternder, ängstlicher, unschlüssiger Horizontalität. Stürbe der Mensch aus, wahrlich der Szepter der Erde fiele an diese Schwänze. Wer fühlt nicht hohe, an menschliche Idiotität angrenzende Hundheit in der Krümmung bei a. An Lage wie nach der Erde, an Bedeutung wie nach dem Himmel. Liebe, Herzenswonne, Natur, wenn du dereinst dein Meisterstück mit einem Schwänze zieren willst, so erhöre die Bitte deines bis zur Schwärmerei warmen Dieners und verleihe ihm einen wie B.

Dieser Schwanz gehörte Heinrich des VIII. Leibhunde zu. Er hieß und war Cäsar. Auf seinem Halsbande stand das Motto: aut Caesar, aut nihil, mit goldenen Buchstaben, und in seinen Augen eben dasselbe, weit leserlicher und weit feuriger. Seinen Tod verursachte ein Kampf mit einem Löwen, doch starb der Löwe fünf Minuten früher als Cäsar. Als man ihm zurief: Marx der Löwe ist tot, so wedelte er dreimal mit diesem verewigten Schwänze, und starb als ein gerochener Held.

Molliter ossa quiescant.

c.

Silhouette vom Schwänze eines, leider! zur Mettwurst bereits bestimmten Schweins-Jünglings in G . .. von der größten Hoffnung, den ich allen warmen, elastischen, beschnittenen und unbeschnittenen Genie ausbrütenden Stutzern, von Mensch- und Sauheit bitterweinend empfehle. Fühlt’s, hört’s! und Donner werde dem Fleischer, der dich anpackt.

Noch zur Zeit nicht ganz entferkelt; mutterschweinische Weichmut im schlappen Hang, und läppische Milchheit in der Fahnenspitze. Aber doch bei p schon keimendes Korn von Keilertalent; ja wäre bei M nicht sichtbarlich städtische Schwäche und mehr Spickespeck, als Heugeist, und wäre unter dem Schwanz bei o minder Rauchkammer- als Ruhms-Tempel, und minder Mettwurst als Triumph, so sagte ich: dein Ahnherr überwand den Adonis, und der Ebergeist des Herkules-Bekämpfers ruht auf deinem Schwanz.

Einige Silhouetten von unbekannten meist tatlosen Schweinen, a b c d e f verstümmelt.

a, schwach arbeitende Tatkraft; b, physischer und moralischer Speck; c, unverständlich, entweder monströs oder Himmelsfunken lodernder Keim vom Wanderer zertreten; d) vermutlich verzeichnet, sonst blendender, auffahrender Eberblitz; f) Kraft mit Speck vertatloset.

Acht Silhouetten von Purschenschwänzen zur Übung. D. 12345678

Erklärungen.

D. 1. Ist fast Schwanz-Ideal. Germanischer eiserner Elater im Schaft; Adel in der Fahne; offensiv liebende Zärtlichkeit in der Rose; aus der Richtung fletscht Philistertod und unbezahltes Konto. Durchaus mehr Kraft als Be­sonnenheit.

2 Hier überall mehr Besonnenheit als Kraft. Ängstlich gerade, nichts Hohes, Aufbrausendes, weder Newton noch Rüttgerott1, süßes Stutzerpeitschchen, nicht zur Zucht, sondern zur Zierde, und zartes Marzipanherz ohne Feuer-Puls. Ein Liedchen sein höchster Flug, ein Küßchen sein ganzer Wunsch.

3 Eingezwängter Fülldrang. Eine Pulvertonne unter einem Feuerbecken vergessen, wenns auffliegt, füllts die Welt. Edler, vortrefflicher Schwanz, englisch in beiderlei Verstand. Schade, daß du von sterblichem Nacken her­abstarrst. Flögst du durch die Himmel, die Kometen würden sprechen: welcher unter uns will es mit ihm aufnehmen. Studiert Medizin.

4 Satyrmäßig verdrehte Meerettigform. Der Kahlköpfigkeit letzter Tribut, an Schwanzheit bezahlt. Alte Feldmarschallskraft, zu Fähndrichs-Natur aufpomadet, aufgekämmt und aufaffektiert. Kampf zwischen Natur und Kunst,   wo beide auf dem Platze bleiben. Strecke du das Gewehr, armer Teufel, und laß die Perücke einmarschieren.

5 An Schneidergesellheit und Lade grenzende schöne Literatur. In dem scharfen Winkel, wo das Haar den Bindfaden verläßt, wo nicht Goethe, doch gewiß Bethge, hoher Federzug mit Nadelstich. Polemik irr der horizontalen Richtung, Freitisch in der Quaste. In der fast zu dünne gezeichneten Wurzel Winzigkeit mit Hände reibender Pusillanimität. Informiert auf dem Klaviere.

6 Sicherlich entweder junger Kater oder junger Tiger, mit einem Haar-Übergewicht zum letztern.

7 Abscheulich. Ein wahrhaftes Pfui! Wie kannst du an einem Kopf ge­sessen haben, den Musen geheiligt. Im trunkenen Streit mußt du vielleicht einmal irgendeinem Badergesellen oder Stadtmusikanten entrissen und aus Triumph am Purschenhaar geknüpft sein. Elendes Werk, nicht der Natur, sondern des Seilwinders. Hanf bist du, und als Hanf hättest du dich besser geschickt, den Hals deines geschmacklosen Besitzers an irgendeinen Galgen zu schnüren.

8 Heil dir und ewiger Sonnenschein, glückseliges Haupt, das dich trägt. Stünde Lohn bei Verdienst, so müßtest du Kopf sein, vortrefflicher Zopf, und du Zopf beglückter Kopf. Welche Güte in dem seidenen zarten Abhang, wirkend ohne Hanf herbergendes maskierendes Band, und doch Wonne lächelnd wie geflochtene Sonnenstrahlen.

Soweit über selbst gekrönte Haarbeutel als Heiligenglorie über Nachtmütze.

Sechs solcher Schwänze in einer Stadt und ich wollte barfuß deine Tore suchen, du Gesegnete, die Schwelle deines Rathauses küssen und mich glück­lich preisen, mit meinem eigenen Blut unter die Zahl deiner letzten Beisassen eingezeichnet zu werden.

Fragen zur weitern Übung.

Welcher ist der kraftvollste?
Welcher hat am meisten Tatstarrendes?
Welcher Schwanz wird schwänzen?
Welcher ist der Jurist?, der Mediziner?, der Theologe?, der Weltweise?,
der Taugenichts?, der Taugewas?
Welcher ist der verliebteste?
Welcher alterniert mit dem Haarbeutel?
Welcher hat den Freitisch?
Welchen könnte Goethe getragen haben?
Welchen würde Homer wählen, wenn er wiederkäme?

Matthias Claudius, Fuchs und Bär

Kam einst ein Fuchs vom Dorfe her
Früh in der Morgenstunde
Und trug ein Huhn im Munde;
Und es begegnet ihm ein Bär.
„Ah! guten Morgen, gnäd’ger Herr!
Ich bringe hier ein Huhn für Sie;
Ihr‘ Gnaden promenieren ziemlich früh,
Wo geht die Reise hin?“
„Was heißest du mich gnädig, Vieh!
Wer sagt dir, daß ich’s bin?“
„Sah Dero Zahn, wenn ich es sagen darf,
Und Dero Zahn ist lang und scharf.“

Matthias Claudius, Nachricht vom Genie

Ein Fuchs traf einen Esel an.
Herr Esel! sprach er, jedermann
Hält Sie für ein Genie, für einen großen Mann!
„Das wäre!“ fing der Esel an,
„Hab‘ doch nichts Närrisches getan.“

Matthias Claudius, Der Esel

Hab nichts, mich dran zu freuen,
Bin dumm und ungestalt,
Ohn‘ Mut und ohn‘ Gewalt;
Mein spotten und mich scheuen
Die Menschen, jung und alt;
Bin weder warm noch kalt;
Hab‘ nichts, mich dran zu freuen.
Bin dumm und ungestalt;
Muß Stroh und Disteln käuen;
Werd‘ unter Säcken alt —
Ah, die Natur schuf mich im Grimme!
Sie gab mir nichts als eine schöne Stimme.

Matthias Claudius, Das von dem Schneider und dem Elefanten in Surate

Vorläufig muß ich sagen, daß hier die Rede von einem asiatischen Schneider sei, der von den europäischen ganz verschieden ist. Ich habe einen nahen Anverwandten, der ’n Schneider ist; der möchte sonst meinen, daß ich ihn und sein löbliches Handwerk beleidigen wollte, und das will ich nicht.

Der Elefant saß also an der Tür, und der Schneider ward zur Tränke ge­trieben — umgekehrt! Der Elefant ward zur Tränke getrieben, und der Schnei­der saß an der Tür und hatte Äpfel neben sich stehen; und als der Elefant an die Äpfel kam, stand er stille, streckte seinen Rüssel hin und holte einen nach dem andern weg. Der Schneider wollte die Äpfel lieber selbst essen, und als der Rüssel wieder kam, stach er mit seiner Nadel hinein, und der Elefant sagte P“r“r“r“r“r“rm und ging weiter zur Tränke, trank sich satt und nahm einen Rüssel voll Wasser mit zurück. Und als er wieder an den Schneider kam, stellte er sich grade vor ihm hin und blies ihm das Wasser ins Gesicht und über den ganzen Leib und ging weg.

Die Herren Menschen könnten von dem Elefanten etwas lernen und sollten, wenn sie sich doch ’nmal rächen wollten, ihren Rüssel, wie er, nur voll Wasser nehmen; das wäre nicht ganz geschenkt, und Arm‘ und Beine blieben ganz. Sie dünken sich so doch mehr als Elefanten und sind’s auch. Ja wohl, die Menschen sind mehr als alle Tiere, das ist leicht zu beweisen, wie folgt:

„Die Biber und Elefanten werden für die klügsten unter allen Tieren ge­halten ; nun hat man aber, zu geschweigen, daß bei beiden Tierarten nicht die geringste Spur von Subskription zu finden ist, niemals gehört, daß ’n Elefant einen Hexameter gemacht, oder die Biber einen Musenalmanach herausge­geben hätten. Beides vermögen aber die Menschen; sie haben schon viele tausend Hexameter gemacht und geben alljährlich an die sieben Musen­almanachs heraus, und der von Johann Heinrich Voß bei Karl Bohn soll bis dato der prinzipalste von allen sein; und also ist der Mensch prinzipaler als alle Tiere.“

Matthias Claudius, Schreiben eines parforcegejagten Hirschen an den Fürsten, der ihn parforcegejagt hatte, d. d. jenseits des Flusses

Durchlauchtiger Fürst, Gnädigster Fürst und Herr! Ich habe heute die Gnade gehabt, von Ew. Hochfürstlichen Durchlaucht parforcegejagt zu werden; bitte aber untertänigst, daß Sie gnädigst geruhen, mich künftig damit zu verschonen. Ew. Hochfürstliche Durchlaucht sollten nur einmal parforcegejagt sein, so würden Sie meine Bitte nicht unbillig finden. Ich liege -hier und mag meinen Kopf nicht aufheben, und das Blut läuft mir aus Maul und Nüstern. Wie können Ihr‘ Durchlaucht es doch übers Herz bringen, ein armes, unschuldiges Tier, das sich von Gras und Kräutern nährt, zu Tode zu jagen? Lassen Sie mich lieber tot schießen, so bin ich kurz und gut davon. Noch einmal, es kann sein, daß Ew. Durchlaucht ein Vergnügen an dem Parforcejagen haben; wenn Sie aber wüßten, wie mir noch das Herz schlägt, Sie täten’s gewiß nicht wieder, der ich die Ehre habe zu sein mit Gut und Blut bis in den Tod usw. usw.

  1. P. Hebel, Der Star von Segringen

Selbst einem Staren kann es nützlich sein, wenn er etwas gelernt hat, wie­viel mehr einem Menschen. — In einem respektablen Dorfe, ich will sagen in Segringen, es ist aber nicht dort geschehen, sondern hier zu Lande, und der­jenige, dem es begegnet ist, liest vielleicht in diesem Augenblick, nicht der Star, aber der Mensch. In Segringen der Barbier hatte einen Star, und der wohlbekannte Lehrjunge gab ihm Unterricht im Sprechen. Der Star lernte nicht nur alle Wörter, die ihm sein Sprechmeister aufgab, sondern er ahmte zuletzt auch selber nach, was er von seinem Herrn hörte, zum Exempel: „Ich bin der Barbier von Segringen.“ Sein Herr hatte noch allerlei Redensarten an sich, die er bei jeder Gelegenheit wiederholte, zum Exempel: „So so, lala,“ oder „Par Compagnie“ (das heißt so viel als: „In Gesellschaft mit andern“); oder „Wie Gott will,“ oder „Du Tolpatsch.“ So titulierte er näm­lich insgemein den Lehrjungen, wenn er das halbe Pflaster auf den Tisch strich, anstatt aufs Tuch, oder wenn er das Scheermesser am Rücken abzog, anstatt die Schneide, oder wenn er ein Gütterlein verheite. Alle diese Redens­arten lernte nach und nach der Star auch. Da nun täglich viele Leute im Haus waren, weil der Barbier auch Branntwein ausschenkte, so gab’s manchmal viel zu lachen, wenn die Gäste miteinander ein Gespräch führten, und der Star warf auch eins von seinen Wörtern drein, das sich dazu schickte, als wenn er den Verstand davon hätte, und manchmal, wenn ihm der Lehrjunge rief: »Hansel, was machst du?“ antwortete er: „Du Tolpatsch!“ und alle Leute >n der Nachbarschaft wußten von dem Hansel zu erzählen. Eines Tages aber, als ihm die beschnittenen Flügel wieder gewachsen waren, und das Fenster war offen und das Wetter schön, da dachte der Star: Ich hab‘ jetzt schon so viel gelernt, daß ich in der Welt kann fortkommen, und husch zum Fenster hinaus. Weg war er. Sein erster Flug ging ins Feld, wo er sich unter eine Gesellschaft anderer Vögel mischte, und als sie aufflogen, flog er mit ihnen, denn er dachte: Sie wissen die Gelegenheit hier zu Lande besser als ich. Aber sie flogen unglücklicherweise alle miteinander in ein Garn. Der Star sagte: „Wie Gott will.“ Als der Vogelsteller kommt und sieht, was er für einen großen Fang getan hat, nimmt er einen nach dem andern behutsam heraus, drehte ihm den Hals um und wirft ihn auf den Boden. Als er aber die mörderischen Finger wieder nach einem Gefangenen ausstreckte und denkt an nichts, schrie der Gefangene: „Ich bin der Barbier von Segringen.“ Als wenn er wüßte, was ihn retten muß. Der Vogelsteller erschrak anfänglich, als wenn es hier nicht mit rechten Dingen zuginge, nachher aber, als er sich erholt hatte, konnte er kaum vor Lachen zu Atem kommen; und als er sagte: „Ei, Hansel, hier hätt ich dich nicht gesucht, wie kommst du in meine Schlinge?“ da antwortete Hansel: „Par Compagnie.“ Also brachte der Vogelsteller den Star seinem Herrn wieder und bekam ein gutes Fanggeld. Der Barbier aber erwarb sich damit einen guten Zuspruch, denn jeder wollte den merkwürdigen Hansel sehen, und wer jetzt noch weit und breit in der Gegend will zur Ader lassen, geht zum Barbier von Segringen.

Merke: So etwas passiert einem Staren selten. Aber schon mancher junge Mensch, der auch lieber herumflankieren, als daheim bleiben wollte, ist eben­falls par Compagnie in die Schlinge geraten und nimmer wieder heraus kommen.

Gottfried August Bürger, Die Esel und die Nachtigallen

Es gibt der Esel, welche wollen,
Daß Nachtigallen hin und her
Des Müllers Säcke tragen sollen.
Ob recht, fällt mir zu sagen schwer.
Das weiß ich: Nachtigallen wollen
Nicht, daß die Esel singen sollen.

Gottfried August Bürger, Münchhausen erzählt . . .

Sie haben unstreitig, meine Herren, von dem Heiligen und Schutzpatron der Weidmänner und Schützen, St, Hubert, nicht minder auch von dem stattlichen Hirsche gehört, der ihm einst im Walde aufstieß und welcher das heilige Kreuz zwischen seinem Geweihe trug.   Diesem Sankt habe ich noch alle Jahre mein Opfer in guter Gesellschaft dargebracht und den Hirsch wohl tausendmal sowohl in Kirchen abgemalt als auch in die Sterne seiner Ritter gestickt gesehen, so daß ich auf Ehre und Gewissen eines braven Weidmanns kaum zu sagen weiß, ob es entweder nicht vorzeiten solche Kreuzhirsche ge­geben habe oder wohl gar noch heutigestages gebe. Doch lassen Sie sich viel­mehr erzählen, was ich mit meinen eigenen Augen sah. Einst, als ich alle mein Blei verschossen hatte, stieß mir ganz wider mein Vermuten der stattlichste Hirsch von der Welt auf. Er blickte mir so mir nichts dir nichts ins Auge, als ob ers auswendig gewußt hätte, daß mein Beutel leer war. Augenblicklich lud ich indessen meine Flinte mit Pulver und darüberher eine ganze Hand voll Kirschsteine, wovon ich, so hurtig sich das tun ließ, das Fleisch abgesogen hatte. Und so gab ich ihm die volle Ladung mitten auf seine Stirn zwischen das Geweihe. Der Schuß betäubte ihn zwar — er taumelte —, machte sich aber doch aus dem Staube. Ein oder zwei Jahre darnach war ich in eben­demselben Walde auf der Jagd; und siehe, zum Vorschein kam ein statt­licher Hirsch, mit einem vollausgewachsenen Kirschbaume, mehr denn zehn Fuß hoch, zwischen seinem Geweihe. Mir fiel gleich mein voriges Abenteuer wieder ein; ich betrachtete den Hirsch als mein längst wohlerworbenes Eigen­tum und legte ihn mit einem Schusse zu Boden, wodurch ich denn auf einmal an Braten und Kirschtunke zugleich geriet. Denn der Baum hing reichlich voll Früchte, die ich in meinem ganzen Leben so delikat nicht gegessen hatte. Wer kann nun wohl sagen, ob nicht irgendein passionierter heiliger Weidmann, ein jagdlustiger Abt oder Bischof, das Kreuz auf eine ähnliche Art durch einen Schuß auf St. Huberts Hirsch zwischen das Gehörne gepflanzt habe? Denn diese Herren waren ja von je und je wegen ihres Kreuz- und — Hörnerpflanzen» berühmt und sind es zum Teil noch bis auf den heutigen Tag.

Anonymus 1540, Der Bär und die Bauern

Es gingen drei Bauern und suchten einen Bärn,
Und als sie ihn funden, da hättens ihn gern.

Der Bär, der tat sich gegen sie aufleinen,
„Ach Maria, Gottes Mutter; wären wir daheimen!“

Sie fielen alle nieder auf ihre Knie:
„Ach Maria, Gottes Mutter, der Bär ist noch hiel“

Vogelhochzeit

Es wollt ein Vogel Hochzeit machen
Wohl in dem grünen Walde.

Der Sperber, der Sperber,
Der war der Hochzeitswerber.

Der Sperling, der Sperling,
Der bracht der Braut den Fingerring.

Die Schneppe, die Schneppe,
Die trug der Braut die Schleppe.

Die Lerche, die Lerche,
Die führt die Braut zur Kirche.

Der Auerhahn, der Auerhahn,
Der war der Priester und Kaplan.

Der Seidenschwanz, der Seidenschwanz,
Der führt die Braut zum Hochzeitstanz.

Die Gänse und die Anten,
Das waren die Musikanten.

Die Taube, die Taube,
Die bracht der Braut die Haube.

Der Star, der Star,
Der flocht der Braut das Haar.

Der Specht, der Specht,
Der macht der Braut das Bett zurecht.

Die Ammer, die Ammer,
Die führt das Brautpaar in die Kammer.

Der Uhu, der Uhu,
Der macht die Fensterläden zu.

„So mein Igel“

Ein Schneider und ein Ziegenbock, ein Leineweber und ein Igelkopf,
Ein Kürschner und eine Katze, nun wohlan; die tanzen auf einem Platze.
So mein Igel so, so mein Igel so.

Die Leinweber hätten sich eins vermessen, bey dem Bier und da sie sessen.
Sie wollen in das Holz fahren, nun wohlan, sie wollen den Igel tot schlagen,
So mein Igel so, so mein Igel so.

Und das erhörte die Fledermaus, sie ging wohl vor des Igels Haus,
Igel lieber Herr, nun wohlan, die Leinwebers dräuen dich sehre.
So mein Igel so, so mein Igel so.

Der Igel war ein zorniger Mann, er zog zwei blanke Sporen an,
Blank biss auf Erden, nun wohlan, gegen die Leinwebers wollte er sich wehren.
So mein Igel so, so mein Igel so.

Die Kurtzweil währte da nicht lang, die Schwerter gingen klingenklang,
Der Leinweber wollt sich bücken, nun wohlan, vor dem Igel mußt er sich strecken
So mein Igel so, so mein Igel so.

Ach lieber Igel laß mich leben, ich will dir meine Schwester geben,
Meine Schwester Grete, nun wohlan, sie kann die Spulen schießen,
So mein Igel so, so mein Igel so.

Und deine Schwester will ich nicht, sie ist eine böse, böse Hure,
Sie ist mir ungetreue, nun wohlan, sie stillt mir das vierte Kläwen,
So mein Igel so, so mein Igel so.

Sie stahl mir einen Umehang, der war wohl vierzig Ellen lang,
Sie nahm ihn auf den Rücken, nun wohlan, sie lief damit über eine Brücke,
So mein Igel so, so mein Igel so.

Sie lief wohl einen Berg hinan, da sah die Frau und auch der Mann;
Das sahen alle Leute, nun wohlan, was will uns das bedeuten,
So mein Igel so, so mein Igel so.

Sie liefen wohl hinter einen grünen Busch, da spielten sie beide ihres Herzenlust,
Da lebten sie in Freuden, nun wohlan, damit hat die Lieb ein Ende,
So mein Igel so, so mein Igel so.

Wer ist der uns dies Liedlein sang, ein freier Igel ist er genannt,
Er hat es wohl gesungen, pfui dich an, die Leinewebers hat er überwunden.
So mein Igel so, so mein Igel so.

Vielweiberei

Der Kuckuck war ein närrischer Mann,
er wollte gern zwölf Weiber ha’n.

Die erste kehrt die Stube aus,
die zweite trägt das Kehricht ‚raus.

Die dritte zünd’t das Feuer an,
die vierte legt ein Scheitel dran.

Die fünfte setzt das Töpfel zu,
die sechste sucht was drein zu tun.

Die siebente schenkt dem Wein ihm ein,
die achte streicht das Geld ihm ein.

Die neunte bettet das Bettelein,
die zehnte legt das Kissen drein.

Die elfte macht das Bette warm,
die zwölfte schläft in Kuckucks Arm.

Ein Jäger aus Kurpfalz

Ein Jäger aus Kurpfalz,
Der reitet durch den grünen Wald
Und schießt das Wild daher,
Gleich wie es ihm gefallt,
Juja, juja!
Gar lustig ist die Jägerei
Allhier auf grüner Heid‘.

Bursch sattle mir mein Pferd
Und lege drauf mein‘ Mantelsack,
Ich reite wieder umher
Als Jäger aus Kurpfalz.

Wohl zwischen seine Bein,
Da muß der Hirsch geschossen sein,
Geschossen muß er sein
Auf eins, zwei, drei.

Hubertus auf der Jagd,
Der schoß ein‘ Hirsch und einen Has;
Er traf ein Mägdlein an,
Und das war achtzehn Jahr.

Jetzt reit ich nicht mehr heim,
Bis daß der Kuckuck Kuckuck schreit,
Er schreit die ganze Nacht
Allhier auf grüner Heid.

Gustav Schwab, Die Schildbürger

Ein andermal gingen die Schildbürger, die gar ernstlich auf den allgemeinen Nutzen bedacht waren, hinaus, eine Mauer zu besehen, die noch von einem alten Bau übrig geblieben war, ob sie die Steine nicht mit Vorteil anwenden könnten. Nun war auf der Mauer schönes, langes Gras gewachsen, das dauerte die Bauern, wenn es verloren sein sollte, deswegen hielten sie Rat, wie man es etwa benutzen könnte. Die einen waren der Meinung, man sollte es abmähen; aber niemand wollte sich dem unterziehen und auf die hohe Mauer wagen; andere meinten, wenn Schützen unter ihnen wären, so dürfte es das beste sein, wenn man es mit einem Pfeile herabschösse. Endlich trat der Schultheiß hervor und riet, man sollte das Vieh auf der Mauer weiden lassen, das würde mit dem Gras wohl fertig werden; so dürfte man es weder abmähen, noch ab­schießen. Diesem Rate neigte sich die ganze Gemeinde zu, und zur Dank­sagung wurde erkannt, daß des Schultheißen Kuh die erste sein sollte, die den guten Rat zu genießen hätte. Darein willigte der Schultheiß mit Freuden. So schlangen sie der Kuh ein starkes Seil um den Hals, warfen dasselbe über die Mauer und fingen auf der anderen Seite an zu ziehen. Als nun aber der Strick zu ging, wurde, wie vorauszusehen, die Kuh erwürgt, und reckte die Zunge aus dem Schlünde. Als ein langer Schildbürger dies gewahr wurde, rief er ganz erfreut: „Ziehet, ziehet nur noch ein wenig!“ und der Schultheiß selber schrie: „Ziehet, sie hat das Gras schon gerochen! Seht, wie sie die Zunge darnach ausstreckt! Sie ist nur zu tölpisch und ungeschickt, daß sie sich nicht selbst hinaufhelfen kann! Es sollte sie einer hinaufstoßen.“ Aber es war vergebens; die Schildbürger konnten die Kuh nicht hinaufbringen, und ließen sie daher wieder herab. Und jetzo wurden sie erst inne, daß die Kuh schon lange tot war.

Den Schildbürgerinnen ging es nicht anders, als den Schildbürgern. Sie gebärdeten sich so närrisch, als wenn sie es von jeher gewesen wären. Eine Witwe, die nur eine einzige Henne hatte, welche ihr alle Tage ein Ei legte, hatte einst so viele Eier gesammelt, daß sie hoffen durfte, drei Groschen dafür zu lösen. Sie nahm deswegen ihr Körbchen und zog damit zu Markte. Unter­wegs, da sie keine Gefährten hatte, fielen ihr allerlei Gedanken ein; und so dachte sie unter anderem an den Kram, den sie zu Markte trug; den ganzen Weg über redete sie mit sich selbst, und machte sich folgende Rechnung: „Siehe,“ sagte sie zu sich, „du lösest auf dem Markte drei Groschen. Was willst du damit tun? Du willst damit zwei Bruthennen kaufen, die zwei, samt denen, die du hast, legen dir in so und so viel Tagen so und so viel Eier. Wenn du diese verkaufest, kannst du noch drei Hennen kaufen; dann hast du sechs Hennen. Diese legen dir in einem Monat so und so viel Eier; die verkaufst du und legst das Geld zusammen. Die alten Hennen, welche nicht mehr legen, verkaufst du auch; die jungen fahren fort, dir Eier zu legen, und brüten dir Junge aus; diese kannst du zum Teil ziehen und deine Hühnerzucht dadurch mehren, zum Teil Geld daraus lösen, endlich auch rupfen, wie man die Gänse rupft. Aus dem zusammengelegten Gelde kaufst du dir darnach etliche Gänse, die tragen dir auch Nutzen mit Eiern, mit Jungen, mit Federn. So kommst du in acht Tagen so weit, daß du eine Ziege kaufen kannst; die gibt dir Milch und junge Zicklein. Auf diese Weise hast du junge und alte Hühner, junge und alte Gänse, Eier, Federn, Milch, Zicklein, Wolle. Vielleicht läßt sich gar die Ziege auch scheren; du kannst es wenigstens versuchen, darauf kaufst du ein Mutterschwein; da hast du Nutzen über Nutzen, von jungen Spanferkeln, von Speck, Würsten und anderem. Daraus lösest du so viel, daß du eine Kuh kaufen kannst; die gibt dir Milch, Kälblein und Dünger. Was willst du aber mit dem Dünger anfangen? Wahrhaftig, du mußt auch einen Acker kaufen; der gibt dir Korn genug; dann brauchst du keins mehr einzukaufen! Darnach schaffest du dir Rosse an, dingst Knechte, die versehen dir das Vieh und bauen dir den Acker. Alsdann vergrößerst du dein Haus, daß du Hausgesinde be­herbergen und dein Geld aufheben kannst. Darnach kaufst du noch mehr Güter, denn es kann dir nicht fehlen; du hast ja den Nutzen von Hühnern, von Gänsen, von Eiern, von Geismilch, von Wolle, von Zicklein, von Milch­lamm, von Spanferkeln, von Kühen — denen kannst du noch dazu die Hörner absägen und sie an den Messerschmied verkaufen; — du hast ferner den Nutzen von Kälbern, von Ackern, von Wiesen, von Hauszins und anderem. Darnach willst du einen jungen Mann nehmen, mit dem kannst du in Freuden leben und eine reiche stolze Frau sein! 0 wie wohl willst du es dir sein lassen, und niemand ein gutes Wörtchen geben! Juchhe, Juchheisa, Hopsasa!“ So jubelte die junge Witwe, warf dazu einen Arm in die Höhe und tat einen Sprung. Aber als sie sich so aufschwang und dazu jauchzte, da stieß sie von ungefähr mit ihrem Arm an den Eierkorb, daß dieser ganz ungestüm zu Boden fiel und die Eier alle zerbrachen. Da waren alle ihre Wünsche mit zerbrochen, nur der Junggesell nicht, den sie sich zum Manne erkoren hatte. Der konnte ja noch immer kommen. So stand sie nun auf dem Wege zum Markte und wartete sein.

Des Knaben Wunderhorn

Ablösung

Kuckuck hat sich zu Tod gefallen
An einer hohlen Weiden,
Wer soll uns diesen Sommer lang
Die Zeit und Weil vertreiben?
Ei, das soll tun Frau Nachtigall,
Die sitzt auf grünem Zweige,
Sie singt und springt, ist allzeit froh,
Wenn andre Vögel schweigen.

Käuzlein

Ich armes Käuzlein kleine,
Wo soll ich fliegen aus.
Bei Nacht so gar alleine,
Bringt mir so manchen Graus;
Das macht der Eulen Ungestalt,
Ihr Trauern mannigfalt.

Ich will’s Gefieder schwingen
Gen Holz in grünen Wald,
Die Vöglein hören singen
In mancherlei Gestalt.
Vor allen lieb ich Nachtigall,
Vor allen liebt mich Nachtigall.

Die Kinder unten glauben.
Ich deute Böses an,
Sie wollen mich vertreiben,
Daß ich nicht schreien kann:
Wenn ich was deute, tut mir’s leid,
Und was ich schrei, ist keine Freud.

Mein Ast ist mir entwichen,
Darauf ich ruhen sollt,
Sein Blättlein all verblichen,
Frau Nachtigall geholt:
Das schafft der Eulen falsche Tück,
Die störet all mein Glück.

Morgenlied von den Schäfchen

Schlaf, Kindlein, schlaf.
Der Vater hüt die Schaf,
Die Mutter schüttelt’s Bäumelein,
Da fällt herab ein Träumelein.
Schlaf, Kindlein, schlaf!

Schlaf, Kindlein, schlaf,
Am Himmel ziehn die Schaf,
Die Sternlein sind die Lämmerlein,
Der Mond, der ist das Schäferlein,
Schlaf, Kindlein, schlaf!

Schlaf, Kindlein, schlaf,
Christkindlein hat ein Schaf,
Ist selbst das liebe Gotteslamm,
Das um uns all zu Tode kam,
Schlaf, Kindlein, schlaf!

Schlaf, Kindlein, schlaf.
So schenk ich dir ein Schaf,
Mit einer goldnen Schelle fein,
Das soll dein Spielgeselle sein,
Schlaf, Kindlein, schlaf!

Des Antonius von Padua Fischpredigt

Antonius zur Predig
Die Kirche findt ledig,
Er geht zu den Flüssen
Und predigt den Fischen;
Sie schlag’n mit den Schwänzen,
Im Sonnenscheinglänzen.

Die Karpfen mit Rogen
Sind all hierher zogen,
Haben d‘ Mäuler aufrissen,
Sich Zuhörens beflissen:
Kein Predig niemalen
Den Karpfen so g’fallen.

Spitzgoschete Hechte,
Die immerzu fechten,
Sind eilend herschwommen
Zu hören den Frommen:
Kein Predig niemalen
Den Hechten so g’fallen.

Auch jene Phantasten,
So immer beim Fasten,
Die Stockfisch ich meine,
Zur Predig erscheinen.
Kein Predig niemalen
Den Stockfisch so g’fallen.

Gut Aalen und Hausen,
Die Vornehme schmausen,
Die selber sich bequemen,
Die Predig vernehmen:
Kein Predig niemalen
Den Aalen so g’fallen.

Auch Krebsen, Schildkröten,
Sonst langsame Boten,
Steigen eilend vom Grund,
Zu hören diesen Mund:
Kein Predig niemalen
Den Krebsen so g’fallen.

Fisch große, Fisch kleine.
Vornehme und gemeine,
Erheben die Köpfe
Wie verständige Geschöpfe:
Auf Gottes Begehren
Antonium anzuhören.

Die Predig geendet,
Ein jedes sich wendet,
Die Hechte bleiben Diebe,
Die Aale viel lieben.
Die Predig hat g’fallen,
Sie blieben wie alle.

Die Krebs‘ gehn zurücke,
Die Stockfisch bleiben dicke,
Die Karpfen viel fressen,
Die Predig vergessen.
Die Predig hat g’fallen,
Sie bleiben wie alle.

Marienwürmchen

Marienwürmchen, setze dich
auf meine Hand, auf meine Hand;
ich tu dir nichts zuleide.
Es soll dir nichts zuleid geschehn.
Ich will nur deine bunten Flügel sehn,
bunte Flügel meine Freude.

Marienwürmchen, fliege weg,
dein Häuschen brennt, die Kinder schrein
so sehre, ach, so sehre.
Die böse Spinne spinnt sie ein;
Marienwürmchen, flieg hinein,
deine Kinder schreien sehre.

Marienwürmchen, fliege hin,
zu Nachbars Kind, zu Nachbars Kind;
sie tun dir nichts zuleide.
Es soll dir ja kein Leid geschehn.
Sie wollen deine bunten Flügel sehn.
Und grüß sie alle beide.

Klapperstorch

Storch, Storch, Langbein,
Wann fliegst du ins Land herein,
Bringst dem Kind ein Brüderlein?
Wenn der Roggen reifet,
Wenn der Frosch pfeifet,
Wenn die goldnen Ringen
In der Kiste klingen,
Wenn die roten Appeln
In der Kiste rappeln.

. Die Amsel

Gestern Abend in der stillen Ruh
Hört ich im Walde einer Amsel zu,
Als ich nun so saß.
Meiner ganz vergaß,
Kam mein Schatz und schmeichelt sich um mich
Und küßte mich.

So viel Laub an Busch und Linde ist,
So viel mal hat mich mein Schatz geküßt;
Dieweil es ist geschehn,
Es hats kein Mensch gesehn.
Die Amsel in dem Wald allein
Soll Zeuge sein.

Bienensegen

Christ, die Immen sind draußen!
Nun fliegt, meine Tierchen, her und hin
Friedlich, fromm, in Gottes Hut,
sollt ihr heimkommen gut.
Sitze, sitze, Biene, da!
Gebot die Sankte Maria.
Urlaub nicht hast du!
Zu Holze nicht flieg du,
daß du mir nicht entrinnest,
noch dich mir entwindest.
Sitze viel stille.
Wirke Gottes Willen.

Käferhochzeit

Ein Käfer auf dem Baume saß,
der hatt‘ ein goldnes Hemdlein an.

Es saß ein‘ Fliege drunter,
den Käfer nahm’s groß Wunder.

„Ei, Jungfer Fliege, wollt Ihr mich han?
Ich bin ein wackrer Käfersmann!“

Jungfer Fliege ging zu Bade,
sieben Mägde mußt‘ sie haben.

Die eine trug den Badestuhl,
die and’re trug ein Paar rote Schuh‘.

Die dritte trug die Seife,
die vierte tat sie abschweifen.

Die fünfte trug eine Kanne Wein,
die sechste mußte Schenkin sein.

„Wo ist denn meine Magd Mücke?
Sie soll mir krau’n meinen Rücken.

Sie soll mir krau’n meine weiße Haut,
denn ich bin eines Käfers Braut.“ —

Die Fliege flog vom Bade,
viel Leute mußt sie haben.

Sie führten die Braut zu Tische,
sie hatten Wildbret und Fische.

Sie führten die Braut zum Tanze,
in ihrem grünen Kranze.

Sie tanzten all im Sprunge,
der Käfer mit der Brumme.

Ich weiß nicht was sie taten,
daß sie die Braut zertraten.

Da ging der Käfer im Harme,
mit seinem ganzen Schwarme.

Da kam der Hahn gesprungen,
der hat den Käfer verschlungen.

Nun haben die Hochzeitsleut‘ große Not,
denn Braut und Bräutigam sind tot.

Kinderspiellied

Zwischen Berg und tiefem, tiefem Tal
saßen einst zwei Hasen,
fraßen ab das grüne Gras
bis auf den Rasen.

Als sie sich nun satt gefressen hatten,
setzten sie sich nieder,
bis daß der Jäger kam
und schoß sie nieder.

Als sie sich nun aufgerappelt hatten,
und sie sich besannen,
ob sie auch noch Leben hatten,
hupften sie von dannen.

Der gestiefelte Kater

Erbschaft allein tut’s nicht. Kleines Erbe hat oft schon mehr genützt als großes; und keines mehr als kleines. Auf eigenen Füßen kommt man weiter als auf Stelzen, und eigene zwei Beine sind sicherer als die vier eines Rosses, das tausend Louisd’or kostet. Wir Alle kennen Millionäre, deren Väter nicht das Brot hatten, und Bettler, deren Großväter in Palästen wohnten. Etwas Grütze im Kopf ist mehr wert als große Ländereien außerhalb des Kopfes — und etwas Mutterwitz mehr als alles Mütterliche und Väterliche zusammen­genommen. Der erste Taler ist schwerer zu verdienen als die zweite Million, und alle Millionen sind leichter auszugeben, als der erste Taler zu erwerben. Und Behalten ist bekanntermaßen noch schwerer als Erwerben.

Ein Müller hatte drei Söhne und den drei Söhnen hinterließ er eine Mühle, einen Esel und eine Katze. Der Älteste nahm nach dem Rechte der Erstgeburt die Mühle, der zweite den Esel — blieb für den Jüngsten nichts als die Katze. Das war eine leichte und natürliche Teilung und die Advokaten und Gerichte verdienten nicht viel dabei.

„Eine Katze!“ rief der Jüngste unzufrieden, „eine Katze! Was tu* ich mit einer Katze? Das ist für die Katz! War’s noch eine Geldkatze? Was nützt es mir, daß die Katze Mäuse fängt, fressen doch die Mäuse nicht meinen Speck! Schlage ich sie tot, habe ich höchstens ein Katzenfell, aus dem ich mir eine Pelzmütze machen lasse, während ich mit nackten Füßen herumlaufe. Was nützt ein warmer Kopf bei kalten Füßen? Wenn ich zum Fenster hin­aussehe, werden die Leute sagen, der hat’s gut, er hat eine Pelzmütze! — aber wer mich ganz sieht, wird über mich lachen oder mich bedauern.“

So dachte er nach Art der Leute, die mit ihrem Los wie mit ihrer Erbschaft unzufrieden sind. Der Kater, der ihm zuhörte, tat nichts dergleichen, spielte nicht den Beleidigten und sagte mit einer Miene, die ihrer Sache sicher ist: „Seid nicht so traurig, mein Herr und Gebieter! Gebt mir nur einen Sack und lasset mir ein Paar guter Stiefel machen, daß ich ins Gestrüpp gehen könne, und Ihr werdet Euch überzeugen, daß der schlechteste Teil der Erb­schaft nicht Euch zugefallen.

Der Herr des Katers zuckte mitleidig die Achseln und gab nicht viel auf diese Worte. Indessen hatte er aber so oft Gelegenheit, seine Klugheit und Geschicklichkeit beim Mäusefangen zu beobachten, daß er dachte: Man kann nicht wissen! Oft schon hat ein geschickter Diener seinen Herrn aus der Not gerissen, und manch‘ ein König dankt sein Reich einem Minister, der ur­sprünglich ein verachteter armer Teufel gewesen. So tat er denn, wie der Kater sagte.

Als der Kater hatte, was er wünschte, zog er schön die Stiefel an und hängte den Sack um, den er mit Kleie und allerlei Spülicht anfüllte. Die Schnüre des Sackes nahm er zwischen die Vorderpfoten und machte sich auf den Weg, und ging in ein Gehege, wo es von Kaninchen wimmelte. Dort angekommen, legte er sich wie tot hin und wartete, ob nicht irgendein junges, unerfahrenes, mit den Listen und Tücken der Welt noch unbekanntes Kaninchen komme, um von den Lockspeisen zu kosten, die er in seinen Sack getan hatte.

Er hatte sich kaum ausgestreckt, als er seine List schon gelingen sah. Ein junger Leichtsinn von Kaninchen schlüpfte in den Sack; Meister Kater zog die Schnüre, fing es und tötete es ohne Gnade und Barmherzigkeit. „Wer sich in Gefahr begibt, kommt darin um!“ sagte er dabei in moralisch und fromm näselndem Tone.

Stolz auf seinen Sieg, ging er geraden Weges zu Hof und verlangte den König zu sprechen. Man führte ihn in die innersten Gemächer Seiner Ma­jestät, wo er sich tief verneigte und also sprach: „Mein König! Hier habe ich die Ehre, ein ganz ausgezeichnetes Kaninchen allerdevotest im Auftrage meines Herrn und Gebieters, des Marquis von Habenichts, als Zeichen seiner Treue und Untertänigkeit zu überreichen.“

„Sage Deinem Herrn,“ geruhte der König zu antworten, „daß ich ihm danke, und daß ich ihm in Gnaden gewogen bleibe.“

Bald darauf legte sich der Kater in ein Kornfeld, öffnete seinen Sack und zog die Schnur, als zwei Rebhühner hineingeschlüpft waren, und fing sie alle beide. Sogleich lief er wieder zum König, und überreichte ihm die Rebhühner, wie das erste Mal das Kaninchen, im Namen seines Herrn. Der König dankte wieder und ließ ihm ein Trinkgeld verabreichen.

So trieb es der Kater durch mehrere Monate, indem er dem König jeden Augenblick Wildbret von den Jagden seines Gebieters, des Marquis von Habe­nichts, als Zeichen seiner Treue und Untertänigkeit überreichte.

Eines Tages, da er in Erfahrung brachte, daß der König mit seiner Tochter, einer der schönsten Personen der Welt, längs des Flusses eine Spazierfahrt machen sollte, sagte der gestiefelte Kater zu seinem Herrn: „Wenn Ihr jetzt auf meinen Rat hören wollt, ist Euer Glück gemacht. Gehet hin und badet im Flusse an der Stelle, die ich Euch bezeichnen werde. Im übrigen lasset mich machen.“

Der Marquis von Habenichts tat nach dem Rate seines Katers, ohne zu wissen, wohin es führen sollte. Während er badete, kam der König vorbei, und da fing der Kater aus Leibeskräften zu schreien an: „Zu Hilfe! Zu Hilfe! Der Herr Marquis von Habenichts ertrinkt!“

Auf dieses Geschrei streckte der König den Kopf zum Wagenfenster heraus, erkennt den Kater, der ihm so viele Geschenke gebracht, und befiehlt seinen Garden, daß sie dem Herrn Marquis von Habenichts zu Hilfe eilen.

Während man mit der Rettung des armen Marquis beschäftigt war, näherte sich der Kater der Leibkarosse und erzählte dem König, daß, während jener sich badete, Diebe seine Kleider davongetragen, obwohl er mit aller Macht: „Halt den Dieb!“ geschrieen, und daß jetzt der arme Marquis dastehe, wie ihn Gott geschaffen. Der Spitzbub von Kater hatte die Lumpen seines Herrn unter einem großen Stein versteckt. Der König befahl sofort dem Beamten seiner allerhöchsten Leibgarderobe, daß man augenblicklich für den Herrn Marquis von Habenichts einen seiner schönsten Anzüge herbeischaffe.

Der König überhäufte ihn währenddem mit allen möglichen Gunstbezeugun­gen, und da die Kleider, die man indessen herbeibrachte, ihm, der ohnehin schon von Natur ein schöner Junge war, trefflich standen, fand ihn die Königs­tochter ganz nach ihrem Geschmack, und der Marquis von Habenichts brauchte ihr nur einige aus Hochachtung und Zärtlichkeit gemischte Blicke zuzuwerfen, um sie ganz und bis zur Narrheit verliebt zu machen.

Der König lud ihn ein, in den Wagen zu steigen und an der Spazierfahrt teilzunehmen. Da saß er nun der Prinzessin gegenüber und so nahe — daß sie als kurzsichtige Person in seinen Augen hätte lesen können, was drin stand und nicht stand. „Jetzt,“ dachte der Kater, „jetzt blüht unser Weizen!“ und lief, bis er an eine große Wiese kam, die eben von den Bauern abgemäht wurde. Er stellte sich in ihre Mitte und hielt eine gewaltige Volksrede, in der er ihnen alles mögliche Gute versprach und die so endete: „Edles Volk, Bürger, freie Menschen, ehrliche Landleute! So ihr jetzt, wenn der König, unser allergnädigster Herr, hier vorbeikommt, nicht Alle und einstimmig behauptet, daß diese Wiese, die ihr hier abmähet, dem edlen Marquis von Habenichts gehört und von jeher gehört hat, so werdet ihr samt und sonders, ohne Gnade und Barmherzigkeit, in die Pfanne gehauen!“

Nachdem er so die Volksstimme — „Volkesstimme, Gottesstimme,“ dachte er bei sich — vorbereitet hatte, eilte er weiter, damit der König ja nicht sehe, auf welche Weise das Volk für seine Abstimmung dressiert wird.

Der König verfehlte nicht, die braven Landleute zu fragen, wem die Wiese gehöre. Sie antworteten Alle aufs Freimütigste: „Unserem gnädigen Herrn, dem Marquis von Habenichts.“

„Sie haben da ein recht schönes Stück Landes, Herr Marquis!“ bemerkte der König.

„Zu dienen, Majestät, ein recht einträgliches Stück Feld!“ schmunzelte der Marquis bescheiden. Der gestiefelte Kater, immer dem Wagen des Königs voraus, begegnete wieder Landleuten, die auf einem Felde ernteten. Er hielt wieder eine herr­liche Volksrede, die wieder so endete: „So ihr nicht, wenn der König, unser allergnädigster Herr, hier vorbeikommt. Alle und einstimmig behauptet, daß all‘ diese Kornfelder dem edlen Marquis von Habenichts gehören und immer gehört haben, so werdet ihr samt und sonders, ohne Gnade und Barmherzig­keit, in die Pfanne gehauen!“ Der König, der gleich darauf vorüber fuhr, tat, wie er gewohnt war, fragte und erhielt die anbefohlene Antwort, indem alle Bauern zusammen schrieen:

„Diese Felder alle gehören und haben immer gehört unserem gnädigen Herrn, dem Marquis von Habenichts!“

Der König bekomplimentierte den Marquis aufs Neue über die Größe, Schönheit und Einträglichkeit seiner Besitzungen. Der Kater lief immer vor­aus, befahl Allen, denen er begegnete, dasselbe und der König staunte mehr und mehr über den großen Reichtum und die ausgedehnten Besitzungen des Herrn Marquis von Habenichts. So kam der Kater, immer vorauseilend, vor das Schloß eines der reichsten Oger, denn alle die Güter, die der König auf ihrem Wege bewunderte, gehörten ihm.  Der Kater hatte sich betreffs der Person und der Fähigkeiten des Ogers genau unterrichtet und bat um eine Audienz, indem er versicherte, daß er am Schlosse Seiner Herrlichkeit unmöglich vorbeireisen könne, ohne hochderoselben seine Aufwartung gemacht zu iahen.

Der Oger empfing ihn so freundlich, als ein Oger sein kann und lud ihn ein, ich zu setzen. „Man erzählt sich im Volke,“ nahm der Kater das Wort, „daß Euer Gnaden die Kunst besitzen, jede beliebige Tiergestalt anzunehmen, . B. sich in einen Elefanten oder Löwen zu verwandeln. Das wird wohl eine Sage sein, wie man sie von bedeutenden Männern zu erzählen pflegt. Ich gestehe, daß ich dergleichen als aufgeklärter Kater nicht glauben kann.“ „Nicht glauben!“ rief der Oger entrüstet, „Du wirst wohl daran glauben müssen!“ und augenblicklich verwandelte er sich in einen Löwen. Den Kater ergriff ein solcher Schreck, daß er zum Fenster hinaussprang, und sich über die Dachrinne retten wollte, wobei er, von seinen für dergleichen Wege nicht bauten Stiefeln behindert, beinahe den Hals gebrochen hätte.  Erst als er höhnische Gelächter des Ogers vernahm und sich überzeugte, daß dieser Löwen wieder abgelegt hatte, kehrte er zu ihm zurück mit den größten Komplimenten über seine wunderbaren Künste.   „Aber,“ fügte er hinzu, „man sagt auch, daß Euer Gnaden sich auch in kleine Tiere, wie z. B. in eine Ratte oder Maus, verwandeln könne. Das halte ich für platterdings unmöglich.“

„Unmöglich!“ rief der Oger. Gleich war er eine Maus und lief über das Parkett hin. Da machte der Kater einen Sprung, und aus war es mit der Maus und mit dem Oger für immer. Die Maus ist für die Katze, und wenn ein Riese sich auch nur für einen Augenblick klein und schwach zeigt, kann er sicher sein, gefressen zu werden. Unterdessen fuhr der König über die Zugbrücke in das Schloß, dessen Pracht ihn schon von ferne angezogen hatte. Der Kater hörte das Gerumpel und Getrampel, eilte hinab und hieß Seine Majestät im Schlosse seines Herrn, des Marquis von Habenichts, hoch willkommen. „Wie, Herr Marquis, auch dieses Schloß Euer Eigentum?“ rief der König, „man kann nichts Schöneres sehen, als dieses Tor, diese Türme, diesen Hof, diese Treppen! Da müßt Ihr mich schon einige Zeit zu Gaste nehmen.“

Der Marquis von Habenichts gab der Prinzessin den Arm und folgte dem König, der die Treppen hinaufstieg, in einen Saal, wo der Oger für seine Freunde, die er diesen Tag erwartete, ein großes Gastmahl bereitet hatte. Man setzte sich zu Tische und war lustig und guter Dinge. Nur die Prinzessin war etwas melancholisch und das kam von der Liebe, die sich von Stunde zu Stunde in ihrem Herzen immer breiter machte. Der König bemerkte das und diese Bemerkung in Verbindung mit der anderen, daß der Marquis von Habenichts wohl einer der reichsten Granden des Landes sei, bewog ihn beim sechsten oder siebenten Glas zu dem Ausruf: „Wenn Ihr mein Eidam werden wolltet, Herr Marquis, ich wüßte nicht, daß dem etwas im Wege stünde!“ Darauf lachte der König wie über einen Witz. Der Marquis nahm die Sache ernst, und noch denselben Abend wurde er des Königs Schwiegersohn.

Der gestiefelte Kater wurde Minister, und ging nur noch zu seinem Ver­gnügen auf die Mäusejagd, denn nur ein gemeiner Emporkömmling verleugnet die Freuden seiner Jugend.

Ostpreußisch, Der Katzensteig

In Königsberg von der Tuchmacherstraße nach der Löbenichtschen Berg­straße führt ein schmaler Steig, der den Namen Katzensteig trägt, und man möchte den Grund dieses Namens leicht darin finden, daß wirklich, besonders im Winter, die Turnkunst einer Katze dazu gehört, um ihn zu passieren. Der Grund liegt aber tiefer. In der Bergstraße wohnte nämlich eine Frau, welche die Brauerei betrieb und nebenbei die Hexerei. Sie und ein anderes Weib verwandelten sich alle Nacht in Katzen und gingen mit einem Brau­kessel den Katzensteig hinunter nach dem Pregel und gondelten dann in dem Kessel auf dem Wasser herum. Die Wache, welche früher an der Holzbrücke stand, sah dieses sonderbare Schauspiel oft an, und von ihr erfuhr es der Brau­knecht der Hexe.  Dieser versteckte sich in der Brauerei und sah wirklich.

wie die beiden Katzen mit seinem Braukessel abgingen und nach dem Pregel wanderten. Nun erzählte ers diesem und dem, und das Gerede kam endlich auch zu Ohren der Frau, die darüber sehr böse auf den Brauknecht ward und sich an ihm zu rächen vornahm. Eines Tages nun, als der Knecht am Brau­kessel steht, kommt eine große Katze, umwindet ihn schmeichelnd, versucht ihn aber dabei in den Kessel zu werfen. Ihm ward ganz bange zumut, indes hat er doch noch so viel Fassung, daß er das heilige Kreuz schlägt, die Katze sodann mit beiden Händen ergreift und sie in das siedende Gebräu stürzt. Andern Tages fand man die Bräuerin im Kessel liegen, schon ganz verkohlt.

Ostpreußisch, Von dem Tolkemiter Aal und andern gefähr­lichen Sachen

Die Stadt Tolkemit hat schon viele große Gefahren auszustehen gehabt; unter anderm trieb viele Jahrhunderte lang ein Riesenaal sein Unwesen im Haff, fügte den Fischern großen Schaden zu und bedrohte sogar die gute Stadt Tolkemit. Um des lieben Friedens willen mußten die Bürger ihn gut verpflegen. Einstmals aber verabreichten sie ihm auch ein Tönnchen Tolke­miter Bier — es hieß Rorkatter, oder Rarkater, gleich Brüllkater. Da starb er an heftiger Magenverstimmung und wurde unter Jubel an die Kette gelegt. Dem Fremden wird noch heute im Tolkemiter Hafen die Stelle gezeigt, wo er gelegen hat. Auch die Kette soll noch vorhanden sein, und ein langer, ab­schüssiger Waldweg in der Wieker Forst zwischen Frauenburg und Tolkemit heißt zur Erinnerung an jenes Abenteuer noch heute „Der lange Aal“.

Ein andermal hatte die gute Stadt Tolkemit eine Belagerung durch ein Heer von Stinten auszuhalten, die aber durch die Tapferkeit der Bürger siegreich abgeschlagen wurde. Seitdem heißen die Tolkemiter die Stintstecher.

Grimm, Katze und Maus in Gesellschaft

Eine Katze hatte Bekanntschaft mit einer Maus gemacht und ihr so viel von der großen Liebe und Freundschaft vorgesagt, die sie zu ihr trüge, daß die Maus endlich einwilligte mit ihr zusammen in einem Hause zu wohnen und gemeinschaftliche Wirtschaft zu führen. „Aber für den Winter müssen wir Vorsorge tragen, sonst leiden wir Hunger,“ sagte die Katze, „du Mäuschen, kannst dich nicht überall hinwagen und gerätst mir am Ende in eine Falle.“ Der gute Rat ward also befolgt und ein Töpfchen mit Fett angekauft. Sie wußten aber nicht wo sie es hinstellen sollten, endlich nach langer Überlegung sprach die Katze: „ich weiß keinen Ort, wo es besser aufgehoben wäre, als die Kirche, da getraut sich niemand etwas wegzunehmen: wir stellen es unter den Altar und rühren es nicht eher an als bis wir es nötig haben.“ Das Töpf­chen ward also in Sicherheit gebracht, aber es dauerte nicht lange, so trug die Katze Gelüsten danach und sprach zur Maus: „was ich dir sagen wollte, Mäuschen, ich bin von meiner Base zu Gevatter gebeten: sie hat ein Söhnchen zur Welt gebracht, weiß mit braunen Flecken, das soll ich über die Taufe halten. Laß mich heute ausgehen und besorge du das Haus allein.“ — „Ja, ja,“ antwortete die Maus, „geh in Gottes Namen, wenn du was Gutes issest, so denk an mich: von dem süßen roten Kindbetterwein tränk ich auch gerne ein Tröpfchen.“ Es war aber alles nicht wahr, die Katze hatte keine Base, und war nicht zu Gevatter gebeten. Sie ging geradeswegs nach der Kirche, schlich zu dem Fetttöpfchen, fing an zu lecken und leckte die fette Haut ab. Dann machte sie einen Spaziergang auf den Dächern der Stadt, besah sich die Gelegenheit, streckte sich hernach in der Sonne aus und wischte sich den Bart so oft sie an das Fetttöpfchen dachte. Erst als es Abend war, kam sie wieder nach Hause. „Nun, da bist du ja wieder,“ sagte die Maus, „du hast gewiß einen lustigen Tag gehabt.“ — „Es ging wohl an,“ antwortete die Katze. „Was hat denn das Kind für einen Namen bekommen?“ fragte die Maus. „Hautab,“ sagte die Katze ganz trocken. „Hautab,“ rief die Maus, „das ist ja ein wunderlicher und seltsamer Name, ist der in eurer Familie gebräuch­lich?“ — „Was ist da weiter,“ sagte die Katze, „er ist nicht schlechter als Bröseldieb, wie deine Paten heißen.“

Nicht lange danach überkam die Katze wieder ein Gelüsten. Sie sprach zur Maus: „du mußt mir den Gefallen tun und nochmals das Hauswesen allein besorgen, ich bin zum zweiten Mal zu Gevatter gebeten, und da das Kind einen weißen Ring um den Hals hat, so kann ich’s nicht absagen.“ Die gute Maus willigte ein, die Katze aber schlich hinter der Stadtmauer zu der Kirche und fraß den Fetttopf halb aus. „Es schmeckt nichts besser,“ sagte sie, „als was man selber ißt,“ und war mit ihrem Tagewerk ganz zufrieden. Als sie heimkam, fragte die Maus: „wie ist denn dieses Kind getauft worden?“ — „Halbaus,“ antwortete die Katze. „Halbaus! was du sagst! den Namen hab ich mein Lebtag noch nicht gehört, ich wette, der steht nicht in dem Kalender.“

Der Katze wässerte das Maul bald wieder nach dem Leckerwerk, „Aller guten Dinge sind drei,“ sprach sie zu der Maus, „da soll ich wieder Gevatter stehen, das Kind ist ganz schwarz und hat bloß weiße Pfoten, sonst kein weißes Haar am ganzen Leib, das trifft sich alle paar Jahr nur einmal: du lassest mich doch ausgehen?“ — „Hautab! Halbaus!“ antwortete die Maus, „es sind so kuriose Namen, die machen mich so nachdenksam.“ — „Da sitzest du daheim in deinem dunkelgrauen Flausrock und deinem langen Haarzopf,“ sprach die Kazte, „und fängst Grillen: das kommt davon, wenn man bei Tage nicht ausgeht.“ Die Maus räumte während der Abwesenheit der Katze auf und brachte das Haus in Ordnung, die naschhafte Katze aber fraß den Fett­topf rein aus. „Wenn erst alles aufgezehrt ist, so hat man Ruhe,“ sagte sie zu sich selbst und kam satt und dick erst in der Nacht nach Hause. Die Maus fragte gleich nach dem Namen, den das dritte Kind bekommen hätte. „Er wird dir wohl auch nicht gefallen,“ sagte die Katze, „er heißt Ganzaus.

  • „Ganzaus!“ rief die Maus, „gedruckt ist er mir noch nicht vorgekommen. Ganzaus! was soll das bedeuten?“ Sie schüttelte den Kopf, rollte sich zu­sammen und legte sich schlafen.

Von nun an wollte niemand mehr die Katze zu Gevatter bitten, als aber der Winter herangekommen und draußen nichts mehr zu finden war, ge­dachte die Maus ihres Vorrats und sprach: „komm Katze, wir wollen zu unserm Fetttopfe gehen, den wir uns aufgespart haben, der wird uns schmecken.

  • „Jawohl,“ antwortete die Katze, „der wird dir schmecken, als wenn du deine feine Zunge zum Fenster hinausstreckst.“ Sie machten sich auf den Weg, und als sie anlangten, stand zwar der Fetttopf noch an seinem Platz, er war aber leer. „Ach,“ sagte die Maus, „jetzt merke ich, was geschehen ist, jetzt kommt’s an den Tag, du bist mir die wahre Freundin! aufgefressen hast du alles, wie du zu Gevatter gestanden hast: erst Haut ab, dann halb aus, dann

__ “ — „Willst du schweigen,“ rief die Katze, „noch ein Wort, und ich

fresse dich auf.“ — „Ganz aus“ hatte die arme Maus schon auf der Zunge, kaum war es heraus, so tat die Katze einen Satz nach ihr, packte sie und schluckte sie hinunter. Siehst du, so geht’s in der Welt.

Grimm, Der Hund und der Sperling

Ein Schäferhund hatte keinen guten Herrn, sondern einen, der ihn Hunger leiden ließ. Wie er’s nicht länger bei ihm aushalten konnte, ging er ganz traurig fort. Auf der Straße begegnete ihm ein Sperling, der sprach „Bruder Hund, warum bist du so traurig?“ Antwortete der Hund, „ich bin hungrig, und habe nichts zu fressen.“ Da sprach der Sperling, „lieber Bruder, komm mit in die Stadt, so will ich dich satt machen.“ Also gingen sie zusammen in die Stadt, und als sie vor einen Fleischerladen kamen, sprach der Sperling zum Hunde, „da bleib stehen, ich will dir ein Stück Fleisch herunter picken,“ setzte sich auf den Laden, schaute sich um, ob ihn auch niemand bemerkte, und pickte, zog und zerrte so lang an einem Stück, das am Rande lag, bis es herunter rutschte. Da packte es der Hund, lief in eine Ecke und fraß es auf. Sprach der Sperling, „nun komm mit zu einem andern Laden, da will ich dir noch ein Stück herunter holen, damit du satt wirst.“ Als der Hund auch das zweite Stück gefressen hatte, fragte der Sperling, „Bruder Hund, bist du nun satt?“ — „Ja, Fleisch bin ich satt,“ antwortete er, „aber ich habe noch kein Brot gekriegt.“ Sprach der Sperling, „das sollst du auch haben, komm nur mit.“ Da führte er ihn an einen Bäckerladen und pickte an ein paar Brötchen, bis sie herunter rollten, und als der Hund noch mehr wollte, führte er ihn zu einem andern und holte ihm noch einmal Brot herab. Wie das verzehrt war, sprach der Sperling, „Bruder Hund, bist du nun satt?“ — „Ja,“ ant­wortete er, „nun wollen wir ein bißchen vor die Stadt gehen.“

Da gingen sie beide hinaus auf die Landstraße. Es war aber warmes Wetter, und als sie ein Eckchen gegangen waren, sprach der Hund, „ich bin müde und möchte gerne schlafen.“ — „Ja, schlaf nur,“ antwortete der Sperling, „ich will mich derweil auf einen Zweig setzen.“ Der Hund legte sich also auf die Straße und schlief fest ein. Während er da lag und schlief, kam ein Fuhrmann heran gefahren, der hatte einen Wagen mit drei Pferden, und hatte zwei Fässer Wein geladen. Der Sperling aber sah, daß er nicht aus­biegen wollte, sondern in der Fahrgleise blieb, in welcher der Hund lag, da rief er, „Fuhrmann, tu’s nicht, oder ich mache dich arm.“ Der Fuhrmann aber brummte vor sich, „du wirst mich nicht arm machen,“ knallte mit der Peitsche und trieb den Wagen über den Hund, daß ihn die Räder tot fuhren. Da rief der Sperling, „du hast mir meinen Bruder Hund tot gefahren, das soll dich Karre und Gaul kosten.“ — „Ja, Karre und Gaul,“ sagte der Fuhr­mann, „was könntest du mir schaden!“ und fuhr weiter. Da kroch der Sper­ling unter das Wagentuch und pickte an dem einen Spundloch so lange, bis er den Spund losbrachte: da lief der ganze Wein heraus, ohne daß es der Fuhr­mann merkte. Und als er einmal hinter sich blickte, sah er, daß der Wagen tröpfelte, untersuchte die Fässer und fand, daß eins leer war. „Ach, ich armer Mann!“ rief er. „Noch nicht arm genug,“ sprach der Sperling und flog dem einen Pferd auf den Kopf und pickte ihm die Augen aus. Als der Fuhrmann das sah, zog er seine Hacke heraus und wollte den Sperling treffen, aber der Sperling flog in die Höhe, und der Fuhrmann traf seinen Gaul auf den Kopf, daß er tot hinfiel. „Ach, ich armer Mann!“ rief er. „Noch nicht arm genug,“ sprach der Sperling, und als der Fuhrmann mit den zwei Pferden weiter fuhr, kroch der Sperling wieder unter das Tuch und pickte den Spund auch am zweiten Faß los, daß aller Wein herausschwankte. Als es der Fuhrmann gewahr wurde, rief er wieder, „ach, ich armer Mann!“ aber der Sperling antwortete „noch nicht arm genug,“ setzte sich dem zweiten Pferd auf den Kopf und pickte ihm die Augen aus. Der Fuhrmann lief herbei und holte mit seiner Hacke aus, aber der Sperling flog in die Höhe: da traf der Schlag das Pferd, daß es hinfiel. „Ach, ich armer Mann!“ — „Noch nicht arm ge­nug,“ sprach der Sperling, setzte sich auch dem dritten Pferd auf den Kopf und pickte ihm nach den Augen. Der Fuhrmann schlug in seinem Zorn, ohne umzusehen, auf den Sperling los, traf ihn aber nicht, sondern schlug auch sein drittes Pferd tot. „Ach, ich armer Mann!“ rief er. „Noch nicht arm genug,“ antwortete der Sperling, „jetzt will ich dich daheim arm machen und flog fort.

Der Fuhrmann mußte den Wagen stehen lassen, und ging voll Zorn und Ärger heim. „Ach,“ sprach er zu seiner Frau, „was hab ich Unglück gehabt! der Wein ist ausgelaufen, und die Pferde sind alle drei tot.“ — „Ach, Mann,“ antwortete sie, „was für ein böser Vogel ist ins Haus gekommen! er hat alle Vögel auf der Welt zusammen gebracht, und die sind droben über unsern Weizen hergefallen und fressen ihn auf.“ Da stieg er hinauf, und tausend und tausend Vögel saßen auf dem Boden, und hatten den Weizen aufgefressen, und der Sperling saß mitten darunter. Da rief der Fuhrmann, „ach, ich armer Mann!“ — „Noch nicht arm genug,“ antwortete der Sperling, „Fuhrmann, es kostet dir noch dein Leben,“ und flog hinaus.

Da hatte der Fuhrmann all sein Gut verloren, ging hinab in die Stube, setzte sich hinter den Ofen und zwar ganz bös und giftig. Der Sperling aber saß draußen vor dem Fenster und rief, „Fuhrmann, es kostet dir dein Leben.‘ Da griff der Fuhrmann die Hacke und warf sie nach dem Sperling: aber er schlug nur die Fensterscheiben entzwei und traf den Vogel nicht. Der Sper­ling hüpfte nun herbei, setzte sich auf den Ofen und rief, „Fuhrmann.es kostet dir dein Leben.“ Dieser, ganz toll und blind vor Wut, schlägt den Ofen ent­zwei, und so fort, wie der Sperling von einem Ort zum andern fliegt, sein ganzes Hausgerät, Spieglein, Bänke, Tisch, und zuletzt die Wände seines Hauses, und kann ihn nicht treffen. Endlich aber erwischte er ihn doch mit der Hand. Da sprach seine Frau „soll ich ihn totschlagen?“ — „Nein,“ rief er, „das wäre zu gelind, der soll viel mörderlicher sterben, ich will ihn verschlingen und nimmt ihn, und verschlingt ihn auf einmal. Der Sperling aber fängt an in seinem Leibe zu flattern, flattert wieder herauf, dem Mann in den Mund: da streckte er den Kopf heraus und ruft, „Fuhrmann, es kostet dir doch dein Leben.“ Der Fuhrmann reicht seiner Frau die Hacke und spricht, „Frau, schlag mir den Vogel im Munde tot.“ Die Frau schlägt zu, schlägt aber fehl, und schlägt dem Fuhrmann gerade auf den Kopf, so daß er tot hinfällt. Der Sperling aber fliegt auf und davon.

Grimm, Von dem Tode des Hühnchens

Auf eine Zeit ging das Hühnchen mit dem Hähnchen in den Nußberg, und sie machten miteinander aus, wer einen Nußkern fände, sollte ihn mit dem andern teilen.   Nun fand das Hühnchen eine große, große Nuß, sagte aber nichts davon und wollte den Kern allein essen. Der Kern war aber so dick, daß es ihn nicht hinunter schlucken konnte, und er ihm im Hals stecken blieb, daß ihm angst wurde, es müßte ersticken. Da schrie das Hühnchen, „Hähnchen, ich bitte dich lauf, was du kannst, und hol mir Wasser, sonst erstick ich.“ Das Hähnchen lief, was es konnte, zum Brunnen, und sprach, „Born, du sollst mir Wasser geben; das Hühnchen liegt auf dem Nußberg, hat einen großen Nußkern geschluckt und will ersticken.“ Der Brunnen ant­wortete, „lauf erst hin zur Braut, und laß dir rote Seide geben.“ Das Hähnchen lief zur Braut, „Braut du sollst mir rote Seide geben: rote Seide will ich dem Brunnen geben, der Brunnen soll mir Wasser geben, das Wasser will ich dem Hühnchen bringen, das liegt auf dem Nußberg, hat einen großen Nußkern geschluckt und will daran ersticken.“ Die Braut antwortete, „lauf erst und hol mir mein Kränzlein, das blieb an einer Weide hängen.“ Da lief das Hähn­chen zur Weide und zog das Kränzlein von dem Ast und brachte es der Braut, und die Braut gab ihm rote Seide dafür, die brachte es dem Brunnen, der gab ihm Wasser dafür. Da brachte das Hähnchen das Wasser zum Hühnchen, wie es aber hinkam, war dieweil das Hühnchen erstickt, und lag da tot und regte sich nicht. Da war das Hähnchen so traurig, daß es laut schrie, und kamen alle Tiere und beklagten das Hühnchen; und sechs Mäuse bauten einen kleinen Wagen, das Hühnchen darin zum Grabe zu fahren; und als der Wagen fertig war, spannten sie sich davor, und das Hähnchen fuhr. Auf dem Wege aber kam der Fuchs, „wo willst du hin, Hähnchen?“ — „Ich will mein Hühnchen begraben.“ — „Darf ich mitfahren?“

„Ja, aber setz dich hinten auf den Wagen, Vorn können’s meine Pferdchen nicht vertragen.“ Da setzte sich der Fuchs hinten auf, dann der Wolf, der Bär, der Hirsch, der Löwe, und alle Tiere in dem Wald. So ging die Fahrt fort, da kamen sie an einen Bach. „Wie sollen wir nun hinüber?“ sagte das Hähnchen. Da lag ein Strohhalm am Bach, der sagte, „ich will mich quer drüber legen, so könnt ihr über mich fahren.“ Wie aber die sechs Mäuse auf die Brücke kamen, rutschte der Strohhalm und fiel ins Wasser, und die sechs Mäuse fielen alle hinein und ertranken. Da ging die Not von neuem an, und kam eine Kohle und sagte, „ich bin groß genug, ich will mich darüber legen und ihr sollt über mich fahren.“   Die Kohle legte sich auch an das Wasser, aber sie berührte es unglücklicherweise ein wenig, da zischte sie, verlöschte und war tot. Wie das ein Stein sah, erbarmte er sich und wollte dem Hähnchen helfen, und legte sich über das Wasser. Da zog nun das Hähnchen den Wagen selber, wie es ihn aber bald drüben hatte, und war mit dem toten Hühnchen auf dem Land und wollte die andern, die hintenauf saßen, auch heranziehen, da waren ihrer zu viel geworden, und der Wagen fiel zurück, und alles fiel miteinander in das Wasser und ertrank. Da war das Hähnchen noch allein mit dem toten Hühnchen, und grub ihm ein Grab und legte es hinein, und machte einen Hügel darüber, auf den setzte es sich und grämte sich so lang, bis es auch starb; und da war alles tot.

Grimm, Der Zaunkönig und der Bär

Zur Sommerszeit gingen einmal der Bär und der Wolf im Wald spazieren, da hörte der Bär so schönen Gesang von einem Vogel, und sprach, „Bruder Wolf, was ist das für ein Vogel, der so schön singt?“ — „Das ist der König der Vögel,“ sagte der Wolf, „vor dem müssen wir uns neigen;“ es war aber der Zaunkönig. „Wenn das ist,“ sagte der Bär, „so möcht ich auch gerne seinen königlichen Palast sehen, komm und führe mich hin.“ — „Das geht nicht so, wie du meinst,“ sprach der Wolf, „du mußt warten bis die Frau Königin kommt.“ Bald darauf kam die Frau Königin und hatte Futter im Schnabel, und der Herr König auch, und wollten ihre Jungen atzen. Der Bär wäre gerne nun gleich hinterdrein gegangen, aber der Wolf hielt ihn am Ärmel und sagte „nein, du mußt warten bis Herr und Frau Königin wieder fort sind.“ Also nahmen sie das Loch in acht, wo das Nest stand, und trabten wieder ab. Der Bär aber hatte keine Ruhe, wollte den königlichen Palast sehen, und ging nach einer kurzen Weile wieder vor. Da waren König und Königin richtig ausgeflogen: er guckte hinein und sah fünf oder sechs Junge, die lagen darin. „Ist das der königliche Palast!“ rief der Bär, „das ist ein erbärmlicher Palast! ihr seid auch keine Königskinder, ihr seid unehrliche Kinder.“ Wie das die jungen Zaunkönige hörten, wurden sie gewaltig bös, und schrieen „nein, das sind wir nicht, unsere Eltern sind ehrliche Leute; Bär, das soll aus gemacht werden mit dir.“ Dem Bär und dem Wolf ward Angst, sie kehrten um und setzten sich in ihre Höhlen. Die jungen Zaunkönige aber schrieen und lärmten fort, und als ihre Eltern wieder Futter brachten, sagten sie, „wir rühren keine Fliegenbeinchen an, und sollten wir verhungern, bis ihr erst ausgemacht habt, ob wir ehrliche Kinder sind oder nicht: der Bär ist dagewesen, und hat uns gescholten.“ Da sagte der alte König, „seid nur ruhig, das soll ausgemacht werden.“ Flog darauf mit der Frau Königin dem Bären vor seine Höhle und rief hinein, „alter Brummbär, warum hast du meine Kinder ge­scholten? das soll dir übel bekommen, das wollen wir in einem blutigen Krieg ausmachen.“ Also war dem Bären der Krieg angekündigt, und ward alles vierfüßige Getier berufen, Ochs, Esel, Rind, Hirsch, Reh, und was die Erde sonst alles trägt. Der Zaunkönig aber berief alles was in der Luft fliegt; nicht allein die Vögel groß und klein, sondern auch die Mücken, Hornissen, Bienen und Fliegen mußten herbei.

Als nun die Zeit kam, wo der Krieg angehen sollte, da schickte der Zaun­könig Kundschafter aus, wer der kommandierende General des Feindes wäre. Die Mücke war die listigste von allen, schwärmte im Wald, wo der Feind sich versammelte, und setzte sich endlich unter ein Blatt auf den Baum, wo die Parole ausgegeben wurde. Da stand der Bär, rief den Fuchs vor sich und sprach, „Fuchs, du bist der schlauste unter allem Getier, du sollst General sein, und uns anführen.“ — „Gut,“ sagte der Fuchs, „aber was für Zeichen wollen wir verabreden?“ Niemand wußte es. Da sprach der Fuchs, „ich habe einen schönen langen buschigen Schwanz, der sieht aus fast wie ein roter Feder­busch; wenn ich den Schwanz in die Höhe halte, so geht die Sache gut, und ihr müßt darauf los marschieren: laß ich ihn aber herunterhängen, so lauft was ihr könnt.“ Als die Mücke das gehört hatte, flog sie wieder heim und verriet dem Zaunkönig alles haarklein.

Als der Tag anbrach, wo. die Schlacht sollte geliefert werden, hu, da kam das vierfüßige Getier dahergerennt mit Gebraus, daß die Erde zitterte; Zaun­könig mit seiner Armee kam auch durch die Luft daher, die schnurrte, schrie und schwärmte, daß einem angst und bange ward; und gingen sie da von beiden Seiten aneinander. Der Zaunkönig aber schickte die Hornisse hinab, sie sollte sich dem Fuchs unter den Schwanz setzen und aus Leibeskräften stechen. Wie nun der Fuchs den ersten Stich bekam, zuckte er, daß er das eine Bein aufhob, doch ertrug er’s und hielt den Schwanz noch in der Höhe: beim zweiten Stich mußt er ihn einen Augenblick herunter lassen: beim dritten aber konnte er sich nicht mehr halten, schrie und nahm den Schwanz zwischen die Beine. Wie das die Tiere sahen, meinten sie alles wäre verloren und fingen an zu laufen, jeder in seine Höhle: und hatten die Vögel die Schlacht gewonnen.

Da flog der Herr König und die Frau Königin heim zu ihren Kindern, und riefen, „Kinder, seid fröhlich, eßt und trinkt nach Herzenslust, wir haben den Krieg gewonnen.“ Die jungen Zaunkönige aber sagten, „noch essen wir nicht, der Bär soll erst vors Nest kommen und Abbitte tun und soll sagen, daß wir ehrliche Kinder sind.“ Da flog der Zaunkönig vor das Loch des Bären und rief, „Brummbär, du sollst vor das Nest zu meinen Kindern gehen und

Abbitte tun und sagen, daß sie ehrliche Kinder sind, sonst sollen dir die Rippen im Leib zertreten werden.“ Da kroch der Bär in der größten Angst hin und tat Abbitte. Jetzt waren die jungen Zaunkönige erst zufrieden, setzten sich zusammen, aßen und tranken und machten sich lustig bis in die späte Nacht hinein.

Grimm, Hase und Swinegel

Diese Geschichte ist ganz lügenhaft zu erzählen, Jungens, aber wahr ist sie doch, denn mein Großvater, von dem ich sie habe, pflegte immer, wenn er sie erzählte, dabei zu sagen:

„Wahr muß es doch sein, meine Söhne, denn sonst könnte man sie doch nicht erzählen.“   Die Geschichte aber hat sich so zugetragen:

Es war einmal an einem Sonntagmorgen in der Herbstzeit, just als der Buch­weizen blühte. Die Sonne war goldig am Himmel aufgegangen, der Morgen­wind ging frisch über die Stoppeln, die Lerchen sangen in der Luft, die Bienen summten in dem Buchweizen, und die Leute gingen in ihren Sonntagskleidern nach der Kirche, kurz, alle Kreatur war vergnügt, und der Swinegel auch.

Der Swinegel aber stand vor seiner Tür, hatte die Arme übereinander ge­schlagen, guckte dabei in den Morgenwind hinaus und trällerte ein Liedchen vor sich hin, so gut und so schlecht, als es nun eben am lieben Sonntagmorgen ein Swinegel zu singen vermag. Indem er nun so halbleise vor sich hin sang, fiel ihm auf einmal ein, er könne wohl, während seine Frau die Kinder wasche und anziehe, ein bißchen im Felde spazieren gehen, und dabei sich umsehen, wie seine Steckrüben stünden. Die Steckrüben waren das Nächste bei seinem Hause, und er pflegte davon zu essen, und deshalb sah er sie auch als die seinigen an. Der Swinegel machte die Haustüre hinter sich zu und schlug den Weg nach dem Felde ein. Er war noch nicht sehr weit vom Hause und wollte just um den Schlehenbusch, der da vor dem Felde liegt, hinaufschlendern, als ihm der Hase begegnete, der in ähnlichen Geschäften ausgegangen war, nämlich um seinen Kohl zu besehen. Als der Swinegel des Hasen ansichtig wurde, bot er ihm einen guten Morgen. Der Hase aber, der nach seiner Weise ein ganz vornehmer Herr war und grausam hochfahrig dazu, antwortete nichts auf des Swinegels Gruß, sondern sagte zu ihm, wobei er eine gewaltig hohe Miene annahm: „Wie kommt es denn, daß du schon bei so frühem Morgen im Felde rumläufst?“ „Ich gehe spazieren,“ sagte der Swinegel. „Spazieren?“ lachte der Hase, „mich deucht, du könntest deine Beine auch wohl zu besseren Dingen gebrauchen.“ Diese Antwort verdroß den Swinegel über alle Maßen, denn alles kann er vertragen, aber auf seine Beine läßt er nichts kommen, eben weil sie von Natur schief sind. „Du bildest dir wohl ein,“ sagte nun der Swinegel, „daß du mit deinen Beinen mehr ausrichten kannst?“ „Das denk ich,“ sagte der Hase. „Nun, es käme auf einen Versuch an,“ meinte der Swin­egel, „ich pariere, wenn wir Wettlaufen, ich laufe dir vorbei.“ „Das ist zum Lachen, du mit deinen schiefen Beinen!“ sagte der Hase, „aber meinetwegen mag es sein, wenn du so übergroße Lust hast. Was gilt die Wette?“ „Einen goldenen Lujedohr und eine Buttelje Schnaps,“ sagte der Swinegel. „An­genommen,“ sprach der Hase, „schlag ein, und dann kann’s gleich losgehen.“ „Nein, so große Eile hat es nicht,“ meinte der Swinegel, „ich bin noch ganz nüchtern; erst will ich zu Hause gehen und ein bißchen frühstücken. In einer halben Stunde bin ich auf dem Platze.“ Darauf ging der Swinegel, denn der Hase war zufrieden. Unterwegs dachte der Swinegel bei sich: „Der Hase verläßt sich auf seine langen Beine, aber ich will ihn schon kriegen. Er dünkt sich zwar ein vornehmer Herr zu sein, ist aber doch ein dummer Kerl und be­zahlen muß er doch.“

Als nun der Swinegel nach Hause kam, sagte er zu seiner Frau: „Frau, zieh dich eilig an, du mußt mit ins Feld hinaus.“ „Was gibt es denn?“ sagte die Frau. „Ich habe mit dem Hasen um einen goldenen Lujedor und eine Buttelje Schnaps gewettet, ich will mit ihm um die Wette laufen, und da sollst du dabei sein.“ „0 mein Gott, mein Mann!“ schrie dem Swinegel seine Frau, „bist du nicht klug, hast du den Verstand verloren? Wie kannst du mit dem Hasen um die Wette laufen wollen?“ „Halt das Maul, Weib,“ sagte der Swin­egel, „das ist meine Sache. Raisonniert nicht in Männergeschäfte. Marsch, zieh dich an und dann komm mit.“ Was sollte dem Swinegel seine Frau machen? Sie mußte wohl folgen, sie mochte wollen oder nicht.

Als sie nun miteinander unterwegs waren, sprach der Swinegel zu seiner Frau also: „Nun paß auf, was ich dir sagen werde. Sieh, auf dem langen Acker dort wollen wir unsern Wettlauf machen. Der Hase läuft nämlich in der einen Furche, und ich in der anderen, und von oben fangen wir an zu laufen. Nun hast du weiter nichts zu tun, als du stellst dich hier unten in die Furche, und wenn der Hase auf der andern Seite ankommt, so rufst du ihm entgegen: „Ich bin schon da.“ Damit waren sie beim Acker angelangt, der Swinegel wies seiner Frau ihren Platz an und ging nun den Acker hinauf. Als er oben ankam, war der Hase schon da. „Kann es losgehen?“ fragte der Hase. „Ja­wohl,“ erwiderte der Swinegel. „Dann man zu!“ Und damit stellte sich jeder in seine Furche. Der Hase zählte: „Eins, zwei, drei!“ und los ging er wie ein Sturmwind den Acker hinunter. Der Swinegel aber lief nur ungefähr drei Schritte, dann duckte er sich in die Furche nieder und blieb ruhig sitzen.

Als nun der Hase in vollem Laufen unten ankam, rief ihm dem Swinegel seine Frau entgegen: „Ich bin schon da!“ Der Hase aber, ganz außer sich vor Eifer, schrie: „Nochmal gelaufen, wieder herum!“ „Mir recht,“ ant­wortete der Swinegel, „meinetwegen so oft als du Lust hast.“ So lief der Hase dreiundsiebzigmal, und der Swinegel hielt es immer noch aus mit ihm. Jedes­mal, wenn der Hase unten oder oben ankam, sagte der Swinegel oder seine Frau: „Ich bin schon da.

Zum vierundsiebzigsten Male aber kam der Hase nicht mehr zu Ende. Mitten auf dem Acker stürzte er zur Erde, das Blut floß ihm aus dem Halse, und er blieb tot auf dem Platze. Der Swinegel nahm seinen gewonnenen Louisdor und die Flasche Branntwein, rief seine Frau von der Furche ab, und beide gingen vergnügt nach Hause, und wenn sie nicht gestorben sind, leben sie noch.

So begab es sich, daß auf der Buxtehuder Heide der Swinegel den Hasen zu Tode gelaufen hat. und seit jener Zeit hat es sich kein Hase mehr einfallen lassen, mit dem Buxtehuder Swinegel um die Wette zu laufen. Die Lehre aber aus dieser Geschichte ist erstens, daß keiner, und wenn er sich noch so vornehm dünkt, sich soll beikommen lassen, über den geringen Mann sich lustig zu machen, und wäre es auch nur ein Swinegel. Und zweitens, daß es geraten ist, wenn einer freiet, daß er sich eine Frau aus seinem Stande nimmt, die just so aussieht wie er selbst. Wer also ein Swinegel ist, der muß darauf sehen, daß seine Frau auch ein Swinegel sei.

Goethe, Philomele

Dich hat Amor gewiß, o Sängerin, fütternd erzogen;
Kindisch reichte der Gott dir mit dem Pfeile die Kost.
So durchdrungen von Gift die harmlos atmende Kehle,
Trifft mit der Liebe Gewalt nun Philomele das Herz.

Goethe, Adler und Taube

Ein Adlerjüngling hob die Flügel
Nach Raub aus.
Ihn traf des Jägers Pfeil und schnitt
Der rechten Schwinge Sehnkraft ab.
Er stürzt‘ herab in einen Myrtenhain

Fraß seinen Schmerz drei Tage lang
und zuckt‘ an Qual
Drei lange, lange Nächte lang.
Zuletzt heilt ihn
Allgegenwärt’ger Balsam
Allheilender Natur.

Er schleicht aus dem Gebüsch hervor
Und reckt die Flügel — ach!
Die Schwingkraft weggeschnitten —
Hebt sich mühsam kaum
Am Boden weg
Unwürd’gem Raubbedürfnis nach
Und ruht tief trauernd
Auf dem niedern Fels am Bach;
Er blickt‘ zur Eich‘ hinauf,
Hinauf zum Himmel,
Und eine Träne füllt sein hohes Aug‘.

Da kommt mutwillig durch die Myrtenäste
Dahergerauscht ein Taubenpaar,
Läßt sich herab und wandelt nickend
Über goldnen Sand am Bach
Und rukt einander an;
Ihr rötlich Auge buhlt umher,
Erblickt den Innigtrauernden.
Der Tauber schwingt neugiergesellig sich
Zum nahen Busch und blickt
Mit Selbstgefälligkeit ihn freundlich an.
Du trauerst, liebelt er,
Sei guten Mutes, Freund!
Hast du zur ruhigen Glückseligkeit
Nicht alles hier?
Kannst du dich nicht des goldnen Zweiges freun.
Der vor des Tages Glut dich schützt?

Kannst du der Abendsonne Schein
Auf weichem Moos- am Bache nicht *
Die Brust entgegenheben?
Du wandelst durch der Blumen frischen Tau,
Pflückst aus dem Uberfluß
Des Waldgebüsches dir
Gelegne Speise, letzest
Den leichten Durst am Silberquell.
0 Freund, das wahre Glück
Ist die Genügsamkeit,
Und die Genügsamkeit
Hat überall genug. —
0 Weise! sprach der Adler, und tief ernst
Versinkt er tiefer in sich selbst,
0 Weisheit! Du redest wie eine Taube!

Goethe, Zigeunerlied

Im Nebeigeriesel, im tiefen Schnee,
Im wilden Wald in der Winternacht,
Ich hörte der Wölfe Hungergeheul,
Ich hörte der Eulen Geschrei:
Wille wau wau wau!
Wille wo wo wo!
Witu hu!

Ich schoß‘ einmal eine Katz am Kaun
Der Anne, der Hex‘, ihre schwarze liebe Katz‘
Da kamen des Nachts sieben Werwölf zu mir,
Waren sieben, sieben Weiber vom Dorf.
Wille wau wau wau!
Wille wo wo wo!
Wito hu!

Ich kannte sie all, ich kannte sie wohl,
Die Anne, die Ursel, die Käth‘,
Die Liese, die Barbe, die Ev‘, die Beth;
Sie heulten im Kreise mich an.
Wille wau wau wau!
Wille wo wo wo!
Wito hu!

Da nannt‘ ich sie alle bei Namen laut:
Was willst du Anne?, was willst du Beth?
Da rüttelten sie sich, da schüttelten sie sich
Und liefen und heulten davon.
Wille wau wau wau!
Wille wo wo wo!
Wito hu!

Goethe, Epigramme: Venedig 1790

„Längst schon hätt‘ ich euch gern von jenen Tierchen gesprochen,
Die so zierlich und schnell fahren dahin und daher.
Schlängelchen scheinen sie gleich, doch viergefüßet, sie
laufen
Kriechen und schleichen, und leicht schleppen die Schwänzchen sie nach.
Seht, hier sind sie! und hier! Nun sind sie verschwunden!
Wo sind sie?
Welche Ritze, welch Kraut nahm die Entfliehenden auf?
Wollt ihr mirs künftig erlauhen, so nenn ich die Tierchen
Lacerten,
Denn ich brauche sie noch oft als gefälliges Bild.“

Goethe, Aus den Weissagungen des Bakis

Sprich, wie werd‘ ich die Sperlinge los? so sagte der Gärtner:
Und die Raupen dazu, ferner das Käfergeschlecht,
Maulwurf, Erdfloh, Wespe, die Würmer, das Teufelsgezüchte? —
„Laß sie nur alle, so frißt Einer den Andern auf.“

Goethe, Aus fremden Sprachen

Die Nachtigall, sie war entfernt,
Der Frühling lockt sie wieder;
Was Neues hat sie nicht gelernt,
Singt alte, liebe Lieder.

Goethe, Die Frösche

Ein großer Teich war zugefroren;
Die Fröschlein, in der Tiefe verloren,
Durften ferner nicht quaken noch springen,
Versprachen sich aber, im halben Traum,
Fänden sie nur da oben Raum,
Wie Nachtigallen wollten sie singen,
Der Tauwind kam, das Eis zerschmolz,
Nun ruderten sie und landeten stolz,
Und saßen am Ufer weit und breit
Und quakten wie vor alter Zeit.

Goethe, Fliegentod

Sie saugt mit Gier verrätrisches Getränke
Unabgesetzt, vom ersten Zug verführt;
Sie fühlt sich wohl, und längst sind die Gelenke
Der zarten Beinchen schon paralysiert;
Nicht mehr gewandt, die Flügelchen zu putzen,
Nicht mehr geschickt, das Köpfchen aufzustutzen —
Das Leben so sich im Genuß verliert.
Zum Stehen kaum wird noch das Füßchen taugen;
So schlürft sie fort und, mitten unterm Saugen,
Umnebelt ihr der Tod die tausend Augen.

  1. v. Kleist, Die Hunde und der Vogel

Zwei ehrliche Hühnerhunde, die, in der Schule des Hungers zu Schlau­köpfen gemacht, alles griffen, was sich auf Erden blicken ließ, stießen auf einen Vogel. Der Vogel, verlegen, weil er sich nicht in seinem Element be­fand, wich hüpfend bald hie, bald dorthin aus, seine Gegner triumphierten schon; doch bald darauf, zu hitzig bedrängt, regte er die Flügel und schwang sich in die Luft: da standen sie, die Helden der Triften und klemmten den Schwanz ein und gafften ihm nach.

Wilhelm Hauff, Der junge Engländer

Im südlichen Teil von Deutschland liegt das Städtchen Grünwiesel. Es ist ein Städtchen, wie sie alle sind. In der Mitte ein kleiner Marktplatz mit einem Brunnen, an der Seite ein kleines, altes Rathaus, umher auf dem Markt die Häuser des Friedensrichters und der angesehensten Kaufleute, und in ein paar engen Straßen wohnen die übrigen Menschen.  Alles kennt sich, jedermann weiß, wie es da und dort zugeht, und wenn der Oberpfarrer und der Bürger­meister oder der Arzt ein Gericht mehr auf der Tafel hat, so weiß es schon am Mittagessen die ganze Stadt.  Nachmittags kommen dann die Frauen zuein­ander in die Visite, wie man es nennt, besprechen sich bei starkem Kaffee und süßem Kuchen über diese große Begebenheit, und der Schluß ist, daß der Oberpfarrer wahrscheinlich in die Lotterie gesetzt und unchristlich viel ge­wonnen habe, daß der Bürgermeister sich „schmieren“ lasse, oder daß der Doktor vom Apotheker einige Goldstücke bekommen habe, um recht teure Rezepte zu verschreiben. Ihr könnt Euch denken, wie unangenehm es für eine so wohleingerichtete Stadt wie Grünwiesel sein mußte, als ein Mann dorthin zog, von dem niemand wußte, woher er kam, was er wollte, von was er lebte. Der Bürgermeister hatte zwar seinen Paß gesehen und untersucht und in einer Kaffeegesellschaft bei Doktors geäußert, der Paß sei zwar ganz richtig visiert von Berlin bis Grünwiesel, aber es stecke doch was dahinter. Denn der Mann sehe etwas verdächtig aus.  Der Bürgermeister hatte das größte Ansehen in der Stadt, kein Wunder, daß von da an der Fremde als eine verdächtige Person angesehen wurde. Und sein Lebenswandel konnte die Leute nicht von dieser Meinung abbringen.  Der fremde Mann mietete sich für einige Goldstücke ein ganzes Haus, das bisher öde gestanden, ließ einen ganzen Wagen voll sonder­barer Gerätschaften, als Ofen, Kunstherde, große Tiegel und dergleichen hin­einschaffen und lebte von da an ganz für sich allein.  Ja, er kochte sich sogar selbst, und es kam keine menschliche Seele in sein Haus als ein alter Mann aus Grünwiesel, der ihm seine Einkäufe in Brot, Fleisch und Gemüse besorgen mußte. Doch auch dieser durfte nur in den Flur des Hauses kommen, und dort nahm der fremde Mann das Gekaufte in Empfang.

Groß war die Unruhe, die dieser Mann im Städtchen verursachte. Er kam nachmittags nicht wie andere Männer auf die Kegelbahn, er kam abends nicht ins Wirtshaus, um wie die übrigen bei einer Pfeife Tabak über die Zeitung zu sprechen. Umsonst lud ihn nach der Reihe der Bürgermeister, der Friedens­richter, der Doktor und der Oberpfarrer zum Essen oder Kaffee ein, er ließ sich immer entschuldigen. Daher hielten ihn einige für verrückt, andere für einen Juden, eine dritte Partei behauptete steif und fest, er sei ein Zauberer» oder Hexenmeister. Als er schon acht oder zehn Jahre in unserer Stadt gelebt hatte, — er hieß immer noch „Der fremde Herr“.

Es begab sich aber eines Tages, daß Leute mit fremden Tieren in die Stadt kamen. Es ist dies hergelaufenes Gesindel, das ein Kamel hat, welches sich verbeugen kann, einen Bären, der tanzt, einige Hunde und Affen, die in mensch­lichen Kleidern komisch genug aussehen und allerlei Künste machen. Diese Leute durchziehen gewöhnlich die Stadt, halten an den Kreuzstraßen und Plätzen, machen mit einer kleinen Trommel und einer Pfeife eine übeltönende Musik, lassen ihre Truppe tanzen und springen, und sammeln dann in den Häusern Geld ein. Die Truppe aber, die sich diesmal in Grünwiesel sehen ließ, zeichnete sich durch einen ungeheuren Orang-Utan aus, der beinahe Menschen­größe hatte, auf zwei Beinen ging und allerlei artige Künste zu machen ver­stand. Diese Hunds- und Affenkomödie kam auch vor das Haus des fremden Herrn. Er erschien, als die Trommel und Pfeife ertönte, von Anfang ganz un­willig hinter den dunkeln, vom Alter angelaufenen Fenstern. Bald aber wurde er freundlicher, schaute zu jedermanns Verwundern zum Fenster heraus und lachte herzlich über die Künste des Orang-Utans. Ja, er gab für den Spaß ein so großes Silberstück, daß die ganze Stadt davon sprach.

Am anderen Morgen zog die Tierbande weiter. Das Kamel mußte viele Körbe tragen, in welchem die Hunde und Affen ganz bequem saßen, die Tiertreiber aber und der große Affe gingen hinter dem Kamel. Kaum aber waren sie einige Stunden zum Tore hinaus, so schickte der fremde Herr auf die Post, verlangte zu großer Verwunderung des Postmeisters einen Wagen und Extrapost und fuhr zu demselben Tor hinaus, den Weg hin, den die Tiere genommen hatten. Das ganze Städtchen ärgerte sich, daß man nicht erfahren konnte, wohin er gereist sei. Es war schon Nacht, als der fremde Herr wieder im Wagen vor dem Tor ankam. Es saß aber noch eine Person im Wagen, die den Hut tief ins Gesicht gedrückt und um Mund und Ohren ein seidenes Tuch gebunden hatte. Der Torschreiber hielt es für seine Pflicht, den anderen Fremden anzu­reden und um seinen Paß zu bitten; er antwortete aber sehr grob, indem er in einer ganz unverständlichen Sprache brummte.

„Es ist mein Neffe,“ sagte der fremde Mann freundlich zum Torschreiber, indem er ihm einige Silbermünzen in die Hand drückte; „es ist mein Neffe und versteht bis dato noch wenig deutsch. Er hat soeben in seiner Mundart ein wenig geflucht, daß wir hier aufgehalten werden.“

„Ei, wenn es dero Neffe ist,“ antwortete der Torschreiber, „so kann er wohl ohne Paß hereinkommen.   Er wird wohl ohne Zweifel bei Ihnen wohnen?“

„Allerdings,“ sagte der Fremde, „und hält sich wahrscheinlich längere Zeit Hier auf.“

Der Torschreiber hatte keine weitere Einwendung mehr, und der fremde Herr und sein Neffe fuhren ins Städtchen. Der Bürgermeister und die ganze Stadt war übrigens nicht sehr zufrieden mit dem Torschreiber. Er hätte doch wenigstens einige Worte von der Sprache des Neffen sich merken sollen. Daraus hätte man dann leicht erfahren, was für ein Landeskind er und der Onkel wäre. Der Torschreiber versicherte aber, daß es weder französisch noch italienisch sei, wohl aber habe es so breit geklungen wie englisch, und wenn er nicht irre, so habe der junge Herr gesagt: „God dam!“ So half der Torschreiber sich selbst aus der Not und dem jungen Mann zu einem Namen. Denn man sprach im Städtchen jetzt nur von dem jungen Engländer.

Aber auch der junge Engländer wurde nicht sichtbar, weder auf der Kegel­bahn noch im Bierkeller; wohl aber gab er den Leuten auf andere Weise viel zu schaffen. — Es begab sich nämlich oft, daß in dem sonst so stillen Hause des Fremden ein schreckliches Geschrei und ein Lärm ausging, daß die Leute haufenweise vor dem Hause stehen blieben und hinaufsahen. Man sah den jungen Engländer, angetan mit einem roten Frack und grünen Beinkleidern, mit struppigem Haar und schrecklicher Miene, unglaublich schnell an den Fenstern hin und her durch alle Zimmer laufen; der alte Fremde lief ihm in einem roten Schlafrock, einer Hetzpeitsche in der Hand, nach, verfehlte ihn oft, aber einige mal kam es doch der Menge auf der Straße vor, als müsse er den Jungen erreicht haben; denn man hörte klägliche Angsttöne und klatschende Peitschenhiebe. An dieser grausamen Behandlung des fremden jungen Mannes nahmen die Frauen des Städtchens so lebhaften Anteil, daß sie end­lich den Bürgermeister bewogen, einen Schritt in der Sache zu tun. Er schrieb dem fremden Herrn ein Billett, worin er ihm die unglimpfliche Behandlung seines Neffen in ziemlich derben Ausdrücken vorwarf und ihm drohte, wenn noch ferner solche Szenen vorfielen, den jungen Mann unter seinen besonderen Schutz zu nehmen.

Wer aber war mehr erstaunt als der Bürgermeister, wie er den Fremden selbst, zum ersten Mal seit zehn Jahren, bei sich eintreten sah! Der alte Herr entschuldigte sein Verfahren mit dem besonderen Auftrag der Eltern des Jüng­lings, die ihm solchen zu erziehen gegeben; er sei sonst ein kluger, anstelliger Junge, äußerte er, aber die Sprachen erlerne er sehr schwer; er wünsche so sehnlich, seinem Neffen das Deutsche recht geläufig beizubringen, um sich nachher die Freiheit zu nehmen, ihn in die Gesellschaften von Grünwiesel ein­zuführen, und dennoch gehe demselben diese Sprache so schwer ein, daß man oft nichts Besseres tun könne, als ihn gehörig durchzupeitschen. Der Bürger­meister fand sich durch diese Mitteilung völlig befriedigt, riet dem Alten zur Mäßigung und erzählte abends im Bierkeller, daß er selten einen so unter­richteten, artigen Menschen gefunden wie den Fremden: „Es ist nur schade,“ setzte er hinzu, „daß er so wenig in Gesellschaft kommt; doch ich denke, wenn der Neffe nur erst ein wenig Deutsch spricht, besucht er meine Cercles öfter.“

Durch diesen einzigen Vorfall war die Meinung des Städtchens völlig um­geändert. Man hielt den Fremden für einen artigen Mann, sehnte sich nach seiner näheren Bekanntschaft und fand es ganz in der Ordnung, wenn hie und da in dem öden Hause ein gräßliches Geschrei aufging; „er gibt dem Neffen Unterricht in der deutschen Sprache,“ sagten die Grünwieseier und blieben nicht mehr stehen.

Nach einem Vierteljahr ungefähr schien der Unterricht im Deutschen be­endigt; denn der Alte ging jetzt um eine Stufe weiter vor. Es lebte ein alter gebrechlicher Franzose in der Stadt, der den jungen Leuten Unterricht im Tanzen gab; diesen ließ der Fremde zu sich rufen und sagte ihm, daß er seinen Neffen im Tanzen unterrichten lassen wolle. Er gab ihm zu verstehen, daß derselbe zwar sehr gelehrig, aber, was das Tanzen betreffe, etwas eigensinnig sei; er habe nämlich früher bei einem anderen Meister tanzen gelernt, und zwar nach so sonderbaren Touren, daß er sich füglich nicht in der Gesellschaft produzieren könne; der Neffe halte sich aber eben deswegen für einen großen Tänzer, obgleich sein Tanz nicht die entfernteste Ähnlichkeit mit Walzer oder Galopp, nicht einmal Ähnlichkeit mit Eccossaise oder Francaise habe. Er ver­sprach übrigens einen Taler für die Stunde, und der Tanzmeister war mit Vergnügen bereit, den Unterricht des eigensinnigen Zöglings zu übernehmen.

Es gab, wie der Franzose unter der Hand versicherte, auf der Welt nichts so Sonderbares wie diese Tanzstunden. Der Neffe, ein ziemlich großer, schlan­ker junger Mann, der nur etwas sehr kurze Beine hatte, erschien in einem roten Frack, schön frisiert, in grünen, weiten Beinkleidern und glacierten Hand­schuhen. Er sprach wenig und mit fremdem Akzent, war von Anfang ziemlich artig und anstellig; dann verfiel er aber oft plötzlich in fratzenhafte Sprünge, tanzte die kühnsten Touren, wobei er Entrechats machte, daß dem Tanzmeister Hören und Sehen verging, wollte er ihn zurechtweisen, so zog er die zierlichen Tanzschuhe von den Füßen, warf sie dem Franzosen an den Kopf und setzte nun auf allen vieren im Zimmer umher. Bei diesem Lärm fuhr dann der alte Herr plötzlich in einem weiten, roten Schlafrock, eine Mütze von Goldpapier auf dem Kopf, aus seinem Zimmer heraus und ließ die Hetzpeitsche ziemlich unsanft auf den Rücken des Neffen niederfallen. Der Neffe fing dann an schrecklich zu heulen, sprang auf Tische und hohe Kommoden, ja selbst an den Kreuzstöcken der Fenster hinauf und sprach eine fremde seltsame Sprache. Der Alte im roten Schlafrock aber ließ sich nicht irre machen, faßte ihn am Bein, riß ihn herab, bläute ihn durch und zog ihm mittels einer Schnalle die Hals binde fester an, worauf er immer wieder artig und manierlich wurde, und die Tanzstunde ohne Störung weiterging.

Als aber der Tanzmeister seinen Zögling so weit gebracht hatte, daß man Musik zu der Stunde nehmen konnte, da war der Neffe wie umgewandelt. Ein Stadtmusikant wurde gemietet, der im Saal des öden Hauses auf einen Tisch sich setzen mußte. Der Tanzmeister stellte dann die Dame vor, indem ihm der alte Herr einen Frauenrock von Seide und einen ostindischen Schal anziehen ließ; der Neffe forderte ihn auf und fing nun an mit ihm zu tanzen und zu walzen; er aber war ein unermüdlicher, rasender Tänzer, er ließ den Meister nicht aus seinen langen Armen, ob er ächzte und schrie, er mußte tanzen, bis er ermattet umsank, oder bis dem Stadtmusikus der Arm lahm wurde an der Geige. Den Tanzmeister brachten diese Unterrichtsstunden beinahe unter den Boden, aber der Taler, den er jedesmal richtig ausgezahlt bekam, der gute Wein, den er Alte aufwartete, machte, daß er immer wiederkam, wenn er auch den Tag zuvor sich fest vorgenommen hatte, nicht mehr in das öde Haus zu gehen.

Die Leute in Grünwiesel sahen aber die Sache ganz anders als der Fran­zose. Sie fanden, daß der junge Mann viel Anlagen zum Gesellschaftlichen habe, und die Frauenzimmer im Städtchen freuten sich, bei dem großen Mangel an Herren, einen so flinken Tänzer für den nächsten Winter zu bekommen.

Eines Morgens berichteten die Mägde, die vom Markte heimkehrten, ihren Herrschaften ein wunderbares Ereignis. Vor dem öden Hause sei ein präch­tiger Glaswagen gestanden, mit schönen Pferden bespannt, und ein Bedienter in reicher Livree habe den Schlag gehalten. Da sei die Türe des öden Hauses aufgegangen und zwei schön gekleidete Herren herausgetreten, wovon der eine der alte Fremde und der andere wahrscheinlich der junge Herr gewesen, der so schwer Deutsch gelernt und so rasend tanze. Die beiden seien in den Wagen gestiegen, der Bediente hinten aufs Brett gesprungen, und der Wagen, man stelle sich vor! sei geradezu auf Bürgermeisters Haus zugefahren.

Als die Frauen solches von ihren Mägden erzählen hörten, rissen sie eilends die Küchenschürzen und die etwas unsauberen Hauben ab und versetzten sich in Staat. „Es ist nichts gewisser, sagten sie zu ihrer Familie, indem alles umherrannte, um das Besuchszimmer, das zugleich zu sonstigem Gebrauch diente, aufzuräumen; „es ist nichts gewisser, als daß der Fremde jetzt seinen Neffen in die Welt einführt. Der alte Narr war seit zehn Jahren nicht so artig, einen Fuß in unser Haus zu setzen, aber es sei ihm wegen des Neffen verziehen, der ein scharmanter Mansch sein soll.‘ So sprachen sie und ermahnten ihre Söhne und Töchter, recht manierlich auszusehen, wenn die Fremden kämen, sich gerade zu halten und sich auch einer bessern Aussprache zu bedienen als gewöhnlich. Und die klugen Frauen im Städtchen hatten nicht unrecht ge­raten ; denn nach der Reihe fuhr der alte Herr mit seinem Neffen umher, sich und ihn in die Gewogenheit der Familien zu empfehlen.

Man war überall ganz erfüllt von den beiden Fremden und bedauerte, nicht schon früher diese angenehme Bekanntschaft gemacht zu haben. Der alte Herr zeigte sich als einen würdigen, sehr vernünftigen Mann, der zwar bei allem, was er sagte, ein wenig lächelte, so daß man nicht gewiß war, ob es ihm Ernst sei oder nicht, aber er sprach über das Wetter, über die Gegend, über das Sommervergnügen auf dem Keller am Berge so klug und durchdacht, daß jedermann davon bezaubert war. Aber der Neffe! Er bezauberte alles, er ge­wann alle Herzen für sich. Man konnte zwar, was sein Äußeres betraf, sein Gesicht nicht schön nennen; der untere Teil, besonders die Kinnlade, stand allzu sehr hervor, und der Teint war sehr bräunlich, auch machte er zuweilen allerlei sonderbare Grimassen, drückte die Augen zu und fletschte mit den Zähnen, aber dennoch fand man den Schnitt seiner Züge ungemein interessant. Es konnte nichts Beweglicheres, Gewandteres geben als seine Gestalt. Die Kleider hingen ihm zwar etwas sonderbar am Leib, aber es stand ihm alles trefflich; er fuhr mit großer Lebendigkeit im Zimmer umher, warf sich hier in ein Sofa, dort in einen Lehnstuhl und streckte die Beine von sich; aber was man bei einem anderen jungen Mann höchst gemein und unschicklich gefunden hätte, galt bei dem Neffen für Genialität. „Er ist ein Engländer,“ sagte man, „so sind sie alle; ein Engländer kann sich aufs Kanapee legen und einschlafen, während zehn Damen keinen Platz haben und umherstehen müssen; einem Engländer kann man so etwas nicht übelnehmen. Gegen den alten Herrn, seinen Oheim, war er sehr fügsam; denn wenn er anfing, im Zimmer umher zu hüpfen oder, wie er gerne tat, die Füße auf den Sessel hinaufzuziehen, so reichte ein ernsthafter Blick hin, ihn zur Ordnung zu bringen. Und wie konnte man ihm so etwas übelnehmen, als vollends der Onkel in jedem Haus zu der Dame sagte: „Mein Neffe ist noch ein wenig roh und ungebildet, aber ich ver­spreche mir viel von der Gesellschaft, die wird ihn gehörig formen und bilden, und ich empfehle ihn namentlich Ihnen aufs angelegenste.

So war der Neffe also in die Welt eingeführt, und ganz Grünwiesel sprach an diesem und den folgenden Tagen von nichts anderem als von diesem Er­eignis. Der alte Herr blieb aber dabei nicht stehen; er schien seine Denk- und Lebensart gänzlich geändert zu haben. Nachmittags ging er mit dem Neffen hinaus in den Felsenkeller am Berg, wo die vornehmen Herren von Grün­wiesel Bier tranken und sich am Kegelschieben ergötzten. Der Neffe zeigte sich dort als einen flinken Meister im Spiel; denn er warf nie unter fünf oder sechs; hie und da schien zwar ein sonderbarer Geist über ihn zu kommen; es konnte ihm einfallen, daß er pfeilschnell mit der Kugel hinaus und unter die Kegel hinein fuhr und dort allerhand tollen Rumor anrichtete, oder wenn er den Kranz – oder den König geworfen, stand er plötzlich auf seinem schön frisierten Haar und streckte die Beine in die Höhe, oder wenn ein Wagen vor­beifuhr, saß er, ehe man sich dessen versah, oben auf dem Kutschenhimmel und machte Grimassen herab, fuhr ein Stückchen weit mit und kam dann wieder zur Gesellschaft gesprungen.

Der alte Herr pflegte dann bei solchen Szenen den Bürgermeister und die anderen Männer sehr um Entschuldigung zu bitten wegen der Ungezogenheit seines Neffen; sie aber lachten, schrieben es seiner Jugend zu, behaupteten, in diesem Alter selbst so leichtfüßig gewesen zu sein, und liebten den jungen Springinsfeld, wie sie ihn nannten, ungemein.

Es gab aber auch Zeiten, wo sie sich nicht wenig über ihn ärgerten und dennoch nichts zu sagen wagten, weil der junge Engländer allgemein als ein Muster von Bildung und Verstand galt. Der alte Herr pflegte nämlich mit seinem Neffen auch abends in den Goldenen Hirsch, das Wirtshaus des Städt­chens, zu kommen. Obgleich der Neffe noch ein ganz junger Mensch war, tat er doch schon ganz wie ein alter, setzte sich hinter sein Glas, tat eine un­geheure Brille auf, zog eine gewaltige Pfeife heraus, zündete sie an und dampfte unter allen am ärgsten. Wurde nun über die Zeitungen, über Krieg und Frieden gesprochen, gab der Doktor die Meinung, der Bürgermeister jene, waren die anderen Herren ganz erstaunt über so tiefe politische Kenntnisse, so konnte es dem Neffen plötzlich einfallen, ganz anderer Meinung zu sein; er schlug dann mit der Hand, von welcher er nie die Handschuhe ablegte, auf den Tisch, und gab dem Bürgermeister und dem Doktor nicht undeutlich zu verstehen, daß sie von diesem allem nichts genau wüßten, daß er diese Sachen ganz anders gehört habe und tiefere Einsicht besitze. Er gab dann in einem sonderbar ge­brochenen Deutsch seine Meinung preis, die alle, zum großen Ärgernis des Bürgermeisters, ganz trefflich fanden; denn er mußte als Engländer natürlich alles besser wissen.

Setzten sich dann der Bürgermeister und der Doktor in ihrem Zorn, den sie nicht laut werden lassen durften, zu einer Partie Schach, so rückte der Neffe hinzu, schaute dem Bürgermeister mit seiner großen Brille über die Schulter herein und tadelte diesen oder jenen Zug, sagte dem Doktor, so und so müsse er ziehen, so daß beide Männer heimlich ganz grimmig wurden. Bot ihm dann der Bürgermeister ärgerlich eine Partie an, um ihn gehörig matt zu machen, denn er hielt sich für einen zweiten Philidor, so schnallte der alte Herr dem Neffen die Halsbinde fester zu, worauf dieser ganz artig und manierlich wurde und den Bürgermeister matt machte.

Man hatte bisher in Grünwiesel beinahe jeden Abend Karten gespielt, die Partie um einen halben Kreuzer; das fand nun der Neffe erbärmlich, setzte Kronentaler und Dukaten, behauptete, kein einziger spiele so fein wie er, söhnte aber die beleidigten Herren gewöhnlich dadurch wieder aus, daß er ungeheure Summen an sie verlor. Sie machten sich auch gar kein Gewissen daraus, ihm recht viel Geld abzunehmen; denn „er ist ja ein Engländer, also von Hause aus reich,“ sagten sie und schoben die Dukaten in die Tasche.

So kam der Neffe des fremden Herrn in kurzer Zeit bei Stadt und Umgegend in ungemeines Ansehen. Man konnte sich seit Menschengedenken nicht er­innern, einen jungen Mann dieser Art in Grünwiesel gesehen zu haben, und es war die sonderbarste Erscheinung, die man je bemerkt. Man konnte nicht sagen, daß der Neffe irgendetwas gelernt hätte, als etwa tanzen. Latein und Griechisch waren ihm, wie man zu sagen pflegt, böhmische Dörfer. Bei einem Gesellschaftsspiel in Bürgermeisters Hause sollte er etwas schreiben, und es fand sich, daß er nicht einmal seinen Namen schreiben konnte; in der Geo­graphie machte er die auffallendsten Schnitzer; denn es kam ihm nicht darauf an, eine deutsche Stadt nach Frankreich, oder eine dänische nach Polen zu ver­letzen, er hatte nichts gelesen, nichts studiert, und der Oberpfarrer schüttelte oft bedenklich den Kopf über die rohe Unwissenheit des jungen Mannes; aber dennoch fand man alles trefflich, was er tat oder sagte; denn er war so unverschämt, immer recht haben zu wollen, und das Ende jeder seiner Reden war: „Ich verstehe das besser!“

So kam der Winter heran, und jetzt trat der Neffe mit noch größerer Glorie auf. Man fand jede Gesellschaft langweilig, wo nicht er zugegen war, man gähnte, wenn ein vernünftiger Mann etwas sagte; wann aber der Neffe selbst das törichtste Zeug in schlechtem Deutsch vorbrachte, war alles Ohr. Es fand sich jetzt, daß der treffliche junge Mann auch ein Dichter war; denn nicht leicht verging ein Abend, an welchem er nicht einiges Papier aus der Tasche zog und der Gesellschaft einige Sonette vorlas. Es gab zwar einige Leute, die von dem einen Teil dieser Dichtungen behaupteten, sie seien schlecht und ohne Sinn, einen anderen Teil wollten sie schon irgendwo gedruckt ge­lesen haben; aber der Neffe ließ sich nicht irre machen, er las und las, machte dann auf die Schönheiten seiner Verse aufmerksam, und jedesmal erfolgte rauschender Beifall.

Sein Triumph aber waren die Grünwieseier Bälle. Es konnte niemand an­haltender, schneller tanzen als er, keiner machte so kühne und ungemein zier­liche Sprünge wie er. Dabei kleidete ihn sein Onkel immer aufs prächtigste nach dem neuesten Geschmack, und obgleich ihm die Kleider nicht recht am Leibe sitzen wollten, fand man dennoch, daß ihn alles allerliebst kleide. Die Männer fanden sich zwar bei diesen Tänzen etwas beleidigt durch die neue Art, womit er auftrat. Sonst hatte immer der Bürgermeister in eigener Person den Ball eröffnet, die vornehmsten jungen Leute hatten das Recht, die übrigen Tänze anzuordnen, aber seit der fremde junge Herr erschien, war dies alles ganz anders. Ohne-viel zu fragen, nahm er die nächste beste Dame bei der Hand, stellte sich mit ihr oben an, machte alles, wie es ihm gefiel, und war Herr und Meister und Ballkönig. Weil aber die Frauen diese Manieren ganz trefflich und angenehm fanden, so durften die Männer nichts dagegen ein­wenden, und der Neffe blieb bei seiner selbstgewählten Würde.

Das größte Vergnügen schien ein solcher Ball dem alten Herrn zu gewähren; er verwandte kein Auge von seinem Neffen, lächelte immer in sich hinein, und wenn alle Welt herbeiströmte, um ihm über den anständigen, wohlerzogenen Jüngling Lobsprüche zu erteilen, so konnte er sich vor Freude gar nicht fassen, er brach dann in ein lustiges Gelächter aus und bezeigte sich wie närrisch; die Grünwieseier schrieben diese sonderbaren Ausbrüche der Freude seiner großen Liebe zu dem Neffen zu und fanden es ganz in der Ordnung. Doch hie und da mußte er auch sein väterliches Ansehen gegen den Neffen an­wenden; denn mitten in den zierlichsten Tänzen konnte es dem jungen Mann einfallen, mit einem kühnen Sprung auf die Tribüne, wo die Stadtmusikanten saßen, zu setzen, dem Organisten den Kontrabaß aus der Hand zu reißen und schrecklich darauf herumzukratzen; oder er wechselte auf einmal und tanzte auf den Händen, indem er die Beine in die Höhe streckte. Dann pflegte ihn der Onkel auf die Seite zu nehmen, machte ihm dort ernstliche Vorwürfe und zog ihm die Halsbinde fester an, daß er wieder ganz gesittet wurde.

So betrug sich nun der Neffe in Gesellschaft und auf Bällen. Wie es aber mit den Sitten zu geschehen pflegt, die schlechten verbreiten sich immer leichter als die guten, und eine neue, auffallende Mode, wenn sie auch höchst lächerlich sein sollte, hat etwas ansteckendes an sich für junge Leute, die noch nicht über sich selbst und die Welt nachgedacht haben. So war es auch in Grün­wiesel mit dem Neffen und seinen sonderbaren Sitten. Als nämlich die junge Welt sah, wie derselbe mit seinem linkischen Wesen, mit seinem rohen Lachen und Schwatzen, mit seinen groben Antworten gegen Ältere eher geschätzt als getadelt werde, daß man dies alles sogar sehr geistreich finde, so dachten sie bei sich: „Es ist mir ein leichtes, auch solch ein geistreicher Schlingel zu werden.“ Sie waren sonst fleißige, geschickte junge Leute gewesen; jetzt dachten sie: „Zu was hilft Gelehrsamkeit, wenn man mit Unwissenheit besser fortkommt?“   Sie ließen die Bücher liegen und trieben sich überall umher auf Plätzen und Straßen. Sonst waren sie artig gewesen und höflich gegen jedermann, hatten gewartet, bis man sie fragte, und anständig und bescheiden geantwortet; jetzt standen sie in den Reihen der Männer, schwatzten mit, gaben ihre Meinung preis, und lachten selbst dem Bürgermeister unter die Nase, wenn er etwas sagte, und behaupteten, alles viel besser zu wissen.

Sonst hatten die jungen Grünwieseier Abscheu gehegt gegen rohes und ge­meines Wesen.   Jetzt sangen sie allerlei schlechte Lieder, rauchten aus ungeheuren Pfeifen Tabak und trieben sich in gemeinen Kneipen umher; auch kauften sie sich, obgleich sie ganz gut sahen, große Brillen, setzten solche auf die Nase und glaubten nun gemachte Leute zu sein; denn sie sahen ja aus wie der berühmte Neffe.  Zu Hause, oder wenn sie auf Besuch waren, lagen sie mit Stiefel und Sporen auf dem Kanapee, schaukelten sich auf dem Stuhl in guter Gesellschaft, oder stützten die Wangen in beide Fäuste, die Ellbogen aber auf den Tisch, was nun überaus reizend anzusehen war. Um­sonst sagten ihnen ihre Mütter und Freunde, wie töricht, wie ungeschickt dies alles sei, sie beriefen sich auf das glänzende Beispiel des Neffen. Umsonst stellte man ihnen vor, daß man dem Neffen, als einem jungen Engländer, eine gewisse Nationalroheit verzeihen müsse, die jungen Grünwieseier behaupteten, ebenso gut wie der beste Engländer das Recht zu haben, auf geistreiche Weise ungezogen zu sein; kurz, es war ein Jammer, wie durch das böse Beispiel des Neffen die Sitten und guten Gewohnheiten in Grünwiesel völlig unter­gingen.

Aber die Freude der jungen Leute an ihrem rohen, ungebundenen Leben dauerte nicht lange; denn folgender Vorfall veränderte auf einmal die ganze Szene.  Die Wintervergnügungen sollte ein großes Konzert beschließen, das teils von den Stadtmusikanten, teils von geschickten Musikfreunden in Grün­wiesel aufgeführt werden sollte.   Der Bürgermeister spielte das Violoncell, der Doktor das Fagott ganz vortrefflich, der Apotheker, obgleich er keinen rechten Ansatz hatte, blies die Flöte, einige Jungfrauen aus Grünwiesel hatten Arien einstudiert, und alles war trefflich vorbereitet. Da äußerte der alte Fremde, daß zwar das Konzert auf diese Art trefflich werden würde, es fehle aber offen­bar an einem Duett, und ein Duett müsse in jedem ordentlichen Konzert not­wendigerweise vorkommen. Man war etwas betreten über diese Äußerung; die Tochter des Bürgermeisters sang zwar wie eine Nachtigall, aber wo einen Herrn herbekommen, der mit ihr ein Duett singen könnte? Man wollte endlich auf den alten Organisten verfallen, der einst einen trefflichen Baß gesungen hatte; der Fremde aber behauptete, dies alles sei nicht nötig, indem sein Neffe ganz ausgezeichnet singe. Man war nicht wenig erstaunt über diese neue treffliche Eigenschaft des jungen Mannes, er mußte zur Probe etwas singen, und einige sonderbare Manieren abgerechnet, die man für englisch hielt, sang er wie ein Engel. Man studierte also in der Eile das Duett ein, und der Abend erschien endlich, an welchem die Ohren der Grünwieseier durch das Konzert erquickt werden sollten.

Der alte Fremde konnte leider dem Triumph seines Neffen nicht beiwohnen, weil er krank war; er gab aber dem Bürgermeister, der ihn eine Stunde zuvor noch besuchte, einige Maßregeln üb t seinen Neffen auf. „Es ist eine gute Seele, mein Neffe,“ sagte er, „aber hie und da verfällt er in allerlei sonderbare Gedanken und fängt dann tolles Zeug an; es ist mir eben deswegen leid, daß ich dem Konzert nicht beiwohnen kann; denn vor mir nimmt er sich gewaltig in acht, er weiß wohl warum! Ich muß übrigens zu seiner Ehre sagen, daß dies nicht geistiger Mutwillen ist, sondern es ist körperlich, es liegt in seiner ganzen Natur; wollten Sie nun, Herr Bürgermeister, wenn er etwa in solche Gedanken verfiele, daß er sich auf ein Notenpult setzte, oder daß er durchaus den Kontrabaß streichen wollte oder dergleichen, wollten Sie ihm dann nur seine hohe Halsbinde etwa lockerer machen, oder, wenn es auch dann nicht besser wird, ihm solche ganz ausziehen, Sie werden sehen, wie artig und manier­lich er dann wird.“

Der Bürgermeister dankte dem Kranken für sein Zutrauen und versprach, im Falle der Not also zu tun, wie er ihm geraten.

Der Konzertsaal war gedrängt voll; denn ganz Grünwiesel und die Um­gegend hatte sich eingefunden. Alle Jäger, Pfarrer, Amtleute, Landwirte und dergleichen aus dem Umkreis von drei Stunden waren mit zahlreicher Fa­milie herbeigeströmt, um den seltenen Genuß mit den Grünwieseiern zu teilen. Die Stadtmusikanten hielten sich vortrefflich, nach ihnen trat der Bürger­meister auf, der das Violoncell spielte, begleitet vom Apotheker, der die Flöte blies; nach diesen sang der Organist eine Baßarie mit allgemeinem Beifall, und auch der Doktor wurde nicht wenig beklatscht, als er auf dem Fagott sich hören ließ.

Die erste Abteilung des Konzerts war vorbei, und jedermann war nun auf die zweite gespannt, in welcher der junge Fremde mit des Bürgermeisters Tochter ein Duett vortragen sollte. Der Neffe war in einem glänzenden Anzug erschienen und hatte schon längst die Aufmerksamkeit aller Anwesenden auf sich gezogen. Er hatte sich nämlich, ohne viel zu fragen, in den prächtigen Lehnstuhl gelegt, der für eine Gräfin aus der Nachbarschaft hergesetzt worden war; er streckte die Beine weit von sich, schaute jedermann durch ein unge­heures Perspektiv an, das er noch außer seiner großen Brille gebrauchte, und spielte mit einem großen Fleischerhund, den er, trotz des Verbotes, Hunde mitzunehmen, in die Gesellschaft eingeführt hatte. Die Gräfin, für welche der Lehnstuhl bereitet war, erschien, aber wer keine Miene machte, aufzustehen und ihr den Platz einzuräumen, war der Neffe; er setzte sich im Gegenteil noch bequemer hinein, und niemand wagte es, dem jungen Mann etwas dar­über zu sagen; die vornehme Dame aber mußte auf dem ganz gemeinen Stroh­sessel mitten unter den übrigen Frauen des Städtchens sitzen und soll sich nicht wenig geärgert haben.

Während des herrlichen Spieles des Bürgermeisters, während des Orga­nisten trefflicher Baßarie, ja sogar während der Doktor auf dem Fagott phan­tasierte und alles den Atem anhielt und lauschte, ließ der Neffe den Hund das Schnupftuch apportieren oder schwatzte ganz laut mit seinen Nachbarn, so daß jedermann, der ihn nicht kannte, über die absonderlichen Sitten des jun­gen Herrn sich wunderte.

Kein Wunder daher, daß alles sehr begierig war, wie er sein Duett vortragen würde. Die zweite Abteilung begann; die Stadtmusikanten hatten etwas We­niges aufgespielt, und nun trat der Bürgermeister mit seiner Tochter zu dem jungen Mann, überreichte ihm ein Notenblatt und sprach: „Mosjöh! wäre es Ihnen jetzt gefällig, das Duetto zu singen?“ Der junge Mann lachte, fletschte mit den Zähnen, sprang auf, und die beiden anderen folgten ihm an das Noten­pult, und die ganze Gesellschaft war voll Ei Wartung. Der Organist schlug den Takt und winkte dem Neffen, anzufangen. Dieser schaute durch seine großen Brillengläser in die Noten und stieß greuliche, jämmerliche Töne aus. Der Organist aber schrie ihm zu: „Zwei Töne tiefer, Wertester, C müssen Sie singen, C!“

Statt aber C zu singen, zog der Neffe einen seiner Schuhe ab und warf ihn dem Organisten an den Kopf, daß der Puder weit umherflog. Als dies der Bürgermeister sah, dachte er: „Ha! jetzt hat er wieder seine körperlichen Zu­fälle,“ sprang hinzu, packte ihn am Hals und band ihm das Tuch etwas leichter; aber dadurch wurde es nur noch schlimmer mit dem jungen Mann. Er sprach nicht mehr deutsch, sondern eine ganz sonderbare Sprache, die niemand ver­stand, und machte große Sprünge. Der Bürgermeister war in Verzweiflung über diese unangenehme Störung, er faßte daher den Entschluß, dem jungen Mann, dem etwas ganz Besonderes zugestoßen sein mußte, das Halstuch vollends abzulösen. Aber kaum hatte er dies getan, so blieb er vor Schrecken wie erstarrt stehen. Denn statt menschlicher Haut und Farbe umgab den Hals des jungen Menschen ein dunkelbraunes Fell, und alsobald setzte derselbe auch seine Sprünge noch höher und sonderbarer fort, fuhr sich mit den glacierten Handschuhen in die Haare, zog diese ab, und, o Wunder! diese schönen Haare waren eine Perücke, die er dem Bürgermeister ins Gesicht warf, und sein Kopf erschien jetzt mit demselben braunen Fell bewachsen.

Er setzte über Tische und Bänke, warf die Notenpulte um, zertrat Geigen und Klarinetten und erschien wie ein Rasender. „Fangt ihn, fangt ihn,“ rief der Bürgermeister ganz außer sich, „er ist von Sinnen, fangt ihn!“ Das war aber eine schwierige Sache; denn er hatte die Handschuhe abgezogen und zeigte Nägel an den Händen, mit welchen er den Leuten ins Gesicht fuhr und sie jämmerlich kratzte. Endlich gelang es einem mutigen Jäger, seiner habhaft zu werden. Er preßt ihm die langen Arme zusammen, daß er nur noch mit den Füßen zappelte und mit heiserer Stimme lachte und schrie. Die Leute sammelten sich umher und betrachteten den sonderbaren jungen Herrn, der jetzt gar nicht mehr aussah wie ein Mensch. Aber ein gelehrter Herr aus der Nachbarschaft, der ein großes Naturalienkabinett und allerlei ausgestopfte Tiere besaß, trat näher, betrachtete ihn genau und rief dann voll Verwunderung: „Mein Gott, verehrte Herren und Damen, wie bringen Sie nur dies Tier in honette Gesellschaft? Das ist ja ein Affe, der Homo Troglodytes Linnaei, ich gebe sogleich sechs Taler für ihn, wenn Sie mir ihn ablassen, und bälge ihn aus für mein Kabinett.“

Wer beschreibt das Erstaunen der Grünwieseier, als sie dies hörten! „Was, ein Affe, ein Orang-Utan in unserer Gesellschaft? Der junge Fremde ein ganz gewöhnlicher Affe!“ riefen sie, und sahen einander ganz dumm vor Verwun­derung an. Man wollte nicht glauben, man traute seinen Ohren nicht, die Männer untersuchten das Tier genauer, aber es war und blieb ein ganz natür­licher Affe.

„Aber wie ist dies möglich!“ rief die Frau Bürgermeisterin, „hat er mir nicht oft seine Gedichte vorgelesen? Hat er nicht wie ein anderer Mensch bei mir zu Mittag gespeist?“

„Was?“ eiferte die Frau Doktorin. „Wie? Hat er nicht oft und viel den Kaffee bei mir getrunken und mit meinem Manne gelehrt gesprochen und ge­raucht?“

„Wie! ist es möglich!“ riefen die Männer. „Hat er nicht mit uns am Felsen­keller Kugeln geschoben und über Politik gestritten wie unsereiner?“

„Und wie?“ klagten sie alle, „hat er nicht sogar vorgetanzt auf unseren Bällen? Ein Affe! ein Affe? Es ist ein Wunder, es ist Zauberei!“

„Ja, es ist Zauberei und teuflischer Spuk,“ sagte der Bürgermeister, indem er das Halstuch des Neffen oder Affen herbeibrachte. „Seht! In diesem Tuche steckte der ganze Zauber, der ihn in unseren Augen liebenswürdig machte. Da ist ein breiter Streifen elastischen Pergaments, mit allerlei wunderlichen Zeichen beschrieben. Ich glaube gar, es ist Lateinisch; kann es niemand lesen?“

Der Oberpfarrer, ein gelehrter Mann, der oft an den Affen eine Partie Schach verloren hatte, trat hinzu, betrachtete das Pergament und sprach: „Mitnichten! Es sind nur lateinische Buchstaben, es heißt:

DER . AFFE . SEHR . POSSIERLICH . IST .

ZUMAL . WENN . ER . VOM . APFEL . FRISST.

Ja, ja, es ist höllischer Betrug, eine Art von Zauberei,“ fuhr er fort, „und es muß exemplarisch bestraft werden.“

Der Bürgermeister war derselben Meinung und machte sich sogleich auf den Weg zu dem Fremden, der ein Zauberer sein mußte, und sechs Stadtsoldaten trugen den Affen, denn der Fremde sollte sogleich ins Verhör genommen werden.

Sie kamen, umgeben von einer ungeheuren Anzahl Menschen, an das öde Haus; denn jedermann wollte sehen, wie sich die Sache weiter begeben würde. Man pochte an das Haus, man zog die Glocke, aber vergeblich, es zeigte sich niemand. Da ließ der Bürgermeister in seiner Wut die Türe einschlagen und begab sich hierauf in das Zimmer des Fremden. Aber dort war nichts zu sehen als allerlei alter Hausrat. Der fremde Mann war nicht zu finden. Auf seinem Arbeitstisch aber lag ein großer versiegelter Brief, an den Bürgermeister übertrieben, den dieser auch sogleich öffnete. Er las:

„Meine lieben Grünwieseier! Wenn ihr dies leset, bin ich nicht mehr in eurem Städtchen, und ihr werdet dann längst erfahren haben, wes Standes und Vaterlandes mein lieber Neffe ist. Nehmet den Scherz, den ich mir mit euch erlaubte, als eine gute Lehre auf, einen Fremden, der für sich leben will, nicht in eure Gesellschaft zu nötigen. Ich selbst fühlte mich zu gut, um euer ewiges Klatschen, um eure schlechten Sitten und euer lächerliches Wesen zu teilen. Darum erzog ich einen jungen Orang-Utan, den ihr als meinen Stellvertreter so lieb gewonnen habt. Lebet wohl und benutzet diese Lehre nach Kräften.“

Die Grünwieseier schämten sich nicht wenig vor dem ganzen Land. Ihr Trost war, daß dies alles mit unnatürlichen Dingen zugegangen war. Am meisten schämten sich aber die jungen Leute in Grünwiesel, weil sie die schlechten Ge­wohnheiten und Sitten des Affen nachgeahmt hatten. Sie stemmten von jetzt an keinen Ellbogen mehr auf, sie schaukelten nicht mit dem Sessel, sie schwiegen, bis sie gefragt wurden, sie legten die Brillen ab und waren artig und gesittet wie zuvor, und wenn je einer wieder in solche schlechte, lächerliche Sitten verfiel, so sagten die Grünwieseier: „Es ist ein Affe.“ Der Affe aber, welcher so lange die Rolle eines jungen Herrn gespielt hatte, wurde dem gelehrten Mann, der ein Naturalienkabinett besaß, überantwortet. Dieser läßt ihn in seinem Hof umhergehen, füttert ihn und zeigt ihn als Seltenheit jedem Fremden, wo er „och bis auf den heutigen Tag zu sehen ist.

Chamisso, Der Bettler und sein Hund

Drei Thaler erlegen für meinen Hund!
So schlage das Wetter mich gleich in den Grund!
Was denken die Herrn von der Polizei?
Was soll nun wieder die Schinderei?

Ich bin ein alter, ein kranker Mann,
Der keinen Groschen verdienen kann;
Ich habe nicht Geld, ich habe nicht Brod,
Ich lebe ja nur von Hunger und Not.

Und wann ich erkrankt, und wann ich verarmt,
Wer hat sich da noch meiner erbarmt?
Wer hat, wann ich auf Gottes Welt
Allein mich fand, zu mir sich gesellt?

Wer hat mich geliebt, wann ich mich gehärmt,
Wer, wann ich fror, hat mich gewärmt?
Wer hat mit mir, wenn ich hungrig gemurrt,
Getrost gehungert und nicht geknurrt?

Es geht zur Neige mit uns zwein,
Es muß, mein Tier, geschieden sein;
Du bist, wie ich, nun alt und krank,
Ich soll dich ersäufen, das ist der Dank!

Das ist der Dank, das ist der Lohn!
Dir gehts, wie manchem Erdensohn.
Zum Teufel! ich war bei mancher Schlacht,
Den Henker hab ich noch nicht gemacht.

Das ist der Strick, das ist der Stein,
Das ist das Wasser, — es muß ja sein.
Komm her, du Köter, und sieh mich nicht an,
Noch nur ein Fußstoß, so ist es gethan.

Wie er in die Schlinge den Hals ihm gesteckt,
Hat wedelnd der Hund ihm die Hand geleckt,
Da zog er die Schlinge sogleich zurück,
Und warf sie schnell um sein eigen Genick.

Und that einen Fluch, gar schauderhaft,
Und raffte zusammen die letzte Kraft,
Und stürzt‘ in die Flut sich, die tönend stieg,
In Kreise sich zog und über ihm schwieg.

Wohl sprang der Hund zur Rettung hinzu,
Wohl heult‘ er die Schiffer aus ihrer Ruh‘,
Wohl zog er sie winselnd und zerrend her,
Wie sie ihn fanden, da war er nicht mehr.

Er war verscharret in stiller Stund,
Es folgt ihm winselnd nur der Hund,
Der hat, wo den Leib die Erde deckt,
Sich hingestreckt und ist da verreckt.

A. W. Schlegel, Leda

Der Vogel Zeus, der Träger mächtiger Blitze,
Als ihn sein Fürst zum Raub auf Ida sandte,
Hielt er den Knaben, der sich zagend wandte,
Behutsam, daß ihn nicht die Klaue ritze.

Doch über Reiz und Anmut rollt in Hitze
Sein Auge hin; auch keinen Kuß entwandte
Der Schnabel, der nur blutige Taten kannte,
So trug er rasch ihn zum Olympschen Sitze.

Du aber, holder Schwan, du weißt die Gaben
Der Lieb in holder Schönheit Schoß zu pflücken,
Du willst nicht im Gesang; im Kusse sterben.

Nicht sterben, nein, nur lebend dich begraben
Im Wollusttaumel, und durch dies Entzücken
Unsterblichkeit, wenn sie nicht dein, erwerben.

Ludwig Uhland, Der weiße Hirsch

Es gingen drei Jäger wohl auf die Birsch,
Sie wollten erjagen den weißen Hirsch.
Sie legten sich unter den Tannenbaum;
Da hatten die drei einen seltsamen Traum.

Der erste.
„Mir hat geträumt, ich klopf auf den Busch,
Da rauschte der Hirsch heraus, husch, husch!“

Der zweite.

„Und als er sprang mit der Hunde Geklaff,
Da brannt‘ ich ihn auf das Fell, piff, paff!“

Der dritte.

„Und als ich den Hirsch an der Erde sah,
Da stieß ich lustig ins Horn, trara!“

So lagen sie da und sprachen, die drei,
Da rannte der weiße Hirsch vorbei.
Und eh‘ die drei Jäger ihn recht gesehn,
So war er davon über Tiefen und Höhn.
Husch, husch! piff, paff! trara!

Heinrich Heine, Schöpfungslied

Im Beginn schuf Gott die Sonne,
Dann die nächtlichen Gestirne;
Hierauf schuf er auch die Ochsen
Aus dem Schweiße seiner Stirne.

Später schuf er wilde Bestien,
Löwen mit den grimmen Tatzen;
Nach des Löwen Ebenbilde
Schuf er hübsche kleine Katzen.

Zur Bevölkerung der Wildnis
Ward hernach der Mensch erschaffen,
Nach des Menschen holdem Bildnis
Schuf er intressante Affen.

Satan sah dem zu und lachte:
„Ei, der Herr kopiert sich selber!
Nach dem Bilde seiner Ochsen
Macht er noch am Ende Kälber!“

Heinrich Heine, Das goldne Kalb

Doppelflöten, Hörner, Geigen
Spielen auf zum Götzenreigen,
Und es tanzen Jakob’s Töchter
Um das goldne Kalb herum —
Brumm — brumm — brumm —
Paukenschläge und Gelächter!

Hochgeschürzt bis zu den Lenden
Und sich fassend an den Händen,
Jungfraun edelster Geschlechter
Kreisen wie ein Wirbelwind
Um das Rind —
Paukenschläge und Gelächter!

Aron selbst wird fortgezogen
Von des Tanzes Wahnsinnwogen,
Und er selbst, der Glaubenswächter,
Tanzt im Hohenpriesterrock,
Wie ein Bock —
Paukenschläge und Gelächter!

August Kopisch, Der Mäuseturm

Am Mäuseturm, um Mitternacht,
Des Bischofs harter Geist erwacht:
Er flieht um die Zinnen im Höllenschein,
Und glühende Mäuslein hinter ihm drein!

Der Hungrigen hast du, Hatto, gelacht,
Die Scheuer Gottes zur Hölle gemacht:
Drum ward jedes Körnlein im Speicher dein
Verkehrt in ein nagendes Mäuselein!

Du flohst auf den Rhein, in den Inselturm,
Hinter dir rauschte der Mäusesturm!
Du schlössest den Turm mit eherner Tür
Sie nagten den Stein und drangen herfür:

Sie fraßen die Speise, die Lagerstatt,
Sie fraßen den Tisch dir und wurden nicht satt!
Sie fraßen dich selber zu Aller Graus,
Und nagten den Namen dein überall aus.

Fern rudern die Schiffer um Mitternacht,
Wenn schwirrend dein irrender Geist erwacht,
Er flieht um die Zinnen im Höllenschein,
Und glühende Mäuslein hinter ihm drein.

Friedrich Kind, Der Laubfrosch

Fallen die Blätter, entfärbt Herbststurm grünprangende Auen,
Berg ich mich, scheuend den Schnee, tief ins nächtige Grab;
Wehet des siegenden Frühlings Panier von den sprossenden Zweigen,
Komm ich wieder hervor, selbst ein sprossendes Blatt.

Friedrich Kind, Die brasilianische Spinne

Kannst du den Kolibri morden, du giftige Spinne Brasiliens,
Ist er nicht lieblich? Der Flur fliegendes Edelgestein?
„Das ist eitel Geschwätz! wer heißt ihn schweben und flattern,
Leuchten wie Iris‘ Gewand? — Spinnen sind ernsthaft und grau!“

Ferdinand v. Freiligrath, Schwalbenmärchen

Auf dem stillen schwülen Pfuhle
Tanzt die dumme Wasserspinn.
Unten auf kristallnem Stuhle
Thront die Unkenkönigin.

Von den edelsten Metallen
Hält ein Reif ihr Haupt umzogen.
Und wie Silberglocken schallen
Unkenstimmen durch die Wogen.

Denn der Lenz erschien, die Schollen
Sind zerflossen; Blüten zittern;
Dumpfe Frühlingsdonner rollen
Durch die Luft, schwarz von Gewittern.

Wasserlilienkelche fließen
Auf des Teiches dunklem Spiegel,
Und die ersten Schwalben schießen
Drüberhin mit schnellem Flügel.

Aus den zarten Schnäbeln leise
Tönt Gezwitscher in die Wellen:
„Viele Grüße von der Reise
Haben wir dir zu bestellen.

Lange waren wir in fremden
Sandbedeckten heißen Ländern,
Wo in weiten Kaftanhemden
Träge Turbanträger schlendern.

Purpurfarbne Wunderpflanzen
Dienten uns zu Meilenweisern;
Gelbe Mauren sahn wir tanzen
Nackt vor ihren Leinwandhäusern.

Lechzend auf dem warmen Sattel
Saß der Araber, der leichte,
Während Ziegenmilch und Dattel
Ihm aufs Pferd die Gattin reichte.

Auf die Jagd der Antilopen
Kriegerisch mit Spieß und Pfeile,
Zogen schlanke Äthiopen;
Klagend tönte Memnons Säule.

Aus des Niles Flut getrunken
Haben wir, matt von der Reise;
Gruß dir, Königin der Unken,
Von dem königlichen Greise!

Alles grüßt dich, Blumen, Blätter!
Doch zumeist der Grüße viele
Bringen wir von deinem Vetter,
Von dem Krokodil im Nile!“

Lenau, Auf meinen ausgebälgten Geier

I.

Du stehst so still und ernst, mein ausgebälgter Geier,
Ich bringe dir ein Lied mit meiner ernsten Leier.
Zwar hörst du nichts davon, dir geht mein Gruß verloren;
Doch Dichter sind gewohnt, zu singen toten Ohren.
Es lebt ja noch der Geist, der einst dir gab die Schwingen,
Den traf der Jäger nicht, er hört mein Lied erklingen.
Und wenn kein Menschenohr auch meinem Sange lauschte,
So hört mich doch der Geist, der mir das Herz berauschte.
Ich wollt‘, ich wäre jetzt in fernen Felsenklüften,
Und du hoch über mir, still kreisend in den Lüften;
Ich ließe froh mein Aug‘ mit deinem Fluge schweifen,
Und wie du niederfährst, die Beute zu ergreifen;
Wie du, atmender Blitz, zu Boden niederzückest
Und mit den Krallen scharf ein armes Leben pflückest;
Wie du das volle Herz ansetzest als ein Zecher,
Daß mit dem Leben trinkt der Tod aus einem Becher.

II.

Du, toter Geier, stehst noch immer wild und edel,
Und neben dich gestellt hab ich den bleichen Schädel.
Ich lasse dir nach ihm den Schnabel niederhangen,
Als hättest du gespeist das Fleisch von seinen Wangen.
Es mag an diesem Bild sich gern mein Blick entzünden,
Sehnsüchtig träumen sich nach Himalayagründen.
Den Ganges will ich dort abholen an der Quelle,
Und gehn mit ihm hinab, sein lauschender Geselle.
Der Ganges rauscht vorbei an einem Totenacker,
Und Geier fliegen schnell heran, die Leichenhacker.
Hier Gentlemen, Hindu und Moslemim beisammen.
Die lustig nach Hurdwar zur lauten Messe kamen.
Die Schlange Cholera mit mörderischer Tücke
Verschlang sie rasch und spie sie schwarz und kalt zurücke.
An manchem Herzen jetzt die Geier zehrend haften,
Wie noch vor einem Tag die heißen Leidenschaften.

Die Raben tummeln sich am Rest des Geiermahls,
Und gierig springen dran Wildhunde und Schakals.
Und Störche ziehn heran, gefiederte Giganten,
Vom strenggemessenen Schritt geheißen Adjutanten.
Wie sie auf ihren Fraß zuschreiten leis und sacht,
Unhörbar: ist allein, was hier mich grauen macht;
Und wie bedächtig sie den Schnabel klappernd wetzen;
Nur die Methode weckt mir grieselndes Entsetzen.
Dort Leichen führt hinab der Ganges, dumpf erbrausend,
Viel Geier sitzen drauf und schwimmen mit, fortschmausend
Und andre folgen satt, mit müßigem Geflatter
Dem Leichenzuge nach, wild schwärmende Bestatter.
Hier bin ich rings umbraust von heißem Lebenstriebe,
Natur! Hier rauscht dein Kuß der heft’gen Mutterliebe.
Hier muß das Grauen selbst der Seuche sich verlindern,
Seh! ich, Natur, wie du hier schwelgst in deinen Kindern!
Fort wird das Bild des Tods vom Lebenssturm getragen,
Der Siegesruf verschlingt mir alle Todesklagcn.
Und mit den Geiern dort, die um die Leichen schwanken,
Laß‘ fliegen ich am Strom Unsterblichkeitsgedanken.

Friedrich Rückert, An die Brieftaube

Du, zum schönsten Amt erkoren,
Zu bestellen Liebesklagen,
Worte vom Gefühl geboren
Über Berg und Tal zu tragen,
Daß sie, was man nicht den Ohren
Sagen kann, den Augen singen:
Hab ich dich nicht oft beschworen,
Taube, nichts zu unterschlagen?
Wie kannst du zu meinen Toren
Dich mit leerem Halse wagen?
Nie mehr sollen dich Amoren
Spannen vor der Mutter Wagen!
Falken sollen dich mit Sporen,
Und mit Krallen Geier jagen!

Und die Myrthe sei erfroren,
Wo du willst dein Nest aufschlagen!
Weil du hast das Blatt verloren,
Das der Freund dir gab zu tragen.

Friedrich Rückert, Aus der Jugendzeit

Aus der Jugend, aus der Jugendzeit
Klingt ein Lied mir immerdar;
O wie liegt so weit, o wie liegt so weit
Was mein einst war!

Was die Schwalbe sang, was die Schwalbe sang,
Die den Herbst und Frühling bringt;
Ob das Dorf entlang, ob das Dorf entlang
Das jetzt noch klingt?

„Als ich Abschied, als ich Abschied nahm,
Waren Kisten und Kasten schwer;
Als ich wieder kam, als ich wieder kam,
War alles leer.“

O du Kindermund, o du Kindermund,
Unbewußter Weisheit froh,
Vogelsprache kund, Vogelsprache kund
Wie Salomo!

0 du Heimatflur, o du Heimatflur,
Laß zu deinem heil’gen Raum
Mich noch einmal nur, mich noch einmal nur
Entfliehn im Traum!

Als ich Abschied nahm, als ich Abschied nahm,
War die Welt mir voll so sehr;
Als ich wieder kam, als ich wieder kam
War alles leer.

Wohl die Schwalbe kehrt, wohl die Schwalbe kehrt,
Und der leere Kasten
schwoll, Ist das Herz geleert, ist das Herz geleert,
Wird’s nie mehr voll.

Keine Schwalbe bringt, keine Schwalbe bringt
Dir zurück, wonach du weinst;
Doch die Schwalbe singt, doch die Schwalbe singt
Im Dorfe wie einst:

„Als ich Abschied nahm, als ich Abschied nahm,
Waren Kisten und Kasten schwer;
Als ich wieder kam, als ich wieder kam,
War alles leer.“

F. Rückert, Lerchentriller

Ich fuhr am frühen Morgen,
Als noch die Sonne schlief
Und hoch im Blau verborgen
Schon eine Lerche rief.

Als auf der Tag gegangen
Da war ich weit schon fort,
Und hoch im Äther sangen
Die Lerchen hier und dort.

Ich hörte nur das Schwirren
Der Stimmen im Azur
Und nicht der Achse Klirren
Womit ich weiter fuhr.

Und wie durch blüh’nde Triften
Der Wagen hin mich trug,
So setzte hoch in den Lüften
Sich fort der Stimmen Zug.

Als unterging die Sonne,
War ich an meinem Ort,
Da sang im Drang der Wonne
Noch eine Lerche fort.

Dann ward das Tönen stiller,
Als ich im Schlummer lag;
Es war ein Lerchentriller
Der ganze Frühlingstag.

Eduard von Bauernfeld, Der kranke Löwe

Es lag der gnädige Löwe krank.
In seiner Höhle war großer Stank.
Sich zu zerstreu’n ließ seine Gnaden
die Tiere zum Besuche laden.
Des Kämmerers Ruf erging an drei:
an den Esel, den Bock und Fuchsen dabei;
die hätten sich gern der Ehr‘ enthoben,
so ward der Esel vorgeschoben,
der zitternd trat in die Höhle ein. —
Da lag der König im Dämmerschein.
Der spricht, indem die heiße Gier
aus seinen Feueraugen blinkt:
„Freund Baldwyn, sag‘, wie riecht es hier?“
„Herr König,“ schnuppert der Esel, „es stink
Das Eselein, der Wahrheit beflissen,
‚ward für sein keckes Wort zerrissen. —
Kam d’rauf der Bock gehüpft, vor Graus
steh’n ihm die Augen beim Kopf heraus.
„Mein Böcklein, sprich, wie riecht es dir?“ –
„Herr König, wie Bisam duftet es mir.“
Der Schmeichler war nichts Besseres wert:
ihm ward sein Inn’res herausgekehrt. —
Nun kam der Fuchs auf leisen Sohlen,
was wird Herr Reineke sich holen?
„Mein guter Fuchs, du treue Seele,
sprich doch, wie riecht’s in meiner Höhle?“
Der Reinhard niest: „Ich kann’s nicht sagen,
mich tut ein arger Schnupfen plagen.“
Der König schweigt, beißt in die Lippe
und reicht ihm eine Eselsrippe:
„Da nimm und iß, du kluger Mann,
ich seh’s, du bist kein heuriger Hase;
wer den Geruch verleugnen kann,
der hat die allerfeinste Nase.“

Franz Grillparzer, Diplomatischer Rat

Ein Marder fraß die Hühner gern,
doch wüßt‘ er nicht, wie sie erhaschen;
er fragt den Fuchs, ’nen alten Herrn,
dem Steifheit schon verbot das Naschen.
Der sagt ihm: „Freund, der Rat ist alt;
was hilft’s, zu zögern?! Brauch‘ Gewalt!‘
Der Marder stürmt in vollem Lauf;
die Hühner aber flattern auf,
die einen gackernd, kreischend jene,
gerade in des Fuchses Zähne,
der gegenüber lauernd lag
und müh’los hielt den Erntetag.
Wenn du nach Hühnern lüstern bist,
frag‘ keinen, der sie selbst gern frißt!

Eichendorff, Die Lerche

1

Die Lerche grüßt den ersten Strahl,
Daß er die Brust ihr zünde.
Wenn träge Nacht noch überall
Durchschleicht die tiefen Gründe.

Und du willst, Menschenkind, der Zeit
Verzagend unterliegen?
Was ist dein kleines Erdenleid?
Du mußt es überfliegen!

2

Ich kann hier nicht singen.
Aus dieser Mauern dunklen Ringen
Muß ich mich schwingen
Vor Lust und tiefem Weh.
O Freude, in klarer Höh‘
Zu sinken und sich zu heben,
In Gesang
Über die grüne Erde dahin zu schweben,
Wie unten die licht‘ und dunkeln Streifen
Wechselnd im Fluge vorüberschweifen,
Aus der Tiefe ein Wirren und Rauschen und Hämmern,
Die Erde aufschimmernd im Frühlingsdämmern,
Wie ist die Welt so voller Klang;
Herz, was bist du bang?
Mußt aufwärts dringen!
Die Sonne tritt hervor,
Wie glänzen mir Brust und Schwingen,
Wie still und weit ist’s droben am Himmelstor!

Viktor v. Scheffel, Das Megatherium

Was hangt denn dort bewegungslos
Zum Knaul zusammgeballt
So riesenfaul und riesengroß
Im Ururururwald?
Dreifach so wuchtig als ein Stier,
Dreifach so schwer und dumm —
Ein Klettertier, ein Krallentier:
Das Megatherium!

Träg glotzt es in die Welt hinein
Und gähnt, als wie im Traum,
Und krallt die scharfen Krallen ein
Am Embahubabaum.
Die Früchte und das saftige Blatt
Verzehrt es und sagt: „Ai!“
Und wenn’s ihn leergefressen hat,
Sagt’s auch zuweilen: „Wai!“

Dann aber steigt es nicht herab,
Es kennt den kurzem Weg;
Gleich einem Kürbis fällt es ab
Und rührt sich nicht vom Fleck.
Mit rundem Eulenangesicht
Nickts sanft und lächelt brav:
Denn nach gelungener Fütterung kommt
Als Hauptarbeit der Schlaf.

… 0 Mensch, dem solch ein Riesentier
Nicht glaublich scheinen will,
Geh nach Madrid! dort zeigt man dir
Sein ganz Skelett fossil.
Doch bist du staunend ihm genaht,
Verliere nicht den Mut:
So ungeheure Faulheit tat
Nur vor der Sündflut gut.

Du bist kein Megatherium,
Dein Geist kennt höhere Pflicht.
Drum schwänze kein Kollegium
Und überfriß dich nicht.
Nütz‘ deine Zeit, sie gilt statt Gelds,
Sei fleißig bis zum Grab,
Und steckst du doch im faulen Pelz,
So fall mit Vorsicht ab!

Annette von Droste-Hülshoff, Die tote Lerche

Ich stand an deines Landes Grenzen,
an deinem grünen Saatenwald,
und auf des ersten Strahles Glänzen
ist dein Gesang herabgewallt.
Der Sonne schwirrtest du entgegen
wie eine Mücke nach dem Licht,
dein Lied war wie ein Blütenregen,
dein Flügelschlag wie ein Gedicht.

Da war es mir, als müsse ringen
ich selber nach dem jungen Tag,
als horch ich meinem eignen Singen
und meinem eignen Flügelschlag;
die Sonne sprühte glühe Funken,
in Flammen brannte mein Gesicht,
ich selber taumelte wie trunken,
wie eine Mücke nach dem Licht.

Da plötzlich sank und sank es nieder,
gleich toter Kohle in die Saat
noch zucken sah ich kleine Glieder
und bin erschrocken dann genaht;
dein letztes Lied, es war verklungen,
du lagst, ein armer kalter Rest,
am Strahl verflatternd und versungen
bei deinem halbgebauten Nest.

Ich möchte Tränen um dich weinen,
wie sie das Weh vom Herzen drängt,
denn auch mein Leben wird verscheinen,
ich fühl’s, versungen und versengt;
dann du, mein Leib, ihr armen Reste!
dann nur ein Grab auf grüner Flur,
und nah nur, nah bei meinem Neste,
in meiner stillen Heimat nur!

Mörike, Zitronenfalter im April

Grausame Frühlingssonne,
Du weckst mich vor der Zeit,
Denn nur in Maienwonne
Die zarte Kost gedeiht1
Ist nicht ein liebes Mädchen hier,
Das auf der Rosenlippe mir
Ein Tröpfchen Honig beut,
So muß ich jämmerlich vergehn
Und wird der Mai mich nimmer sehn
In meinem gelben Kleid.

Mörike, Auf den Tod eines Vogels

0 Vogel, ist es aus mit dir?
Krank übergab ich dich Barmherz’gen-Schwester-Händen,
Ob sie vielleicht noch dein Verhängnis wenden;
So war denn keine Hilfe hier?

Zwei Augen, schwarz als wie die deinen,
Sah ich mit deinem Blick sich einen,
Und gleich erlosch dein schönes Licht.
Hast du von ihnen Leids erfahren?
Wohlan! wenn sie dir tödlich waren,
So war dein Tod so bitter nicht.

Mörike, Mausfallen-Sprüchlein

Das Kind geht dreimal um die Falle und spricht
Kleine Gäste, kleines Haus,
Liebe Mäusin oder Maus,
Stell dich nur kecklich ein
Heut Nacht bei Mondenschein!
Mach aber die Tür fein hinter dir zu!
Hörst du?
Dabei hüte dein Schwänzchen!
Nach Tische singen wir.
Nach Tische schwingen wir
Und machen ein Tänzchen:
Witt witt!
Meine alte Katze tanzt wahrscheinlich mit.

Hermann Lingg, Rotkehlchen

Schwalben waren schon lang
fort und auf der Reise,
nur ein Rotkehlchen sang
lieblich und leise
unter dem Dach
eines Hauses das, halbzerstört,
allmählich zusammen brach!
Es wurde von niemand gehört,
und dennoch sang es. Das Moos,
wuchs auf der Schwelle,
die Steine bröckelten los,
des Abendlichtes Helle
schlief in den Zimmern allein,
die Stürme gingen aus und ein.

in dem großen verödeten Gang,
aber das Rotkehlchen sang.
Lust und Freude war entflohn,
alles war aus,
es wußte nichts davon,
es sang im öden, verfallenden Haus
mit einem eignen lieblichen Ton.

Wilhelm Busch

Es stand vor eines Hauses Tor
Ein Esel mit gespitztem Ohr,
Der käute sich sein Bündel Heu
Gedankenvoll und still entzwei. —
Nun kommen da und bleiben stehn
Der naseweisen Buben zween,
Die auch sogleich, indem sie lachen,
Verhaßte Redensarten machen,
Womit man denn bezwecken wollte,
Daß sich der Esel ärgern sollte. —
Doch dieser hocherfahrne Greis
Beschrieb nur einen halben Kreis,
Verhielt sich stumm und zeigte itzt
Die Seite, wo der Wedel sitzt.

Wilhelm Busch, Es sitzt ein Vogel

Es sitzt ein Vogel auf dem Leim,
Er flattert sehr und kann nicht heim.
Ein schwarzer Kater schleicht herzu,
Die Krallen scharf, die Augen gluh.
Am Baum hinauf und immer höher
Kommt er dem armen Vogel näher.
Der Vogel denkt: Weil das so ist
Und weil mich doch der Kater frißt,
So will ich keine Zeit verlieren,
Will noch ein wenig quinkilieren
Und lustig pfeifen wie zuvor.
Der Vogel, scheint mir, hat Humor.

Wilhelm Busch, Es saß ein Fuchs

Es saß ein Fuchs im Walde tief.
Da schrieb ihm der Bauer einen Brief:
So und so, und er sollte nur kommen,
‚S war alles verziehen, was übel genommen.
Der Hahn, die Hühner und Gänse ließen
Ihn alle zusammen auch vielmals grüßen.
Und wann ihn denn erwarten sollte
Sein guter, treuer Krischan Boke.
Drauf schrieb der Fuchs mit Gänseblut:
Kann nicht gut.
Meine Alte mal wieder
Gekommen nieder!
Im Übrigen von ganzer Seele
Dein Fuchs in der Höhle.

Klaus Groth, Matten Has!-

Lütt Matten de Has‘,
De mak sik en Spaß,
He weer bit’t Studeern,
Dat Danzen to lehrn,
Un danz ganz alleen
Op de achtersten Been.

Keem Reinke de Voß
Und dach: „Das en Kost!“
Un seggt: „Lüttje Matten,
So flink oppe Padden?
Un danzst hier alleen
Oppe achtersten Been?

Kumm, lat uns tosam!
Ik kann as de Dam!
De Krei, de speit Fitel
Denn geit dat canditel
Denn geit dat mal schön
Op de achtersten Been!“

Lütt Matten gep Pot.
De Voß beet em dot
Und setz sik in Schatten,
Verspis‘ de Lütt Matten:
De Krei, de krieg een
Vun de achtersten Been.

Theodor Storm, Von Katzen

Vergangnen Maitag brachte meine Katze
zur Welt sechs allerliebste kleine Kätzchen,
Maikätzchen, alle weiß mit schwarzen Schwänzchen.
Fürwahr, es war ein zierlich Wochenbettchen!
Die Köchin aber — Köchinnen sind grausam,
Und Menschlichkeit wächst nicht in einer Küche —
Die wollte von den Sechsen fünf ertränken,
Fünf weiße, schwarzgeschwänzte Maienkätzchen
Ermorden wollte dies verruchte Weib.
Ich half ihr heim! — der Himmel segne
Mir meine Menschlichkeit! Die lieben Kätzchen,
Sie wuchsen auf und schritten binnen kurzem
Erhobnen Schwanzes über Hof und Herd;
Ja, wie die Köchin auch ingrimmig drein sah,
Sie wuchsen auf, und nachts von ihrem Fenster
Probierten sie die allerliebsten Stimmchen.
Ich aber, wie ich sie so wachsen sehe,
Ich pries mich selbst und meine Menschlichkeit. —
Ein Jahr ist um, und Katzen sind die Kätzchen,
Und Maitag ist’s! — Wie soll ich es beschreiben,
Das Schauspiel, das sich jetzt vor mir entfaltet!
Mein ganzes Haus vom Keller bis zum Giebel,
Ein jeder Winkel ist ein Wochenbettchen!
Hier liegt das eine, dort das andre Kätzchen,
In Schränken, Körben, unter Tisch und Treppen,
Die Alte gar — nein, es ist unaussprechlich,
Liegt in der Köchin jungfräulichem Bette!
Und jede, jede von den sieben Katzen
Hat sieben, denkt Euch! sieben junge Kätzchen,
Maikätzchen, alle weiß mit schwarzen Schwänzchen!
Die Köchin rast, ich kann der blinden Wut
Nicht Schranken setzen dieses Frauenzimmers.
Ersäufen will sie alle neunundvierzig!
Mir selber! ach, mir läuft der Kopf davon —
0 Menschlichkeit, wie soll ich dich bewahren!
Was fang ich an mit sechsundfünfzig Katzen! —

Theodor Storm, Die Nachtigall

Das macht, es hat die Nachtigall
die ganze Nacht gesungen;
da sind von ihrem süßen Schall,
da sind in Hall und Widerhall
die Rosen aufgesprungen.

Sie war doch sonst ein wildes Kind,
nun geht sie tief in Sinnen,
trägt in der Hand den Sommerhut
und duldet still der Sonne Glut
und weiß nicht, was beginnen.

Das macht, es hat die Nachtigall
die ganze Nacht gesungen;
da sind von ihrem süßen Schall,
da sind in Hall und Widerhall
die Rosen aufgesprungen.

Theodor Storm, Das Käuzlein

Da sitzt der Kauz im Ulmenbaum,
Und heult und heult im Ulmenbaum.
Die Welt hat für uns beide Raum!
Was heult der Kauz im Ulmenbaum
Von Sterben und von Sterben?

Und übern Weg die Nachtigall,
Genüber pfeift die Nachtigall.
0 weh, die Lieb ist gangen all!
Was pfeift so süß die Nachtigall
Von Liebe und von Liebe?

Zur Rechten hell ein Liebeslied,
Zur Linken grell ein Sterbelied!
Ach, bleibt denn nichts, wenn Liebe schied,
Denn nichts als nur ein Sterbelied
Kaum wegbreit noch hinüber?

Heinrich Seidel, Grashüpfer sitzt im hohen Gras …

Grashüpfer sitzt im hohen Gras
und zirpt und zirpt und denkt sich was,
und denkt: „Wie sing‘ ich doch so schön!“
Mistkäfer fliegt mit viel Getön‘
vergnüglich um den Mist herum —
freut sich über sein schönes Gebrumm‘.
Sitzt auch ein Frosch im kühlen Rohr;
dem kommt sein Quak recht fürnehm vor.
Ein jeder denkt in seinem Sinn:
„Was für ein künstlich Vieh ich bin!“
Spottet wohl gar des andern Gesang —
das ist so ganz der natürliche Gang.

Heinrich Seidel, Das Infusorium

War einst ein Infusorium —
es war das größte um und um
in seinem Wassertropfen;
es saß und dacht‘: „Wer gleichet mir?
Was bin ich für ein riesig‘ Tier!
Ich bin so groß! — So weit man sieht,
erschaut man meinesgleichen nicht!“

Kam eine Maus an diesen Ort —
die hatte Durst und trank sofort
den ganzen Wassertropfen
mit samt den Infusorien all —
fünfhunderttausend auf einmal.
Gar mancher Mensch ist solch ein Tor
wie dieses brave Infusor!

Volkmann-Leander, Das Klapperstorch-Märchen

Wovon die Beine der Teckel so kurz sind, und daß sie sich dieselben ab­gelaufen haben, weiß jeder. Wie aber der Storch zu seinen langen Beinen gekommen ist, das ist eine ganz andere Geschichte.

Drei Tage nämlich, ehe der Storch ein kleines Kind bringt, klopft er mit seinem roten Schnabel an das Fenster der Leute, welche es bekommen sollen, und ruft:

„Schafft eine Wiegen,
Ein‘ Schleier für die Fliegen,
Ein buntes Röcklein,
Ein weißes Jäcklein,
Mützchen und Windel:

Bring‘ ein klein Kindel! Dann wissen die Leute, woran sie sind. Doch zuweilen, wenn er sehr viel zu tun hat, vergißt er es, und dann gibt’s große Not, weil nichts fertig ist.

Bei zwei armen Leuten, welche im Dorf in einer kleinen Hütte wohnten, hatte es der Storch auch vergessen. Als er mit dem Kinde kam, war niemand zu Hause. Mann und Frau waren auf Feldarbeit gegangen und Türe und Fenster verschlossen; auch war nicht einmal eine Treppe vor dem Hause, auf die er es hätte legen können. Da flog er aufs Dach und klapperte so lange, bis das ganze Dorf zusammenlief und eine alte Frau eilend aufs Feld hinaus­sprang, um die Leute zu holen.

„Herr Nachbar, Frau Nachbarin! Herr Nachbar, Frau Nachbarin!“ rief sie schon von weitem, ganz außer Atem, „um Gottes willen! Der Storch sitzt auf eurem Hause und will euch ein kleines Kind bringen. Niemand ist da, der ihm’s Fenster aufmachen kann. Wenn ihr nicht bald kommt, läßt er’s fallen, und’s gibt ein Unglück. Oben beim Müller hat er es vor drei Jahren auch fallen lassen, und das arme Wurm ist noch heute bucklig.“

Da liefen die beiden über Hals und Kopf nach Haus und nahmen dem Storche das Kind ab. Wie sie es besahen, war es ein wunderhübscher kleiner Junge, und Mann und Frau waren vor Freude außer sich. Doch der Storch hatte sich über das lange Warten so geärgert, daß er sich vornahm, ganz be­stimmt den beiden Leuten nie wieder ein Kind zu bringen. Als sie endlich kamen, sah er sie schon ganz schief und ärgerlich an, und während er fort­flog, sagte er noch: „Heute wird’s auch wieder spät werden, ehe ich zu meiner Frau Storchen in den Sumpf komme. Ich habe noch zwölf Kinder auszutragen, und es ist schon spät. Das Leben wird einem doch recht sauer!“

Doch die beiden Leute hatten in ihrer Herzensfreude es gar nicht bemerkt, daß sich der Storch so schwer geärgert. Eigentlich war er ja auch ganz allein daran schuld, daß er so lange hatte warten müssen, weil er es doch vergessen hatte, es ihnen vorher zu sagen. Wie nun das Kind wuchs und täglich hübscher wurde, sagte eines Tages die Frau:

„Wenn wir dem guten Storch, der uns das wunderhübsche Kind gebracht hat, nur irgendetwas schenken könnten, was ihm Spaß machte! Weißt du nichts?   Mir will gar nichts einfallen!“

„Das wird schwer halten,“ erwiderte der Mann; „er hat schon alles!“ Am nächsten Morgen jedoch kam er zu seiner Frau und sagte zu ihr: „Was meinst du, wenn ich dem Storch beim Tischler ein paar recht schöne Stelzen machen ließe? Er muß doch immer in den Sumpf, um Frösche zu fangen, und dann wieder in den großen Teich hinterm Dorf, aus dem er die kleinen Kinder herausholt. Da muß er doch sehr oft nasse Füße bekommen! Ich dächte auch, er hätte damals, als er zu uns kam, ganz heiser geklappert.“

„Das ist ein herrlicher Einfall!“ entgegnete die Frau.  „Aber der Tischler muß die Stelzen recht schön rot lackieren, damit sie zu seinem Schnabel passen!“ „So?“ sagte der Mann; „meinst du wirklich rot? Ich hatte an grün gedacht.“ „Aber bester Schatz!“ fiel die Frau ein, „wo denkst du hin? Ihr Männer wißt doch niemals, was zusammen paßt und gut steht. Sie müssen unbedingt rot sein!“

Da nun der Mann sehr verständig war und stets auf seine Frau hörte, so bestellte er denn wirklich rote Stelzen, und als sie fertig waren, ging er an den Sumpf und brachte sie dem Storch.

Und der Storch war sehr erfreut, probierte sie gleich und sagte: „Eigentlich war ich auf euch recht böse, weil ihr mich damals so lange habt warten lassen. Weil ihr aber so gute Leute seid und mir die schönen roten Stelzen schenkt, so will ich euch auch noch ein kleines Mädchen bringen. Heute über vier Wochen werde ich kommen. Daß ihr mir dann aber auch hübsch zu Hause seid, und expreß es erst noch einmal ansagen werde ich nun nicht. Den Weg kann ich mir sparen! — Hörst du?“

„Nein, nein!“ erwiderte der Mann.   „Wir werden sicher zu Hause sein. Du sollst diesmal keinen Ärger davon haben.“

Als die vier Wochen um waren, kam richtig der Storch geflogen und brachte ein kleines Mädchen; das war noch hübscher als der kleine Junge, und war nun gerade das Pärchen woll. Auch blieben beide Kinder hübsch und gesund, und die Eltern auch, so daß es eine rechte Freude war. —

Nun wohnte aber im Dorf noch ein reicher Bauer, der besaß ebenfalls nur einen Knaben, und der war noch dazu ziemlich garstig, und der Bauer wünschte sich auch noch ein Mädchen dazu. Als er vernahm, wie es die armen Leute angefangen, dachte er bei sich, es könne ihm gar nicht fehlen. Er ging sofort zum Tischler und bestellte ebenfalls ein paar Stelzen, viel schöner wie die, welche die armen Leute hatten anfertigen lassen. Oben und unten mit gol­denen Knöpfen und in der Mitte grün, gelb und blau geringelt. Als sie fertig waren, sahen sie in der Tat ungewöhnlich schön aus.

Darauf zog er sich seinen besten Rock an, nahm die Stelzen unter den Arm und ging hinaus an den Sumpf, wo er auch gleich den Storch fand.

„Ganz gehorsamer Diener Euer Gnaden!“ sagte er zu ihm und machte ein tiefes Kompliment.

„Meinst du mich?“ fragte der Storch, der auf seinen schönen roten Stelzen behaglich im Wasser stand.

„Ich bin so frei!“ erwiderte der Bauer. „Nun, was willst du?“

„Ich möchte gern ein kleines Mädchen haben, und da hat sich meine Frau erlaubt, Euer Gnaden ein kleines Geschenk zu schicken. Ein paar ganz be­scheidene Stelzen.

„Da mach nur, daß du wieder nach Hause kommst!“ entgegnete der Storch, indem er sich auf einem Beine umdrehte und den Bauer gar nicht wieder ansah. „Ein kleines Mädchen kannst du nicht bekommen; und deine Stelzen brauche ich auch nicht! Ich habe schon zwei sehr schöne rote, und da ich meist nur eine auf einmal benutze, so werden sie wohl sehr lange vorhalten. — Außer­dem sind ja deine Stelzen ganz abscheulich häßlich. Pfui! blau, grün und gelb geringelt wie ein Hanswurst! Mit denen dürfte ich ja der Frau Storchen gar nicht unter die Augen kommen.“

Da mußte der reiche Bauer mit seinen schönen Stelzen abziehen, und ein kleines Mädchen hat er sein Lebtag nicht bekommen. —

Conr. Ferd. Meyer, Möwenflug

Möwen sah um einen Felsen kreisen
ich in unermüdlich gleichen Gleisen,
auf gespannter Schwinge schweben bleibend,
eine schimmernd weiße Bahn beschreibend,
und zugleich in grünem Meeresspiegel
sah ich um dieselben Felsenspitzen
eine helle Jagd gestreckter Flügel
unermüdlich durch die Tiefe blitzen.

Und der Spiegel hatte solche Klarheit,
daß sich anders nicht die Flügel hoben
tief im Meer, als hoch in Lüften oben,
daß sich völlig glichen Trug und Wahrheit.

Allgemach beschlich es mich wie Grauen,
Schein und Wesen so verwandt zu schauen
und ich fragte mich, am Strand verharrend,
ins gespenstische Geflatter starrend:
Und du selber? Bist du echt beflügelt?
Oder nur gemalt und abgespiegelt?
Gaukelst du im Kreis mit Fabeldingen?
Oder hast du Blut in deinen Schwingen?

Friedrich Nietzsche, Vereinsamt

Die Krähen schrei’n
und ziehen schwirren Flugs zur Stadt:
bald wird es schnei’n, —
wohl dem, der eine Heimat hat!
Nun stehst du starr,
schaust rückwärts, ach! wie lange schon!
Was bist du Narr
Vor Winters in die Welt geflohn?
Die Welt — ein Tor
zu tausend Wüsten stumm und kalt!
Wer Das verlor,
was du verlorst, macht nirgends Halt.
Nun stehst du bleich
zur Winter-Wanderschaft verflucht,
dem Rauche gleich,
der stets nach kältern Himmeln sucht.
Flieg, Vogel, schnarr’^
dein Lied im Wüstenvogel-Ton! —
Versteck‘, du Narr,
dein blutend Herz in Eis und Hohn!
Die Krähen schrei’n
und ziehen schwirren Flugs zur Stadt:
bald wird es schnei’n, —
weh Dem, der keine Heimat hat!

Detlev von Liliencron, Schwalbensiziliane

Zwei Mutterarme, die das Kindchen wiegen,
es jagt die Schwalbe weglang auf und nieder.
Maitage, trautes Aneiuanderschmiegen,
es jagt die Schwalbe weglang auf und nieder.
Des Mannes Kampf: Sieg oder Unterliegen,
es jagt die Schwalbe weglang auf und nieder!
Ein Sarg, auf den drei Handvoll Erde fliegen,
es jagt die Schwalbe weglang auf und nieder.

Peter Hille, Abbild

Seele meines Weibes, wie zartes Silber bist du.
Zwei flinke Fittiche weißer Möwen
Deine beiden Füße.
Und dir im lieben Blute auf
Steigt ein blauer Hauch,
Und sind die Dinge darin
Alle ein Wunder.

Otto Julius Bierbaum, Ästhetisches von den Kühen

Ah, wie glänzt das neue Tor!
Jede Kuh furcht sich davor;
Es ist viel zu reine.
Laßt’s mit Mist beschmissen sein,
Gehen alle wedelnd ein,
Und es furcht sich keine.

Otto Erich Hartleben, Störche

Melancholisch ernste Störche,
weiß, auf schwarzem Hintergrunde,
klappern mit den langen Schnäbeln
monoton des Abends Rhythmen.

Eine hoffnungsleere Sonne
trifft mit matten schrägen Strahlen
melancholisch ernste Störche,
weiß, auf schwarzem Hintergrunde.

Und der Sumpf, verträumt und müde,
mit metallisch grünen Augen,
drin des Tages letzte Lichter
scheidend blinken — spiegelt wider
melancholisch ernste Störche.

(Aus dem Pierrot Lunaire des Albert Giraud)

Christian Morgenstern, Vöglein Schwermut

Ein schwarzes Vöglein fliegt über die Welt,
das singt so todestraurig …
Wer es hört, der hört nichts andres mehr,
wer es hört, der tut sich ein Leides an,
der mag keine Sonne mehr schauen.

Allmitternacht, allmitternacht,
ruht es sich aus auf dem Finger des Tods.
Der streichelt’s leis und spricht ihm zu:
„Flieg, mein Vöglein! Flieg mein Vöglein!‘
Und wieder fliegts flötend über die Welt.

Christian Morgenstern, Erster Schnee

Aus silbergrauen Gründen tritt
ein schlankes Reh
im winterlichen Wald
und prüft vorsichtig, Schritt für Schritt,
den reinen, kühlen, frisch gefallenen Schnee.
Und Deiner denk ich, zierlichste Gestalt.

Christian Morgenstern, Der Sperling und das Känguru

In seinem Zaun das Känguru —
es hockt und guckt dem Sperling zu.

Der Sperling sitzt auf dem Gebäude —
doch ohne sonderliche Freude.

Vielmehr, er fühlt, den Kopf geduckt,
wie ihn das Känguru beguckt.

Der Sperling sträubt den Federflaus —
die Sache ist auch gar zu kraus.

Ihm ist, als ob er kaum noch säße…
Wenn nun das Känguru ihn fräße?!

Doch dieses dreht nach einer Stunde
den Kopf, aus irgend einem Grunde,

vielleicht auch ohne tiefern Sinn,
nach einer andern Richtung hin.

Christian Morgenstern, Der Leu

Auf einem Wandkalenderblatt
ein Leu sich abgebildet hat.

Er blickt dich an bewegt und stil
den ganzen 17. April.

Wodurch er zu erinnern liebt,
daß es ihn immerhin noch gibt.

Richard Dehmel, Der tote Hund (nach Nizami)

Der Herr Jesus, auf seiner Wanderschaft,
betrat einen Markt, wurde sehr begafft.
Nur ein toter Hund, schon halb verfault,
wurde noch mehr begafft und bemault.

Da lag er — und rings um die üble Gestalt
machten die Menschen wie Aasgeier Halt.
Puhl sprach einer: mir wird ganz krank
von dem entsetzlichen Gestank.
Ein zweiter sprach: er stinkt zwar sehr,
aber der Anblick entsetzt noch mehr.
So gaffte jeder aus anderem Grund,
doch alle schmähten den toten Hund.
Da trat Jesus unter den Schwärm;
hell hob er über den Leichnam den Arm.
Seht! sprach er und stand voll Sonnenschein:
seine Zähne sind wie Perlen rein!
Und lächelte — daß Alle, die’s erlebten,
durchglühten Schlacken gleich erbebten.

Richard Schaukai, Böse große Vögel

Und kamen große Vögel durch die Nacht
mit krummen und verachtend starken Schnäbeln,
sie haben alles Leben schnöd betrachtet
mit klugen bösen kalten grauen Augen
und sind in Nebelferne dann geflogen
mit weithin schattenden und stummen Flügeln.

Hermann Hesse, Der Wolf

Noch nie war in den französischen Bergen ein so unheimlich kalter und langer Winter gewesen. Seit Wochen stand die Luft klar, spröde und kalt. Bei Tage lagen die großen, schiefen Schneefelder mattweiß und endlos unter dem grellblauen Himmel, nachts ging klar und klein der Mond über sie hin­weg, ein grimmiger Frostmond von gelbem Glanz, dessen starkes Licht auf dem Schnee blau und dumpf wurde und wie der leibhaftige Frost aussah. Die Menschen mieden alle Wege und namentlich die Höhen, sie saßen träge und schimpfend in den Dorfhütten, deren rote Fenster nachts neben dem blauen Mondlicht rauchig trüb erschienen und bald erloschen.

Das war eine schwere Zeit für die Tiere der Gegend. Die kleineren erfroren in Menge, auch Vögel erlagen dem Frost, und die hageren Leichname fielen den Habichten und Wölfen zur Beute. Aber auch diese litten furchtbar an Frost und Hunger.  Es lebten nur wenige Wolfsfamilien dort, und die Not trieb sie zu festerem Verband. Tagsüber gingen sie einzeln aus. Da und dort strich einer über den Schnee, mager, hungrig und wachsam, lautlos und scheu wie ein Gespenst. Sein schmaler Schatten glitt neben ihm über die Schnee­flächen. Spürend reckte er die spitze Schnauze in den Wind und ließ zu­weilen ein trockenes, gequältes Geheul vernehmen. Abends aber zogen sie vollzählig aus und drängten sich mit heiserem Heulen um die Dörfer. Dort war Vieh und Geflügel wohl verwahrt und hinter festen Fensterläden lagen Flinten angelegt. Nur selten fiel eine kleine Beute, etwa ein Hund, ihnen zu, und zwei aus der Schar waren schon erschossen worden.

Der Frost hielt immer noch an. Oft lagen die Wölfe still und brütend bei­sammen, einer am anderen sich wärmend und lauschten beklommen in die tote Öde hinaus, bis einer, von den grausamen Qualen des Hungers gefoltert, plötzlich mit schauerlichem Gebrüll aufsprang. Dann wandten alle anderen ihm die Schnauze zu, zitterten und brachen miteinander in ein furchtbares, drohendes und klagendes Heulen aus.

Endlich entschloß sich der kleinere Teil der Schar zu wandern. Früh am Tage verließen sie ihre Löcher, sammelten sich und schnobberten erregt und angstvoll in die frostklare Luft. Dann trabten sie rasch .und gleichmäßig da­von. Die Zurückgebliebenen sahen ihnen mit weiten, glasigen Augen nach, trabten ein paar Dutzend Schritte hinterher, blieben unschlüssig und ratlos stehen und kehrten langsam in ihre leeren Höhlen zurück.

Die Auswanderer trennten sich am Mittag voneinander. Drei von ihnen wandten sich östlich dem Schweizer Jura zu, die anderen zogen südlich weiter Die drei waren schöne, starke Tiere, aber entsetzlich abgemagert. Der ein gezogene, helle Bauch war schmal wie ein Riemen, auf der Brust standen die Rippen jämmerlich heraus, die Mäuler waren trocken und die Augen weit und verzweifelt. Zu dreien kamen sie weit in den Jura hinein, erbeuteten an zweiten Tag einen Hammel, am dritten einen Hund und ein Füllen und wurden von allen Seiten her wütend vom Landvolk verfolgt. In der Gegend, welch reich an Dörfern und Städtchen ist, verbreitete sich Schrecken und Scheu von den ungewohnten Eindringlingen. Die Postschlitten wurden bewaffnet, ohne Schießgewehr ging niemand von einem Dorf zum anderen. In der fremd« Gegend, nach so guter Beute, fühlten sich die drei Tiere zugleich scheu um wohl; sie wurden tollkühner als je zu Hause und brachen am hellen Tage in  den Stall eines Meierhofes. Gebrüll von Kühen, Geknatter splitternder Holzschranken, Hufgetrampel und heißer, lechzender Atem erfüllten den enger warmen Raum. Aber diesmal kamen Menschen dazwischen. Es war ein Preis auf die Wölfe gesetzt, das verdoppelte den Mut der Bauern. Und sie erlegte zwei von ihnen, dem einen ging ein Flintenschuss durch den Hals, der andere wurde mit einem Beil erschlagen. Der dritte entkam und rannte so lange, bis er halbtot auf den Schnee fiel. Er war der jüngste und schönste von den Wölfen, ein stolzes, herrisches Tier von mächtiger Kraft und gelenken Formen. Lange blieb er keuchend liegen. Blutig rote Kreise wirbelten vor seinen Augen, und zuweilen stieß er ein pfeifendes, schmerzliches Stöhnen aus. Ein Beil­wurf hatte ihm den Rücken getroffen. Doch erholte er sich und konnte sich wieder erheben. Erst jetzt sah er, wie weit er gelaufen war. Nirgends waren Menschen oder Häuser zu sehen. Dicht vor ihm lag ein verschneiter, mäch­tiger Berg. Es war der Chasseral. Er beschloß, ihn zu umgehen. Da ihn Durst quälte, fraß er kleine Bissen von der gefrorenen, harten Kruste der Schneefläche.

Jenseits des Berges traf er sogleich auf ein Dorf. Es ging gegen Abend. Er wartete in einem dichten Tannenforst. Dann schlich er vorsichtig um die Gartenzäune, dem Geruch warmer Ställe folgend. Niemand war auf der Straße. Scheu und lüstern blinzelte er zwischen den Häusern hindurch. Da fiel ein Schuß. Er warf den Kopf in die Höhe und griff zum Laufen aus, als schon ein zweiter Schuß knallte. Er war getroffen. Sein weißlicher Unterleib war an der Seite mit Blut befleckt, das in dicken Tropfen jäh herabrieselte. Dennoch gelang es ihm, mit großen Sätzen zu entkommen und den jenseitigen Bergwald zu erreichen. Dort wartete er horchend einen Augenblick und hörte von zwei Seiten Stimmen und Schritte. Angstvoll blickte er am Berg empor. Er war steil, bewaldet und mühselig zu ersteigen. Doch blieb ihm keine Wahl. Mit keuchendem Atem klomm er die steile Bergwand hinan, während unten ein Gewirre von Flüchen, Befehlen und Laternenlichtern sich den Berg ent­lang zog, zitternd kletterte der verwundete Wolf durch den halbdunkeln Tannen­wald, während aus seiner Seite langsam das braune Blut hinabrann.

Die Kälte hatte nachgelassen. Der westliche Himmel war dunstig und schien Schneefall zu versprechen.

Endlich hatte das erschöpfte Tier die Höhe erreicht. Er stand nun auf einem leicht geneigten, großen Schneefelde, nahe bei Mont Crosin, hoch über dem Dorfe, dem er entronnen. Hunger fühlte er nicht, aber einen trüben, klam­mernden Schmerz von der Wunde. Ein leises, krankes Gebell kam aus seinem hängenden Maul, sein Herz schlug schwer und schmerzhaft und fühlte die Hand des Todes wie eine unsäglich schwere Last auf sich drücken. Eine einzeln stehende breitästige Tanne lockte ihn; dort setzte er sich und starrte trübe in die graue Schneenacht. Eine halbe Stunde verging. Nun fiel ein mattrotes Licht auf den Schnee, sonderbar und weich. Der Wolf erhob sich stöhnend und wandte den feinen Kopf dem Licht entgegen. Es war der Mond, der im Südwest riesig und blutrot sich erhob und langsam am trüben Himmel höher stieg. Seit vielen Wochen war er nie so rot und groß gewesen. Traurig hing das Auge des sterbenden Tieres an der matten Mondscheibe, und wieder röchelte ein schwaches Heulen schmerzlich und tonlos in die Nacht.

Da kamen Lichter und Schritte nach. Bauern in dicken Mänteln, Jäger und junge Burschen in Pelzmützen und mit plumpen Gamaschen stapften durch den Schnee. Gejauchze erscholl. Man hatte den verendenden Wolf entdeckt, zwei Schüsse wurden auf ihn abgedrückt und beide fehlten. Dann sahen sie, daß er schon im Sterben lag und fielen mit Stöcken und Knütteln über ihn her. Er fühlte es nicht mehr.

Mit zerbrochenen Gliedern schleppten sie ihn nach St. Immer hinab. Sie lachten, sie prahlten, sie freuten sich auf Schnaps und Kaffee, sie sangen, sie fluchten. Keiner sah die Schönheit des verschneiten Forstes, noch den Glanz der Hochebene, noch den roten Mond, der über dem Chasseral hing und dessen schwaches Licht in ihren Flintenläufen, in den Schneekristallen und in den gebrochenen Augen des erschlagenen Wolfes sich brach.

Peter Altenberg, Der Kuckuck

„Ich der Kuckuck habe eine Riesenwut auf die Dichter! Ich sitz da in diesem faden hellgrünen Aprilwald, von früh bis abends, schrei‘, kreisch‘ mir die Kehle heraus nach diesem Mistvieh von Weibchen, sie hört’s ganz genau, die Kanaille, aber sie will mich nebbich reizen und warten lassen bis zum Abend, und, hast du nicht gesehen, die Dichter träumen: „Der melan­cholische, eigentümlich eintönige, ja fast tragische Ruf des unsichtbaren Kuckuck ist gleichsam das tönende Mysterium der ganzen Natur!“

Soll er sich da hinsetzen, von früh bis abends Kuckuck rufen, wegen der Kanaille, die man „belegen“ muß! Es ist keine Kunst einen andern zu be­singen, wenn man die „Sängerin“ schon gehabt hat!“

Max Dauthendey, Die Schwalben schossen vorüber tief dir zu Füßen

Die Schwalben schössen vorüber tief Dir zu Füßen,
als sei ihr Flug ihr Zeichen tief Dich zu grüßen.
Oft dünkten die Vögel am Himmel mich mehr klug
wie mancher, den ich nach Wegen der Erde frug.
Schwalben, die früh bis spät in Freiheit schwammen,
die hielten sich in Liebe eng zusammen.
Sie bauen ihr Nest warm wie der Mensch sein Dach,
Sie fliegen von früh bis spät begeistert wach
und eilen stets hurtig dem Weg ihres Herzens nach

Theodor Etzel, Der Büffel

Ein Büffel weidete in wogender Steppe. Da plötzlich lag ganz nahe ein Löwe auf der Lauer.
„Entfliehe!“ rief ein fliehender Fuchs dem Büffel zu.
„Was?“ lachte dieser, „vor einem Tiere, das sich vor mir duckt…?!“
Da sprang der Löwe dem störrischen Büffel den Tod in den Nacken.
— Despot! Dein Volk — es liegt geduckt…

Theodor Etzel, Stier und Krähen

Ein starker Stier durchfurchte mit scharfer Pflugschar verwildertes Brach­feld, für neue Saat den Boden lockernd und läuternd. Hinter ihm her in den frischen Furchen trabten die Krähen, um ausgehobene Würmer und Enger­linge zu fressen.

Ein Zug lärmender Wildgänse flog über die Landschaft. „Was macht ihr da unten?“ riefen sie neugierig den Krähen zu.

„Seht ihr denn nicht,“ entgegneten diese, „daß wir uns von dem großen Stier bedienen und speisen lassen?“

Die Wildgänse hielten bestürzt in ihrem eiligen Fluge inne und verneigten sich zu den Krähen hinunter: „Verzeiht, Hochedle, daß wir es wagten, euch zu stören.“

Die Krähen trabten stolz hinter dem Stiere her, der unermüdlich den Pflug durchs wilde Brachfeld zog.

So pflügt das Genie — damit die Kleinen hinter ihm her sich ehren lassen können.

Alois Wohlmuth, Hilferuf

Der Frösche Not im tiefen Moor
war heuer groß wie nie zuvor.
Im Schilfe lag der Schlangen Brut
und dürstete nach ihrem Blut,
und kläglich klagten sie vereint
nach Hilfe gegen ihren Feind.

Den Jammer hört im hohen Nest
der Storch, der gleich sich niederläßt;
er stelzt in gravität’scher Ruh‘
im Moose dem Konzerte zu
und frißt die Schlangen in den Tiefen
sowie die Frösche, die ihn riefen.

Stephan v. Kotze, Känguruhjagd

„Nun wollen wir mal Känguruh jagen gehen, ehe die Überschwemmung kommt“, meinte der Stationsvorsteher. Das Vieh hatte sich noch nicht ge­nügend von der Dürre erholt, um getrieben zu werden. Der dürstende Boden aber hatte in tiefen Zügen den Regen getrunken, noch ohne Übersättigung. Es war ja auch gar so lange trocken gewesen! Die klaffenden Spalten hatten sich geschlossen und die eiserne Erdrinde eine jugendliche Elastizität ange­nommen, die man selbst auf dem faulsten Gaule fühlen konnte.

„Jetzt fällt man wenigstens nicht mehr so hart,“ sagte ich mir mit einem Schmunzeln innigster Befriedigung.

Auf Wrotham Park gab es einige vorzügliche Känguruh-Hunde, Tiere, wie das Windspiel gebaut, aber viel größer und knochiger, gröber. Und nachdem wir uns so gut wie es die Zeiten gestatteten, beritten gemacht hatten — wir hatten ja die Auswahl unter achthundert Pferden — ging es eines Morgens vor Sonnenaufgang los, Tier und Mensch erfüllt von einem ganz neuen Ge­fühl der Energie, der Lebenslust.

Wir folgten dem schnurgeraden Stacheldrahtzaun, der, etwa vierzig Meilen lang, die Station in zwei Hälften teilte; auf der einen wurden die Mastochsen, auf der anderen das Zuchtvieh gehalten. Am anderen Ende des Zaunes lag eine kleine Außenstation, mit Wrotham Park durch Fernsprecher verbunden, indem der Induktionsstrom über den Stacheldraht geleitet wurde. Diese Ein­richtung ersparte auch einen Grenzreiter, da ein Bruch sofort von dei Station aus entdeckt werden konnte. Rechtwinklig durchschnitt der große Mitchell­fluß, der in den Golf von Carpentaria mündet, den Zaun, das ganze Gebiet vierteilend.

Übrigens, als der große Überlandtelegraph quer durch Australien gebaut wurde, erschien eines Tages ein alter Neger, eine Autorität in allem, was die Viehzucht betrifft, auf der Bildfläche und beobachtete lange kopfschüttelnd die Drähte.  Endlich wandte er sich entrüstet ab.

..Weißer Mann viel Schafskopf. Macht Draht so hoch, alles Vieh läuft drunter weg!“

Sprach’s und schlug sich seitwärts in die Büsche.

Als wir über den Fluß setzten, rieselte mitten durch das gewaltige, über fünfhundert Meter breite, tief eingeschnittene Bett ein dünner Faden Wasser, wie ein sehr kleiner Junge in den Hosen seines sehr beleibten Vaters einher­stolziert. Aber es war doch wenigstens fließendes, lebendes Wasser. Ich sprach meine Verwunderung aus über das scheinbare Mißverhältnis zwischen Bett und Strom. Aber der Vorsteher lächelte nur und sagte: „Warten Sie mal ab!“

Kurz darauf sichteten wir die ersten Känguruhs.

In Wrotham Park waren die Marsupien ziemlich selten. In anderen Gegen­den dagegen werden sie vielfach zur Landplage. Seitdem der Neger, der sie jagte, vor der „Zivilisation“ verschwunden ist, haben die Tiere oft unglaub­lich überhandgenommen. Fast jeder Distrikt im Inneren legt sich eine Steuer auf, die nach der Kopfzahl des Viehbestandes berechnet wird, um einen Kriegs­fonds gegen diese Vernichter des Weidelandes zu gründen; und Hunderte von Menschen leben lediglich vom Känguruhschießen. Für den Skalp er­halten sie einen gewissen Preis, und das Fell verkaufen sie auch noch, oft zu fünf bis sechs Mark das Stück.

Der Känguruhjäger muß ein sicherer Schütze sein und dazu ein guter Pfad­finder. Auf seinem Pferde sitzend, verfolgt er mit dem Repetiergewehr eine Familie, vom Sattel eine nach der anderen der hüpfenden Riesenratten er­legend. Dabei darf er, um das Fell zu schonen, nur die Kugel benutzen. Dann kehrt er nach einer Jagd von vielleicht zehn Meilen auf seinen eigenen Spuren zurück und balgt die Beute ab, wo sie gefallen ist, das Pferd mit den Häuten beladend. Habichte, Krähen und Hunde teilen sich in das Fleisch. Im Lager angekommen, spannt er die Felle dann auf dem Boden in der Sonne aus, die Innenseite nach oben, und bestreut sie mit Salz und Asche, bis sie getrocknet und zum Versand bereit sind.

Auf wilde Hunde, die viel Schaden unter den Herden anrichten, steht ein oft sehr hoher Preis. In Südaustralien bezahlte die Regierung vor einiger Zeit zwanzig Mark für den Skalp, während das benachbarte Westaustralien zehn Mark zahlte, aber die Rute als Wahrzeichen verlangte. So taten sich denn die wilden Schützen in beiden Kolonien zusammen, und es entstand ein lebhafter Handel in Ruten und Skalps. Scheinbar zogen allerdings die Westaustralier dabei den kürzeren. Wie die Herren das ausgeglichen haben, weiß ich nicht. Jedenfalls kostete den Regierungen der Hund dreißig Mark.

Wir kletterten das steile Ufer im Zickzack empor und landeten auf einer weiten, baumbestandenen Ebene. Plötzlich schlugen die Hunde an, und nicht hundert Schritt vor uns sprang ein Rudel Känguruhs entsetzt auseinander.

Die Hunde suchten sich ein großes Tier aus; es war jedenfalls der Stammvater, grau, sechs Fuß hoch, technisch genannt ein „alter Mann“. Mit gewaltigen Sätzen, den dicken Schwanz wie ein Ruder nach hinten gestreckt, flog er in den Busch hinaus und hinter ihm her die Meute. Tief über den Sattelknopf gebeugt, die Zügelhände am Gurt, mit den Augen sorgfältig das Gelände nach Löchern und Baumstümpfen abstreifend, sausten wir durch den jungen Mor­gen dahin, Pferd sowohl als Reiter von Jagdlust beseelt, nicht achtend der vorüberhuschenden Zweige, die uns das Gesicht zerpeitschten und die Kleider zerfetzten.

Die Meilen flogen vorbei, aber der „alte Mann“ zeigte noch keine Ermat­tung. Das Terrain wurde schwieriger, denn wir näherten uns den Hügeln. Steine und loses Geröll brachten die Pferde zum Stolpern, und hier und da prellte nackter Fels die unbeschlagenen Hufe. Es ging bergauf, und das Kän­guruh begann zu gewinnen. Wir setzten die Sporen ein, und die Hunde keuch­ten mühsam höher.

Endlich war der Kamm der Hügelkette erreicht, und nun ging es wieder bergab. Zwei — drei gewaltige Sprünge machte das Wild, und dann fiel es auf einmal auf die Nase und rollte einige Meter den Abhang hinunter. Wieder sprang es auf, und wieder schlug es einen Purzelbaum. Känguruhs können nicht gut bergab laufen. Da verlieren sie das Gleichgewicht, und der Schwanz ist ihnen im Wege.

„Er hat sich gestellt!“ rief plötzlich der Vorsteher, der, allen voraus, und am besten beritten, dicht hinter den Hunden geblieben war. Und wirklich, von der Vergeblichkeit seiner Fluchtversuche überzeugt, hatte der „alte Mann“ seinen Stand mit dem Rücken gegen einen mächtigen Felsblock genommen und erwartete kampfbereit seine Verfolger.

Kläffend fielen die Hunde auf den bejahrten Herrn. Aber heulend flohen sie wieder, und einer von ihnen wand sich, von der schrecklichen Klaue des Hinterfußes aufgeschlitzt, im Todeskampfe auf dem Boden.

Jetzt kam der Vorsteher zur Hilfe. In voller Karriere hatte er den rechten Steigbügel und Riemen aus der Sattelschnalle geschlüpft, und, die schwere Waffe um den Kopf schwingend, zielte er, während er so nah wie möglich an dem Känguruh vorbeijagte, nach dessen Hinterschädel — und fehlte!

Es ging alles so schnell, ich sah es kaum. Durch die Wucht des Schlages hatte er wohl das Gleichgewicht verloren und war geradeswegs in die kurzen Arme des großen, aufrechtstehenden Tieres gefallen. Wie ein Bär packte ihn er „alte Mann“, und eines seiner kräftigen Hinterbeine fuhr empor, um das Opfer aufzuschlitzen wie den unglücklichen Hund.   Im selben Augenblick sauste der Hauptherdenmann vorbei, seinen Bügel schwingend, und wie von einer Kugel getroffen brach das prächtige Wild zusammen und wälzte sich, noch immer mit dem Vorsteher in den Armen, auf dem Grase umher.

Nun stürzten die Hunde darauf los, und zerfetzt und blutig machte sich der Vorsteher aus der Umarmung frei, erhob sich — und fluchte. Er fluchte wirklich schön. Er rief die Rache des Himmels herab auf das Känguruh und alle seine Verwandten, selbst bis in das vierte Glied. Er verwünschte des Kän­guruhs Vorfahren zu den tiefsten Tiefen des Ozeans und wandte sich dann an die umliegende Landschaft. Er sprach sich mißbilligend über die Granit­blöcke aus und benahm sich höchst unehrerbietig gegen das Klima. Er schimpfte über die Regierung der Kolonie und die Zuverlässigkeit des Satt­lers.  Er schwor, den Gaul, der ihn getragen, sofort zu erschießen und ver­prügelte gewissenhaft alle Hunde, die noch am Leben waren, und den einzigen Neger, der uns gefolgt.

Es war herzerhebend. Und offenbar tat es ihm wohl.

Der Vorsteher sagte, daß Känguruhjagden nur für Neulinge und Stadt­gigerl wären, und er für seine Person ginge jetzt nach Hause. Wir sollten uns aber nicht stören lassen. Offenbar gefiele es uns ja. Aber seine Mißstimmung wirkte ansteckend. Nur der Herdenmann lächelte, während er seinen Steig­bügelriemen an den Sattel schnallte.

Karl Mayer, Spatz und Spätzin

Auf dem Dache sitzt der Spatz,
und die Spätzin sitzt daneben,
und er spricht zu seinem Schatz:
„Küsse mich, mein holdes Leben!

Bald nun wird der Kirschbaum blüh’n,
Frühlingszeit ist so vergnüglich;
ach, wie lieb‘ ich junges Grün
und die Erbsen ganz vorzüglich!“

Spricht die Spätzin: „Teurer Mann,
denken wir der neuen Pflichten,
fangen wir noch heute an,
uns ein Nestchen einzurichten!“

Spricht der Spatz: „Das Nesterbau’n,
Eierbrüten, Junge füttern
und dem Mann den Kopf zu krau’n —
liegt den Weibern ob und Müttern.“

Spricht die Spätzin: „Du Barbarl
soll ich bei der Arbeit schwitzen,
und du willst nur immerdar
zwitschern und herumstibitzen?“

Spricht der Spatz: „Ich will dich hier
mit zwei Worten kurz berichten:
Für den Spatz ist das Pläsier,
für die Spätzin sind die Pflichten!“

Manfred Kyber, Stumme Bitten

Die Schafherde drängte sich aufgeregt zusammen. Ein altes Schaf erzählte.

„Meine Großmutter hat es selbst gesehen,“ sagte es, „es ist etwas Fabel­haftes, Grauenvolles. Man weiß nicht, was es ist. Sie sah auch nicht alles. Sie kam dran vorüber, als sie zur Weide ging. Es war ein Tor, das in einen dunklen Raum führte. Es roch nach Blut am Tor des dunklen Raumes. Zu sehen war nichts. Aber sie hörte den Schrei eines Hammels darin, einen gräss­lichen Schrei. Da lief sie zitternd zur Herde zurück.“

Alles schauderte.

„Man weiß nichts Gewisses,“ sagte das Schaf, „aber es muß etwas Wahres daran sein. Jedenfalls ist es furchtbar.“

„Deine Großmutter lebt nicht mehr?“ fragte ein junger Hammel.

„Ich weiß es nicht,“ sagte das Schaf, „es ist schon lange her — da wurde sie abgeholt.“

„Das soll der Anfang sein, man kommt dann nie wieder,“ sagten einige. Der Schäferhund bellte kläffend und trieb die Herde dem anderen Ende der Weide zu.

Da stand der Schäfer und sprach mit einem fremden Mann, der nicht aus­sah wie ein Hirt. Sie handelten miteinander. Dann ging der fremde Mann mit festen Schritten in die Herde hinein und prüfte die einzelnen Stücke mit kundigen Augen. Es waren nicht die Augen eines Hirten. Jetzt griff seine Hand nach dem jungen Hammel, der vorhin gefragt hatte.  Das Tier über­lief es kalt. Die Hand fühlte sich anders an, als die Hand des Hirten. Der Hammel bekam eine Leine um den Hals.

„Den nehme ich,‘ sagte der fremde Mann und zog einen schmutzigen Beutel mit Geld aus der Tasche. Er bezahlte. Das lebendige Leben gehörte ihm. Er hatte es gekauft.

Er ergriff die Leine und zerrte den Hammel von der Weide fort auf die Landstraße. Die Herde sah dem Davongehenden erschreckt und verständnis­los nach. Der Hammel wandte den Kopf. Seine Augen suchten die Ver­wandten und Spielgenossen. Etwas in ihm krampfte sich zusammen — etwas in ihm rief ihm zu, sich loszureißen und zurückzulaufen.

„Das ist der Anfang, man wird abgeholt,“ dachte er.

Aber er wehrte sich nicht. Er war hilflos. Was hätte es genützt?

„Es braucht ja nicht das Schreckliche zu sein,“ tröstete er sich, „es gibt noch andere Weiden. Dahin werde ich vielleicht geführt.“

Es war das Vertrauen, das Tiere haben, die zahm gehalten worden sind.

Jetzt bogen sie um die Ecke. Die Herde war nicht mehr zu sehen. Die Weide verschwand. Nur von Ferne hörte man den Schäferhund bellen und die Töne der Hirtenpfeife. Der Wind verwehte sie.

Es war ein weiter Weg. Der fremde Mann ging schnell. Er hatte es eilig.

„Ich bin müde, ich möchte mich etwas erholen,“ bat der Hammel.

Es war eine stumme Bitte.

Sie gingen weiter. Es war heiß und staubig.

„Ich bitte um etwas Wasser,“ sagte der Hammel.

Es war eine stumme Bitte.

Endlich kamen sie in eine kleine Stadt. Sie gingen durch enge krumme Straßen, in denen es keine Weiden gab. Diese Hoffnung also hatte sich nicht erfüllt.

Sie hielten vor einem Tore, das in einen dunklen Raum führte. Ein häß­licher Dunst schlug dem Tier entgegen. Der Hammel wandte den Kopf und blökte klagend. Er scheute vor dem Dunst zurück und vor dem dunklen Ein­gang. Eine Angst wurde in ihm wach, im Unterbewußtsein, eine grenzen­lose Angst.

„Ich möchte nach Hause,“ sagte der Hammel und sah den fremden Mann an. Es war eine stumme Bitte. Stumme Bitten werden nicht gehört.

Der Mann schlang die Leine mit einem geschickten Griff um die Hinter­beine des Tieres und zog es vorwärts. Die Schnur schnitt ein.

„Ja, ja. ich komme schon,“ sagte der Hammel erschreckt.   Die müden steifen Beine beeilten sich.

Es waren nur wenige Augenblicke, aber sie schienen sehr lang. Dann war er in einem dunklen Raum. Es roch erstickend nach Blut und Abfällen — nach Leichen von seinesgleichen.

Man hält es nicht für nötig, das vorher fortzuschaffen. Es ist ja nur Vieh

— Schlachtvieh.

Da packte den Hammel ein hilfloses, lähmendes Entsetzen. Ein Entsetzen, das alle stummen Bitten vorher vergessen ließ. Ein Entsetzen, das ganz allein herrschte.

Der Hammel zitterte am ganzen Körper.

„ Jetzt kommt das Fabelhafte — das Grauen,“ dachte er.

Und es kam.

Die Welt ist voll von stummen Bitten, die nicht gehört werden. Es sind Menschen, die sie nicht hören.. Es scheint unmöglich, diese stummen Bitten zuzählen. So viele sind es. Aber sie werden alle gezählt. Sie werden gebucht

im Buche des Lebens. Groß und fragend sehen die Augen des Gautama Buddha auf die europäische Kultur.

Walther Unus, Macht der Liebe

Einem armen Dichter erging es toll,
er lag in Angst und Nöten:
Ihm träumte, die ganze Welt war voll
von lauter krummbeinigen Kröten.

Die glotzten wie Kälber und hupften umher
mit langen, schlappenden Ohren,
und die allereklichste hatte er
zu seiner Liebsten erkoren.

Er wußte nicht, wie das alles geschehn
und schämte sich gebührlich —
doch als ers ein Weilchen mit angesehn,
fand er es ganz natürlich.

Else Soffel, Der Kolibri

Kolibri! Für den Nichteingeborenen klingt der Name wie eins jener farben­prächtigen Märchen, die uns der Orient schenkt: ein Märchen, um heimlich daran weiter zu bauen, ein Bild, um es liebend auszuschmücken in träumerischer Stunde. Und Märchen bleibt er auch für den, der ihn gesehen, da alles, was an ihm entzückt, den unnennbaren Zauber um ihn webt, zugleich dasjenige ist, was ihn uns entrückt, und für immer in jener Ferne hält, die dem Genuß seines Anblicks den Reiz des Flüchtigen, der nie restlos befriedigten Sehnsucht gibt.

Ein Vögelchen, kleiner als mancher unserer großen Schmetterlinge, dessen Lichtschönheit und Zartheit das schönste und zarteste seiner Art weit hinter sich läßt, ein Zauberbild, schwindend im Entstehen, ein Schönheitsgedanke und flüchtig wie dieser, ein kostbar zerbrechlicher Besitz, nimmer zu halten, darum ewig begehrt! Nie zu ruhigem Genießen verweilend, immer enteilend, eh‘ er recht da. Ein farbig aufzuckender Blitz blendet unser Auge. Nein, es ist nur Täuschung, Sonnengeflimmer auf betauten Zweigen. Aber dort, es schwankt ja die Blüte, goldgelbe Dolde, schwer und weich, leise wogend; zwei fremd-süße Augen dringen in deine, dem ein heißsummender Ton noch in Ohr und Herzen hängt, und aufwärts wirft sich’s wie ein Schrei der Lust, Funken streuend, Strahlen werfend, wie Feuer zerstiebend!

Und dieses kaum Geglaubte, Unbegreifliche, dessen Schönheit ein Hauch, das dem Tode geweiht, wenn nur auf Stunden aus seinen Bedingungen ge­rissen, ist von einem Lebenstrieb erfüllt, der mit der Glut seiner Farben gleichen Schritt hält. Rastlos, geizend im Genuß, spielerisch in der Gefahr, in selbst­sicherer Furchtlosigkeit diese als unmöglich ablehnend, verwegen bis zur Tollkühnheit, vertrauend in argloser Kinderweise, ein plötzlicher, blitzender, unbegriffener, darum nicht anzugreifender Schreck selbst den Mächtigen seiner Verwandten.

Fülle und Überschwang liebend, brauchend wie einen Teil seiner selbst, mit diesen wandernd, ziehend, überall dem überflutenden, vollstreuenden, jauchzenden Leben nach, bis dorthin, wo es, schnee- und eisgefangen, kärg­lich bemessenen, heiß genossenen Frühling schenkt. —

Bilder von fremdgroßartiger Schönheit steigen auf: Sonnenglut über brennen­den Mesas, die gleich Ungeheuern Tischen aufragen, von Zyklopenhand em­porgehalten, aus deren Basaltplatte gepanzerte Kaktusblüten aufgleißen, stechenden Flammen gleich, vom Sonnenlicht entzündet, glotzaugig an Stachel­kolben sitzend, großblütig angeheftet wie blitzender Ordensstern, weich-armig in die Luft fassend vom heimatlichen Fels, oder als blasses Licht auf reichem Kandelaber sitzend.

Daneben spitzzüngige Agave, Palmlilie, fremd sich absondernd, in ihr eigenes Leben starrend, das der Nacht mehr angehört als dem Tage, wo in lichterfüllter Dämmerung die schwere weiße Glocke an zu tönen fängt, ein seltsamer Akkord zu dem grünlich leuchtenden Gestein, — phosphorn hinein­hängt in den Raum. Und als habe Vulkan die schönsten seiner Steine aus der Tiefe gebrochen, um sie einmal im Licht der Sonne spielen zu sehen, so irren flüchtige Funken über das Ganze, Strahlen farbigen Lichtes schießend, in zitternde Schleierwolke gehüllt, wie festgebannt vor den Blüten in der Luft stehend.

Oder du siehst den Frühling, den schönheitbrausenden, über Kalifornien ziehen. Auf waldigen Bergen, in Dickichten ist Lilienteppich gebreitet. Wald-geißblatt, heimlich-verliebt, schlingt zartwirre Arme um Eiche und Lorbeer, glückleuchtend aus hundert korallroten Blütenkelchen, feierdufthauchend.

Manzanila und Madronasträucher haben ihre Flammen aufgesteckt.

Und heimlich wie der Dieb in der Nacht, plötzlich wie Liebesfeuer und vergänglich wie dieses, fremd wie das Glück und schön wie das Märchen, schimmernd wie Waffen sind sie gekommen, flüchtiges Heer am blühenden Morgen, eingefallen ins Blütenmeer. Flügelschwirrend, Liebeslied girrend, an Blumen weidend, Lüfte durchschneidend wie blitzender Stahl.

Ihr Flug ist dem Auge Trug. Ihre Gegenwart stets Vergangenheit. Pflicht des Genießens läßt ihm nicht Zeit. Den Raubvogel schreckt er, dein suchen­des Auge neckt er, Nahrung nimmt er vom Strauß deiner Hand, die er fand, als sein Taumelflug ihn vorübertrug, noch ehe dir klar, ob der dich beraubt, Falter oder Vogel war?

Und weiter geht sein Verlangen.

Einzig Lieb‘ und Liebespflichten bringen den Flüchtigen zu einer Zeit ruhigen Verweilens. Von dürrem Zweige herab, an dem er schlaftrunken ge­hangen, inmitten verwirrender Blütenwildnis zirpt er ein Liedchen, das an die höchsten Töne einer Violine erinnert, klein von Umfang, doch hell, zu den lauten Farbtönen seines Kleides gestimmt, an das Geigen der Insekten mahnend.

In halber Höhe schwebend, auf blühendem Obstbaum, in dichtem Farn­gesträuch, von Rhododendron oder Jelängerjelieber überragt, mit Moos und Flechten überkleidet, ist — eine halbe Eierschale groß — das Heim errichtet. Einen Bohnenkern groß ist die Hülle für das lebende Juwel. Da bildet sich der Zauber aus. Hat er aber erst das Licht der Sonne erblickt, spiegeln die Auglein — schwarzblinkender Turmali — erst die Umgebung wieder, hat er, lustatmend vom Rand des Nestes die Ferne gespürt, so ist kein Halten mehr.

Kurze Probe hält er vielleicht, sich selbst zum Beweise, dann aber, der angeborenen Kunst sicher, im jubelnden Besitz seiner Fähigkeiten, wirft er sich dem Leben entgegen. Und zweifach beginnt aufs Neue das Spiel: das Seit- und Rückwärtsfliegen, wie ein Pfeil Geradeausschießen, als Rakete aufwärtssteigen oder als Meteor vom Himmel fallen, im Zickzack um die Bäume schlängeln und schwirrend vor den Blumen schweben, aus der Tiefe heißgefärbter Blumenkelche Insekten und Honig zu naschen.

Die Alten aber, die durch Liebesspiel und Liebesfolgen — noch einmal sind sie zur Brut geschritten — in ihrem alljährlichen Zug nach dem Norden aufgehalten worden, finden wir in Texas wieder.

Der wandernde Frühling hat sie mitgenommen. Über weite Prärien ziehen die Wolken, darunter die Herden. Gleich silbriger Woge wallen mannshohe Gräser, vom Wind gewiegt und singen ruhelos ein einsames Lied, dessen Schluß immer neuer Anfang, dessen Anfang ohne Ende. Narrenunkräuter treiben ihr heimlich-unheimlich Wesen, daß die Tiere, wenn sie davon ge­nossen, wie toll sich gebärdend, hinausrasen in die Steppe. Juwelgras nickt und Sternblume leuchtet, Helianthus ist hier beheimatet. Hochgewachsene Blütengeschlechter führt der Frühling im Gefolge. Auf den Kolibri wartet „painted-cup“, grünlichgelb mit scharlachrotem Kelch, ,,osweys-tea“ mit roten Blütenköpfchen und würzig duftendem Blatt, deren Sippe weithin im Lande in vielen Familien ansässig, rotblühende Kardinalsblume.

Der Kolibri braucht leuchtende Farben. Was sich seinem Blick entgegen­drängt, wenn er in jähem Fluge vorübersaust, sich ihm von weitem anträgt, das ist sein. Nicht suchen will er, sondern auf seinem Wege finden.

Mennigrot sind die acht Zentimeter langen Blütendolden der Kolibriblume, die er in Mexiko umschwärmt, scharlachrot, inwendig gelb die blattwinkelig blühenden Kelche der Trompetenblume. Purpurrot punktiert, gelb gefleckt die weißen in fußlangen Rispen prangenden Kinder der Katalpa.

Blumennymphe: ist es nicht Zusammengehörigkeit, Entgegenkommen, das auf Notwendigkeit beruht, wenn der Leuchtende mit den Leuchtenden sich begegnet?

Wenn das Schimmerköpfchen im lichten Dunkel eines Blütenkelches zum eigenen Glanz noch fremden Schmuck anlegt und goldbestäubt wieder zum Vorschein kommt, den Samen zu hundert neuen Blumenleben nichtahnend mit hinwegtragend?

Darum liebt der Kolibri Blumen, die ihren Honig heimlich versteckt am Grunde glocken- oder trichterförmiger Blüten tragen, für sie ist das feine Werkzeug des klingenspitzen Schnabels, der Zunge gebaut. Und unbewußt leistet er damit zugleich Liebes- und Lebensdienst.

Doch noch fehlt der Norden in der Reihe der Bilder.

Denn bis zum Polarkreis zieht alljährlich der kleine Wanderer. Einen Welt­teil durch folgt er der Blüte.

Noch wartet auf ihn die üppige Wildnis appalachischer Wälder, an deren Rand die Kastanie steht, wo zu Füßen des Hikory- und Tulpenbaums Dickichte von Farnen wuchern, Wälder im kleinen, die sanften Kerzen der Azaleen durch das Halbdunkel schimmern und Orchideen, seltsam geformt, phan­tastisch-sündige Märchen erzählen, Schlingpflanzen die hohen Gestalten der Waldbäume umgarnt halten. Genießt dort heißen kurzen Sommer und eilt, vorüber an dunkeln Wäldern mit den schweigsam ernst ragenden Riesen der Douglas- und Balsamtanne, Zedern und Ulmen, dem schroffen Küstengebirge Labradors zu, den Abhängen mächtiger Kanons, wo zwischen Erlen und Platanen das Nest des schwarzkehligen und Costaskolibri aufgehängt ist. Erst mit dem Eintreten des Frostes kehrt er nach südlichen Staaten zurück.

Kolibri — Blumennymphe, Sylphe, Elfe. Nicht umsonst sind deine Namen aus dem Reich des Märchens genommen I

Montezumas Kleid war mit dem Glanz deiner Federn geziert. Nicht nach Sonne und Sternen mußte er greifen wie Allerleirauh, deren drei Kleider aus Sonne, Mond und Sternen gewebt waren. Von der Erde selbst nahm er das schönste, um seine Herrlichkeit zu schmücken!

Else Soffel, Ammer im Frühling

Herzacker, müder, willst du nicht mehr tragen
In diesen Tagen?
Lichtumsponnen?
Liegst still und stumm
Und wartest jede Stunde —
Rief irgendwo ein Vogel in der Runde
„Zerronnen“?

Irene Heberle, Goldrjes Gespinst

Von all dem Schönen, all dem Lieben,
Ist nur ihr Hündchen noch bei uns geblieben.
Es war so traurig, als sie uns verließ,
Verschmähte Speis und Trank und stieß
Ein schmerzlich Heulen in die Luft,
Da man die Herrin ihm verneinte,
Kroch unter das verlass’ne Bett und weinte.
— Kein Stein bewegte sich an ihrer Gruft. —
Doch eine große Spinne lief erschrocken
Hervor aus düsterem Versteck,
Vermehrend noch des Hundes Leiden. —
Und als der Morgen schien, erglänzte seiden,
Wo einst geruht die sonnenblonden Locken,
Ein Goldgespinst am Kisseneck.

Egon Freiherr v. Kapherr, Der Federschmuck

Ein leiser Wind flüstert im Röhricht, kräuselt das Wasser des Sumpfsees. Blütenstaub fliegt um die Uferbüsche.  Unter dem fauligen Laub des Insel­bodens lugen Anemonen hervor, weiße, blaue Blüten, die Farne rollen ihre frischen Blattstengel, lichtgrüne Blätter der Seerose schaukeln neben weißen und gelben Blumen.  Und dazwischen glotzt Kopf an Kopf — es plätschert und gluckst, pantscht und schmatzt, und ein Quarren hebt an, laut und lauter: Orr — quoarr, orr, oooarrr, orr quarks … — Und vom Walde her tönt das err, kerrr, eeeerrrrrr des Laubfrosches, das Rucksen und Gurren der Tauber, das Zirpen der Sumpfmeisen und das Flöten der Drosseln.   Es ist ein gar vielstimmig Konzert, so emsig, so fröhlich — und doch wieder so ernst. Be­sonders das der Frösche. Die nehmen’s genau mit dem Chor: orrr, quoarks, oarr, quarr.  Der Rohrsänger scheint den Kapellmeister zu machen; er hat seine Stimme dem Froschchor angepaßt. Denn gräßlich knarrt seine Strophe. Und als er loslegt, verdoppeln die Grünen ihre Anstrengungen, blasen die Backen auf.   Rasend schallt die gemischte Musik des Sumpforchesters. So laut schwingen die Töne, daß die Drossel im Busche wegfliegt.  Sie kommt dagegen nicht auf; ihre Stimmmittel reichen nicht. — Oarrr, kerrr, quoarr, quarks — zizizizikerr, kerr, kerr, zizizikerr… j

Oben im Wipfel der Ulme ertönt heiseres Krächzen. Und über die Schilf­wand streicht ein Schatten. Dann Flügelbrausen |— und — plump, plupps! verschwunden sind die grünen Sänger im Sumpf. Nur der Rohrsänger knarrt weiter. Ihm ist vor dem großen weißen Vogel nicht bange, vor dem Edel-reiher, der dort oben seine Jungen atzt.

Das Krächzen in der Spitze der alten Ulme geht in wildes Kreischen über. Dann rauscht der alte Reiher wieder ab — und die Stimmen da oben sinken wieder zu einem Ton, als riebe ein Ast am anderen. Wie ein Kratzen klingt’s. Dann fangen die Frösche wieder an — erst wenige, schüchtern, dann in an­schwellendem Chorus. Und dazwischen summen die Mücken, brummen die Käfer, schnarrt der Wachtelkönig, plärrt der Rohrspatz. Warmfeuchter Duft von Schilf, von fauligen Blättern, von Erde. —

Und wieder rauscht’s. Die Reihermutter, mit Krächzen empfangen. Und wieder plumpen die Frösche ins Wasser …

Nochmals streichen die Alten herzu, nochmals bringen sie Atzung. Dann aber hockt die Mutter auf dem Horst, der Vater auf dem dicken Ast daneben.

Der Abend. Rosige Nebel steigen auf, brauen in Schilf und Busch, legen sich in dichten Schwaden um den Fuß der Silberpappeln, Ulmen, Linden und Schwarzpappeln am Ufer. Und die Frösche verdoppeln ihre Anstrengungen, Unkenruf schallt dazwischen, Gezeter der Drosseln, die durch irgendein Raub­tier aus ihrer Ruhe geschreckt wurden, Eulenruf und Sang des Rohrsperlings. Dazu pfeifender Flügelschlag ziehender Enten, Geschnatter, rauschender Ein­fall, Plärren der Nachtschwalben, Brüllen der Rohrdommel . ..

Und die Nacht sinkt. Noch ein paarmal gaukelt die Rohrweide über den Binsen, noch zieht eine späte Schnepfe, die den Zug nach Norden verpaßte, weil sie, Gott weiß wo, bleiwund ward. Dann aber herrschen die Eulen, die Nachtschwalben und Nachtschmetterlinge. Nur das Unkenrufen und Frösche-quarren bleibt laut, das Plätschern eines Fisches im Rohr, das Brüllen der Rohrdommel.

Ü — pruup, üüüüü — prump … Oarrr, quoarks, aaarrrrr, orrrr, quaaaks. — Und dunkel wird’s um den letzten Reiherhorst, den letzten der großen Kolonie am Altwasser des Stromes …

Rotes Morgenfeuer über den Wipfeln der Silberpappeln. Roter und gol­dener Schein über dem Auwasser. Und mit platschendem Ruderschlage ein Boot. Schweigende Ruderer. Schweigend der Mann vorn im Kahn. Und der Frühschein glitzert auf den Läufen der Flinte. Das Boot windet sich, folgt den Krümmungen des Flusses, durch Fallholz, Astgewirr, hindurch zwischen Faulstämmen, Wurzeln, Ried.— Und stößt knirschend ans Ufer der Insel, wo die Pappeln, wo die uralte Ulme, wo der Horst am Wipfel, der letzte.

Und dann rollt’s wie Donner, jäh flammt es auf — prasselnd stürzt die alte Reihermutter durch die Zweige. Und als der Vater mit Atzung heranrauscht, bricht’s ihm den Flügel.   Und er schwankt, er taumelt, fällt, klatscht auf Wasser nieder. Da sperrt er den Schnabel seinen Feinden entgegen — rot färbt sich die Lache. Und er rudert, schlägt mit der Schwinge . . . Der Mann aber in der Spitze des Kahnes hebt den Stock . . . Und dann fährt das Boot davon. Und im Horst ist heiseres Krächzen.

Zweimal sank und stieg das Licht. Die Frösche quarrten, die Gelsen summ­ten wie vordem. Da war es still im Horst. Kein Krächzen mehr. Kein Ge­schmeiß fiel mehr durch die Zweige.

Dort in der großen Stadt, wo das Leben am meisten pulsiert, wenn der Tag erlosch, ist eine schlechte Stätte. Und darinnen spielen bunte Musikanten bunte Lieder, und buntbemalte Weiber lauem auf ihr Wild. Und sie sitzen hinter den marmornen Tischen zur Schau, wie Lockvögel am Vogelherd, wo die Gimpel schwirren. Auf ihren Schultern prahlt der Balg des Zobels, den der Jakute im eisigen Sibirien fing, der Fuchs, der Otter, die das tücki­sche Eisen im fernen Nordland quälte, in ihren Locken nickt die Feder des Paradiesvogels.

Auch die der letzten weißen Reiher vom Altwasser des Flusses, wo die alten Silberpappeln, wo die alte Ulme mit dem Horst auf der Insel… Bunte Weiber und bunte Musik; Zote und sattes Lachen. Wer hört das heisere Krächzen?

Zote und sattes Lachen, bunte Weiber und bunte Musik!

Hermann Harry Schmitz, Die vierbeinige Gefahr

Herr, die Not ist groß!
Die ich rief, die Geister,
Werd‘ ich nun nicht los —

klagt Goethes Zauberlehrling, klagten die Menschen, als sie sich bewußt wurden, was sie mit der Erziehung der Pferde zu denkenden Wesen angerichtet hatten.

Das intellektuelle Pferd, dessen Denken der ahnungslose Mensch durch harmlose Zahlen- und Buchstabenexperimente weckte, wurde in seiner un­aufhaltsam fortschreitenden, starken geistigen Entwicklung von Generation zu Generation ein schwer wiegender Faktor, der sich eines Tages riesengroß und unerbittlich in die überlieferten Institutionen der Menschen schob. „Gleiches Recht für Pferd und Mensch!“ „Was dem Menschen recht, ist dem Pferde billig!“

Mit dieser Forderung, mit diesem Schlagwort traten die intellektuellen Pferde aus ihrer tierischen Reserve an die Menschheit heran. Sie verlangten /Aufnahme in das Staatswesen und in die Gesellschaft als vollwertige Bürger.

Es wurde ein Zentral-Komitee mit dem Sitz in Elberfeld gebildet. Von hier ging eine eindringliche, wohlorganisierte Propaganda aus, die einen Zusammen­schluß aller gleichgesinnten Pferde und eine einheitliche Stellungnahme in dieser so wichtigen Existenzfrage erstrebte.

Die überwiegende Mehrzahl der Pferde trat der Emanzipationsbewegung bei.

Nur eine geringe Anzahl geistig schwach entwickelter Pferde ohne Frei­heitsgefühl und fortschrittliches Interesse kümmerte sich nicht um die Evo­lutionen einer neuen Zeit.

Die intellektuellen, positiven Massen sammelten sich im festen Bestreben, unter allen Umständen und mit der größten Energie den Menschen gegenüber ihre Ansprüche auf Gleichberechtigung durchzusetzen. Man tat alles, was dem förderlich war.

Vereine wurden gegründet. Politische Stammtische entstanden. Zeitungen und Flugblätter kündeten die Maximen des Zentral-Komitees.

Delegierte wurden gewählt, die auf den regelmäßig stattfindenden Ver­sammlungen in Elberfeld die Interessen ihrer beauftragten Verbände zu ver­treten hatten.

Die Pferde standen nicht alle auf dem gleichen Niveau der Bildung, es war genau wie bei den Menschen. Namentlich haperte es bei vielen Pferden noch bedenklich mit der Sprache. Klar und deutlich sprachen im Grunde nur wenige. Bei den meisten kamen die Sprachlaute gröhlend und unrein wie die Stimme eines ausgesungenen alten Komikers. Man gewöhnte sich aber auch an dieses unharmonische und unfertige Sprechen, welches dem bisherigen umständlichen Hufklopfsystem, das dem Pferde als erste Äußerung des In­tellektes von den Menschen beigebracht worden, unbedingt vorzuziehen war. Es gab noch derartige, weniger begabte Pferde, die zum Ausdruck ihrer Ge­danken auf die überholte Klopfmanier angewiesen waren und stets ihre Zahlen-und Buchstabenbretter wie Notenmappen umhängen katten.

Sie mußten natürlich hinter die sprechenden Pferde zurücktreten. Die meisten aber waren bemüht, sich mit der Kunst des Sprechens vertraut zu machen, und besuchten die Mittwochs und Samstags bei einer gebildeten Stute stattfindenden Sprachkurse. Dort nahm das bildungsbeflissene Pferd auch seine Klavierstunden.

Der große Tag kam, der Tag des großen Pferde-Dings in Elberfeld.

Alle Rassen vom edelsten Vollblüter an bis zum Pferde gemeinen Schlages waren vertreten.

Dort standen in einer Gruppe mehrere englische Vollblüter, glatt rasiert, nach der letzten Mode der Bond Street gekleidet, mit kurz zugestutzten Mäh­nen, und mokierten sich in unterstrichen arroganter Weise über andere, nicht so gut gekleidete Pferde. Trakehner mit dicken Upman-Zigarren zwischen den Zähnen, mit eleganten Bügelfalten und lackierten Hufen, Schweif und Mäh­nen mit Kosmetik steil aufrecht ,.es ist erreicht“ gekämmt, benahmen sich höchst anmaßend und warteten, daß sie von den anderen Pferden zuerst ge­grüßt würden. Sie machten sich laut und unanständig lustig über eine Gruppe biederer Oldenburger Pferde in Landestracht und mit qualmenden Pfeifen. Ein Orlow-Traber mit weißer Weste und einem Kneifer lief geschäftig umher und stellte sich überall vor. Einige abseits stehende Pferde kratzten sich fort­gesetzt unruhig mit den Hufen: es waren sogenannte Jucker. Sie standen ziemlich isoliert; man mied sie und rückte ab. Belgische Kaltblüter stellten sich breitbeinig überall in den Weg; einige repetierten für sich aus dem Sprach­führer. Einen betrüblichen Eindruck machte eine Anzahl klapperiger, rassen­loser Gäule, die wie schiefe Holzgestelle, mit durchgedrückten Knieen und hängenden Köpfen im Gefühl der Nichtigkeit herumstanden. Dazu trugen sie noch jene lieben Sonnenstrohhüte, die der Mensch in seiner Güte, als Auftakt einer kulturgemäßen, fortschrittlichen Bekleidung, den Droschken­gäulen einst stiftete.

Korpulente Ardenner, an den Uhrketten schwere goldene Berlockes, schäker­ten mit niedlichen, schicken, lockeren Ponystuten, deren Mähnen zu lustigen Löcklein und deren Schweife zu graziösen Pleureusen frisiert waren; sie trugen Ledertäschchen bei sich. Diese entzückenden Geschöpfe waren wohl kaum aus politischen Gründen zum Meeting gekommen. Ein vierschrötiger Ar­denner, der nach Kognak roch, mußte wohl einen anzüglichen Witz gemacht haben, die Ponys kicherten in ihre Taschentücher und platzten schließlich laut aus. Ein Pony verlor Haarnadeln.

Ein Hunter, der übelgelaunt in der Nähe stand, schüttelte mißbilligend den Kopf. Er war verdrossen, daß er so allein war und die Ponys auf sein Augengeblunzel nicht reagierten. Er grub ärgerlich seine Hufe in die Taschen seines Paletots.

Mehrere frauenrechtlerische Stuten in Reformkleidung waren auch er­schienen. Sie trugen die Mähnen zu Brezeln geflochten über den Ohren.

Man sah hier und da sprachunkundige oder unsichere Pferde, die sich zur Vorsicht ihre Zahlen- und Buchstabenkopfbretter mitgebracht hatten. Im Grunde war es ihnen peinlich, und sie wurden rot, wenn man sie fixierte. Ja, ja, Nichtwissen ist beschämend.

Das Durcheinander von Stimmen, Scharren und Klopfen, von gelegentlichem atavistischem Wiehern, das Gekicher der losen Ponys wurde plötzlich von einem gellenden Trompetenstoß, den dreißig als Herolde verkleidete Carrenpferde von sich gaben, unterbrochen. Füllen, in der Uniform von roten Radlern, drangen in die Menge ein und forderten auf, die Plätze in der riesigen Dinghalle, die einst als Luftschiff-; halle diente, einzunehmen.

Ein Schieben und Stoßen und gegenseitiges Auf-die-Hufe-Treten begann, Namentlich am Eingange war das Gedränge fast lebensgefährlich. Einer frauenrechtlerischen Stute trat man die Stoßlitze vom Kleid. Einem Ardenner stahl man die Börse. Ein Rotes-Radler-Füllen wurde erdrückt. Ein trauriger Droschkengaul verlor sein Sonnenhütchen.

Es dauerte eine Weile, bis alle Pferde, nach Rassen und politischer Über­zeugung sortiert, ihre Plätze eingenommen hatten. Neben den Juckern wollte niemand sitzen.

Auf dem Podium, das den Saal beherrschte, standen rote Plüschsessel und |’mit grünem Tuch überzogene Tische. Auf jedem Tisch standen eine Wasser­flasche und ein Glas. An den Wänden waren auf Wandbrettern Gipsbüsten: von berühmten Pferden, von Hans II., Muhamed, Zarif, Rosinante, Grane, Pegasus u. a., aufgestellt.

Ein alter Schimmel, scheinbar an Podagra leidend, im eleganten mit Orden geschmückten Überrock, wurde von zwei Pferden im Smoking, die schwarze Ledermappen trugen, die Treppe zum Podium hinaufgeführt und in dem roten Sessel, der unterschiedlich von den anderen mit einem sogenannten hohen Haupt, mit vergoldetem Emblem, geschmückt war, niedergesetzt.

Der alte Schimmel war das Oberroß Graf Bertram von Hafersack-Trense aus einer alten Trakehner Familie. Er war der Führer und tatkräftige Orga­nisator der Pferdebewegung. Er leitete mit großem Geschick die Versamm­lungen. Stellvertretender Vorsitzender und der rechte Huf des Grafen war Isidor Pleißen-Kohn, ein bewährter Finanzmann und gerissener Diplomat. Isidor Pleißen-Kohn trug die Mähne zu Teiteles gedreht. Er war der Sohn eines Althändlerpferdes in Kandrzin; darüber sprach er aber natürlich nicht.

Das ganze Komitee bestand aus zwanzig Mitgliedern, zumeist Abkömml­ingen alter Familien mit klingenden Namen. Es waren nicht alle besondere Intelligenzen. Sie saßen erhaben auf den roten Sesseln und imponierten der Masse.

Ganz an der Seite des Podiums, dicht am Ofen, saßen eng zusammenge­drückt auf Rohrstühlen fünf Menschen, richtige lebendige Menschen, und ein Phonograph. Die Menschen wirkten kümmerlich und verschwanden ganz neben der Majestät des Pferdekomitees. Das war die Vertretung der Menschheit.

Die Kommission der Menschen bestand aus einem Rechtsanwalt, einem Assessor, einem Pferdearzt, einem Zirkusdirektor und einer Schreibmaschinistin. In den Phonographen war die Rede des Professors Kutschbock einge­schaltet, einer weltberühmten Koryphäe auf dem Gebiet der Rassenvermischung und Entwicklungslehre. Er war ein Mann von 180 Jahren und verließ als scheuer Gelehrter nie seine Studierstube. Er vermittelte der Welt die Er­gebnisse seiner Forschungen durch den Phonographen.

Feindliche Blicke aus Pferdeaugen trafen die Menschen, die sich sichtlich unbehaglich fühlten. Nur vor dem Phonographentrichter hatten die Pferde eine gewisse Scheu. Die Menschen rutschten auf ihren Sitzen hin und her. Die Schreibmaschinendame spitzte ihren Bleistift. Der Phonograph räusperte sich.

Plötzlich ließ ein neuer Fanfarenstoß der dreißig Karrenpferde das Stimmen­gewirr und Geräusch in der Halle verstummen.

Das Oberroß Graf Bertram von Hafersack-Trense erhob sich, begrüßte in markigen Worten kurz die Versammlung und forderte auf, ein gemeinsames Lied zu singen.

„Wir halten fest und treu zusammen, hipp, hipp, hurra!“ schallte allsogleich aus kräftigen Pferdestimmen ein schreckliches, ohrenzerreißendes Gegröhle durch die Halle. Jedes Pferd bemühte sich, seine Nachbarn zu über­wiehern. Ein ergrautes Roß mit einer Brille und einem Kapotthut, eine Witwe, aus Krefeld, begleitete den Gesang auf dem Harmonium.

Die Büste Granes fiel durch den Spektakel herunter und zerschellte am harten Schädel eines stämmigen Oldenburgers.

Entsetzt schauten die Menschen in das Tohuwabohu aufgerissener Pferdemäuler.

Das Lied war aus.

Graf Bertram von Hafersack-Trense erhob sich, wieherte atavistisch in den Saal und wollte zu reden beginnen. Ein plötzlich ausbrechendes Stimmen­gewirr, ein wütendes Gekeif ließ ihn nicht zu Wort kommen. Die frauenrechtlerischen Stuten entrüsteten sich über die Ponys und fühlten sich schwer« in ihrer Moral verletzt. Die Ponys hielten natürlich auch nicht zurück, und man fiel mit häßlichen Schimpfworten übereinander her. Die Moral siegte. Die Ponys wurden von den Polizeipferden aufgeschrieben und aus der Halle geschafft. Einige Ardenner Lebemannspferde begleiteten sie zu ihrem Trost.

„Sehr peinlich, überaus peinlich,“ begann das Oberroß mit vor Erregung zitternder Stimme, als sich der Tumult gelegt hatte; „äußerst peinlich. Ich bedaure diese fatale Störung ungemein. Ich werde Vorkehrungen treffen, um fürderhin derartige unliebsame Vorkommnisse zu vermeiden. Man möchte
fast glauben, man wäre unter Menschen“

Der Rechtsanwalt schaute auf, setzte seinen Kneifer auf, der an einer sei­denen Schnur auf der gelben Weste baumelte, und unterbrach scharf den Redner: „Wie, unter Menschen? Keine Beleidigungen, wenn ich bitten darf! Wir wollen Ihr Bestes! Benehmen Sie sich aber anständig, ich sage nur Deich­sel, ich sage Stall! Merken Sie sich das!“ Der Zirkusdirektor klatschte mit der Reitpeitsche an seine Schaftstiefel.

Ein entsetzliches Gewieher und Getrampel folgte dem Zuruf des Rechts­anwaltes. Man drohte den Menschen mit geballten Hufen und sehne ihnen beleidigende Worte zu.

Aus dem Stimmengewirr klang das Organ des Oberrosses, es warf sich in
die Brust und schrie zu den Menschen hinüber: „Wir verbitten uns alle Anzüglichkeiten wr vrbttn, wr . .. wr      “ Es verlor in der Aufregung die Sprache und begann mit den Hufen zu klopfen nach dem veralteten Buch­staben- und Zahlensystem. Das war eine Blamage, alle Pferde empfanden das. Das Prestige litt erheblich. Graf Bertram von Hafersack-Trense ließ sich zurück in den Sessel fallen und markierte Ohnmacht. Man gab ihm Aspirintabletten, er schluckte das Glasröhrchen mit hinunter.

Das Stimmengewirr im Saal verlief in ein stilles Gemurmel und Schnaufen. Die Pferde fühlten sich plötzlich klein.

Isidor Pleißen-Kohn putzte sich laut die Nase, räusperte sich und sprach beruhigend, zwei Hufe in Börsenmanier in den Armlöchern der Weste, mit fettiger Stimme: „Mer wolle, nebbich, niemande kränke. Gott, wie haißt, der Herr Vorstand der is e altes Roß und nerviös. Da kann schon, nebbich, e Wort falle in de Debatt. Red mer a so, red mer a so, ma kommt in de Hitz, nebbich. — Das wird der Herr von Rechtsanwalt einem alten Mann verzaihe. Mer wolle sage, was mer wolle. Mer müsse zu en a End kommen. Nu, wie haißt, mer müsse wisse, woran mer sinn, nebbich. Benjamin Wallach, unser gebenschtes Komiteemitglied wird e Referat gebe, nebbich. Benjamin Wallach wird spreche.“

Benjamin Wallach, ein Halbblüter mit Spitzbart, galt als tätiger Förderer der Pferdeemanzipation. Er war der Deputierte von Wallachisch-Meseritsch.

„Wir sind heute hier zusammen gekommen,“ begann Benjamin Wallach in schlesischer Mundart, „um endgültig festzulegen, was wir Pferde wollen, endgültige Normen zu fixieren, die uns gleiche Rechte mit den Menschen gewährleisten. (Beifalisgewieher.) Der gegenwärtige Zustand ist für uns un­haltbar und entehrend. Das Dilemma ist unserer unwürdig. Im Grunde ist es eigene Schuld der Menschen, daß alles so kam. Die Erfindung der Autos, Dampf pflüge, elektrischen Bahnen, Dampfkarussells usw., die sogenannte Eroberung der Luft durch Äroplane und Luftschiffe, wo wir, bodenständig, wie wir sind, nicht mittun können, alle diese technischen Neuerungen und Erfindungen haben unsere Arbeitskraft überflüssig gemacht. Die animalische Kraft war ausgeschaltet. Eines Tages fanden wir uns beschäftigungslos. Dann begann der Mensch, mehr als Spielerei, unseren Intellekt zu wecken. Man experimentierte mit uns herum, wie im Laboratorium mit Säuren und Salzen, unterwies uns, Buchstaben und Zahlen zu lesen, erweckte die Tätigkeit des Hirns, die bisher brach lag. Die Menschen gaben uns die Anregung; wir haben uns nun weiter entwickelt von Generation zu Generation und stehen heute, ich darf wohl sagen ohne Überhebung, auf gleicher Stufe mit den Men­schen. Bei uns kommt zu den intellektuellen Fähigkeiten noch die körperliche Kraft und Schönheit, in der wir die Menschen übertreffen. Es ist nicht un­billig, wenn wir jetzt energisch unsere Ansprüche auf die offizielle Anerkennung einer Gleichberechtigung voll und ganz geltend machen. Was wir wollen?

Wir wollen teilnehmen an allen Äußerungen der Zeit. Wir wollen ein Fak­tor sein. Alle öffentlichen Einrichtungen, alle Institutionen sollen uns gleich wie den Menschen unbeschränkt zur Verfügung stehen. Müssen wir den Menschen danken, daß sie unsere Gehirne dressierten und uns wie abge­schnittene Windvögel, weil andere Erfindungssensationen, auf technischem Gebiet, sie ganz in Anspruch nahmen, einfach unserem unfertigen Schicksal überließen? Nein, nein und nein! Wir erwarten heute von den Menschen bestimmte Entschließungen. So ist der Zustand auf die Dauer unmöglich. Herr Rechtsanwalt, wollen Sie sich äußern und uns befriedigende Aufschlüsse und Kompromißvorschläge machen?

Allgemeiner Beifall bei den Pferden, als Benjamin Wallach geendet. Ein altes Pferd mit einem Kranzbart und einem Patriarchengewand aus Biber drängte sich an das Podium und bat ums Wort. Respektvoll machte man ihm Platz. Mit sonorem Organ begann es: „Denn die Menschenkinder haben ihr Los, und das Tier hat sein Los, und beider Los ist dasselbe. Wie das eine stirbt, stirbt das andere. Sie haben alle einen Geist, und der Mensch

hat vor dem Tiere nichts voraus       so schrieb der weise Salomon in seiner

Predigt.“ Das alte Roß mit den Kranzbart verneigte sich und kletterte vom Podium.

Man war sichtlich ergriffen, und auch die Menschen empfanden den Ein­druck dieser alten Offenbarung.

Es meldeten sich noch eine Anzahl anderer Pferde zu Wort, die alles Mögliche verlangten, Besuch der Theater, von Tanzlokalen, Restaurants, Bars, Varietés, Fünfuhrtees, gesellschaftlich verkehren zu können, Leutnant zu wer­den, in den Stadtrat und Reichstag gewählt zu werden, kurz und gut, an allen Amüsements der Menschen teilzunehmen.

Es wurde eine Lehrergehaltserhöhung, Zollermäßigung für den Haferim­port, freie Zuchtwahl und Einführung neuer Freimarken von einem konfusen Pferd beantragt. Das war ein Hin und Her.

Ein alter Droschkengaul klopfte seinen Wunsch in die Debatte, man möchte Jen alten Haferfreßsack wieder einführen, er käme mit Gabel und Messer nicht zurecht.

Man verachtete ihn — was er verlangte, war höchst deplaciert. Stundenlang wurde durcheinander geredet.   Das Schreibmaschinenmädel kam kaum mit.

Die Menschen steckten die Köpfe zusammen und berieten. Der Assessor war eingeschlafen.

Der Zirkusdirektor schrie plötzlich in den Saal: „Hotte hüh, hotte hüh!“ Die Pferde schreckten zusammen. Der alte wohlbekannte Ruf verfehlte nicht seine Wirkung. Atavistischer Respekt ließ die Pferde verstummen.

Der Rechtsanwalt benutzte die Stille und erklärte in fein juristischer Aus­führung, daß es den Menschen keineswegs an einer Steigerung des feindlichen Gegensatzes liege, sondern daß man geneigt sei, in einem geistreichen Kom­promiß die Angelegenheit zu erledigen. Dieser Kompromiß beruhe auf der grandiosen Theorie des Professors Kutschbock. „Durch diesen Phonographen“ — der Rechtsanwalt legte eine Platte auf — „vermittelt Ihnen der geniale Forscher seine Thesen über Rassenvermischung und kommt zu einer genialen Lösung der entstandenen Gegensätzlichkeit zwischen Pferd und Mensch.“

Er steckte einen Groschen in den Apparat, und schon begann nach kurzem Gekrächze der Vortrag des Professors, deutlich und klar. Die Platte war neu. Die Pferde sperrten die Mäuler auf. „Nimma hon i dös g’sehn,“ entfuhr es einem Münchener Bräupferd. Die Pferde lauschten respektvoll den Worten der Wundermaschine.

Über Philosophisches und praktische Lebensweisheit, über kulturelle Er­rungenschaften, über den Fortschritt auf allen Gebieten, über die politischen Konstellationen und alles Zeitgemäße sprach der berühmte Professor in klarer, übersichtlicher Weise. Er referierte den Entwicklungsgang der Pferde. Er entwickelte seine eigenen wissenschaftlichen Erfahrungen in bezug auf Rassenmischung und Neuzüchtung. Wie ihm die erfolgreiche Kreuzung der hetero­gensten Tiere gelungen sei und viele neue Tierarten ihm ihr Entstehen ver­dankten. Er sprach von seinen Forschungen speziell auf dem Gebiet der Anatomie pferdlicher und menschlicher Organismen. Er stellte pferdliche körperliche Vorzüge gegen menschliche Schwächen und umgekehrt. Er fol­gerte die großen Vorteile, die sich bei einem Ausgleich der Plus- und Minus-Eigentümlichkeiten der beiden Rassen zuverläßlich und logisch ergäben. Er kam in gesteigerter Beredsamkeit und schlagender Beweisführung zu dem Schluß, daß nur in einem Kompromiß zwischen Mensch und Pferd, in einem Zusammenschluß dieser beiden sich ergänzenden Rassen zu einer grandiosen Kreuzung das Heil und eine sichere Zukunft einer stabilen weltbeherrschenden Normalbevölkerung: ein höheres Menschenpferdetum erstehen würde.

Die Platte lief ab. Professor Kutschbocks Rede verlief sich in einem spitzen Gekratze des Stiftes auf der Platte.

Ganz dumm schauten sich die Pferde gegenseitig an. Sie konnten an diese für sie so enorm schmeichelhafte Lösung der Angelegenheit nicht glauben. Es war ein aufgeregtes Gemurmel. Die Pferde bekamen hochrote Köpfe.

Der Rechtsanwalt erhob sich und sprach ernst und in einem der Wichtig­keit der Situation angemessenen, weihevollen Tone: „Ich beziehe mich, meine werten Pferde, auf die geistvollen, schlagenden Ausführungen Professor Kutsch­bocks und seinen genialen Vorschlag. Ich nehme an, daß Sie entschlossen sind, diesen Kompromiß zum Heil unserer beiden Rassen, zur Schaffung eines neuen, starken Geschlechtes anzunehmen. Wir wollen abstimmen, und ich bitte Sie, durch Hochheben des linken Vorderfußes Ihr Einverständnis mit unserem Vor­schlag zu erklären!“

Ein Wald von Hufen schoß jäh in die Höhe. „Hoch die Menschen, hoch der Kompromiß!“ schrieen die Pferde, und es war keines, das sich ausgeschlossen hätte.

Ein Festmahl mit französischem Sekt beschloß den Zusammenschluß von Mensch und Pferd.

Und der Zentaur war der Herr der Welt. Eine alte Sage ging in Erfüllung.

Waldemar Bonseis, Der Grashüpfer

Das war einmal ein Tag! Morgens ganz früh hatte es getaut, dann war die Sonne über dem Wald aufgegangen und hatte ihre Strahlen schräg über den grünen Graswald geschickt, so daß ein Glitzern und Funkeln begann, daß man vor Seligkeit und Entzücken über einen Anblick von solcher Pracht nicht wußte, was man sagen oder tun sollte.

Die kleine Maja hatte schon gleich beim Erwachen lauter helle Jubelrufe um sich her vernommen. Teils kamen sie hoch aus den Bäumen, von den ge­fürchteten Vögeln, deren Stimmen doch so lieblich erklingen konnten, oder aus der Luft von vorüberfliegenden Insekten oder aus Büschen und Gras von Käfern, Schmetterlingen und kleinen und großen Fliegen.

Maja hatte es sich in einem Baumloch recht behaglich eingerichtet. Es r sicher und trocken und blieb auch nachts recht lange warm, da den Tag er die Sonne auf den Eingang schien. Zwar hatte sie einmal in aller Frühe i Specht am Stamm ihres Baumes klopfen hören und sich schleunigst da-.n gemacht. Denn den Specht klopfen zu hören, das ist für ein kleines In­sekt, das sich in der Baumrinde verborgen hält, so schlimm, als wenn unser­eins nachts die Geräusche eines Einbrechers hört, der die Fensterläden auf­bricht. Aber in der Nacht war sie sicher, dann suchte niemand sie in ihrem hohen Versteck.

In einem zurückliegenden Spältchen, in dem es dunkel und kühl war, hatte sie sich ein kleines Honiglager angelegt, um für Regentage mit Nahrung ver­sorgt zu sein; und den Eingang zu ihrer Waldburg hatte sie mit Wachs ein wenig zugeklebt, so daß er nicht größer als eben nötig war, um bequem hin­einschlüpfen zu können.

Und mit einem hellen Jubel voll Lebensfreude schwang sich die kleine ‚Maja an diesem Morgen in den Sonnenschein hinaus, um zu erfahren, was dieser neue schöne Tag ihr bringen würde.

Sie segelte gradaus durch das goldene Licht der Luft, so daß sie wie ein kleines rasches Pünktchen aussah, das der Wind dahintrieb.

„Heute werde ich einem Menschen begegnen,“ rief sie, „an solchen Tagen sind sicher auch die Menschen unterwegs, um sich in der hellen Natur zu erfreuen.“ Es waren ihr noch niemals so viele Insekten begegnet, es war ein Kommen und Treiben, ein Summen, Lachen und Jubeln in der Luft, daß man unwillkürlich mit einstimmen mußte.

Die kleine Maja ließ sich endlich in einem Graswald nieder, in dem vielerlei Blumen und Pflanzen wuchsen. Die höchsten waren die weißlichen Blüten­büschel der Schafgarbe und Mohnblumen, die knallrot und leuchtend eine große Anziehungskraft ausübten. Als Maja ein wenig Honig aus einer Akelei­blume genommen hatte und eben im Begriff war, weiterzufliegen, begegnete ihr auf einem Grashalm, der sich zu ihrer Blume hinüberbog, ein ganz selt­samer Geselle. Anfangs erschrak sie sehr, weil sie nicht für möglich gehalten hatte, daß solch ein grünes hageres Ungetüm vorkommen könnte, aber dann wurde doch ihr ganzes Interesse in so hohem Maße wach, daß sie wie ange­wurzelt sitzen blieb und den langbeinigen Fremdling anstarrte.   Es sah aus, als habe er Hörner, aber es war nur seine seltsam vorgerückte Stirn, die es so erscheinen ließ.  Zwei unendlich lange, fadendünne Fühler waren daran, er erschien sehr schlank und hatte zierliche Vorderbeinchen und ganz dünne un­auffällige Flügelchen, mit denen sich nach Majas Meinung nicht viel anfangen ließ. Das Merkwürdigste aber waren seine zwei großen, hohen Hinterbeine die ihn wie zwei riesige geknickte Stelzen weit überragten. Er war über und über grün, und seine listigen Augen hatten etwas Freches und Erstauntes zugleich, aber man konnte wohl sagen, daß sie nicht boshaft, sondern viel eher gutmütig waren.

„Nun, Mamsell,“ sagte er zu Maja, offenbar durch ihren verwunderten Gesichtsausdruck geärgert, „Sie haben wohl noch keinen Grashüpfer gesehen? Oder legen Sie Eier?“

„Was fällt Ihnen ein,“ rief Maja zornig. „Wie sollte ich auf diesen Ge­danken kommen? Auch wenn ich es könnte, würde ich es niemals tun. Wie sollte ich den heiligen Pflichten der Königin in so leichtsinniger Weise vor­greifen?“

Der Grashüpfer duckte sich etwas zusammen und machte ein ganz unbe­schreiblich komisches Gesicht, so daß Maja trotz ihres Verdrusses laut lachen mußte.

„Mamsell,“ rief er, aber dann mußte er selber lachen und sagte nur noch: „Nein so was! Sie sind aber Eine!“

Maja wurde ganz ungeduldig durch das Benehmen dieses seltsamen Ge­sellen. „Warum lachen Sie denn?“ fragte sie nicht grade freundlich, „Sie können doch nicht im Ernst verlangen, daß ich Eier legen soll, und noch dazu hier auf den Rasen.“

Da knackte es, der Grashüpfer sagte: „Hoppla,“ und fort war er.

Maja war ganz verdutzt. Hoch in die Luft hatte er sich geschwungen, ohne seine Flügel zu brauchen, in einem riesigen Bogen und, wie es Maja erschien, in einer an Wahnsinn grenzenden Tollkühnheit.

Aber da war er schon wieder. Sie hatte nicht sehen können, woher er kam, aber nun saß er neben ihr auf dem Blatt der Akeleiblume.

Er betrachtete sie von allen Seiten, von hinten und von vorn:

„Nein, sagte er dann schnippisch, „Sie können allerdings keine Eier legen, Sie sind nicht darauf eingerichtet. Sie haben keinen Legestachel.“

„Was,“ sagte Maja, „keinen Legestachel?“ Sie deckte sich etwas mit ihren Flügeln zu und drehte sich so um, daß der Fremde nur ihr Gesicht sehen konnte.

„Ja natürlich. Fallen Sie nur nicht von Ihrem Podium, Mamsell. Sie sind eine Wespe, nicht wahr?“

Etwas Schlimmeres hätte nun der kleinen Maja in aller Welt nicht begegnen können.

„Schockschwerenot!“ rief sie.

„Hoppla!“ antwortete der Grashüpfer, und fort war er. „Ich werde ganz nervös über so einer Person,“ sagte Maja und beschloß fortzufliegen.   Solange sie denken konnte, war ihr eine solche Beleidigung noch nicht widerfahren.  Mit einer Wespe verwechselt zu werden, bedeutete ihr die größte Schmach, mit diesem nutzlosen Raubgesindel, mit diesem Diebsvolk, diesen Landstreichern. Es war in der Tat empörend. Aber da war der Grashüpfer plötzlich wieder da.

„Mamsell,“ rief er, und drehte sich langsam ein wenig, wobei seine langen Hinterbeine aussahen wie Uhrzeiger, wenn es fünf Minuten vor halb sieben ist, „Mamsell, Sie müssen entschuldigen, daß ich zuweilen das Gespräch unterbreche. Aber plötzlich packt es mich. Ich muß springen, um die Welt muß ich springen, wohin es immer sei. Kennen Sie das nicht auch?“

Er zog seinen Mund von einem Ohr zum anderen, indem er Maja anlächelte, Sie konnte nicht anders, sie mußte lachen.

„Nicht wahr?“ sagte der Grashüpfer und nickte ermutigend.

„Wer sind Sie denn nur?“ fragte Maja, „Sie sind schrecklich aufregend.“

„Aber man kennt mich doch überall,“ sagte der Grüne und grinste wieder, so erschöpfend, wie Maja noch niemals jemanden hatte grinsen sehen. Sie wußte nie recht, ob er etwas im Ernst oder im Scherz meinte.

„Ich bin in dieser Gegend fremd,“ sagte sie freundlich, „sonst würde ich Sie sicher kennen, aber ich bitte Sie, sich zu merken, daß ich zur Familie der Bienen gehöre, und daß ich durchaus keine Wespe bin.“

„Ach Gott,“ sagte der Grashüpfer, „das ist doch dasselbe.“

Maja konnte vor Aufregung kaum sprechen.

„Sie sind ungebildet,“ stieß sie endlich hervor. „Schaun Sie sich doch ein­mal eine Wespe an.“

„Was könnte mich wohl dazu veranlassen?“ antwortete der Grüne. „Wo­hin würde es führen, wenn ich mir Unterschiede merkte, die nur in der Ein­bildung existieren? Sie fliegen in der Luft herum, stechen alles, was in Ihre Nähe kommt, und können nicht springen. Genauso ist es mit den Wespen. Wo liegt also der Unterschied? Hoppla!“ Und fort war er.

Jetzt flieg ich aber, dachte Maja.

Da war er wieder.

„Mamsell,“ rief er, „morgen ist Wettspringen im Garten des Pfarrers Sünde­piek. Wollen Sie eine Freikarte, um zuschauen zu können? Meine Alte hat deren noch zwei, gegen ein Kompliment gibt sie eine her. Ich hoffe den be­stehenden Rekord zu schlagen.“

„Ich interessiere mich nicht für so ein Gehüpfe,“ sagte Maja nicht ohne Verdruß. „Wer fliegen kann, hat höhere Interessen.“

Der Grashüpfer grinste, daß man es förmlich zu hören glaubte.

„Überschätzen Sie sich nicht, Mamsell. Die meisten Tiere der Welt können fliegen, aber springen können die wenigsten. Sie haben keinen Überblick über die Interessen der Mitwelt. Den Wunsch nach einem hohen, eleganten Sprung finden Sie sogar bei den Menschen. Kürzlich sah ich den Pfarrer Sündepiek fast einen Meter hoch springen, um einer kleinen Schlange zu imponieren, die vor ihm über den Weg lief. Seine Verachtung gegen alles, was nicht Sprin­gen war, ging dabei so weit, daß er seine Pfeife fortschleuderte, ohne die kein Pfarrer leben kann. Begreifen Sie diesen Ehrgeiz! — Ich habe Grashüpfer gekannt, und sie gehörten zu meiner Familie, die dreihundertmal so hoch sprangen, als sie selbst groß waren. Ja, nun staunen Sie und sagen kein Wort mehr, und bereuen innerlich alles, was Sie eben vorgebracht haben, und was Sie eventuell noch hätten behaupten wollen. Dreihundertmal so hoch, als er groß war! Muten Sie so etwas mal jemandem zu! Selbst das größte Tier der Welt, der Elefant, ist nicht in der Lage, einen solchen Sprung auszuführen. Nun? Da schweigen Sie! Habe ich nicht gesagt, daß Sie schweigen würden?“

„Aber wie soll ich denn reden, wenn Sie nicht einen Augenblick still sind,“ rief Maja.

„Reden Sie also,“ sagte der Grashüpfer freundlich, und dann rief er „Hoppla“ und war fort.

Da mußte die kleine Maja trotz ihres Verdrusses doch lachen. So etwas war ihr noch niemals begegnet. So sehr der Grashüpfer sie durch sein scherz­haftes Benehmen in Erstaunen setzte, so bewunderte sie doch seine Welt­erfahrenheit und seine großen Kenntnisse. Wenn sie es auch mit dem Sprin­gen nicht hielt wie er, so war sie doch verwundert über alle die Neuigkeiten, die sie in der kurzen Unterhaltung erfahren hatte. Wenn der Grüne nur etwas zuverlässiger gewesen wäre, sie hätte ihn gar zu gern nach diesem oder jenem gefragt. Oft erleben wirklich diejenigen am meisten, dachte sie, die am wenig­sten damit anzufangen wissen.

Ob er die Sprache der Menschen verstehen konnte, da er doch ihre Namen wußte? Danach wollte sie ihn fragen, wenn er noch einmal zurückkam, und auch danach, wie er über eine Annäherung dachte und über den Versuch, den Menschen in seiner Behausung aufzusuchen.

„Mamsell!“ rief es neben ihr, und ein Grashalm schwankte.

„Mein Gott,“ sagte Maja, „wo kommen Sie nur immer her?“

„Aus der Umgegend,“ rief der Grashüpfer.

„Aber ich bitte Sie,“ rief Maja, „springen Sie denn so aufs Geratewohl in die Welt, ohne zu wissen, wohin es Sie führt, ohne den Ort zu kennen, wo Sie ankommen?“

„Natürlich,“ sagte der Grüne. „Was denn sonst? Können etwa Sie in die Zukunft sehen? Das kann niemand. Nur der Laubfrosch kann es, aber er sagt nicht wie.“

,Was Sie alles wissen,“ rief die kleine Maja, „das ist einfach großartig. Verstehen Sie auch die Sprache der Menschen?

Das ist eine Frage, die schwer zu beantworten ist, Mamsell, denn es ist noch nicht nachgewiesen, ob die Menschen eine Sprache haben. Sie stoßen zuweilen Laute aus, deren abscheuliche Klanglosigkeit mit nichts zu ver­gleichen ist. Offenbar verständigen sie sich dadurch. Was man ihnen lassen muß, ist ein aufrichtiges Verlangen nach erträglichen Stimmen. Ich beob­achtete zwei Knaben, die Grashalme zwischen ihre Finger nahmen und mit dem Mund Luft darauf bliesen, so daß ein surrender Ton entstand, der dem Zirpen einer Grille vielleicht verglichen werden könnte. Aber er blieb weit dahinter zurück. Jedenfalls tun sie, was sie können. Wollen Sie sonst noch etwas wissen?  Ich weiß immerhin mancherlei.

Und er grinste die kleine Maja an, daß man es förmlich hörte. Aber als er nun das nächste Mal unversehens davonsprang, blieb er aus, und die Biene wartete eine Weile vergeblich auf ihn. Sie suchte ringsumher im Gras und in den Blumen, aber es war unmöglich, ihn wiederzufinden.

Herbert Eulenberg, Ein Sonett auf einen Schmetterling m der Leipziger Straße

Wo kommst du hergeflattert, zartes Wesen?
Wie irrst du zitternd durch den Menschenstrom!
Unwirklich scheinst du hier wie ein Phantom,
Zum Sterben zwischen Steinen auserlesen.

Und doch, dein Anblick macht das Herz genesen,
So labt uns buntes Glas im grauen Dom,
Catull besang dich schon im welken Rom:
Du bist die Schönheit, sie kann nie verwesen.

Bald schließt du die zitronengelben Schwingen
Und sinkst wie goldner Staub zu Boden nieder.
Doch immer hebt sich deinesgleichen wieder,
Bemüht, vom Irdischen ins Licht zu dringen.

Zieh uns voran im Zickzack, leichter Falter!
Wir folgen dir, der Schönheit Bannerhalter!

Robert Michel, Die schwarze Fliege

Als Leutnant bei einem Regiment in Wien hatte Friedrich an einem Sommer­sonntag die Kranken im Garnisonspital zu besuchen.  Er ging zuerst in das Schwerkrankenzimmer.  Obwohl durch die offenen Fenster die erfrischende Morgenluft des Gartens zog, so drückte doch der Anblick Friedrich den Atem in die Brust zurück. Auf dem ersten Bette lag ein siecher Soldat. Nein, Soldat war er nicht mehr; es war ein Sterbender, in dessen Zügen noch die Weich­heit des Jünglings lag. Sein Gesicht war durchsichtig weiß und die schwarzen Härchen auf der Oberlippe waren wie künstlich eingesetzt. Seine Stirne hatte einen fettigen Glanz; die offenen Augen schauten nicht mehr.   Durch das Fenster kam eine große schwarze Fliege und setzte sich auf seine Stirne; sie leckte an dem fettigen Glanz und dann kroch sie zu den Augenwinkeln und dann auf die Lippen. Von Zeit zu Zeit hob sich schwach die Brust des Kran­ken; die Fliege saß noch immer auf der Lippe des starr geöffneten Mundes und schillerte grün und violett.

Die Brust des Kranken rührte sich nicht mehr, die Fliege kroch in seinen Mund und alle Kranken hoben bange die Köpfe.

Summend flog die Fliege aus dem Munde des Toten und durch das Zimmer und die Blicke aller folgten angstvoll ihrem Zickzackfluge.

Wilhelm Schmidtbonn, Ein König ohne Namen

Wie immer: unter der blauen Ruhe des Himmels die weiße Ruhe der Arena. An den Steinwänden hochgereiht siebentausend schreiende und bewegte Men­schen. Vom Kreis der Schreienden eingeschlossen: dreihundertzwölf nackte Männer, gefangene Bruktererkerle, die mit den Fäusten sich gegen Löwen, Tiger, Bären, Wölfe wehren. Bis nur noch eine ebene Masse von blutigem Fleisch und gelben Haaren daliegt, aus der hier und dort noch einmal ein Arm sich aufreckt. Kaiser Konstantin, ein veilchenfarbiges Tuch um die Schultern, winkt: die Tiere werden mit Stachelstöcken zurückgetrieben, die toten und sterbenden Männer an den Beinen fortgeschleppt. Man hört, wie sie hinter der Arena in das treibende Wasser der Mosel geworfen werden. Jetzt der letzte Triumph: ein nackter, brauner, gelbbärtiger Mann, dem man die sil­bernen Reifen um die Fußknöchel noch gelassen hat, wird durch die niedere Tür hereingesandt — der König der Brukterer, dessen barbarischer Name niemand kümmert, so daß er auch heute noch unbekannt ist. Obwohl er an der Tür, wo man die Arme von ihm läßt, stehen bleiben könnte und nicht freiwillig zu seiner Richtstätte hinzugehen brauchte, schreitet er mit kurzen, schnellen Schritten, fast nur auf die Zehen tretend, in die helle Weite des Raumes hinein. Mitten im Kreis der Steine und Menschen steht er still, hebt den Kopf, sieht langsam im Kreis herum, hält den Kopf einen Augenblick beim blauen Tuch des Kaisers an, sieht weiter, lacht spöttisch auf, mit einer Stimme, die in dem weiten Raum seltsam dünn klingt, legt die Arme über der sonnbestrahlten Brust zusammen und wartet.

Eine zweite eiserne Tür wird aufgestoßen. Eine Löwin tritt ein, durch Hun­ger bis auf die Rippen abgemagert. Sie sieht geblendet die runde Fläche des Sandes vor sich, hebt den Kopf, starrt in den Raum, zieht den Geruch des Blutes in sich, hebt den Schweif, erblickt den einzelnen Mann. Sie duckt sich, liegt an der Erde, kriecht am Kreis der Steinwand entlang, sucht einen Ausgang, sieht immer wieder den einzelnen Mann an. Hetzschreie gellen auf, man stößt von oben Stachelstöcke in den Rücken des Tieres, um es in die Mitte des Raumes zu zwingen.

Dem nackten König klopft das Herz bis in die Stirn. Viertausend Männer, dreitausend Frauen sehen auf ihn. Er hört aus dem Schweigen der Männer Achtung heraus, aus dem Zuruf der Frauen Bewunderung. Eine helle Rose fällt auf seine dunkle Schulter. Er vergisst, daß er sterben muß, hebt die Rose auf und lacht mit wildbreitem Gesicht nach oben. Tausend Rosen fallen auf sein Haar, seine halb wehrend, halb greifend ausgestreckten Hände, vor und hinter seine Füße. Er steht bis an die Knie in Rosen, seine Stirne rötet sich, wie im Widerschein davon, sein Rücken wächst, seine Schenkel spannen sich. Nicht anders, als ob er zu einem Ringkampf im Spiel schreite, schreitet er, die Ohren angefüllt mit dem Lärm der Frauenstimmen, von der Mitte des Raumes weg, zu der Löwin hin. Kurz vor ihr bleibt er stehen und prüft, in seiner Betäubung doch das eine kalt berechnend, wann sie springen und wo er sie packen wird. Nur noch Kampflust ist jetzt in ihm. Er schließt die Augen bis auf ein geringes, um kein anderes Bild hineinzulassen, legt die Arme dicht an den Leib, um bei Beginn des Kampfes keine unnötige Bewegung zu machen, steht gekrümmt, die Lenden eingezogen, um dem Sprung des Tiers eine mög­lichst geringe Fläche zu geben. Als die Löwin springt, hat er sie, schon im Sprung, mit einem Arm um den Hals, mit dem andern um die Brust gepackt und drückt sie an sich. Das Tier stöhnt, als ob es unter dem Druck der Mus­keln schon im Verenden sei. Die Frauen schreien, selbst die Männer rufen in immer dichteren Scharen, werfen Ringe hinunter, die das Grab des Toten schmücken sollen: denn, wenn er auch dieses Tier niederringt, man wird ja doch zum Schlüsse die Masse der Tiere auf den einen loslassen und noch das Schauspiel haben, wie der Stolze doch zerrissen wird. Aber, indem er das Tier an sich gedrückt hält und immer fester an sich drückt, überkommt den Mann die Erkenntnis, daß er diesen Menschen allen, auch den Frauen, doch nur ein Schauspiel für wenige Minuten ist: schon beim Nachtmahl werden sie von anderem sprechen. Ihn aber kostet es das strahläugige Leben seiner dreißig Jahre. Mit einem hassvollen Gelächter, das sagen soll: „Ich werde euch ein Schauspiel zeigen!“ drückt er den Leib der Löwin an die Erde und umschlingt ihn, mit einer hohnvoll schamlosen Ge­bärde, als ob er, ein Mann, von einem Weib Besitz nehme. In der Abwehr des gebogenen Leibes aber verwirrt sich sein Gefühl vollends. Ein Keuchen des Schmerzes und der Brunst gleichermaßen dringt aus seinem Hals. Er nimmt in Wirklichkeit, der Todgeweihte, Besitz von dem lebendigen Leib. Das Tier, erst noch ankämpfend, gibt sich ihm hin.

Der Kreis sitzt stumm. Die Menschen sind Stein geworden. Dann aber schwillt ein Geheul der Männer herunter. Konstantin, weiß über seinem blauen Tuch, winkt mit jäh hochgeworfener Hand. Sklaven laufen hinzu, erschlagen die zwei schönen, verkrampften Tiere mit Schwertern und Stangen.

Alfons Paquet, Letzte Fliege

In dieser kühlen Septembernacht so spät
(Der ersten nach dem heißen Sommer, an der mich sehr fröstelt),
Erstaunt mich eine einzige Fliege, die im Zimmer umherschießt,
Dies leichte schwarze lebendige Pünktchen, das nicht weiß, wo es sich ver¬kriechen soll.
Sie hat mich nun entdeckt und plagt mich zudringlich, als ob sie Schutz suche;
Verjag ich sie von der Hand, so fliegt sie mir ans Kinn und ans Ohr;
Aber sie ist nicht so blitzgeschwind, wie die frechen, boshaften, kitzelnden Sommerfliegen waren. Nun fliegt sie matt ans Fenster, sie klebt auf der kalten harten Glasscheibe;
Sie rückt kaum beiseite, wenn ich mit zwei Fingern nach ihr greife.
Sie ist zu klein, als daß es Großmut wäre sie leben zu lassen, denn ihr Tod ist gewiß.
Ich fasse sie zart an und werfe sie aus dem Fenster in die kalte Nacht
Und vergesse mich und sage: armes Ding.

Georg Trakl, Die Raben

Über den schwarzen Winkel hasten
Am Mittag die Raben mit hartem Schrei.
Ihr Schatten streift an der Hirschkuh vorbei
Und manchmal sieht man sie mürrisch rasten.

0 wie sie die braune Stille stören,
In der ein Acker sich verzückt,
Wie ein Weib, das schwere Ahnung berückt,
Und manchmal kann man sie keifen hören

Um ein Aas, das sie irgendwo wittern,
Und plötzlich richten nach Norden sie den Flug
Und schwinden wie ein Leichenzug
In Lüften, die von Wollust zittern.

Max Brod, Das Lied der Pferde

Wie schmal sind unsere Wangen im Gesicht,
Und diese langen Adern seht ihr nicht,
die vielgekrümmten unter magerm Fleisch;
Es schwand vor Arbeit uns und Pflastersteingeräusch.

Die Adern, wie sie zittern in der Haut,
Die dünn wie Seide ist und so verbraucht ausschaut:
So zittert unter den gedehnten Stirnen mit
Der Sinn und Wille uns bei jedem Schritt.

Vom Pinzgau stammt wohl noch unser Ringkämpferrumpf,
Die Hüfte fett, des Schweifes schwarz und üppiger Stumpf,
Der manchmal wild hineinpeitscht in die Welt,
In breiten Locken dann wie Mädchenhaupthaar fällt.

0 Freiheit, Sonnenlicht auf Wiesengrün,
Wie waren Jugendtage süß und kühn,
Wie ferne lag, daß zwischen unsre Zähne
Ein Eisen und ein Ledergurt sich dehne.

Daß Klappen, Riemen, Schnallen, Schellen, Borten
Und tausend Trockenheiten um den Kopf uns dorrten,
Der oft an Abenden der Streichelhand
Des Hirtenknaben weich entgegenfand.

Und dessen Miene, einst wie Feuer wirr,
Heut mittendurchgeschnitten vom Geschirr,
Mit spitzen Narrenkappen gar auf jedem Ohr,
Wie aus sich selbst herausfiel, sich verlor.

Jemand hat uns verzaubert. Böser Blick uns traf,
Wir wiehern, singen, aber nur noch aus dem Schlaf.
Bei Tag sind wir zum Zerren, Keuchen, Spannen da,
Und unsre armen Köpfe nicken schrittweis „Ja“ und „Ja“.

Ihr Pferde, wenn ich morgens an die Arbeit eile,
In eurem Blick nur im Vorbeigeh’n weile,
Öffnet den lieben stummen Mund zu diesem Sange nicht!
Er übertönt mir sonst das gelbe Morgenlicht.

Max Brod, Paradiesfischchen auf dem Schreibtisch

„0 unendliches Bureau der Welt
In das wir alle hineingestellt.“

Wohin wir auch schwimmen, immer ist Glas
Vor unsern Mäulchen und noch etwas,
Das wir nicht verstehn und das beirrt,
Wie fernes Gewitter herüberschwirrt.

Wir haben auch grüne Blättchen hier,
Und durch Algenwälder rudern wir
Zwischen weichen Fäden, Schleim und Licht.
Dann stehn wir still und fassen es nicht,
Wie die ferne Heimat zu uns spricht.

Ein kleiner Stoß und da ist die Wand,
Wir trippeln, wir zittern, wir sind gebannt, —
Und wieder das Fremde, das nie zu uns dringt,
Da ist es, das uns von fern bezwingt.

0 trauriges Kreisen im kleinen Haus,
Wir lugen mit schillerndem Auge aus.
Es türmen sich bleiche Farben an.
Das große Papier und der Wände Gebraus,
Die unser Blick nicht erreichen kann.

Nun beugt sich aus dem trübenden Flor,
Aus Tinte und Nebel ein Weißes vor,
Es blendet, wie es uns näher kriecht, —
Das große traurige Menschengesicht.

Wie weißer Mondschein legt es sich her.
Doch in seiner Helle gehen, schwer
Wankend und vor Gefangenschaft blind
Und ruhelos, wie wir Fische sind,
Die beiden dunklen Augen hin und her.

Bruno Frank, Das Aquarium

Monat um Monat lebte Matthias unter den lautlosen Welten, schweigend zumeist, betrachtend und sorgend, und mit jedem Tage mehr befestigt in der Gewißheit, daß er an seinem Orte angelangt sei. Die Generationen der kurz­lebigen Geschöpfe begannen vor seinen Augen bereits einander abzulösen, schon wußte er von ihrer Art zu vergehen und zu werden.

Er hatte gesehen, wie hintereinander mehrere Geschlechter der schönen, hellrot glänzenden Erdbeerrosen ihre freudige Farbe verloren und tiefer rot, dunkelrot und endlich schwarz wurden; er hatte dann gesehen, wie die blumen­schönen Wesen eines Tages ihren Wohnsitz auf den künstlichen Felsen auf­gaben und wie sie anfingen zu wandern, und mit Betrübnis stand er vor solcher Rastlosigkeit, denn er wußte längst, daß solchen Tieren ihr Ende nicht fern sei, daß sie beim Wandern sich allzu rasch verzehren . . . Schon begannen Fische, die Matthias hatte ausschlüpfen sehen, ihre Altersmale zu bekommen: schon zeigte sich bei den hübschen, rosenfarbenen Seebrassen an der Seite der große schwarze Fleck . .. Längst war bei den flinken jungen Flundern, die so korrekt ausgestattet in ihre Wasserwelt getreten waren, das eine der smaragdenen Augen um den ganzen Schädel herumgewandert und lag nun spähend und beweglich ganz dicht bei dem anderen . .. Vor Monaten schon hatte sich im Feuer seiner stürmischen Werbungen der dickköpfige Tinten­fisch in seinen schönsten Farben, in blauem, rotem und gelbem Metallglanz, präsentiert, und junge Tintenfische waren aus den Eiertrauben hervorge­kommen, reizende muntere Kerlchen, die von der ersten Stunde an Übungen im Farbewechseln und Tintespritzen anstellten.

Die Jungen vieler Geschöpfe kannte Matthias bereits. Und eines Morgens erlebte er, worauf er lange gewartet hatte: daß eines der Bassins sich mit Scha­ren von winzigen Seepferdchen belebte.

Auch an den Alten hatte er eine ganz besondere Freude, er kannte die eigen­tümlichen Wesen in allen ihren Stellungen. Er kannte sie, wie sie, mit dem lustigen Knochenschwänzchen an Seepflanzen sich anklammernd, im Wasser ruhen.  Er kannte sie, wie sie plötzlich zur Oberfläche aufschießen, um sich mit lautem Schnalzen irgendeine Mückenlarve als Beute zu holen. Wie sie ernsthaften Blicks, die kleine Flosse auf dem mager geschnitzten Rücken be­ständig flimmernd, aufrecht mit steifer Grazie ihres Weges daherschwimmen, wie sie sich plötzlich neigen oder steigen oder niedersinken. Wie sie, die drollig unveränderbaren, asketischen Pferdeköpfchen gegeneinander gewendet, ihre höflichen Spiele treiben oder, im Herbst zumal, zur Zeit ihres Verlangens, einander jagen, einander haschen und dann paarweise daherziehen und sich in tiefer Eintracht beim Schwimmen umschlungen halten . .. Wie das Männ­chen später unruhig und unbehaglich sich allein im Wasser umhertreibt, sehr geplagt — denn in einer verschlossenen Tasche trägt es nun die Brut mit sich herum, und das junge Leben regt sich schon kräftig und findet es enge, und schließlich wird es dem Vater denn doch zu peinvoll, und er knickt seinen Leib in der Mitte zusammen — die Tasche geht auf, und jedes Mal, wenn das geschieht, entschwärmt eine Anzahl der Jungen dem Gefängnis . . . Winzig waren sie, denen Matthias nicht satt wurde, zuzusehen, sie hatten bei weitem nicht Nagelslänge, aber es waren vollendete Seepferdchen mit ernsthaftem Kopf und Knochenschweif und flirrender Flosse, und sie hielten sich keinen Augenblick bei dem erlösten Vater auf, sondern zerstreuten sich und schwärm­ten lustig umher und begannen die Spiele der wirklichen Welt.

Aber wie diese kleinen Schutzbefohlenen, so kannte Matthias die übrigen, und bald hätte er zu jeder Stunde des Tages erzählen können, was jeder eben begann. Fremde, die ihn beachteten und befragten, mochten an seinen Er­klärungen ihr Vergnügen haben. Dann kam es wohl vor, daß man sich, nach einem forschenden Blick in sein schönes, freundlich verschlossenes Gesicht, mit Herablassung nach seinen Umständen erkundigte. Aber dies hatte zur Folge, daß Matthias errötete, den Kopf senkte und schwieg. Und auch die Trinkgelder, die man ihm zukommen ließ, schienen diesen sonderbaren Wärter nicht rein zu erfreuen, er dankte lispelnd, sah nicht mehr auf und behielt stumm das Geldstück in der Hand . . . Wohl aber gab es Fälle, da er sich unbefragt vom Vergnügen seines Herzens hinreißen ließ, vor Fremden über seine Tiere zu sprechen …

„Sehen Sie hier, bitte,“ rief er so eines Nachmittags und winkte ein elegan­tes Paar, das vor kurzem den Raum betreten hatte, eifrig heran, „hier ist etwas Hübsches zu sehen.“ Die Beiden kamen. Ein zartes Parfüm wehte von ihnen her in die frische Kühle der Halle.

„Dies ist ein Einsiedlerkrebs,“ erklärte Matthias, „soeben will er seine Woh­nung wechseln. Er ist ein sehr furchtsamer Krebs, und sein Leib ist zart, darum wohnt er zum Schutz in leeren Schneckenhäusern. Das alte hat er sich ruiniert, der Tolpatsch, nun muß er umziehen .. .“ „Sehr interessant,“ sagte mit tiefer Stimme und mit stark gerolltem R der fremde Herr.

„Ja, interessant ist er,“ bestätigte Matthias, ohne die Ironie zu erkennen Rind ohne aufzublicken. „Da . .. sehen Sie . ..“

Das Tier hatte sich die neue Schale zurecht gewälzt, — schwarz und gelb war sie gefleckt und glich genau der beschädigten, — und griff nun mit tastenden Scheren tief in die Mündung.

„Noch immer hat er Angst,“ sagte Matthias. „Ein Feind könnte ja drinnen versteckt sein . . .“

Aber der Krebs war schon beruhigt, und nun ging alles mit einer sonder­baren, fast unheimlichen Exaktheit vor sich. Mit den Scheren erfasste er sein künftiges Haus, stellte es aufrecht vor sich hin, zielte förmlich, mit zuckender Geste, und ging mit einem einzigen Ruck aus der alten Wohnung heraus, in die neue hinein.

„0h, das . . .“ sagte mit einem kleinen Schrei die fremde Dame, „aber das ist großartig, was der Wärter uns da sehen läßt. Wer doch auch aus seiner Existenz so einfach heraus könnte, Wladimir Alexandrowitsch“ …

Bruno Frank, Ein dunkler Adler

Ein dunkler Adler schwebt mit weiten Schwingen
Stets über meinem Haupt, der hat kein Nest.
Von seinen Schwingen, die wie Schwerter klingen,
Fällt tiefer Schalten, der mich frösteln läßt. ..

Und fröstelnd* wart ich einer nahen Stunde,
Da blitzt und klirrt es zu mir her wie Erz.
Er stößt herunter, und er hackt die Wunde,
Und reißt aus meiner Brust das warme Herz.

Theodor Däubler, Die Droschke

Ein Wagen steht vor einer finstern Schenke.
Das viele Mondlicht wird dem Pferd zu schwer.
Die Droschke und die Gassenflucht sind leer;
Oft stampft das Tier, daß seiner wer gedenke.

Es halten diese Märe halb nur die Gelenke,
Denn an der Deichsel hängt sie immer mehr.
Sie baumelt mit dem Kopfe hin und her, D
aß sie zum Warten sich zusammenrenke.

Aus ihrem Traume scheucht sie das Gezanke
Und oft das geile Lachen aus der Schenke.
Da macht sie einen Schritt, zur Fahrt bereit.

Dann meint sie schlafhaft, daß sie heimwärts lenke.
Und hängt sich an sich selbst aus Schläfrigkeit,
Noch einmal poltern da die Droschkenbänke.

Max Pulver, Rehe im Traum

Sie äsen zwischen Fliederbüschen in den Halmen.
Die Hufe tauchen lautlos in den schwarzen Grund.
In sanften Zacken schwingt ihr Haupt, zermalmen
Die Kiefer hastig zupfend Gras. Verwirrt und rund
Wirft mir ein Auge fragend stumpfes Licht entgegen
Sekundenlang und senkt sich rätselhaft hinab.
Ein Knistern läuft durchs Feld. Da — Wolken fegen.
Geschmeidige Rücken wellen fliehend sich im Trab.
Nein, das ist Schnee. Und breite Ruhe in den Büschen.
Ein Amselweibchen lockt. Ist Frühling denn so nah?
Da sind sie wieder: Silberfelle zwischen“
Den kahlen Sträuchern. Schau, und da, und doch nicht da.
Ein leichtes Spiel von Duftgebilden, feuerhellen,
Von Kreisen, Bogenformen wirbelt auf dem Grund.
Erklingend tragen breite Seelenwellen
Das Staunen ihrer Augen wundersam und rund.

Andreas Latzko, Ehrgefühl

Eine alte Kuh mit versiegtem Euter war mit einem ausgedienten Klepper gemeinsam vor den Pflug gespannt worden, und die beiden verrichteten m schöner Eintracht ihre Arbeit.

Da gerieten sie eines Tages über irgendwelche geringfügige Meinungsver­schiedenheit in Streit, ereiferten sich immer mehr, bis endlich das Pferd so sehr alle Selbstbeherrschung verlor, daß es seinem treuen Kameraden das Schimpfwort: „Du Kuh!“ in die Ohren wieherte.

Außer sich vor Empörung brüllte die Kuh zurück: „Du Roß!“

Und beide waren beleidigt.

Andreas Latzko, Der Ehemann

Ein Sperling, grau und unansehnlich, Vater sechs unmündiger Kinder, über­raschte seine Frau Gemahlin, als sie verzückt dem Gesänge der benachbarten Nachtigall lauschte und ihrer Begeisterung mit herausfordernden Blicken, die nicht mißzuverstehen waren, Ausdruck gab.

„Schamlose!“, schrie der gekränkte Ehemann, „lohnst du mir so meine Treue und Mühe? Bin ich nicht von früh bis Abend auf der Suche nach Würmern für dich und deine hungrige Brut? … Der Faulenzer da drüben hat es leicht schön zu singen! Hätte ich dich nicht geheiratet, — ich wäre gewiss auch eine Nachtigall geworden.“

Robert Walser, Liebe kleine Schwalbe

Ich sah dich heute früh vom Fenster aus und schreibe dir nun, was viel­leicht zwecklos ist, da dich der Brief kaum erreichen wird und du ja im übrigen leseunkundig bist. Auch stehst du gar nicht im Adressbuch, wohnst aber sicher im versteckten Nest allerliebst, wo du schläfst und träumst. Glaubst du, daß ich dich um deine Haushaltung beneide? Apropos: du findest doch immer genügend Futter. Was machen die Jungen? Ich zweifle nicht, daß du ihnen eine gute Mutter bist und sie so erziehst, wie sich’s schickt, d. h. denkbar ge­diegen. Solches fraglich finden, hieße dich kränken, und wer möchte das tun? Ich bestimmt nicht.

Wie schön war’s, dir zuzuschauen. Du taumeltest mit deinen Kameradinnen im silbernen Licht, im göttlichen Luftmeer, stürmtest und jagtest hin und her, »hegest ins Luftgebirge hinauf, um senkrecht niederzustürzen, als wärest du ohnmächtig geworden und wollest mit zerschlagenen Flügeln am Boden liegen, wovon zum Glück keine Rede ist, denn du hieltest dich ständig im Gleich­gewicht und im Besitz der Schwungkraft.  Die Furcht, du würdest dich im jähen Flug an Mauer und Schornstein stoßen, erwies sich als überflüssig. So unbesonnen du schienest, so wundersam gabst du acht, und so flogest du bald im Kreise, bald schnurgerade, bald in Wellenlinien, und ich hörte dein Stimm­chen dabei, das mit deiner Lebensweise so zart übereinstimmt und mehr nur ein leises Schreien als ein Singen ist. Du redest eben, wie du kannst und mußt. Doch wer nimmt es in der Geschwindigkeit mit dir, Tänzerin, auf, die nicht müde wird und gar keiner Füße bedarf? Was unserein unter zielbewußt ver­steht, bist du kaum, und dennoch zielst du gut und bist wohl auch fröhlich und glücklich? Weshalb das Fragezeichen? Wir am Boden haftenden, von Befürchtungen gefesselten, schwerfälligen Menschen wissen nichts von be­schwingtem Dasein.

Ich hoffe, daß es dir bei uns gefällt und-bitte dich, ja recht lang zu zögern, eh‘ du wegziehst, denn wenn du gehst, wird es kalt; doch einstweilen bist du da, und solange das der Fall ist, haben wir Sommer.

Oskar Loerke, Sonnwendlied der Vögel

Da oben geht ein goldnes Rad
Das uns geweckt und befohlen hat,
Vor unsre Tür zu treten.
Und magisch singts mit unsrem Mund,
Als forschten wir nach allem Grund,
Urseher und Propheten.

Da oben geht ein goldnes Rad,
Geht um sich selbst, weiß keinen Pfad,
Wir wissens ohne Wissen.
Es steht in seinem großen Grab
Und bleibt darin und wartet ab
In blauen Finsternissen.

Da oben geht ein goldnes Rad,
Das warf uns hin auf seinen Pfad,
Geht um in unsren Seelen:
Wir sind in unsrem Nest und Grab,
Und mit uns ist und wartet ab
Das Lied in unsren Kehlen.

Da oben geht ein goldnes Rad,
Am Abend prunkts im Sterbestaat,
Der ist wie rote Seide.
Und so wird unsrer Neste Stroh,
Und unsre Schnäbel werden so,
So rot als wie von Seide.

Da oben geht ein goldnes Rad,
Das hat in jeder Furt sein Bad
Und trinkt aus allen Krippen.
Das Rad das liegt auf unsrem Mund,
Wir singen uns an ihm noch wund
Wie unsre Mütter und Sippen.

Da oben geht ein goldnes Rad,
Das Erden zu Aposteln hat
Und alles auf den Erden.
Wir tragen all einen Mühlenstein,
Der Ast ist zu dünn, wir sind zu klein,
Wir werden müde werden.

Otto Flake, Bei den Tieren

Mein liebster Spaziergang in diesen Frühlingstagen ist der Jardin des Plantes, der freilich ein Jardin des Betes ist (wenn man so sagen könnte).

Man geht ein langes, langes, graues Gemäuer entlang, bis es von einer schmalen Einfahrt durchbrochen wird.

Hat man sie durchschritten und wendet sich dann um, so sieht man, daß sich an die unscheinbare Mauer ein kleiner Bau anlehnt, in dem sich die heitere Koketterie eines französischen Häuschens mit einer traulichen, ja rührenden Naturstimmung verbindet, denn zu seinen Fenstern wächst Efeu hinauf und im Sommer ist es ein kühles schattiges Eck.

Es ist das Reich Saint Pierres, der Paul und Virginie geschrieben hat und hier während der Stürme der Revolution in einem stillen Winkel die Erinnerung an seine geliebte Natur pflegte.

Dann geht man in den Garten, der sich ein wenig senkt. Es ist eine künst­liche Schöpfung und es ist zudem ein Gefängnis für Tiere, die aus ihrer Heimat ferngehalten werden, um der Schaulust müßiger Kinderbonnen und dem Interesse von ein paar Studenten zu dienen; aber es liegt jene frohe Intimität dar­über, die die Franzosen ihren Landschaften zu verleihen verstehen.

Der Garten liegt ganz nach Mittag, und unsere nordische Vegetation mischt ihre Zärtlichkeit mit einem südländischen Prunk.

Über der Tiefe des Beckens schließen sich die Eisenstäbe eines ungeheuren Vogelkäfigs zusammen und treffen sich in der unsichtbaren Hand eines nütz­lich angestellten Riesen oder vielleicht eines die Stadt überschwebenden Engels, und doch sind Silberpappeln, Weiden und Erlen noch höher und ihre Zweige neigen sich liebkosend auf die Stäbe herab in langen, sanften, hängenden Ranken.

In ihrem Laube versteckt, schlagen schwarze, nordische Amseln — unter der Kuppel drinnen schaukeln sich, wie Akrobaten unter der höchsten Kuppel eines Zirkus, farbige Papageie und sehen senkrecht in das Becken hinab, in dem brasilianische Tauben ihre rosafarbene Brust baden.

Überwölbte Gänge voll tiefen Grüns führen zu den kleinen Steinhäusern, in denen die Tiere von gigantischen Formen wohnen: da ist der Elefant, das Dromedar, die Giraffe.

Was zu ihnen zieht, ist der Kontakt, den sie mit der Vorwelt geben. Ich weiß, es ist nicht neu, zu sagen, daß man hier die Natur in ihren ersten Versuchen belauschen könne, bei denen sie noch nicht das Maß besaß und in übergroßen Dimensionen formte. Aber es ist doch so und man liebt diese Ungetüme, weil sie in ihrer primitiven Idee so klar sind.

Es ist primitiv, einem Wesen einen Rüssel zu geben, wie ihn der Elefant hat, damit er sich nicht zu bücken braucht und alles zur Höhe seines Maules führen kann; seine kleinen Augen scheinen schläfrig, und doch sind sie bos­haft und klug.

Die Beine der Giraffe sind Stelzen, ihr Hals ist wie eine Stange auf dem Spiel­platz, an die die Kinder sich klammern, wenn sie herunterrutschen, und ein Schwachsinniger kann herausbekommen, daß da alles auf Schnelligkeit ange­legt ist.

Das Dromedar hält seinen häßlichen Kopf, aus dem klebriger Schaum tropft und zu dicken Flockenblumen auf der Erde wird, den beiden Buckeln mit einem Stolze voran, der einen seltsamen Reiz ausübt, denn in diesem Kopf ist Rasse, und zwar die Rasse, die alte semitische Gesichter tragen. Es ist das Haustier semitischer Stämme, an die auch das Profil des Pferdes erinnert. Kamel und Pferd geben mir dieselben Gefühle wie die assyrischen Statuen im Louvre.

Und so gewiss griechische Statuetten und hellenische Feinkunst später sind als die Stiergötter Babylons, so gewiss sind die Raubvögel, zu denen ich nun gehe, später und vollkommener.

Bei ihnen ist alles bereits auf ein bewunderungswürdiges Mindestmaß be­schränkt, die Buge sind scharf, die Materie ist zurückgedrängt, und ein Wille, ein Ziel, eine vollkommene Sicherheit der formenden Hand spricht aus jeder Linie.

Eben stürzt sich der Geier auf sein Weibchen und begattet es mit gesträub­ten Federn; sie schreit, aber er hockt auf ihr wie eine bronzene Gottheit der Härte und duckt sie, dann läßt er sie los, und das Seltsame ist, daß sein Raub­tiergesicht keine Verwandlung, keinen anderen Ausdruck zeigt — was er ge­tan hat, ist für ihn wahrlich nichts Besonderes. Er ist herrlich in seinem scharf eingezogenen Schnabel, diesem grenzenlos unbarmherzigen Lippenschwung in Horn geformt.

Alle diese Tiere sagen dir etwas von dir selbst aus, sie geben eine dunkle Erinnerung an etwas Uraltes in dir selbst.

Die große Einheit zwischen dem Ich und allem Erschaffenen fühlen, gilt als ein Vorzug und selbst als etwas Großes: man darf es auch nicht lächerlich finden, daß sie hier etwas Groteskes hat; dann fühlt man die unendliche Ver­feinerung, die mit uns vorgegangen ist: sie bewegt sich auf einer deutlichen Linie, deren Ausgangspunkt durch ein Geschenk der Natur erhalten blieb.

Rene Schickele, Katzen

Sie liegen irgendwo in den gewohnten Ecken
und scheinen zu sinnen.
Die Augen schimmern grün.
Man darf sie necken,
sie lassen sich gewinnen.
Und alsdann
legen sie sich auf den Bauch und runden
den Leib, versuchen mit Schnauze und Pfoten
deine Hände zu greifen,
und ihre Augen glühn,
die grünblaugraugelbroten.
Irgendwann
erheben sie sich und beginnen
eine kleine Vergnügungsreise durchs Haus.
Schließlich sehn zu sie einem offnen Fenster hinaus,
sie strecken
die Schnauze in die Luft und lassen die Augen schweifen,
prüfen: kann diese Witterung einem Katzentiere munden?
Und schon sind sie mit wahrhaft musikalischem Sprung
in der blauen Luft verschwunden.

Am Abend sind sie plötzlich wieder da.
Man findet sie wie seidige, o so
geschmeidige Damen, die man vor Stunden
glänzend und stark aus der Haustür treten sah,
mit ausgestreckten Beinen
weich zerknittert irgendwo,
wo sie in Erinnerungen versunken scheinen.

Paul Boldt, Junge Pferde

Wer die blühenden Wiesen kennt
Und die hingetragene Herde,
Die, das Maul am Winde, rennt:
Junge Pferde! Junge Pferde!

Uber Gräben, Gräserstoppel
Und entlang der Rotdornhecken
Weht der Trab der schönen Koppel,
Füchse, Braune, Schimmel, Schecken!

Junge Sommermorgen zogen
Weiß davon, sie wieherten.
Wolke warf den Blitz, sie flogen
Voll von Angst hin, galoppierten.

Schön graue Nüstern wittern,
Und dann nähern sie und nicken,
Ihre Augensterne zittern
In den engen Menschenblicken.

A. R. Meyer, Belgische Krähen

Niemand weiß es bis jetzt, daß wir es gewesen.
Belgische Männer, belgische Frauen waren es, steht in der Zeitung zu lesen.
Haß! Haß! Haß! stießen wir in die offenen Augen aller Toten hinein,
manchmal konnten es wohl‘ auch Verwundete sein.
Ob das nun unsre Soldaten oder die Feinde waren —
Haß! Haß! Haß! schössen wir nieder in hungrigen Scharen.
Unser Magen einzig ist unser Feldmarschall,
er hat Rolands Hifthorn im Tale Ronceval.
Haß! Haß! Haß! Schneewind kommt schon vom nahen Meere.
Hundert Kilometer lang, sagen sie, ist die Schlachtreih der Heere.
Wir warten die Nacht und wissen: im Schützengraben
werden wir morgen früh nach dem Sturm wieder reichlich zu essen haben.
Manchmal nur bringen uns Männer mit rotem Kreuz um das Mahl.
Haß! Haß! Haß! Über den Wald! Fort, in ein anderes Tal! Haß! Haß! Haß! Wenn es sein muß, nach Deutschland hinein!
Die Kanonen sind stumm? Das sind keine Schrapnells! Es fängt an zu schnein…

Jakob Kneip, Die Kuh und die Rübe

Das war der alte Hammesvar
Auf seinem Kotten hinterm Wald! —
Der war wie ein Baum so grau und alt,
Wie Grasbüschel wuchsen ihm Bart und Haar:
Ein Barbar, ein Barbar,
Auf seinem Kotten hinterm Wald!

Da kam die Teuerung ins Land.
Kein Halm, kein Blatt wuchs mehr im Feld,
In Glut lag ausgedörrt die Welt;
Und um Martini in selbigem Jahr
Hatte Vadder Hammesvar
Nur eine letzte Kuh im Stall.
Das Heu war all, das Stroh war all!
Und seine letzte Rübe stand
Im Soonfeld drüben am Hügelrand:
„Und wenn die Kuh verreckt im Stall,
Die letzte Rübe bleibt auf jeden Fall!“

Nun brüllt die Kuh
Die lange Nacht
Ihr klagend „Muh“.
Der Alte wacht

Und grimmt und lacht
Und flucht und trotzt in sich hinein:
„Die letzte Rübe kriegst Du nicht!“
Zieht sich die Decke übers Ohr und schläft dann knurrend ein.

Da da:
Vom Feld ein hoher Schein
Aufs Haus, gradhin —
Zu ihm herein:
Sankt Wendelin!

Schlägt mit der Hirtenschaufel streng und hart
Ihm auf den Arm und hebt den Bart:
„Hörst Du die Kuh?
Gib ihr die Rübe, Knicker, Du!
— Weißt Du nicht,
Wie Gott hat Acht
Auf jed‘ Stück Vieh,
Auf jeden Wurm —
Hochob en von seinem Himmelsturm?“
In kaltem Schweiß ist Hammesvar erwacht.
Steht auf! — Mitten in der Nacht!
Nimmt seine Kuh beim Halfterband
Und führt sie hin zum Hügelrand,
Wo seine letzte, — letzte Rübe stand:
„Da – Bläß! — da, friß!“
Und kehrt sich ab.
Und läuft von dannen.
Er schaute lieber in sein eigen Grab .. .

Doch wie er abends kommt zur Stelle,
Die Kuh zum Stall zurückzuführen:
Die Kuh ist nirgends aufzuspüren.
Nur, wo sie gestanden in der Nacht —
Im Berg ein Loch!
Tief wie ein Schacht!
Und als er schaut — und wie er späht:
Himmel, Himmel!
Da steht — da steht
Die Bläß tief unten im Berg — und frißt:
Eine Riesenrübe ist,
Halbausgehöhlt, der Berg — so tief!
Der Bauer schrie,
Der Bauer lief:
Der Schreck jagt ihn durch Schlamm und Schlick,
Er läuft mit schlodderndem Gebein
Zum Hof zurück,
Verrammt das Tor —
Ins Haus hinein:
Schließt ab die Tür,
Stößt noch den Riegel für —
Und wagt sich nimmermehr hervor.

Doch als sich wendete das Jahr,
Als der Winter vergangen war.
An einem warmen Nachmittag,
Wo drüben am Hügel die Sonne lag.
Und die Drossel lockte vom Tal herauf —:
Der Bauer schlägt die Fensterläden auf,
Schaut nach dem Wetter, schnuppert in die Luft,
Sieht wie die Schollen bersten, schmeckt den Frühjahrsduft
Und atmet tief . . .
Ooh! — was war das?
Im Hof ein „Muh“
Und wieder: „Muh“,
Und immerzu!
Da reckt er seinen magern Hals heraus
Und späht
Und sieht: 0 Schreck, o Graus:
Am Kuhstall steht
Die Bläß und schaut
Zu ihm hinan
Und blickt ihn an
So treu und gut
Und wohlgemut
Aus ihren großen Augen …

Drüben am Abendhügel hin
Mit hohem Schein
Geht übern Acker Sankt Wendelin!
— Jetzt biegt er in den Wald hinein …

Karl Stamm, Der Hund

Du dumpfes Tier, so komm und lege deine Pfoten
mir auf die Kniee, stürmischer Gesell.
Wie tobst du hold! 0 ich versteh dich ganz. Dich trennen
tausend Klafter von mir. Wie zittert nur dein Fell!
Und deine Pfoten werden Händen ähnlich,
du willst aus deinen Krallen Finger treiben,
du bist voll ungeheurer Zärtlichkeiten,
dein Auge schaut entsternt, wer wohnt in dir?
Es jagen sich in deinem Rachen fremde Laute.
Das ist kein Bellen, ist viel mehr als dies, ich kenne
dieses Stammeln, hilflos Ringen um ein Wort.
Es jagen sich die Ketten deiner Töne.
Nun lächelst du, du bist mir schon sehr nah,
ich fühle ein Gesicht an meiner Wange,
leise löscht das Tier in dir,
du lassest dich zurück . ..
Wie muß das herrlich sein:
Der erste Tag. Erkennung, leises Fluten, Schweben,
selig Schwimmen. — Was dämmert her? 0 schwerer Schattenfall.
Ich stürze tief in mich zurück, erwache jäh.
Du bellst!

Franz Werfel, Romanze einer Schlange

Wo von den aufwärtsatmenden Vulkanen
Erhaben stürzet Gold um Gold,
Unter dem Blau, das in Orkanen
Tiefdröhnend durcheinander rollt,
Roll ich mich im Gerolle,
In meiner Quader Hölle,
Und starre stolz nach den Alleen,
Wo Bäume wehn, und weiße Füße wehn.
Und Sonne, Strom und Sommer toben hold.
Weh euch! Ich wurde wach als Schlange,
Und Feindschaft, Stolz und Haß sind mein Gebot.
Die Nachtigall zerbricht sich im Gesänge,
Und stürzet ab in ihren Tod,
Wenn ich mit meinem Blicke
Sie banne und bestricke.
Das Liebliche entgeht mir nicht!
Ich bin im Licht der Bösewicht,
Vernichtung und Gericht, das euch bedroht.
Unendlich singen Amseln in den Kronen,
Und an den Quellen tönt die Kreatur.
Es ist mein Teil in Stein und Stolz zu wohnen,
Und die Gestalt zu sein, in die ich fuhr.
Sind alle guten Wesen
Zu Müttern auserlesen,
So haßt mit Wut mich meine Brut,
Und krümmt sich fort in dumpfem Mut,
Und ich gewunden auf dem Grunde starre nur.

Ich frage nicht, warum bin ich erschaffen
Zum Wurm in dem umblauten Reich?!
Denn keine Sehnsucht lebt, mich hinzuraffen.
Und ich allein will sein mir selber gleich.
Der Hölle siebentiefste Flammen,
Sie quälen nicht, den sie verdammen!
Mich schmerzt mein Kriechen nicht, wenn durch Alleen
Sich Bäume wehn und weiße Füße wehn,
Ich kann nicht weinen, liebe keinen, Wehe euch!

Franz Werfel, Die Lerche

Ich springe aus dem nächtigen Laub auf.
Ich spanne mich wie einen Bogen in den Morgen,
Näher donnert die Sonne, noch unterirdische Pauke,
Näher dem Gekräh!
Auf frühen Schollen frühen Lebens finde ich die Lerche .. .
„Geliebter kleiner Vogel, irdener Vogel, bist du da und gleichst an Farbe
und Einfalt dieser Erdenscholle?“
„Ich gleiche der Erdenscholle, mein Freund, ich bin sie selbst, ich bin Erde,
geistige Erde, Erde, die über sich ansteigt.“
„Steigst du an und bist trunken ohne Trunk?“
„Ich steige an, mein Freund, und bin trunken. Ich ward, als der Geist
innehielt im Flug und rückwärts sah in den Morgen.“
„Bist du so hoher Abkunft, und falb doch, und ohne Ansehn?“
„Ich bin gering und falb von Ansehn, denn zusammengedrängte Leichte
bin ich, Gestalt des Geistes, Seele, Überwindung, Aufbruch, Aufschwung, Anstieg!
Ich bin armselig, damit gewaltig unter dem Feuer mein Gesang sei.
Ich bin Verheißung, Tröstung, Hochamt, unverlöschliches von Unten nach Oben!“
„0 kleiner geliebter Vogel!“
„Ein Gleichnis bin ich, mein schwerer Freund, wie du selbst.“

Otto Zoff, Wau

Wäre nicht das schöne, große, glänzende Zehnkronenstück auf der Straße, abseits, nahe am Graben gelegen, so wäre diese ganze, traurige Tragödie er­spart geblieben.

Aber es brannte ein goldener Sommertag über allen Wiesen, die Luft schil­lerte, über den Bäumen lastete Trägheit und das Zehnkronenstück lag auf der Straße, abseits, nahe am Graben, groß und glänzend.

Beinahe hätte es Carlo übersehen — von Johann gar nicht zu reden, der überhaupt nichts mehr so richtig betrachtete —, aber auch Carlo, der jung und neugierig durch die Welt lief, hätte es beinahe übersehen, denn er war ein wenig schläfrig. Aber da gab es ihm doch einen Ruck, im letzten Augen­blick, und er hielt den herrlichen Fund schon mit beiden Händen vor sich hin, staunend mit offnem Mund.

Carlo grinste. Und lachte laut auf. Johann, der schon ein paar Schritt weiter war, wandte sich faul, nur halb, gedehnt: „Was ist denn?“

Carlo wischte sich mit dem zerrissenen Ärmel über das Gesicht, als wollte er sich reine Augen machen, starrte das funkelnde Stück nochmals an, er­schrak, machte eine hastige Bewegung zu seinen Taschen hin, während er ängstlich zu Johann aufblickte. Aber Johann hatte sich schon gänzlich um­gewandt und schaute durch seine erloschenen Augen mühselig aus. Carlo bewegte sich wie zufällig und lachte.

Johann: „Was hast du gefunden?“ Die Neugierde zog ihn zwei Schritt zurück.

Carlo fand es für gut, seine Hand hinzustrecken. Das Goldstück blitzte in der Sonne auf.

Johann pfiff durch die Zähne, langsam: „Glücksluder.“

Carlo stand unbeweglich und grinste über das ganze Gesicht. Eigentlich ist er gemütlich.  Eigentlich: was hätte er allein davon, der andere läßt ihn ja doch nicht aus den Augen. Soll dem auch ein guter Trunk vergönnt sein. Mittlerweile hatte schon Johann seinen grauen, borstigen Schädel über die Handfläche des Kameraden gebeugt. So was mußte er ganz von der Nähe überprüfen. Aber es war keine Täuschung. Seine Borsten standen lang und steif in die reine Luft.   Er richtete sich auf, seine Augen waren klein, rück­unter der Stirn, trunken.   „Luder.“   Sein Gesicht strahlte verklärt.

Carlo nickte.   „Italiener sind Leute, serr . . . viel.. . glücklich .. .“

Johann bewunderte ihn. Er kratzte sich den Schädel, seine Hand ging im Haar verloren. „Du bist halt jung … Ich … zu meiner Zeit…“ Er machte e Geste, die Großes ahnen ließ. Carlo rückte sich wieder das Ränzel zurecht, marschierte weiter, lachte, lachte, drehte sich nach dem Alten um, wartete auf ihn, schlug den Arm um n, fing zum Singen an, machte lustige Schritte, sie begannen mit einemmal schreien, sich gegeneinander zu werfen, einander immer wieder strahlend zuschauen, die Beine in die Luft schleudern, die Zehen durch die Schuhe hinauszustrecken, sie hatten eine inbrünstige Liebe füreinander. Vor en, aus dem braunen Gewoge der Äcker, tauchten steile, schwarze Gehöftdächer. Beide blieben stehen, besannen sich.  Und Carlo: „Was machen mit m Geld?“

Johann zwinkerte humoristisch. Dann warf er den ledernen Schädel schnell zurück, als schluckte er wollüstig, dann blinzelte er schon wieder den andern an, vorgebeugt, spähend, lustig. Carlo schlug ihn großmütig, von weit oben, mit der flachen Hand auf den Schädel.

„Wenn du Mund haltst zu ….  Hälfte von Geld dir gehört Johann legte augenblicklich zwei Finger auf seine Lippen, während seine Augen verständnisvoll leuchteten.

Weitere Beteuerungen waren ganz und gar überflüssig. Der Vertrag war geschlossen.

Sie wanderten schnell weiter. Und schon rückten ihnen die Gehöfte näher; endlich konnten sie mit den Blicken die Straße bis zum Herzen des Marktes verfolgen.

Johann klatschte mit einem Mal lärmend in die Hände; und nun ging es in einem fröhlichen Takt weiter. Carlo sang laut. Hinter den fernen Bergen stieg die milde Dämmernis auf. Die Gräser summten. Das geschnittene Gras duftete stärker. Die Giebel der Häuser schauten ernsthaft gerade vor sich hin. Rote Nelken leuchteten aus allen Fenstern. Man hörte, wie Rosse ausge­spannt wurden.

Gleich vor dem ersten Haus lungerte ein langer Bengel auf der Bank, flach gegen die Mauer gelehnt, die Beine hager vor sich hingestreckt. Er paffte eine endlose Pfeife. Nun schaute er mißtrauisch und hochmütig den An­kommenden entgegen. Gleichzeitig hob ein grauer Köter, der neben ihm hockte, die Schnauze.

Die Landstreicher hatten ihre Fäuste tief in den Hosentaschen stecken und machten große Schritte. Das gehörte zur Selbstverständlichkeit. Der graue Köter hob sich auf die Hinterbeine, ein wenig lahm, und bellte gleichgültig.

„Haha,“ lachte Johann. Carlo lächelte. Der Köter tänzelte auf den Vorder­tatzen, ein wenig unruhig, und bellte dringlicher. „Deppat’s Vieh,“ sagte Johann und wollte schon vorbei.

Der lange Bengel rührte sich. „Lassen’s den Hund in Ruah!“ und nahm vorsichtig die Pfeife aus dem Mundwinkel. Er rieb sich mit der Hand die Nase, als hätte er sich auf etwas vorzubereiten.

Johann schaute aus seinen glanzlosen Augen und blieb stehen: „I tua ihm ja nix.   Er schlug mit der Hand beruhigend gegen das Knie und rief den Hund an.

Der Hund bellte und wedelte schwach.

„Na, na, na,“ meinte Johann und schlug noch immer mit der Hand gegen das Knie. Dann hob er sie auf, spitzte zwei Finger gegeneinander und lockte ihn, mit der Zunge leicht schnalzend.

Der Bengel schaute einmal ihn, dann den Köter gleichgültig an und paffte schon wieder beruhigt. „Er tut nix,“ meinte er endlich.

Johann kam näher, der Hund bellte noch, aber nur mehr aus Gewohnheit; das gutmütige Gesicht des Alten machte ihn widerstandslos, er tänzelte um die Bank umher, in die Luft schnappend, und wedelte endlich mit einer hün­dischen Zuvorkommenheit.

Johann kratzte ihn am Hinterkopf. Das Tier drückte sich gegen seine Hand, Carlo trat hinzu, ein wenig von oben herab.

„Nicht schöner Hund das,“ meinte er endlich und ließ seine weißen Zähne blitzen. Der Hund schaute ihn an, beinahe melancholisch, und bemühte sich, auch ihm die Hand zu lecken.

Carlo kratzte ihn herablassend ein wenig über den Rücken. „Hat nur ein Aug’…“

Worauf Johann tiefsinnig vor sich hin nickte. Man sah es ihm an, daß er ein wenig mitleidig gestimmt war. „Das andere ist blind,“ setzte er endlich hinzu.

Der Hund schaute von einem zum andern. Beide betrachteten das blinde, weißgraue, tote Auge.

„A schlechte Rass‘,“ meinte der Bauer und zog endlich seine langen Füße ein. Er rutschte ein wenig herum. „Aber a guater Kerl.“

Es blieb eine Zeitlang still.

„Was kostet der Hund?“ fragte endlich Carlo.

Der Bengel drückte die Pfeife in den Mundwinkel und preßte schlau die Lippen aneinander.

„Ich brauch ihm … Is a recht a wachsam’s Vieh … I kann ihm net her­geben.

„Was kosten?“

„Na fünf Kronen halt.“

Das kostete dem Carlo einen Lacher.

Währenddessen hatte Johann erstaunt aufgeblickt, hatte verstanden. Sein Gesicht glühte von Interesse. Er ließ die Hand nicht mehr von dem Tier, er streichelte es ohne Unterlaß, während er gespannt Carlo ins Antlitz schaute.

Aber Carlo zog nur die Lippen schief.

„Fünf Kronen? . . . Nicht zwei?“

Worauf der Bauer es gar nicht mehr notwendig fand, weiter zu unterhandeln. I Er zog die Pfeife aus dem einen Mundwinkel, um sie in den andern zu schieben. Er betrachtete den abendlichen Himmel, während er den Dampf gewaltig aus­strömen ließ.

„Nicht zwei?“ sagte Carlo nochmals.   Johann senkte den Kopf und be­trachtete den Hund, der ihm vertraulich die Hand leckte.  Aber er schwieg. I Und die Dunkelheit kam und die kalte Ruhe in allen Fernen.

„Komm,“ sagte Carlo und wandte sich schon wieder der Straße zu. Johann tätschelte den Hund noch in der Eile auf den Kopf, wünschte einen 1 guten Abend, was der Bauer brummend entgegennahm, und folgte dem andern nach.

Nun wanderten sie stillschweigend nebeneinander hin. Mit einem Mal hielt Johann still.   „So ein Vieh … es war‘ doch recht fein.“

Carlo zuckte mit den Achseln.  „Was hast nicht geredet mit dem Bauer?“

Johann schaute demütig zu ihm auf. „Hältst es halt auch gern … das Vieh?“

„Hund ist immer nützlich. Man kann nicht wissen.“

Johann überlegte noch drei Sekunden. Dann lief er zurück.

Der Bauer schaute zuerst an ihm vorbei. Nach einem viertelstündigen Hin und Wider, zu dem sich auch Carlo gesellte, hatte man sich auf vier Kronen geeinigt.

Johann atmete auf. Carlo zahlte mit Grandezza aus, der Bauer gab zurück, kopfschüttelnd das Zehnkronenstück einsteckend, erzählte Geschichten von dem Tier, eine Fülle seiner Tugenden, grinste gefällig, zog lang an der Pfeife, steckte seinen Bauch behaglich heraus.

Mittlerweile hatte Johann einen dicken Strick aus der Tasche gezogen, machte eine Masche und band sie dem Hund um den Hals. Carlo schaute freundlich zu.

Wie sie dann endlich weiterzogen, sträubte sich der Hund winselnd, stemmte seine Beine gegen die Erde, ließ sich ziehen, schaute immer mit dem einen Auge, wie um Hilfe flehend, zurück, bellte, knautschte, heulte, warf sich mit dem Rücken auf den Boden. Aber was nützte ihm das alles? Der Bengel war mit seiner Pfeife beschäftigt.

Wanderschaft, endlose Wanderschaft. Wie viele Hügel sinken zurück, wie viele Täler verlieren sich, über wie viele Brücken muß man steigen. Manch­mal ein paar Tage Rast, wenn Arbeit zu finden ist. Und wieder Abschied aus einer kurzen Heimat. Man schläft in Heuböden, in Ställen, in Schuppen, manchmal, wenn es der liebe Gott will, unter seinem unerschütterlichen Himmel.

Der Hund hieß jetzt einfach „Wau“.

Wau war von seinen Herren unzertrennlich. Er lief knapp hinter ihren Schritten einher, stets leicht wedelnd. Manchmal, wenn er besonders gut gelaunt war, lief er voraus, bellte den aufgescheuchten Spatzen nach, sprang in die Luft, schaute sich mit einem Auge die Welt an. •

Es ist möglich, daß er auf diese Weise nur die eine Seite der Welt kennen lernte.

Drei unbesorgte Gesellen zogen durch die Welt. Der dritte hatte es nicht schlechter als die andern zwei. Was sie besaßen, teilten sie mit ihm. Was er nicht besaß, teilte er auch mit ihnen.

Wer keine Heimat hat, sucht sie im Herzen eines Wanderers, der mit ihm geht.

Früh stieg die Sonne über dampfenden Äckern auf, man hatte seinen Weg schon wieder aufgenommen. Abends kamen die Sterne, man suchte sich eine Schlafstatt. Wenn die Nacht am tiefsten dunkelte, schlief man nebenein­ander, mit tiefen Atemzügen.

Carlo wußte schöne, weiche Lieder und gute Späße. Er war jung, er gab den Ton an.   Er war der findigste.  Aber Johann war voll Güte.  Er teilte immer noch. Und Wau wachte und diente. Er diente mit allerlei. Manchmal gab es Hühnerbraten.

Aber ehe man es gedacht, wanderte man durch welk gefallenes Laub. Es war schon tief im Herbst.

Johann und Carlo machten eines Tages am Kreuzweg halt, um Abschied zu nehmen.

Man hatte derlei schon mitgemacht, aber angenehm war es trotzdem nicht. Johann hustete einigemal. Er sprach bei solchen Gelegenheiten nicht gern. „Ja aber — wem gehörte der Hund?“

Wau stand vor beiden und schaute von einem zum andern. Er wedelte ahnungslos.

„Schenk mir den Hund,“ meinte Johann endlich, ganz ruhig. Carlo starrte ihn verständnislos an.   Dann rasch: „Mir Hund gehört so wie dir.“

„Könntest ihn mir schon schenken.“ „Warum?“

„Wennst ein guter Kamerad bist.“ „Was du mir schenken?“

Johann kratzte sich wieder einmal den Schädel und dachte nach. Er dachte tief und lang.

Schließlich: er hatte noch so etwas wie einen zweiten Rock im Ränzel. Den — ja sogar den würde er herschenken.

Carlo schüttelte den Kopf, nicht unfreundlich, aber doch entschieden. „Ick kann nicht… Ick habe Hund gern.“

Der Hund spitzte die Ohren und hörte mit größerer Aufmerksamkeit zu. Daß es sich um ihn handelte, das konnte kein Zweifel mehr sein. Er wedelte stärker.

Johanns Gesicht war ein wenig zusammengefallen. Er starrte ratlos vor sich hin.

„Was machen?“ sagte Carlo.

„I bin dir allweil ein guter Kamerad gewesen,“ sagte Johann, ohne daß er aufhörte vor sich hinzustarren.

„Ach was!“ und Carlo schnitt eine ungeduldige Geste.

Johann machte das Anerbieten, zu dem Rock auch noch seine Pfeife mit dem Meerschaumkopf herzugeben.

Carlo begann seinerseits, Johann seinen Rock, seine Pfeife und eine noch nicht getragene Krawatte für den Hund in Aussicht zu stellen.

Johann schien es gar nicht zu hören.

Der Hund ließ sein sehendes Auge nicht von den Streitenden ab. Er wußte daß es sich, nicht nur um Ernstes handelte, es mußte sogar eine Tragödie im Anzug sein. Das blinde Auge starrte sehr melancholisch, nichts anderes als melancholisch. Manchmal hätte man meinen können, es verstünde alles besser als das andere.

Die Zeit drängte und die Sonne wanderte weiter. Man konnte sich doch wegen eines Hundes nicht so lange aufhalten. Carlo stampfte ein wenig un­geduldig mit dem Fuße auf.

Der vergebliche Tausch ging weiter. Die Sonne lief schnell. Aber keiner wollte auf den Hund verzichten.

Da leuchtete Carlos Gesicht auf.

Johann glotzte ihn an und verstand noch nicht.

Carlo setzte auseinander: „Du gehst dort … ich geh hier . . . keiner dreht sich um und keiner ruft. . . Hund wird müssen wählen.“

Johann lachte: daß sie nicht früher darauf gekommen wären! Natürlich wollte man es so machen. (Erst heute Nacht hatte sich Wau, als es zu frösteln anfing, bei ihm unter seiner Schulter verkrochen.)

Nun hätte man den Hund sehen müssen. Zuerst schaute er nur ein wenig verwundert drein, als seine beiden Herren sich mit einem Mal trennten und, als hätten sie nichts mehr miteinander zu tun, ein jeder den entgegengesetzten Weg einschlug. Das war etwas Neues. Er hob die Ohren voll Aufmerksamkeit, bis sie steif und spitz aus seinem Schädel herausstanden.

Die zwei Männer blieben nicht stehen. Sie schauten sich nicht nach ihm um. Sie riefen nicht. Sie machten keine Gesten. Sie hatten ihn vergessen. Er starrte einmal dem einen, dann dem andern nach. Er begann unruhig zu werden. Er begann auf allen Vieren sinnlos herumzutanzen. Und mit einem Male schlug er ein wütendes Geheul auf.

Seine Herren hörten es nicht. Sie hörten es gar nicht. Sein Auge konnte er nicht mehr schnell genug von einem zum andern wenden. Er war ver­zweifelt. Er begann zu bellen und wieder zu winseln und aufzuheulen. Es war alles vergebens. Die Männer kamen immer weiter voneinander fort.

Und mit einem Male rannte er in einem Satz Johann nach. Er erreichte ihn, er sprang ihm entgegen. Johann ging weiter, während er leise, aber ein­dringlich auf ihn niedersprach, zärtlich, stammelnd, unsinnig.

Aber der Hund wollte nicht mit ihm laufen. Er schien ihn zum Stehen­bleiben bewegen zu wollen. Er sprang immer wieder an seiner Brust empor, beleckte ihn einschmeichelnd, flehentlich, winselnd, verzweifelnd. Er sprang zwischen seine Schritte. Er biß sich an seine Hose fest und versuchte ihn zu­rückzuziehen. Aber Johann hatte nur Worte für ihn, tausend zärtliche Worte, Versprechungen, einen ganz herrlichen Hundehimmel in Worten.

Da heulte das Tier auf, kläglich, wie getroffen und lief von Johann fort, ohne ihn zu hören, lief fort, immer weiter, immer schneller, dem andern nach.

Und es begann dieselbe Szene. Dieselbe trostlose, verzweifelte, klägliche Szene. Carlo lachte, er glaubte den Hund gewonnen, er warf seine fröhlichen Spaße in die Luft, er sang, er lief schneller, er kümmerte sich nicht darum, ob er ihn jetzt an den Hosen zurückzuziehen versuchte oder sich vor seine Füße warf, um ihm das Gehen zu verhindern.  Er lachte und sang.

Und da rannte das Tier wieder fort, wieder zurück, wieder zu Johann. Mittlerweile war die Entfernung immer größer geworden. Es galt jetzt schon, eine ziemliche Strecke zu laufen.

Das Tier lief sie, während ihm die Zunge beim Maul heraushing.

Vergeblich.

Es lief sie nochmals und dann wieder, und immer größer wurde die Strecke. Die zwei Männer konnten einander noch erkennen, sie standen beide lang aus den flachen, gestreckten Äckern in die Luft hinaus.

Und nun wollte es schon Abend werden. Aber Wau lief noch immer von einem zum andern. Sein Atem stieß blechern aus dem armseligen Körper, an dem man alle Knochen zählen konnte.

Winseln konnte er nicht mehr, es geschah alles ohne Laut.

Sein Auge war gerötet, blutunterlaufen.

Die Männer vermieden, ihn anzusehen. Und sie waren doch schließlich einiges gewöhnt. Ihr Schritt wurde immer schneller. Er mußte sich endlich doch einmal entscheiden.

Selbst wenn er weit von ihnen rannte, vermeinten sie das Gerassel seines Atems zu hören. Aber mit einem Male blieb er bei beiden aus.

Die Männer standen still, spähten zueinander hinüber. Ein jeder erkannte nur mehr, daß auch der andere stillstand. Sie machten kehrt und gingen schnell ihren Weg zurück.

Sie kommen wieder an den Kreuzweg. Sie finden den Hund im Sande liegen, röchelnd, sich schüttelnd, die zuckenden Glieder ausstreckend und wieder an sich ziehend, mit blutiger, weit heraushängender Zunge.

Er öffnet sein Auge und blickt sie trostlos an.

Er hebt seine Schnauze nach ihnen und kann es nicht und legt sie auf seine Vorderpfoten und röchelt. Aber noch immer wendet er sein Auge nicht von ihnen.  Die beiden Männer stehen und starren auf ihn herab.

Aber mit einem Male beginnt Johann zu schluchzen, während er die Hände-zu dem andern aufhebt: „I bin dir allweil ein guter Kamerad gewesen . . . Schenk mir den Hund . . .   Kannst haben, was du willst…“

Carlo schneidet mit einer einzigen Geste das Gejammer ab. Johann verstummt, schluchzt in sich hinein. Carlo wendet sich von ihm ab, sucht auf dem Boden, geht im Kreise, sucht immer.

Johann schaut ihm zu, während die Tränen über die Wangen laufen. Er beginnt neugierig zu werden. Er weiß nicht, was Carlo vor hat. Da hebt Carlo einen großen, dicken Baumast auf.

Johann versteht mit einem Male, zuckt zusammen, wehrt mit beiden Armen ab.

Carlo sieht es nicht. Johann weiß: jetzt bleibt jedes Wort vergeblich. Er gibt den Widerstand auf. Er schaut noch einmal das Tier an. Es liegt noch immer in derselben Stellung und läßt den Blick nicht von ihm. Seine Zunge wird immer länger.  Sein Atem klingt, als hätte es Sand in der Brust.

Carlo tritt hinzu, und Johann wendet sich stillschweigend ab.

Dann hört er, daß etwas knackst.

Er wendet sich wieder hin. Carlo hat dem Hund den Schädel zerschmettert. Johann sieht, wie Carlo gerade den blutigen Holzstock fortwirft, seine Hände über die Hosen abwärtsstreift, den Kopf mit einer hastigen Gebärde zurück­schleudert und wie er sich schon wieder auf den Weg macht.

Johann glotzt ihm einige Sekunden nach. Nebel sinken, es riecht feucht und herbstlich. Dann streift er noch einmal den blutigen Kadaver mit einem blassen, verlegenen Blick. Richtet sich den Hut ein wenig aus der Stirn. Und geht.

Maria Luise Weißmann, Der Gorilla

Er atmet ihre Schwüle längst nicht mehr,
Doch lastet seinem Nacken immer noch der Traum der großen Seen
Und läßt ihn tief zum Sand gebückt und schwer
Im Takt zur Wiederkehr der Eisenstäbe gehn.
Er möchte wohl der Glanz der Papageien sein,
Das Duften der Reseden und der Banjoklang,
Doch bricht kein Strahl den trüben Spiegel seines Auges ein:
Die Hand trägt stillgefaltet den beträumten Gang
Dem fremden Leuchten still und fremd vorbei.
Manchmal, im Schrei,
Der fernher trifft, fühlt er sich jäh dem Schlund
Des Schlafes steil emporgereckt entragen
Und knirschend seiner Stirne aufgewandtes Rund
An steingewölbte Firmamente schlagen.

Gerhard Ausleger, Tod des blauen Reiters Franz Marc

Schwefel. Blitze. Blut und hart Gebrüll: Kanonen.
Leiber rotgerissen. Und Granatengrüfte für den Tod: zu wohnen.
Fleisch und Fetzen vom Soldatenvolke —
Plötzlich: ist der blaue Reiter breit von Licht geschlagen:
ist hineingetragen;
ist hinaufgetragen;
bersten seine Hufe Splitter von beglänzter Wolke.
Erde rollt darunter. Rollt gewaltig in die Nacht.

Aufgebracht
auf stracken Vorderbeinen
richtet groß das Roß sich am grünen Himmelsgarten.
Drinnen: tausend treue Tiere ihren treuen Herrn erwarten
sanft in Felsgestürzen und verblauten Forsten:
Bären (angetan mit goldnen Borsten)
und verhaltne Lämmer bitter weinen;
alle Tiere als aus dem Legendenbuche scheinen.
Lautlos, endlos: Feder, Vieh und hingestreckte Felle.

Geht venöses nun der blaue Reiter
und zu Ruhe über Himmelsgartenschwelle:
alle Tiere heben die behaarten Brüste heiter,
ist: als ob sie läutend lachen,
daß sie treue nun dem Herrn seinen großen Schlaf bewachen.

Rudolf Fuchs, Drohnenschlacht

Ich, Mutter aller, Königin der Waben,
Versammle alle Dienenden um mich:
Die nichts als Lust und Raub im Sinne haben.
Noch heut‘ verfallen sie dem Richtertisch!

Habt ihr geseh’n, wie unsre Zellen flossen,
als plump der Drohne Rüssel tauchte ein?
Und statt von Kindeskind genossen,
Verdarb in ihrem Bauch der edle Seim.

Ihr Architekten, strenge Wachsbereiter!
Ihr Wächter unsrer Brut an heil’gem Ort!
Ihr wie die Sonne steten Blumenreiter —
Zu Zeugen ruf ich euch! Dies sei mein Wort:
Das müßige Geschlecht in unsern Ständen,
Das aller Werk verschleudert und verrät,
Die Prasser, die uns vor dem Himmel schänden —
Hinweg damit aus unsern Wänden!
Sie sollen enden! Denn ihr Fall erhöht.

Arnold Ulitz, Aufruhr im Tierpark

Als der Oberwärter die erste Morgenrunde durch den kaum erwachten Tier­park machte und, wie es seine närrische Gewohnheit war, mit Nikolaus, dem menschenähnlichen Affen, schalkhafte Gebärdenzwiesprache hielt, fiel dieser, aus unerfindlichem Grunde plötzlich bestialisch rasend, den kraftlosen Alten mit überwältigendem Jähzorn an, mißhandelte ihn, entriß ihm den großen Schlüsselbund und trieb ihn fürchterlich vor sich her, bis der Unglückliche hinter der festen Tür des Wärterhauses erschöpft zusammenbrach und das menschenähnliche Hohngelächter des Affen gesträubten Haares vor dem Ent­schwinden seiner Sinne noch deutlich vernahm.

Nikolaus öffnete sodann der Reihe nach sämtliche Kerker; die zahlreichen Schlüssel versuchte er in unbeirrbarer Geduld, und nie hatte er in Mienen und Gebärden dem Oberwärter ähnlicher gesehen, als während dieses unbesonnenen Tuns.

Die Türen der großen und fleischfressenden Bestien ließ er wohlweislich angelehnt und forderte nur mit höflichen Gebärden aus einiger Entfernung die Gewaltigen auf, sich in die Freiheit zu bemühen. Aber den ungefährlichen Tieren tat er die kreischenden Pforten und Gatter sperrangelweit auf; er ver­neigte sich vor dem erhabenen Elefanten, der seiner nicht achtete; er schaute den entfliehenden sanften Rehen fast sentimentalisch nach, und über die forschend lauschenden, sachte heranwitternden und endlich pfeilscharf ent­stiebenden Wiesel und Marder und Füchse und huschenden Mäuse belustigte er sich höchlich und hielt sich nach Menschenart vor Lachen den muskulösen Bauch.

Dann eilte er in den Affenkäfig zurück, wo er die schwatzende und tatlose Schar seiner Brüder mit einer herrischen und verächtlichen Kopfbewegung aufforderte, ihm zu folgen. Sie taten es mit viel Geschrei und Gassenbuben­übermut und kletterten auf die Bäume, die zu beiden Seiten des breiten Kies­wegs unter der steigenden Sonne mit starken Düften erschauerten; nur Niko­laus hielt sich menschenähnlich auf dem Wege. Der Tau war schon verdunstet, und der Kies leuchtete in praller Weiße. Er führte die Schar vor das Park­restaurant, stieg mit einigen behenden Jünglingen in ein offenes Fenster, und ungestört von der mit entsetzlichen Schreien in ihrer Kammer sich verriegeln­den Schaffnerin warfen sie die weißen und die bunt gewürfelten Tischtücher hinab. Die Affen begriffen und deckten geschwindest die Tische. Nikolaus entnahm dem Büffetschrank noch einige Kartenspiele, und herrenhaft lümmelnd saß er bald danach mit den Seinen an gedeckten Tischen, und man spielte Karten und machte die abgelernten Gesten der Bürger, als spräche man mit brennendem Herzen von Politik.

Der Oberwärter inzwischen, aus Ohnmacht zerschlagen erwacht, hatte das Personal im Hause geweckt. An den Fenstern des oberen Stockwerks standen alle Wärter und schrieen, drohten und klatschten mit den Händen, um die Affen durch den Lärm zu Verstände zu bringen, denn anfänglich wähnten sie, daß nur diese entwichen seien.

Da aber sah einer, wie den Kiesweg herab, gewaltig, melancholisch und in Dumpfheit suchend die Löwin wandelte, und er flüsterte erblassend: „Alle sind los! Alle sind los!“

Der Oberwärter winkte mit beiden Händen den Kollegen peinlichste Ruhe zu, denn er, der die meisten Tiere von Jugend auf kannte, war tief überzeugt, daß es sich um eine Revolte handele, die gegen sie, die Wärter, die doch nur um des täglichen Brotes willen und nicht aus Bosheit ihren Dienst versahen, rachgierig gerichtet war. So wankten die Männer erbleichend zurück, blickten behutsam wie Schützen knapp über den Fensterbord und lauschten ohne Laut dem gewaltigen Schreiten. Es verscholl; sie richteten sich auf.

Da lief schon flackernd und hochstaplerisch die Hyäne vorüber, das Kro­kodil schleppte sich scheusälig in ein Tulpenbeet, eine Gazelle flirrte schwalbenhaft blitzend dahin, das gute Zebra weidete träumerisch im Rhododendron-boskett, der Fuchs zog perfide hinter der Hecke des Weges, die weißen Mäuse rieselten wie windgetriebener, weicher Flockenfall, und das Flußpferd wackelte kurzbeinig heran und trat tiefe Stapfen in den Kies, in die der grüne Schlamm seines verlassenen Beckens widerlich triefte.

Mit warnendem und weisem Posaunen nahte der Elefant, und am Wärter­hause hob er wie einen vermahnenden Riesenzeigefinger den grauen, rissigen Rüssel, der bis ans erste Stockwerk pochte. Der Oberwärter verneigte sich un­bewußt und sprach zu ihm: „Was können wir denn machen? Wir tragen keine Schuld, wir sind Beamte, sonst nichts!“

Das Dromedar schaukelte wie ein Matrose vorüber und schleifte mit den Höckern die Blüten der Bäume herab, und ihm gesellte sich, triebhaft und treu­herzig, der braune Bär, der streckenweise aufrecht ging und sich wehmütig wiegte, und auch er stand vor dem Hause still und hob die Tatzen, als erbitte er was

„Ach, mein Lieber,“ sagte der Oberwärter, „willst du etwas von uns? Wir sind ärmer als du! Ich glaube, du weißt noch gar nicht, wie ernst die Situation ist.“

Die Fütterungsstunde war gekommen, und die Bestien vermißten den Fraß, nur die Affen wußten bald Bescheid und holten aus dem Wirtshausschrank Zucker und Brot, aber die anderen irrten umher und brüllten.

Da holte sich der Wolf das Reh, da beschlich der Fuchs den Papageien, der eitel im Reifen schaukelte, und soff sein Blut aus dem schimmernden Geckengefieder hervor.

Der Löwe aber, schwermütig von Erinnerungen, lag träge auf dem Kinder­spielplatz des Wirtshausgartens im Sandhaufen und hatte die Augen geschlossen. Bis die törichte Giraffe in seine Nähe kam, um an den Baumwipfeln zu naschen. Da zitterte er durch den ganzen Leib und erhob sich. Alle Tiere, die ihn sahen, machten weite Bögen, nur der Schakal stellte sich hämisch abwartend hinter die alte Linde, und der Geier ließ sich mit fledermausweichem Flügelschlag auf der vergoldeten Zinne des Raubvogelhauses nieder und lächelte böse. Dann sprang der Löwe in jähem Sprung, und die Giraffe zerbrach unter ihm.

Von da an scholl aus dem Tierpark wahnwitziges und grausiges Gebrüll. Rasende Heimkehr feierten alle, zur schier vergessenen Natur. Hunger, Freude, Schmerz, Todesschrei, Triumph und Freiheit! Der Oberwärter weinte bitter­lich, aber die Spaziergänger, die an den Bohlenzäunen des Gartens entlang heiter ins Freie wanderten, sagten nichtsahnend: „Der Frühling kommt auch für das wilde Vieh!“

Erst gegen acht Uhr begann die Stadt etwas von dem Umsturz zu ahnen. In wundervollem Fluge strebte ein gewaltiger Vogel von Osten her über die Dächer; die vielen Menschen, die um jene Stunde auf dem Wege zu ihren Arbeitsstätten waren, reckten die Köpfe, und in tiefer Betroffenheit ließ ein Straßenbahnschaffner seinen Wagen auf freier Strecke stehen und rief als erster: „Ein Adler, ein wirklicher Adler!“

Dann riefen sie es alle: „Ein Adler, ein Adler!“, und die Toren, die ihn oft in seiner Gefangenschaft blöde und nichtachtend gesehen hatten, waren jetzt wie Verzückte und schauten empor. Viele seiner Brüder taten wie er und strichen staunend über die Häuser und die durchströmenden Straßen zwischen ihnen. Einer sah eine Gans im Balkon eines reichen Mannes und führte sie prächtig von dannen, und ein anderer ließ sich auf einem herrschaft­lichen Hause der inneren Stadt nieder, beforschte bedächtig den Adler aus Gips, der das Dach fittichspreizend krönte, und setzte sich sodann regungslos auf das tote Haupt, aber trotz der Höhe war es, als könnte man von unten erkennen, daß seine harten Augen voll großen Lichtes seien.

Endlich wurde es klar, daß im Tierpark Unheilvolles geschehen war. Extra­blätter durchgellten die Straßen wie in kriegerischer Zeit: Aufruhr im Tier­park! Alle Tiere befreit! Die Wärter zerfleischt! Kinder von Löwen ange­fallen!   Hyänen ins Leichenschauhaus eingebrochen!

Nur der geringste Teil dieser beunruhigenden Nachrichten war wahr. Die Journalisten logen diesmal aus Erschütterung; weit über den geilen Kitzel hohler Wortsensation hinaus waren sie von der Ahnung eines beispiellosen Er­lebnisses aufgewühlt, und manche Menschen wähnten wie im Rausch, nun habe die Stumpfheit dieser Stadt für immer ein Ende.

Die Mütter schrieen nach ihren Kindern, die auf dem Schulweg waren. Alle Geschäfte und insonders die Läden der Fleischer ließen die Gatter herunter, die Haustüren wurden geschlossen, mit Revolvern in den Händen standen Polizisten bleich an den Straßenecken, und völlige Stille, wie ver­pestet und schwer, überkrustete die ganze Stadt.

Nur ein Kanalarbeiter blieb stehen auf der obersten Sprosse seiner Leiter im Schacht; den Griff des eisernen Deckels hatte er erfaßt, und gespannt blickte und lauschte er über die kahle Pflasteröde der Straße und dachte es sich aus: Uber mich hinweg, ahnungslos, trottet der graue Bär!

Zwei Kellner des Tierparkrestaurants trafen um acht Uhr vor dem Tore ein, um ihren Dienst anzutreten. Als einer die Tür öffnen wollte, gelang es ihm nicht, er rief verwundert und ärgerlich den zweiten, und sie stemmten gewaltig. Da öffnete sich die Tür so schwer, als sei ein großer, schwerer Sack hinter ihr aufgestellt, und sie vernahmen auch ein seltsames Schleifen, wie von einem geschobenen Sack.

Als endlich ein Spalt gebildet war, so breit, daß ein Mensch hätte durch­schlüpfen können, und als die beiden in der Tat sich hindurchzwängen wollten, quoll in Manneshöhe, groß wie der Kopf eines Stieres schier, mit offenem Rachen, züngelnd, mit mörderischen Augen, mit dunkelrot-grauer Höhlenfinsternis des Maules, der Kopf einer riesigen Schlange durch den Spalt, und ein dicker, gebäumter Leib drehte die Tür nun beiseite, und in der ganzen Öffnung stand aufgerichtet, zum Vorwärtsschnellen bereit, und fauchend das Tier. Die Kellner stürzten hintenüber, rafften sich auf, liefen, stürzten noch oft und eilten schreiend und vor Entsetzen lallend durch die Stadt.

So blieb die Schlange noch eine Weile in kampfbereiter Haltung, dann senkte sich der Leib, und sie wand sich heraus, träge, gemächlich, quer über den Bürgersteig und strebte auf die Straße hinüber, wo in schimmernder Parallele die Schienen der elektrischen Bahn verliefen und die Neugierige lockten. Der Asphalt war um diese Stunde schon erwärmt und tat ihrem Leibe wohl, und so blieb sie genau über den Schienen liegen und sonnte sich.

Ein Straßenbahnwagen rollte heran, der Motorführer sah, bremste, sprang ab und schrie: „Eine Schlange, eine Schlange!“ Alle Insassen knäulten sich heraus, Schulkinder, Kaufleute, Beamte; andere Wagen folgten, konnten nicht weiter, eine lange Reihe stand schon wie versteint; in ungeheurem, von der Angst gezirkeltem Umkreis standen die Menschen und stierten, und die Schlange lag regunglos und gewaltig.

Indessen war die Feuerwehr gekommen und stand mit Spritzen und Magirusleiter ratlos. Ohne Maßen grauenvoll erscholl aus dem Tierpark das Brüllen der Befreiten, und die Tür, die sich von selber ein Stück geschlossen hatte, stand immer noch mit einem Spalte auf.

Heraus lugte plötzlich spitzig der Fuchs.

Wandte sich sofort und sprang zurück, aber diese blitzhafte Erscheinung machte die Menschen vollends toll. Jeder glaubte zu spüren, daß dieses übel­beleumundete Tier nichts anderes vorhatte, als die Bestien zu benachrichtigen: „Die Tür steht offen, und Menschen sind zahllos da!“ Plötzlich trat auch eine kurze Stille im Tierpark ein, und deutlich konnten alle hören, daß aus der Richtung des Wärterhauses geschrien wurde: „Hilfe, Hilfe, Hilfe!“

Die Feuerwehr saß auf und raste davon, die Menschen liefen wie verrückt; an den Fenstern hinter Gardinen standen Entsetzte.

Die Schlange lag auf den Schienen, der Löwe schlief auf dem Kadaver der Giraffe, der Geier auf der goldenen Zinne schlug zornig mit den Flügeln, die Affen spielten Skat.

Da besannen sich die in Eile zusammengerufenen Herren des Magistrats auf das Militär. Zwei Kompagnien Infanterie, eine Maschinengewehrkom­pagnie und ein Zug Flammenwerfer wurden unter den Befehl eines im letzten Kriege bewährten Majors gestellt und rückten gegen den Tierpark ab.

„Esel, Esel,“ sagte der Major, als er die Schlange liegen sah, „Esel von Straßenbahnschaffner, der nicht das Tier einfach in Stücke fuhr!“

Nun war er genötigt es durch Feuer zu vernichten, und nach einigen Feuer­stößen lag die Garbe gut, die Riesin bäumte sich in grenzenlosem Schmerz und Zorn nur ein einziges Mal, verfiel und starb.

Sodann wurde der Tierpark fachgemäß aufgerollt. Es war unmöglich, auf einzelne Tiere, die vielleicht unschuldig waren, Rücksicht zu nehmen. Nur das winzige Viehzeug, über die das Gewehrfeuer machtlos hinwegstrich, über­lebte den Tag. Wahnsinnig durch das Geknatter und den haushohen Qualm der Flammenwerfer, wurden auch die Sanftmütigen rasend, und der Elefant stürzte sich trompetend in erschütternder Bravour gegen die Soldaten und brach vor der Linie zusammen. So fielen sie alle, brauner Bär, Zebra, Anti­lope, neben Löwe, Tiger und Leopard.

Als aber die siegreiche Truppe ans Affenhaus kam, saßen die Affen un­schuldsvoll auf ihren Ästen, und Nikolaus besonders, der menschenähnliche, machte ein dummes Gesicht und kraute sein Hinterteil.

Der befreite Oberwärter ging weinend durch den geschändeten Garten. „War es denn nötig?“ fragte er den Major, aber der zuckte die Achseln.

Als der Alte die scheinheiligen Affen sah, und Nikolaus, den pharisäischsten von allen, erfaßte ihn Jähzorn, und er schrie: „Ein Gewehr, ein Gewehr!“ Ein Soldat, dem der Oberwärter Spaß machte, reichte ihm eines, und der Rasende legte an.

Plötzlich setzte er die Waffe wie ein Gelähmter ab, denn eine grenzenlose dunkle Todesangst war in den Tieraugen mit einem Male aufgegangen, und er sagte: „Du dummer Affe, was hast du denn gewollt? Nur die Freiheit! Ich will dich nicht töten!“

Der Major wurde zum Ehrenbürger der Stadt ernannt.

Klabund, Das Sprüchwort

Es ist nicht gut, daß der Mensch allein sei, dachte die Kröte. Denn sie war den ganzen lieben langen Tag und die ganze lange liebe Nacht allein. Niemand mochte sie, niemand ging mit ihr spazieren, niemand spielte mit ihr im Kaffeehaus Tarock, niemand verstand sie.

Es war ein schauderhaftes Leben.

„Zahlen!“ zischte sie in der Bar, wo sie bösartig auf einem hohen Schemel hockte und Glühwein trank, was ihr sowieso nie bekam, zog sich ihre Regen­haut an und begab sich zum Schöpfer aller Dinge.

Sie lüftete höflich ihren braunen Plüschhut und trug ihm ihr Anliegen vor.

„Es ist nicht gut, daß der Mensch allein sei,“ sagte sie, weinerlich und be­trübt, „habe ich jemandem etwas Leides getan?  Ich sehe nur so aus.“

„Entschuldigen Sie,“ sagte der liebe Gott, „ich verstehe Sie nicht recht — aber Sie zitierten soeben ein Sprüchwort: sind Sie vielleicht ein Mensch?“

Betroffen dachte die Kröte nach, und kleinlaut gab sie schließlich zu: „Nein.“

„Also,“ sagte der liebe Gott. —

Die Kröte lebte hinfort einsam weiter. Was blieb ihr auch anderes übrig? Sie war der Dialektik des lieben Gottes nicht gewachsen.

Klabund, Auf ein Kaninchen

Weiße Felle, die ich streicheln durfte:
Vorhang vor dem Heiligtum
Im Getön der spitzen Ohren schlurfte
Eine Reisigsammlerin: der Ruhm.

Sonne saß im Dschungel deiner Lende,
Wiegte sich als goldne Möwe weit
Auf den Meeren der gekalkten Wände,
Wenn der Hund im Hellen schreit.

Stäbe stürzten: aus den Katakomben
Deiner Höhlung, die das Grüne barg.
Deine Augen, rote Rhomben,
Schliefen in der Müdigkeiten Sarg.

Dich zertrat der große Bernhardiner,
Aus dem Maule schwebte Kohl und Strunk.
Als des Todes allezeit getreuer Diener
Sprangst du pfeifend in die Dämmerung.

Friedrich Freih. von Gagern, Die große Bestie

Herr über die Wälder und ihr Wildgetier, über die Flur und ihr Geflügel, über die Wasser und ihr Gefloß ist Mag, der Weltgebietende.

Schwer ruht seine Tatze auf allen, die geringer sind und schwächer denn er.

Aber einem ist er neidig und drei haßt er. Das sind die Brüder Bur, Geitir und Heidrick. Sie brechen in seine Wälder ein, sie freveln an seinem Wilde. Und sie wollen ihre schöne Schwester Amma, nach deren Gunst sich Mag in heißen Nächten verzehrt, dem Atti zur Frau geben. Deshalb hat er scheelen Sinn auf Atti geworfen.

Das blaue Mondlicht schauert auf beschneitem Feld; an der schwarzen Waldwand hin kriecht lauernder Schatten.

Mag steht im Dunkel, regungslos, alle Sinne gespannt, alle Sehnen in gieriger Erwartung gestrafft. Er will den Hirsch erjagen, der hier in die freie Heide hinaustritt.

Der Mond steigt, immer enger kauert sich der Schatten zusammen. Der Schnee knirscht im Frost. Fern am Flusse wimmert das Eis.

Da schlägt etwas an die Stämme, eine dunkle Gestalt schiebt sich aus der Waldnacht in die schneidende Helle hinaus. Es ist der Hirsch.

Mag sieht hämmernden Herzens nach ihm hin. Er will warten, bis der Hirsch vertraut das gekrönte Haupt senkt. Dann ist er sein.

Da wirft der Hirsch auf, fährt in jähem Schrecken zusammen, flieht in wilden Sprüngen in die Heide hinaus und bricht dröhnend in den Schnee.

Vier finstere Wesen lösen sich aus dem Schatten, huschen über die grelle Fläche, stürzen sich wie Panther gierig auf das gefällte Wild.

Es sind die drei Brüder, und Atti ist der vierte. Sie haben den Hirsch zum Hochzeitsmahle geraubt, denn übermorgen soll Atti die schöne Amma freien.

Plötzlich steht Mag mitten unter ihnen.

Seine Faust bricht Bur das Genick, sein Schlag zertrümmert Geitirs Schlaf, sein Griff würgt Heidrick das Leben aus der Kehle. So bleibt nur Atti übrig, Ammas Freiersmann. Dessen ist Mag wohl eingedenk, wie er ihm mit Grimmes­wucht an den Hals fährt. Aber Atti ist knorrig und zäh, seine Arme sind wie Hagbuchen fest, seine Finger sind knotig, sein Biß der des Bären. Er umringt Mag, daß jenem die Rippen knacken, er schnappt nach der Kehle des Feindes. So stemmen sie sich wiedereinander, ihr Atem pfeift und raucht, ihre Knie wanken. Dann stürzen sie in den Schnee, keiner läßt vom anderen, Mag krallt sich in Attis Gurgel, daß jenem purpurnes Brausen um die Sinne brandet, Atti spannt im Sterben seine beuligen Arme um des Gegners Brust, daß das Herz hinter den splitternden Rippen stockt, von seinem bleckenden Gebiß träuft das Blut. . .

So zucken sie sich aus, ohne Laut, ohne im letzten Krämpfe nachzugeben. Ferne in weißer Heide belfern die Füchse.  Es sind zwei Rüden und eine Betze.

Dann trollen die Hungerwölfe heran. Sie beißen und reißen und schlingen und fletschen, bis der frostrote Morgen aufgeht. Der bringt die Geier und Adler. Aber die Wölfe verteidigen ihren Fraß. Sie gönnen ihn keiner Sippe, nicht einmal einander. Schließlich fallen Adler und Geier gemeinsam über die Wölfe her, schlagen sie in die Flucht. Und da sie sich in den Besitz der grausigen Beute gesetzt, hebt unter ihnen wilde Hungerfehde an …

Hoch im Morgen flickt Kolk, der Wisser. Er staunt nicht über das, was unter ihm vorgeht. Denn er sieht seit ewigher dies eine, grauenvoll heilige geschehen: das Leben.