Kurt Tucholsky

„In Spanien gründeten sie einmal einen Tierschutzverein, der brauchte nötig Geld. Da veranstaltete er für seine Kassen einen großen Stierkampf.“

Schreibt 1932 Kurt Tucholsky, geboren am 9. Januar 1890 in der Lübecker Straße 13 in Berlin-Moabit.

Der Vater Alex Alexander Tucholsky wurde am 11. Juli 1855 in Greifswald, Mecklenburg-Vorpommern geboren. Er ist der Sohn des Neumann Tucholsky – geboren ca. 1825, gestorben am 12. Juli 1896 in Berlin und der Rosalie Tucholsky geb. Heimann (auch Heymann), geboren ca. 1827 in Czarnkow, Polen, gestorben am 21. Juni 1092 in Berlin.

Alexander Tucholsky Quelle: Wikipedia

Die Mutter Doris Tucholsky, geborene Tucholski wurde am 21. September 1869 in Posen geboren. Sie ist die Tochter des Salomon Tucholski – geboren ca. 1831 in Obrzycko (Polen). gestorben am 4. Juni 1907 in Berlin und der Rosalie Tucholski, geborene Friedländer – geboren am 3. November 1832 in Poznań (Posen) gestorben am 23. Dezember 1910 in Berlin

Rosalie Tucholski Quelle: Geni-Net

Rolf Hosfeld schreibt in seiner Biographie „Kurt Tucholsky – ein deutsches Leben“ Erschienen im btb Verlag der Verlagsgruppe Random House, über den Vater:

„… Alex Tucholsky war ein musisch gebildeter und belesener Mann. Allen voran liebte er Heinrich Heine, die weltbürger­liche Weite und die ironische Distanz seiner Dichtung zu allem falschen vaterländischen Pathos. Ein Foto aus Tucholskys Kin­derzeit zeigt ihn in einem Strandkorb in Misdroy auf Wollin mit Pfeife im Mund, die rechte Hand lässig auf einen Spazier­stock gestützt – ein durch und durch ziviler Mensch in Zei­ten eines sich zunehmend militarisierenden wilhelminischen Alltags. Berta von Suttner, die böhmische Schriftstellerin und Pazifistin, die Alfred Nobel dazu veranlasste, einen Friedens­nobelpreis zu stiften, zählte zu seinen prägenden Lektüreerleb­nissen.“

Bertha von Suttner, Briefmarke, Deutschland 2005

Und dieser schreibt dazu in einem Brief am 14. Dezember 1894: „Wenn ich Schriftsteller wäre, würde ich die Suttner noch „übersuttnern“, Krieg heißt doch schließlich auf Deutsch privilegierter Mord; wenn die Leute an der Spitze in Verlegenheit sind und nicht mehr ein noch aus mit der Politik und ihren Finanzen wissen, dann wird aus der Rumpelkammer die Puppe Patriotismus herausgeholt und ihr Kleid und Mantel – Erbfeind und Heldenmuth – umgehangen, und dann ist der Popanz fertig.“

Der Apfel fällt nicht weit vom Stamm und wie Sohn Kurt mit den Äußerungen seines Vaters umgegangen ist, kommt noch. Soviel aber sei verraten, dieser sorgte mit der Ansicht seines Vaters „Krieg heißt doch schließlich auf Deutsch privilegierter Mord“ für gewaltiges Aufsehen und dieses beherrschte Schlagzeilen bis in die heutige Bundesrepublik.

Die Familie Tucholsky gehört zum besseren Berliner Bürgertum, oder wie es Heinz Ullstein ausdrückte, sie waren Menschen „unserer Kreise“, „erfolgreiche, assimilierte Juden der zweiten Generation“. Der 1855 geborene Sohn des Greifswalder „Kaufmanns im ersten Stand“ Neumann Tucholsky Alex Alexander Tucholsky arbeitete in gehobener Position – zuletzt als Direk­tor – bei Carl Fürstenbergs Berliner Handelsgesellschaft, da­mals eines der sechs größten deutschen Geldinstitute und die Hausbank der expandierenden AEG Emil Rathenaus.

Alexander Tucholsky mit Familie Quelle: Tucholsky, ein deutsches Leben von Rolf Hosfeld

Alex Alexander Tucholsky heiratet im Oktober 1887 seine Cousine Doris Tucholski, Rolf Hosfeld schreibt:

„… Im Oktober 1887 hatte Alex Tucholsky seine Cousine Doris Tucholski geheiratet, sechs Jahre jünger als er selbst und ausgebildete Lehrerin. Ihr ist neben der Grabplatte ihres Ehemanns eine in dem gleichen schwarzen Stein gehaltene Ge­denktafel gewidmet. Immer wieder legt jemand in jüdischer Tradition Steine auf die Stätte, doch das Grab ist leer. Doris Tucholsky wurde am 16. Juli 1942 mit dem 23. Alterstransport nach Theresienstadt deportiert. Dort hat man sie Anfang Mai 1943 im Alter von 81 Jahren ermordet und ihre Asche vermut­lich in die Eger geschüttet.

Sie war die Tochter eines aus Posen stammenden Berliner Lederfabrikanten, eine außergewöhnlich kluge und belesene Frau, die allerdings bald nach ihrer Hochzeit in die Rolle eines veritablen Hausdrachens schlüpfte. Sie zeigte sich von einem geradezu manischen Ordnungssinn besessen, hielt autoritativ zu Mäßigung und Gehorsam an und achtete dabei immer auf die nötige emotionale Distanz. Sie war ein „Muttertier“, das seine Jungen liebt, „doch Liebe, steht geschrieben, ist nur mög­lich von Individualität zu Individualität“. Tucholsky hatte stets ein gespanntes Verhältnis zu ihr.“

Kurt Tucholsky beschreibt sie so: „Die Frau versucht eben, auf alle Fälle ihren Willen (der übrigens nicht recht weiß, was er eigentlich will) durchzusetzen, und es ist ihr herzlich gleichgültig, ob sie dabei Leute ruiniert oder nicht. Ein sicher getrübtes Verhältnis, ganz anders das zum Vater, diesen leibte und verehrte er sehr.

Der Sohn war drei Jahre alt, als der Vater von Fürstenberg den Auftrag erhielt, an der Stettiner Börse die Geschäfte des Hauses zu reorganisieren und insbesondere die Bilanzen der Stettiner Vulcanwerft aufzubessern.

Kurt Tucholsky (rechts), 14-jährig mit seinen Geschwistern Ellen und Fritz (1904) Quelle: Wikipedia

Ab 1893 lebte die Familie in Stettin und dort wurden auch die beiden Geschwister geboren – der Bruder Fritz am 8. Mai 1896, der später Kontorist wurde und in die USA emigrierte und dort auch starb und die Schwester Ellen-Ida („Hippel“ genannt), geboren am 23. Juli 1897. Sie heiratete den in Rumänien am 21. Januar 1888 geborenen Conrad Milo und starb 1982 in New-York.

Ellen-Ida Milo-Tucolsky Quelle: Geni-Net

1899 kehrt die Familie nach Berlin zurück und über diese und seine Schulzeit schreibt Rolf Hosfeld:

„…Das Französische Gymnasium am nördlichen Reichstags­ufer besucht Tucholsky bis zur Obertertia. Nebenbei erhält er Klavier- und Gitarrenunterricht, lernt Stenografie, und Tante Flora, Lehrerin, gibt ihm Nachhilfestunden in Französisch. Er ist ein eher durchschnittlicher Schüler, und daran ändert sich auch nach seinem Wechsel an das Königliche Wilhelms-Gym­nasium in der Bellevuestraße nichts. Die Schule langweilt ihn offenbar. „Schultragödien haben wir nie gehabt, furchtbare Missstände auch nicht. Aber schlechten Unterricht“, meint er später.

Das Französische Gymnasium https://www.boeser-wolf.schule.de/engagement/de/franzoesisches-gymnasium/von-der-gruendung-bis-zum-ersten-weltkrieg

Eine amüsante Fußnote: Besonders mit seinen Deutschauf­sätzen hatte Tucholsky chronische Probleme. Man hielt sie für vollkommen verstiegen. Schließlich: die tödliche Note Man­gelhaft. Wenige Monate später würden seine ersten literari­schen Kurztexte in Rudolf Mosses Zeitschrift „Ulk“, (der satirischen Beilage des „Berliner Tageblatts“) erschei­nen. Tucholsky bleibt sitzen, muss nach der Obersekunda die Schule verlassen und wird von der Mutter bei dem Privatlehrer Dr. Krassmöller in der Pariser Straße in Pension gegeben (…). der auch dem Verlegersohn Heinz Ullstein als Nachhilfelehrer diente (…).

Das Königliche Wilhelms-Gym¬nasium Quelle: Wikipedia

Ein einschneidendes Ereignis ist der frühe Tod des Vaters. Alex Tucholsky war am 1. November 1905 im Alter von fünfzig Jahren abends um halb sieben an den Folgen einer Syphilis-Erkrankung gestorben und wurde am 5. November mit einem Kaddisch zu Grabe getragen

Aus Wikipedia:

„… Das Kaddisch, „heilig“ bzw. „Heiligung“ – ist eines der wichtigsten Gebete im Judentum. (…). Das Kaddisch wird außerdem zum Totengedenken und am Grabe (jitkale harba) gesprochen. Im Anschluss an einen Todesfall in der engeren Familie wird es vom (nächsten männlichen) Angehörigen elf Monate lang täglich gesprochen. Am Jahrestag eines Todesfalles wird es noch einmal gesprochen. (Damit endet diese Form ritualisierter Trauer.)

Begraben wird er auf dem Jüdischen Friedhof Berlin-Weißensee. „Jedweder hat hier seine Welt: ein Feld“, schreibt der Sohn: „Da, wo ich oft gewesen bin, zwecks Trauerei“.

Grab der Eltern Quelle: Tucholsky, ein deutsches Leben von Rolf Hosfeld

Alex Tucholsky hinterlässt seiner Frau und den Kindern ein beachtliches Vermögen, das es der Familie ermöglicht, frei von finanziellen Sorgen zu leben. Übrigens, Doris Tucholsky überlebte ihren Sohn, sie wurde – 74 Jahre alt – im Mai 1943 in das Konzentrationslager Theresienstadt verschleppt und dort ermordet.

„Am 21. September 1909 besteht Tucholsky als Externer am Königlichen Luisen-Gymnasium sein Abitur mit ge­rade einmal akzeptablen Noten. Zweieinhalb Wochen später schreibt er sich unter der Matrikelnummer 5743 für das Stu­dium der Rechtswissenschaft an der Berliner Friedrich-Wil­helms-Universität Unter den Linden ein“, schreibt Rolf Hosfeld.

Bereits während des Studiums erwachte Tucholskys Interesse fürs Schriftstellerische und er schreibt auch für das Parteiorgan der Sozialdemokraten – der Zeitschrift „Vorwärts“. Folgerichtig zieht er für die SPD 1911 dann auch in den Wahlkampf.

Titelseite des Vorwärts vom 1. Oktober 1876

Sein zweites Semester 1910 verbringt er in Genf und genießt das Flair der alten Stadt und wohnt die meiste Zeit in der Rue de Florissant, einem Zentrum osteuropäischer Emigranten und Studenten. Bereits Ende Oktober ist er wieder in Berlin.

Als „Beginn des Schriftstellertums“ kann man das Jahr 1913 bezeichnen. Tucholsky verzichtet auf die erste juristische Staatsprüfungund und bricht damit seine Juristen-Laufbahn ab. Wikipedia schreibt:

„.. Dies kam einem Verzicht auf eine mögliche Karriere als Anwalt gleich. Um dennoch einen Studienabschluss zu erlangen, bat er im August 1913 bei der Universität Jena um Zulassung zur Promotion zum Dr. iur. Seine im Januar 1914 eingereichte Dissertation zum Hypothekenrecht wurde zunächst abgelehnt, nach mehrfacher Überarbeitung dann aber doch angenommen. Sie trägt den Titel „Die Vormerkung aus § 1179 BGB und ihre Wirkungen“. Tucholsky verteidigte sie am 19. November 1914 und bestand cum laude. Nach Druck und Auslieferung der Pflichtexemplare wurde ihm am 12. Mai 1915 die Promotionsurkunde ausgehändigt.“

Kurt Szafranski Quelle: http://pressechronik1933.dpmu.de/aktuelles/portrait_kurt_szafranski_co_bucovich/

Nochmal zurück – September 1911 – Tucholskys reist mit seinem Freund, dem Zeichner Kurt Szafranski, nach Prag, um den von ihm geschätzten Schriftsteller und Kafka-Freund Max Brod kennen zu lernen. Franz Kafka notierte nach einer Begegnung mit Tucholsky über ihn am 30. September 1911 in seinem Tagebuch:

„… ein ganz einheitlicher Mensch von 21 Jahren. Vom gemäßigten und starken Schwingen des Spazierstocks, das die Schulter jugendlich hebt, angefangen bis zum überlegten Vergnügen und Mißachten seiner eigenen schriftstellerischen Arbeiten. Will Verteidiger werden“

Max Brod, 1914 in Dresden Quelle: Wikipedia

Und noch einen weiteren Schritt zurück: Im Herbst 1910 wird er auch Else Weil kennen lernen, die in diesem Jahr ein Philosophie­studium beginnt und die er am 3. Mai 1919 heiraten wird. Sie inspiriert ihn zu seinem ersten Erfolg, dem 1912 erschienenen „Bilderbuch für Verliebte“ – Rheinsberg, indem er einen Wochenendausflug mit ihr, seiner späteren Ehefrau, genannt Claire Pimbusch beschreibt. Kurt Szafranski übernimmt die Illustrationen.

Else Weil ca. 1905 Quelle: https://brandenburg.museum-digital.de/index.php?t=objekt&oges=4308

Wann sich die beiden kennenlernten, lässt sich nicht mehr feststellen.

Else Weil stammte aus einer Berliner Kaufmannsfamilie jüdischen Glaubens, legte im Februar 1910 ihr Abitur ab und schrieb sich im Wintersemester 1910 in der Philosophischen Fakultät der Friedrich-Wilhelms-Universität Unter den Linden ein. Nicht lange, denn bereits im April 1911 wechselte sie an die Me­dizinische Fakultät und war damit eine der ersten Frauen, die in Preußen Medizin studierten.

„Ciaire Pimbusch“ verpasste Tucholsky ihr „nach der von unzüchtigen Gedanken gemarterten Gattin eines Schnapsfabrikanten aus Heinrich Manns Roman „Im Schlaraffenland“ – eine Frau, die in manchen Details eher hässlich aussah, im Ganzen aber den unwiderstehlichen Reiz einer mondänen, sehr teuren Kokotte ausstrahlte. Das war auf den ersten Blick wenig schmeichelhaft“. Tucholsky gefiel das – und ihr auch“ schreibt Rolf Hosfeld.

Und weiter Rolf Hosfeld:

„… Else Weil konnte bei aller Intellektualität eine ziemlich alberne, selbstironische und frivole Person sein. Auch das ge­fiel ihm. Diese bezaubernde Frau war es, die seine Sprache in „Rheinsberg“ regelrecht erfunden hat. „Ihr Deutsch war ein wenig aus der Art geschlagen“, heißt es dort: „Sie spielte immer, gab stets irgendeiner lebenden oder erdachten Gestalt für einige Augenblicke Wirklichkeit.“ Eine maßlose Frechheit sei das, gemeinsam einfach auf Tour zu fahren, lässt Tucholsky sie gegen den wilhelminischen Sittenkodex kokettieren, ohne verheiratet oder wenigstens verlobt zu sein. (…) Die Pimbusch, also Else Weil, habe ihm dieses infantile Schlafzimmer-Gealber, das er phonetisch waschecht kopiert hat, erst eingeflüstert, behauptete Tucholskys Freund Walter Mehring.

Sie hatte tatsächlich etwas von einer erotischen Ausnah­meerscheinung an sich, aber anders als Heinrich Manns über­zeichnete Romanfigur. Else Weil war – so der Verlegersohn Heinz Ullstein – ein nicht unbedingt hübscher, aber anziehen­der Mensch mit ungewöhnlich zarten und schönen Händen.“

Max Brod verwendet sich bei Axel Juncker, der von 1901 bis 1922 den Axel Juncker Verlag leitete – mit Erfolg. Ab dem 15. November 1912 wird „Rheinsberg“ als Geschenkbändchen an die Buchhandlungen ausgeliefert, broschiert siebzig Pfennig, gebunden eine Mark.

Schloss Rheinsberg Im linken Flügel befindet sich das Tucholsky-Museum Quelle: Von Amodorrado – Eigenes Werk, CC BY-SA 3.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=3362268

Hans Erich Blaich, u.a. auch Simplicissimus-Autor, schreibt in der Zeitschrift „März“ „Gottlob, Eichendorff ist noch nicht tot.“ Und Julius Bab in der „Schaubühne“ hier gebe es endlich etwas zu lesen, das völlig frei sei von der rührend-lächerlichen Pathetik bemondeter Maiabende, aber auch von der parfümbelasteten Salondämonie der sogenannten großen Welt, die Heinrich Mann zu seiner Satire auf das Berliner Schlaraffenland veranlasst hatte. „Eine Dichtung“, so Bab.

Vom „Rheinsberg Erfolg“ beflügelt, eröffnen Szafranski und Tucholsky eine Bücherbar im vormaligen Lokal „Mampes Gute Stube“ am Kurfürstendamm, in der Nähe der Gedächtniskirche und dort bekommt jeder Kunde beim Betreten der „Bücherbar“ von einer „adretten jungen Dame“ ein Glas „Mampe-Likör“ gereicht. Tucholsky schreibt später: es war ein „richti­ger Studikerunfug“. Aber der Erfolg gibt ihnen Recht, binnen kurzem wurden 50.000 Exemplare verkauft und die Zeitungen berichten darüber, z. B. „Die Breslauer Zeitung“, „Die Vossische“ und das „Prager Tageblatt“ und Rolf Hosfeld schreibt: „Der liberale „Sankt-Petersburger Herold“ meldet gar, wer dort einen Oscar Wilde erstehe, der bekäme Whisky Soda, und wer Ibsen kaufe, einen nordi­schen Korn“. „Das stimmte aber nicht, wir tranken ihn selber“ korrigiert Tucholsky. Und für Ernst Rowohlt, der Tucholsky Anfang 1913 kennen lernte, war die Bücherbar „eine wun­derbare Kombination von Schnaps und Literatur“, „die wir, be­feuert vom Geist der Bücher und vom Geist des Alkohols, in den dazu aufgebauten Klubsesseln führten“.

Rolf Hosfeld:

„… Der Laden schließt bald wieder, doch schon entsteht mit dem Projekt „Orion“ eine neue Geschäftsidee. Deren erste An­kündigung stammt von Anfang September 1913. „Wir beabsich­tigen, unseren — cirka 200 – Abonnenten alle vierzehn Tage oder öfter eine Sendung zugehen zu lassen“, so Tucholsky, „die facsimiliert das Schreiben eines guten Schriftstellers, Soziolo­gen, Juristen oder dergleichen enthält.“ Erlesene Autoren sind vorgesehen – darunter Rainer Maria Rilke, Hermann Hesse, Thomas Mann und Alexander Roda Roda, die im September bereits zugesagt haben -, und nicht weniger erlesene Abonnen­ten, die für die wie persönliche Briefe anmutenden exquisiten Faksimiles 180 Goldmark pro Jahreslieferung auf den Tisch legen sollen.

Diese periodische Lieferung faksimilierter Briefe jeweils eines „guten Europäers“ mit Grafiken wäre in gewisser Weise auch eine Hommage an das verflossene Zeitalter der romanti­schen Innerlichkeit geworden. Kurt Wolff in Leipzig erklärt sich tatsächlich bereit, den „Orion“ zu verlegen, doch am Ende kommen nicht einmal hundert Subskribenten zustande. So bleibt der „Orion“ „ein Sternbild, fern und unerreichbar“. Aus dem Projekt wird nichts.

Roda Roda 1907 Quelle: Wikipedia

Auch nicht aus einer ständigen festen Mitarbeit am sozial­demokratischen „Vorwärts“. Über neunzig Glossen, Artikel und Gedichte veröffentlicht Tucholsky dort vor dem Ersten Weltkrieg. Gern hätte er damals beim „Vorwärts“ angefangen, aber letztlich war er ihm bei aller politischen Sympathie doch zu bieder. Und außerdem hat sich zwischenzeitlich eine andere Gelegenheit aufgetan.“

Die „Schaubühne“

Am 9. Januar 1913, seinem 23. Geburtstag, erscheint Kurt Tucholskys erster Artikel in der „Weltbühne“, die damals noch „Schaubühne“ heißt. „„Ich bin als Angestellter der „Weltbühne“ geboren wor­den“, wird er später schreiben.

Rolf Hosfeld beschreibt, wie es zu diesem ersten Artikel kam:

„… Kurt Tucholsky hatte Ende 1912 in der Kommandantenstraße das jüdische „Herrnfeld-Theater“ besucht. Es gab die Komödien „Wüstenmoral“ und „Die Alpenbrüder“, laut Anzeige im „Berliner Tageblatt“ ein „Lach-Programm, wie es keine zweite Bühne auf der Welt aufzuweisen hat.“ Das Theater von Anton und Donat Herrnfeld war keine große Bühne, und der Humor, der von ihr ausging, hatte zudem einen zweifelhaften Ruf. Regel­mäßig thematisierten die Herrnfelds darin Assimilationskon­flikte von Ostjuden, die bei entsprechend voreingenommenem Publikum nicht selten auch antisemitische Ressentiments wach­riefen. Im Grunde aber übertrugen sie die grobgeschnitzten Grundkonstellationen damals beliebter französischer Schwanke nur auf das jüdische Milieu. Anton verkörperte dabei den un­geschlachten, aber schlauen Ostjuden, sein Bruder Donat den eher empfindsam-cholerischen Gegenpart. Tucholsky schrieb darüber eine Impression und sandte sie an Siegfried Jacobsohn, den Herausgeber der „Schaubühne“.

Anton und Donat Herrnfeld, etwa 1897 Quelle: Wikipedia

Jacobsohn hielt — was Tucholsky nicht wissen konnte – Do­nat Herrnfeld für einen Schauspieler ersten Ranges, der bedau­erlicherweise sein Talent vollkommen unterschätzte, weil er glaubte, es sei an dieses Genre des populären jüdischen Kla­mauks gebunden. Nicht anders Tucholsky in dem Artikel, der Jacobsohn nun vorlag. Der mittlerweile nicht mehr unbekannte Autor von „Rheinsberg“ war sensibel genug, um zu bemerken, dass die Herrnfelds keineswegs irgendwelche schablonenhaften Ty­pen darstellten, sondern in Wirklichkeit etwas spielten, das es „überhaupt nicht gibt“. So bewegt sich niemand, meinte er, so spricht kein Mensch, so etwas existiert eigentlich gar nicht. Im Grunde, so Tucholsky, waren die beiden Brüder »vom Mars« heruntergefallene Exzentriks. Jacobsohn gefiel diese souveräne Sicht, die sich vollkommen frei machte von der aktuellen – auch in jüdischen Blättern geführten – politischen Debatte über das „Herrnfeld-Theater“. Er bestellte Tucholsky ein.“

Rollenfotos Herrnfeld 1898 Quelle: Wikipedia

Anfang Oktober 1913 schreibt Tucholsky über die erste Begegnung:

„ …Ich werde nie den Schreck vergessen, den ich bekam, als ich zu ihm ins Arbeitszimmer kam, ein kleiner schwarzer Mann, der freundlich lä­chelte, über alles ruhig und klug redete, immer mit dem wun­dervollen Motto: Medias in res. Ein Revolver war in dem gan­zen Zimmer nicht zu sehen.“

Bereits im ersten Jahr dieser Zusammenarbeit schrieb Tucholsky mehr als 100 Artikel – Kritiken von Theater- und Kabarett-Auffüh­rungen und Buchrezensionen. Tucholsky und immer wieder Tucholsky, er schreibt: „Eine kleine Wochenschrift mag nicht viermal densel­ben Mann in einer Nummer haben, und so entstanden zum Spaß diese Homunculi“, also künstlich geschaffene Menschen und die hießen dann Ignaz Wrobel, Peter Panter und Theobald Tiger. Am 5. Dezember 1918 kam Kaspar Hauser dazu. Ein gewisser Theobald Tiger kündigt ihn an: „Ich muß mir einen neuen Namen geben./ Mein Gott, wer ändert nicht in großer Zeit!/ Man kann ja auch als Kaspar Hauser leben,/ wie er war ich von aller Welt so weit.“ Oder auch so ausgedrückt: „Und es war auch nützlich, fünfmal vorhanden zu sein, denn wer glaubt in Deutschland einem politischen Schrift­steller Humor? Dem Satiriker Ernst? Dem Verspielten Kenntnis des Strafgesetzbuches, dem Städteschilderer lu­stige Verse? Humor diskreditiert.“ Weniger bekannt, auch hinter Theobald Körner und Old Shatterhand verbarg sich Tucholsky.

Doch die „Schaubühne“ war nicht alles, am 7. April 1913 schreibt er erstmals im MünchnerSimplicissimus“ und am 1. September 1913 erscheint von Ignaz Wrobel die Groteskensammlung „der Zeitsparer“. In einer Inhaltsangabe ist zu lesen:

„… Kurt Tucholsky hinterfragt in der Kurzgeschichtensammlung „Der Zeitsparer“ aktuelle Werte und Lebensrealitäten und ist deshalb auch 100 Jahre nach Erstveröffentlichung überraschend aktuell und relevant. Alle vier Kurzgeschichten beschäftigen sich damit, wie an sich fiktive Medienrealitäten unsere Welt und unsere Sicht auf diese formen und verändern. Tucholsky schreibt dabei mit einer unglaublichen, fantastischen Sprache (…). Den Text umgibt dabei eine wunderbare Poetik und ein subtiler Humor.“

Über das Verhältnis Jacobsohn/ Tucholsky schreibt Stefanie Oswalt in ihrem Buch: „Siegfried Jacobsohn – Ein Leben für die Weltbühne“:

„… Für die persönliche und literarische Entwicklung Kurt Tucholskys schließlich ist Siegfried Jacobsohn in seiner Bedeutung als Mentor, Kritiker und Freund wohl kaum zu überschätzen. Tucholsky hat die Wichtigkeit Jacobsohns für sein Leben immer wieder betont und auch alle Tucholsky-Biographen kommen zu einem ähnlichen Ergebnis.

Zwischen Tucholsky und Jacobsohn bestand ein besonders enges Verhältnis, das Beate Schmeichel Falkenberg in Anlehnung an Klaus Theweleit als ein Beispiel für ein besonders kreatives „männliches Produktionspaar“ beschreibt, das in einer „künstlerischen, teils auch privaten Offenheit und rückhaltlosen gegenseitigen Korrektur die vielfältigsten und prächtigsten Formen journalistischer Möglichkei­ten erdachte und realisierte.“ Und ihr Resümee lautet: „So wie Jacob­sohns Schöpfung, die WB (Weltbühne) nicht von Tucholsky und sei­nen 5 PS zu trennen ist, so wenig ist Tucholsky und sein Lebenswerk ohne Jacobsohn denkbar.“

Übereinstimmend konstatieren Zeitzeu­gen und Biographen, dass der Tod Jacobsohns für Tucholsky auch einen Schock darstellte, von dem er sich nie wieder ganz erholte und der seine Depressionen wesentlich verstärkte. Durch Jacobsohns Tod habe Tucholsky den Adressaten all seiner Artikel, Gedichte, vieler Briefe verloren. Der Verlust sei Tucholsky geradezu physisch an­zumerken gewesen, erinnerte Pauline Nardi an die Totenfeier für S.J.: „Da trat ein Geschlagener stapfend über die Stufen zum Rednerpult, hilflos, verlegen lächelnd über sein Mißgeschick, der endgültig alleingelassene, einsame Kaspar Hauser.“

In der Zeit bis zum ersten Weltkrieg gewinnt Tucholsky immer mehr auch konzeptionell Einfluss auf das Blatt – schlägt neue Themen vor und wirbt neue Autoren und er erreicht eine Öffnung auch für politische Themen. Aber erst nach dem Krieg gelingt es ihm, radikalere und pazifi­stische Position des Blattes zu artikulieren.

Eines dieser „politischen Themen“ ist im November 1913 die so genannte „Zabern-Affäre“ und die wird in der „Schaubühne“ ein gewichtiges Thema. Zudem äußert sich Tucholsky im „Vorwärts“ mit einem Spottgedicht über diesen „Helden von Zabern“:

Kurz: er hat Mut, Kuh¬rasche oder besser:
ein ganzer Mann! –
Denn wehrt sich jemand, sticht er gleich mit’s Messer,
schon, weil der andere sich nicht wehren kann.

1914– 1918 der I. Weltkrieg

Am 1. Januar 1914 – schreibt Tucholsky in der „Schaubühne:

Das Auge hinterwärts gedreht: so sitzt der Weise
und über¬denkt sich still die Jahreskreise
und wie sie so, und dass sie ohne Schluss …
wo unsereins bestimmt mal abgehn muss.
Hier überkommen ihn die trüben Sentimenter:
er greift zum grü¬nen Curacao (denn den kennt er)
und schlürft das Gift und sieht das alte Jahr,
und wie es gar nicht allzu fröhlich war

Es wird das Jahr der zwei verheerenden und mörderischen Balkankriege, gefolgt von einem Krieg, den man den I. Weltkrieg nennen wird.

Und wenn man Deutschland sieht und diese mit Parsifalleri — und — fallerein
von Hammeln ab¬gegraste Geisteswiese –
geh, Frühling! Hier soll immer Win¬ter sein!
Man redet, protestiert und feiert ansonsten Fasching, wie jedes Jahr.

Und Maximilian Harden ahnt bereits Mitte Mai „In diesem Sommer wird Schicksal.“

Rolf Hosfeld schreibt:

„… Wenig später, am 28. Juni 1914, löst der Anschlag des serbi­schen Terroristen Gavrilo Princip auf Erzherzog Franz Ferdi­nand in Sarajevo eine Kettenreaktion aus, die zum Ersten Welt­krieg führt. Doch trotz der dramatischen Ereignisse auf dem Balkan wiegt sich Europa im Juli 1914 erstaunlicherweise in einer trügerischen Ruhe. Wolkenloser Sommerhimmel von der Ostsee bis zum Mittelmeer. Zu Beginn der Julikrise beschäftigt sich Tucholsky mit der Broschüre eines Stabsarztes der Land­wehr, kaum mit Blick auf die aktuellen politischen Ereignisse, aber voller Polemik gegen die „Verherrlichung der National­besoffenheit, der niedrigsten Stufe aller Leidenschaften“.

Gavrilo Princip während der Haft in Theresienstadt Quelle: Wikipedia

Was folg, ist bekannt, ein unannehmbares Ultimatum an Serbien, am 23. Juli in Belgrad übergeben, das Reichskanzler Bethmann-Hollweg sofort als das erkennt, was es ist, versehen mit einem „Blankoscheck“ der deutschen Regierung für die „Donaumonarchie“.

Am 1. August In Berlin versammeln sich nach Bekanntgabe der Mobilmachung Hunderttausende, die patriotische Lieder sin­gen und immer wieder im Chor rufen: „Wir wol­len unseren Kaiser sehen!“. „Unglaubliches hat Europa in seinem Wahn begonnen“, schreibt Albert Einstein wenige Tage später.

Conrad Habicht, Maurice Solovine und Einstein, 1903 Quelle: Wikipedia

Klabund schreibt seine „unseligen“ Gedichtbände „Soldatenlieder“:

https://klabund.eu/wp/soldatenlieder/

und „Dragoner und Husaren“

https://klabund.eu/wp/dragoner-und-husaren/

in die ich die ersten Kriegsverbrechen und mörderischsten Schlachten eingefügt habe. Eine „ Toll­hausatmosphäre“ herrschte, am Potsdamer Platz, in Berlin trafen sich nationalistische Banden, um Ausländer zu verprü­geln und angebliche Spione abzufangen. „An einem einzigen Tage wurden an diesem Ort vier­undsechzig vorgebliche Spione eingeliefert, darunter eine ganze Zahl Reserveoffiziere“ schreibt Rolf Hosfeld.

„Eine Verblendung“, so Tucholsky, „griff um sich, die man nur noch mit dem „Seelenzustand durchgehender Pferde“ vergleichen konnte. Haben Sie’s nicht ’ne Nummer kleiner?“

Und weiter: „Das Schlimmste in Deutschland aber war das Fehlen jeder Ethik. Was blieb, war am Ende „Nützlichkeits­prinzip, Macchiavelli, eine Verschmutzung unserer Sitten“, mit ethischen Phrasen versalzen. Utilitaristisch angewandte Metaphysik, die selbst vor der „Gründung eines Schützengra­benliebengottes“ – einer Art von protestantischem Wotans­kult – nicht zurückschreckte. So etwas, die Ethik vorschieben, wenn es mit der Gewalt nicht geht, und die Wolfsklaue aus dem Schafspelz stecken, das darf man einfach nicht. Nein, die Sittenlehre ist kein Irrlicht.“ Und dabei wird Tucholsky bleiben.

Nach dem Krieg schrieb der Regisseur Erwin Piscator: „Meine Zeitrechnung beginnt am 4. August 1914, von da ab stieg das Barometer: 13 Millionen Tote, 11 Millionen Krüppel, 50 Millionen Soldaten, die marschier­ten, 6 Milliarden Geschosse, 50 Milliarden Kubikmeter Gas.“ Und Tucholsky bemerkt sarkastisch: „Die Menschheit hackte sich durch Fleisch und Blut einen Weg der „Idee“ durch le­bendige Menschen.“

Erwin Piscator (um 1927) Quelle: Wikipedia

Mit Beginn des Krieges verstummt Tucholsky schlagartig als Schriftsteller. Lediglich zwei Artikel liegen noch in der Ablage der „Schaubühne“ und diese erscheinen Anfang und Ende August 1918. In den ersten beiden Kriegsjahren veröffentlichte er gar keine Arbeiten, bis zum Sommer 1918 schrieb der an der Ostfront eingesetzte Soldat nur wenige Texte.

Rolf Hosfeld:

„… Über sein Schweigen kann man nur Vermutungen anstellen. Auch briefliche Äußerungen werden rar. Er promoviert, aber das wird nicht der einzige Grund gewesen sein. Von einem Herz­leiden ist beiläufig die Rede, doch eher war es so, dass ihm der plötzliche Kriegszustand in Europa die Sprache verschlagen hat.“

„ich werde in kurzer Zeit zum Militärdienst einberufen“ schreibt er dem Dekan der juristischen Fakultät der Universität Jena am 6. Januar 1915 und im März wird er in einem Wilmersdorfer Bierlokal der Musterung unterzogen. „Obwohl er kurz zuvor kettenweise Zigaretten geraucht hatte, um schlechte Konsti­tution zu simulieren, erklärt man Tucholsky für tauglich. Er wird als Armierungssoldat dem Landsturm zugeteilt. Eine militärische Ausbildung hat er nicht. Deshalb verweist man ihn zur Etappe“, schreibt Rolf Hosfeld.

Und weiter:

„… Dienstantritt ist der 10. April 1915. Am Schlesischen Bahn­hof wird Kurt Tucholsky mit einer zusammengewürfelten Truppe Richtung Osten verladen.

Berlin, Schlesischer Bahnhof Quelle: Bundesarchiv_Bild_183-J00861,_Berlin,_Schlesischer_Bahnhof.jpg

Der Krieg dauert nun schon ein Dreivierteljahr, und die anfängliche Begeisterung ist sichtlieh verflogen. Zudem funktioniert die Logistik nicht. Die erste Wassersuppe für die frisch eingezogenen Rekruten gibt es nicht vor Mittag des nächsten Tages bei Thorn. Am 12. April, an den masurischen Seen, regnet es in Strömen. Einen Tag später erhält jeder eine Konservenbüchse, die ohne brachiale Gewalt kaum zu öffnen ist. Zielort ist Suwalki in Nordostpolen, der rote Zie­gelbau eines Provinzbahnhofs, der heute noch genauso aussieht wie damals. Schließlich landet der Truppentransport in einer alten russischen Kaserne. Stroh als Unterlage zum Schlafen gibt es nicht. „Die durch sechstägige Bahnfahrt total erschöpften Menschen lagen auf den kalten Fliesen umher“, erinnert sich Tucholsky 1922, „gröhlten, spektakelten und liefen in der Fins­ternis herum; die Luft war dick und stickig, die Türen, hinter denen die freien deutschen Männer hockten, waren verschlos­sen. Die Stimmung in diesen Nächten war entsetzlich.“ Auch angemessene Militärkleidung gibt es keine, doch Tucholsky hat sich, wie sein Kamerad Frank Thiess erzählt, bereits in Berlin eine anständige Uniform und Reitstiefel verschafft.“

Frühjahr 1915 – die zweite Phase der großen Ostoffensive der Mittelmächte beginnt. Galizien, Polen und Kurland werden eingenommen. Warschau fällt am 5. August. Ende Mai 1915 geht es auf offenen Eisenbahnwagons nach Tilsit und an Bord eines Kahns auf der Memel im Schlepptau eines kleinen Dampfers in das besetzte Russland.

Ende August 1916 schreibt er an seinen Freund Hans Erich Blaich in Fürs­tenfeldbruck: „Ich bin ein bisschen umgezogen“ und dieser Hans Erich Blaich ist Arzt, Schriftsteller und Lyriker – am 19. Januar 1873 in Leutkirch im Allgäu geboren und in Fürstenfeldbruck am 29. Oktober 1945 gestorben.

„Ein bisschen umgezogen“ heißt: Er wird versetzt nach Autz (Vecauce) im heutigen südlichen Westen von Lettland nahe der Grenze zu Litauen.

Am Ort wird eine Artillerie-Fliegerschule für vier­tausend Mann eingerichtet und Tucholsky wird dort zunächst Schreiber beim Stab und wechselt dann in die Presseabteilung. Interessant sein Vorgesetzter Oberleutnant Erhard Milch.

Erhard Milch (1942) Quelle: Wikipedia

Aus Wikipedia:

„… Erhard Milch, geboren am 30. März 1892 in Wilhelmshaven; gestoreben am 25. Januar 1972 in Wuppertal, war deutscher Heeres- und Luftwaffenoffizier (ab 1940 Generalfeldmarschall) und in der Zeit des Nationalsozialismus von 1933 bis 1945 Staatssekretär des Reichsluftfahrtministeriums (RLM), zugleich Generalinspekteur der Luftwaffe und nach Ernst Udets Suizid im November 1941 bis Juli 1944 Generalluftzeugmeister. Im Nürnberger Milch-Prozess vom 2. Januar bis 17. April 1947 vor dem amerikanischen Militärgerichtshof wurde Milch als Kriegsverbrecher zu lebenslanger Haft verurteilt. 1954 wurde er entlassen. Milch war Sohn des jüdischen Marinebeamten und Oberstabsapothekers Anton Milch.“

Zu seinen Aufgaben gehört die Entwicklung eines Konzeptes für eine Soldatenzeitung. Paul Hosfeld schreibt:

„… In Autz sitzt Tucholsky seit Herbst 1916 in einer Presseabteilung und entwickelt das Konzept für eine Sol­datenzeitschrift mit dem Namen „Der Flieger“. Kaum ist die erste Nummer erschienen, als Mitte Dezember 1916 lettische Einheiten im Verband der russischen Armee auf Mitau vorrücken, um die Stadt zurückzuerobern. Hunderte von ihnen werden durch Maschinengewehrsalven niedergemäht, Tausende fallen auf der danach so genannten Todesinsel nahe dem rechten Dünaufer einem deutschen Gasangriff zum Opfer.“

Casino Alt-Autz Quelle: Tucholsky, ein deutsches Leben von Rolf Hosfeld

Tucholskys Flie­gerzeitschrift wird Teil der deutschen Propagandamaschine.

„Da seht: es brennt an allen Ecken!
der eine löscht, der andre schürt“

schreibt er im „Fliegervom 15. April 1917 und Rolf Hosfeld fragt zu recht: „Gab es während des Krieges zwei verschiedene Kurt Tucholskys? Einige seiner Beiträge im „Flieger“ legen das jedenfalls nahe. Er ruft in Gedichten und Artikeln zur Kriegsanleihe auf und be­kommt im April 1918 sogar das Verdienstkreuz für Kriegshilfe verliehen. Wenig später wird er zum Unteroffizier befördert.“

Februar 1917 bricht in Petrograd der Generalstreik aus, und am 15. März dankt Zar Nikolai II. ab, an der deutschen Ostfront herrscht weitgehend Waffenruhe.

Im 11. November 1917 lernt Tucholsky Mary Gerold aus Riga kennen und verliebt sich in sie.

Mary Gerold 1916 Quelle: Tucholsky, ein deutsches Leben von Rolf Hosfeld

Mary Gerold, eine deutsche Baltin, hat sich Anfang No­vember 1916 als Hilfsdienstwillige vom deut­schen Heer anwerben lassen und wurde in Autz eingesetzt und dort lernt sie am 11. November Tucholsky in der Autzer Kassenverwaltung kennen. Um es kurz zu machen, am 12. November beginnt mit einem kurzen Brief und der Einladung zu einem Glas Sekt in der Autzer Leihbibliothek eine lebenslange Beziehung. „Am 19. Januar denkt sie zum ersten Mal, wie es wohl wäre, diesen Mund zu küssen. Einen Tag später, laut Marys Tagebuch: „unsere Lippen fanden sich, und unsere Herzen schlugen im gleichen Rhythmus.“ Und irgendwann ist es so weit. Es fließt „im Schlaf das Dunkle zu­sammen“, so wenigstens formuliert es Rolf Hosfeld aus Zitaten. Und weiter:

„… Schnell ist sie ein Pseudonym. Meist nennt er sie Meli, Malzen oder einfach maskulin „Er“ und sie ihn Nungo. Er lebt gern hinter einer Maske, und auch für sie, die verhaltene Baltin, ist Nähe grundsätzlich nur aus der Distanz denkbar.

August 1918 – kurzer Urlaub in Berlin, dann erfolgt sein Versetzung nach Rumänien.

Während des Krieges schloss Tucholsky eine enge, lebenslange Freundschaft mit Erich Danehl (geboren am 22. Juni 1887 in Osterburg, gestorben am 23. Dezember 1954), einem Juristen, Verwaltungsbeamten und SPD-Politiker. Der gehörte nach seiner Entlassung durch die Nationalsozialisten zum Widerstandskreis um Carl Friedrich Goerdeler.

Und Danehl verhalf Tucholsky 1918 zur Abkommandierung als Vizefeldwebel und Feldpolizeikommissar nach Rumänien. Dort, in Turnu Severin, einer Stadt im Kreis Mehedinți, in der Walachei, ließ er sich im Sommer 1918 protestantisch taufen. Aus der jüdischen Gemeinde war er bereits am 1. Juli 1914 ausgetreten.

In Tucholskys Sommergeschichte „Schloß Gripsholm“ aus dem Jahre 1931 setzte er neben Erich Danehl auch einem weiteren Freund, nämlich Hans Fritsch ein „Denkmal“. Er ließ die beiden als „Karlchen und Jakopp“ auftreten. Die drei hatten sich im Ersten Weltkrieg in Alt-Autz kennengelernt.

Eine Beförderung zum Offiziers-Aspiranten beendet seine „militärische Karriere“ und es stellt sich noch einmal die Frage, wie sehr Tucholsky „Unterstützer“ oder Gegner dieses Krieges war.

Am 20./21. November 1918 aber kehrt Tucholsky sicher als überzeugter Pazifist nach Berlin zurück.

Und zu Tucholskys „militärischer Karriere“ wäre noch etwas nachzutragen, als er nach Rumänien versetzt wurde, residiert dort der preußische Generalfeldmarschall August von Mackensen als Statthalter der Mittelmächte. „Teils in seinem Privatquartier unweit des königlichen Schlosses in Bukarest, teils auf Schloss Pelesch bei Sinaia, wo er wie ein Großfürst hohe Gäste emp­fängt und Bärenjagden arrangiert. Mackensen hätte Rumänien am liebsten zu einer deutschen Kronkolonie gemacht, und er war dort tatsächlich so etwas wie ein Vizekönig. Hier sollte ein Außenposten des Reichs entstehen, der Südosteuropa absicherte und zugleich als Brückenkopf für die künftige Vormachtstel­lung im Nahen Osten diente. Das Land war zudem als Lieferant von Öl und landwirtschaftlichen Produkten wichtig für die Kriegsführung, und Mackensen hatte sich vorgenommen, durch eine gute und gerechte Regierung, eine unbestechliche Verwaltung und ordentliche Bezahlung der Bauern das Land und seine Bevölkerung auf seine Seite zu ziehen. Tatsächlich herrscht in Rumänien jedoch, wie Tucholsky bald feststellt, eine heillose Korruption. Und kaum ein Offizier, der nicht nach Schürzen jagt oder sich allzu offen mit Prostituierten auf der Straße sehen lässt. Ganz Bukarest, kann er beobachten, ist voll von Pärchen und wilden Ehen. Es geht drunter und drü­ber, und Mackensen hat gar nichts im Griff. Im Grunde ist er, ohne es zu wissen und zu merken, kaum mehr als eine Mario­nette rumänischer Schieber der besten Gesellschaft“, schreibt Rolf Hosfeld und hinzuzufügen wäre, er ist eben Militär.

August von Mackensen in Uniform der Totenkopfhusaren Quelle; Wikipedia

Nachkriegszeit – Die Republik

Nach seiner Rückkehr nach Berlin schreibt er an Mary: „Die Stadt hat sich sehr zu ihren Ungunsten verändert, es ist ja niemals eine mondaine Großstadt gewesen, aber jetzt ist es durch Materialknappheit aller Art, Aufeinanderprallen der Ge­gensätze zwischen Knallprotzen und Hungerleidern wider­lich.“

Und natürlich trifft Tucholsky Siegfried Jacobsohn wieder. Der hat seit dem 4. April 1918 seine Zeitschrift in „Weltbühne, Wochenschrift für Politik, Kunst, Wirtschaft“ umbenannt. Die Gründe habe ich im Kapitel über die „Weltbühne“ beschrieben.

Am 2. November schreibt Tucholsky an Mary: „Ich bin der Mei­nung, dass in drei oder vier Wochen die Welt ganz anders aus­sehen wird.“ Er irrt, denn bereits am 7. No­vember stürzt die Monarchie in München, in Braun­schweig übernehmen Kieler Matrosen gemeinsam mit rebellie­renden örtlichen Regimentern die Macht. In Köln regiert seit dem 8. November ein Arbeiter- und Soldatenrat und am 9. No­vember morgens um neun Uhr ruft Otto Wels namens der SPD zum Generalstreik auf. Nur Stunden später tritt Wilhelm II. in Spa zurück und um zwei Uhr nachmittags ruft der Sozialdemokrat Philipp Scheidemann vom Reichstag aus die deutsche Republik aus.

„Und wozu war das alles? wer hat etwas davon ge­habt? Hätte man sich gegen das Unheil nicht entschieden zur Wehr setzen sollen? Wir hätten sollen“, so Tucholsky.

Nach dem Krieg aber hätte man alles ändern können und Albert Einstein schreibt am 11. November an seine Schwester in der Schweiz: „Das Große war geschehen: Bei uns ist der Mi­litarismus und die Geheimratsduselei gründlich beseitigt.“ Und Philipp Scheide­mann verkündet vor dem Reichstag: „Das Morsche ist endgültig zusammengebrochen, der Militarismus erledigt. Deutschland sollte von nun an eine Republik sein.“

Elsa Löwenthal und Albert Einstein, um 1921 Quelle: Wikipedia

Im Dezember 1918 bis zum April 1920 übernimmt Tucholsky die Chefredaktion des „Ulk“, einer deutschen Satire-Zeitschrift aus dem Rudolf Mosse Verlag, sie erschien von 1872 bis 1922 als auflagensteigernde Gratisbeilage jeweils donnerstags im „Berliner Tageblatt“ und dort trat er als Kaspar Hauser auf.

Am 30. August 1919 wurde der „Friedensbund der Kriegsteilnehmer“ (FdK) gegründet. Er war eine überparteiliche, pazifistische und antimilitaristische Organisation ehemaliger deutscher Soldaten des Ersten Weltkriegs. Zu den Gründern zählte neben Ossietzky auch Kurt Tucholsky. Dieser „Friedensbund“ plant jährliche Massendemonstrationen unter dem Motto „Nie wieder Krieg!“ und in der „Berliner Volkszeitung“ erscheint ein von KT (Ignaz Wrobel), Karl Vetter, Otto Lehmann-Rußbüldt u.a. unterzeichneter Aufruf des FdK: „Krieg dem Kriege“

Ebenfalls im Jahr 1919 erscheinen Tucholskys berühmte Artikelserie „Militaria“ in der „Weltbühne“, die Ignaz Wrobel schrieb und auch der programmatische Artikel „Wir Negativen“, wird in der „Weltbühne“ am 13. März 1919 erscheinen und der bringt das „Fass endgültig zum Überlaufen“, Reichswehrminister Noske, mal wieder Noske, der „Bluthund“ und der Chef der Heeresleitung General Reinhardt stellen Strafantrag wegen Beleidigung der Truppe gegen Tucholsky und Siegfried Jacobsohn als verantwortlichen Redakteur.

Der Felix Lehmann Verlag in Charlottenburg veröffentlicht 1919 die Gedichtesammlung „Fromme Gesänge“ von Theobald Tiger mit einer Vorrede von Ignaz Wrobel. Sie enthält größtenteils Gedichte, die in der „Weltbühne“ erschienen.

Zurück zur Politik des Jahres 1919 und damit zur so genannten „Dolchstoßlegende“, über die Tucholsky Ende November 1919 in der „Weltbühne“ berichtet. Genauer, er schreibt über die Tagung des Un­tersuchungsausschusses der Nationalversammlung, zu der die Generäle Hindenburg und Lu­dendorff geladen waren, um über verpasste Friedensmög­lichkeiten im Weltkrieg auszusagen.

Rolf Hosfeld schreibt:

„… Doch stattdessen nahmen sie die Gelegenheit wahr, alle Schuld am verlorenen Krieg der Heimatfront und der Revolution zuzuschreiben. Es war das erste Mal, dass die seit langem kursierende Dolchstoßlegende öffent­lich vorgetragen wurde. Im Saal befanden sich auch andere Ver­antwortliche aus Kriegszeiten, unter ihnen der ehemalige Staatssekretär im Auswärtigen Amt, Arthur Zimmermann, und der frühere Reichskanzler Theobald von Bethmann-Hollweg. Tucholsky beobachtet sie alle genau. Bethmann, schwach, nachgiebig, unselbständig, aber „doch schließlich ein Mann unserer Welt. Aber diese Beiden da?“ Ludendorff wie ein Wachtmeister in Zivil, „eiskalt“. Ein Mann wie der Einsiedler in den „Träumereien an preußischen Kaminen“, der fixe Ideen für das Vernünftigste in der Welt hält. Und Hindenburg: „rauh, ungefüge, unlogisch und von einem erstaunlich mäßigen Ni­veau“. Nichts von Erfahrung, nichts von Menschenkenntnis.

Und nun, wo sie Verantwortung zeigen könnten, kneifen sie, Fossilien einer Zeit des degenerierten Militarismus, der „nicht einmal fritzisch“ war, sondern bestenfalls eine große Zeit der Feldwebel.“

„Sie waren die besten Vertreter des schlech­testen Systems, das sich nie die Frage nach dem Grund seiner Handlungen stellte. Militärische Fachidioten voller „Ressortpatriotismus und Instanzenzug“, geprägt durch die vollkommene Unfähigkeit dieser Gehirne zu jedem Ansatz von politischem Weitblick und politischem Denken überhaupt. Von wegen: Die Heimat erdolchte das Heer. Besiegt wurde das Reich durch die Hybris seiner militärischen Führer – auch wenn der nationalgesinnte Deutsche nicht davon abzubringen ist, an „Potemkinsche Lu­dendörfer“ zu glauben“, so Auszüge aus dem Artikel. Und an dieser Stelle sein empfohlen, die Kapitel über Hindenburg und Ludendorff zu lesen.

Noch ein Prozess: Anfang Dezember 1919 beschreibt Tucholsky den Prozess gegen Oberleutnant Otto Marloh. Auf dessen Befehl hin waren am 11. März neunundzwanzig Angehörige der Volksmarinedivi­sion anlässlich eines Löhnungsappells in der Französischen Straße 32 vollkommen willkürlich misshandelt und erschossen worden und dieses Verfahren findet vor dem Kriegsgericht der Reichs­wehrbrigade III in Berlin statt. „Immer dasselbe Bild“, so Tucholskys Kommentar, „und es kommt einem nun schon bekannt vor: auf der Anklagebank irgendein gleichgültiges Leutnantsgesicht, Offiziere in Breeches und Monokel und steil abfallenden Hinterköpfen. Niemand im Gericht hat ein Interesse daran, die Hintergründe dieser mutwilligen Schläch­terei wirklich aufzuklären. Man ist eben unter sich; Militär­justiz.“

Marloh wird vom Vorwurf des Totschlags freigesprochen. „Wohin soll es führen, wenn nun auch die Rechtsprechung anfängt, zu wanken: wenn politische Gesichtspunkte ganz offen Sondergerichte be­einflussen?“ – kommentiert Tucholsky.

Rolf Hosfeld:

„… Einige Tage nach dem Ende des Marloh-Prozesses tritt Tucholsky zum ersten Mal in seinem Leben als öffentlicher Redner auf. Er spricht grundsätzlich frei, in klaren Hauptsät­zen und voller Temperament. Er kann mitreißen. Der „Friedensbund der Kriegsteilnehmer“, dem Tucholsky seit Anfang Oktober 1919 angehört, hatte zu einer Kundgebung im Berliner Lehrer­vereinshaus geladen. Tosender Beifall als auch wütende Pro­teste werden im Saal laut, als Tucholsky dem alten Geist des Offizierscorps den Kampf ansagt.

Carl von Ossietzky Quelle: Von Bundesarchiv, Bild 183-93516-0010 / Unbekannt / CC-BY-SA 3.0, CC BY-SA 3.0 de, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=5359666

Er wird seitdem zu einem gefragten Redner, nicht nur bei Veranstaltungen des Friedensbundes, dem neben ihm die Redakteure Karl Vetter und Carl von Ossietzky, der Matheinatiker Emil Julius Gumbel, Hauptmann a.D. Willy Meyer, der Buchhändler und Pazifist Otto Lehmann-Rußbüldt und andere angehören und an dessen „Nie-wieder-Krieg“ –Kundgebung teilweise über 500000 Menschen teilnehmen. Die erste fand mit Tucholsky als Redner am 1. August 1920, dem Jahres­tag des Kriegsbeginns, im Berliner Lustgarten statt. 1922 verfasst Tucholsky das lange Gedicht „Drei Minuten Gehör, das mit den Versen endet: „Das sei unser Kampf. Das sei unser Sieg /Ich rufe für Euch: Nie wieder Krieg“. Es wird reichsweit auf allen Nie-wieder-KriegKundgebungen am 1. August von jeweils fünfzehn Schauspielern als Prolog vorgetragen.“

Wie instabil die Republik war und wie nötig diese Republik Zeitungen wie die „Weltbühne“ und Journalisten vom Schlage eines Kurt Tucholskys hatte, zeigen die Ereignisse der Jahre bis 1923.

Am 13, März 1920 marschierte durch das Brandenburger Tor im Parade­schritt die Brigade Ehrhardt. Der deutschnationale Königsberger Generallandschaftsdirektor Wolfgang Kapp besetzt die Reichskanzlei und gemeinsam mit General Lüttwitz und Ehrhardt und dem wie zufällig hin­zugekommenen „Weltkriegshelden“ Erich Ludendorff halten sie am Pariser Platz eine Pa­rade ab. Auch über diesen „Kapp-Putsch“ informiert die „Weltbühne“. Rolf Hosfeld schreibt:

„… Nur ein paar Tage dauert der Spuk des „Reichskanzlers“ Kapp, der am 17. März nach einem flächendeckenden General­streik seine Niederlage einsehen muss und an Bord eines Flug­zeugs nach Schweden entschwindet. Am 18. März zieht sich die Brigade Ehrhardt unter den Klängen von Marschmusik durch das Brandenburger Tor zurück und eröffnet, mit Schmährufen aus der auf den Straßenseiten versammelten Menschenmenge konfrontiert, umstandslos und ohne Warnung das Feuer. Zwölf Tote und dreißig Verletzte lässt sie zurück, ohne jemals dafür belangt zu werden.“

Wolfgang Kapp Quelle: Wikipedia

Tucholsky schreibt: „Um den im Kern unpolitischen Militärputsch richtig zu verstehen, muss man die Psyche des deutschen Militärs kennen. Sie kämpften alle: den bitterharten Kampf um die Dienststelle. Leute, die sich so sehr an ihr Ethos als Krieger gewöhnt hatten, dass sie am Ende für jede geregelte zivile Tätigkeit unbrauchbar geworden waren und ihnen nur der ewige Kriegszustand übrigblieb. Es ging ausschließlich um sie selbst und ihre uneingestanden gescheiterte Existenz. Entwur­zelte des Weltkriegs, wurden sie zu Rächern aus verlorener Bodenhaftung. Ihr Anliegen war vollkommen unpolitisch, doch die Auswirkung ihrer Mentalität auf die Politik konnte fatal sein. Denn sie glaubten an die Gewalt – und an die „Kas­teneinteilung der Menschheit“. Und sie waren – siehe die Erinnerungen des Freikorpskämpfers Ernst von Salomon — grundsätzlich amoralisch.“

Es folgt – um dieses Ereignis vorweg zu nehmen – am 8. und 9. November 1923 ein Putschversuch der NSDAP. Der Hitler-Ludendorff-Putsch, beginnend mit dem Marsch auf die Feldherrnhalle scheitert genauso, wie der zuvor erfolgte „Kapp-Putsch.

Und nochmal Rolf Hosfeld:

„… Als Moralist bleibt Tucholsky dennoch immer ein unerbitt­licher Republikaner. In Frontstellung gegen all jene, die sich im Kampf gegen die Republik befinden, gründet sich im März 1921 der Republikanische Reichsbund, (ein überparteilicher Zusammenschluss von Politikern aus den Parteien der sogenannten Weimarer Koalition (SPD, DDP und Zentrum), in gewisser Weise ein Vor­läufer des „Reichsbanners Schwarz-Rot-Gold, als eine geschlossene Front aller Republikaner. Tucholsky ist dabei und außer ihm so unterschiedliche Figuren wie Max Liebermann, Theodor Heuss, Paul Lobe, Carl von Ossietzky und der preußische PD-Innenminister Carl Severing.“

Anfang Januar 1920 kommt Mary Gerold nach Berlin, sie treffen sich nach anderthalb Jahren wieder, aber bereits im Februar trennen sie sich und am 3. Mai 1919 heiratet Tucholsky Else Weil.

Im Sommer 1920 Mitarbeit an der antipolnischen Zeitschrift „Pieron“, warum, gibt vielen ein Rätsel auf. „Das Blättchen“ 23. Jahrgang | Nummer 19 | 14. September 2020 schreibt:

„… Auch, wenn es von Tucholsky einfühlsame Äußerungen zur polnischen Geschichte gibt, hat er kurz nach dem Ersten Weltkrieg kein Ruhmesblatt hinterlassen, als er Redakteur des polenfeindlichen Satireblatts „Pieron“ (Blitz – auch eine Anrede für Oberschlesier) wurde.“

Und der Spiegel titelt am 21.10.1985:

„… Tucholsky ein Deutschnationaler?

Rechtzeitig zum 50. Jahrestag von Kurt Tucholskys Selbstmord wartet die „taz“ mit einem Sakrileg auf: Im Jahre 1920 sei Tucholsky Redakteur eines „Witzblatts“ gewesen, dessen einziges Anliegen antipolnische Hetze war. „Pieron“ (Blitz) hieß die Zeitschrift, die, im Auftrag des preußischen Innenministeriums, die Volksabstimmung über die Zukunft Oberschlesiens in die rechten Bahnen leiten sollte. Der Sozialist Tucholsky, gleichzeitig auch Mitarbeiter linker und linksradikaler Blätter, soll da zum Beispiel gereimt haben: „Wir polnischen Hexen, wir speien auf Frieden / wir säen die Hetze, wir sind nie zufrieden / wir haben das Land in Aufruhr gebracht / wir Hexen / wann sinken wir einmal zurück in die Nacht / wir polnischen, polnischen Hexen.“ Daß auch Linke, etwa der Zeichner Heinrich Zille, am „Pieron“ mitgearbeitet haben, scheint festzustehen – aber Tucholsky selbst ein Rassist im Sold der bürgerlichen Reaktion? Enthüller dieser unbekannten Aktivitäten ist der West-Berliner Historiker Hans Dieter Heilmann. Beweise, unter anderem aus dem Koblenzer Bundesarchiv, will er allerdings erst präsentieren, wenn gegen seine Behauptungen vor Gericht geklagt wird.“

Heinrich Zille – Selbstporträt (1922)

Und Wikipedia über das Ende dieses „Engagements“:

„Die von anderen Zeitungen stark kritisierte Demagogie und Hetze des „Pieron“ hatten schließlich zur Folge, dass Tucholsky nicht mehr für Blätter der USPD schreiben durfte. Zwar sprach ihn im Juni 1922 eine USPD-Schiedskommission vom Vorwurf frei, gegen die Bestrebungen der Partei gearbeitet zu haben.“

Tucholsky urteilte über sein Verhalten jedoch später:

„Von beiden Seiten wurden damals große Fonds in den korrumpierten Volkskörper hineingepumpt wie später in die Ruhr – ich selbst habe die Hände in diesem Bottich gehabt, ich hätte es nicht tun dürfen, und ich bereue, was ich getan habe.“

– Ein besserer Herr. In: „Die Weltbühne“. 25. Juni 1929, S. 953 Und Mitte Dezember ist diese Episode beendet. Im November 1920 erscheint „Träume­reien an preußischen Kaminen“.

Natürlich schreibt Tucholsky auch wieder für die „Weltbühne“ und damit für seinen alten Mentor Siegfried Jacobsohn. „Tucholsky-lastig“ hatte ich schon beschrieben und so erscheint im Dezember 1918 erstmals Kaspar Hauser.

Neu hinzugekommen sind seine Texte, Lieder und Couplets für das Kabarett – z.B. für „Schall und Rauch“, in dessen künstlerischem Beirat er seit Januar gemeinsam mit Friedrich Hollaender und Klabund sitzt, oder für Sängerinnen wie Claire Waldoff und Trude Hesterberg.

Claire Waldoff Quelle: Von Bundesarchiv, Bild 183-R07878 / CC-BY-SA 3.0, CC BY-SA 3.0 de, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=5436234

Über den folgenden Teil seiner „Karriere“ im Kabarett habe ich bisher nichts gewusst, aber Rolf Hosfeld schreibt über ihn:

„… Nebenher arbeitet er für den „dicken Napoleon des Kabaretts“. Rudolf Nelson. 1919 hatte der am Kurfürstendamm/ Ecke Fasanenstraße die „Nelson-Künstlerspiele“ gegründet, die er ein Jahr später in „Nelson-Theater“ umbenannte. Nelson, ein kahlköpfiger Mann mit rundem Gesicht und beleibter Figur, saß für gewöhnlich mit seinen fleischigen Fingern selbst am Piano und dirigierte aus dieser Position seine prachtvollen, aber unpolitischen kleinen Revuen. Anfang Oktober 1920 schreibt Theobald Tiger für die Nelson-Revue „Total Manoli“ den dann doch nicht ganz unpolitischen Titelsong. Auftritt am Kurfürs­tendamm: „Weil diese Zeit/fiebert und schreit,/wackeln die Wände./Ein Taler ist kein Taler mehr,/ein Konkubist kein Maler mehr.“ Dem konfusen Welttheater von heute, so die Bot­schaft, fehlt im Grunde die gestaltende Hand einer Reinhardt-Regie. Alles in diesen Zeiten ist aus den Fugen geraten, alles „Total Manoli!“ Tucholsky sitzt bei den Aufführungen oft in einer kleinen Loge links neben der Bühne und beobachtet auf­merksam und neugierig die Reaktionen des Publikums.

Rudolf Nelson (Willem van de Poll, 1952) Quelle: Wikipedia

Im Sommer 1921 besucht er Nelson in Heringsdorf auf Usedom – während im benachbarten Zinnowitz „ein herzer­frischender antisemitischer Wind brausend über den juden­reinen Strand des anmutigen Badeörtchens“ pfeift-, um mit ihm das Konzept einer neuen Revue zu besprechen. Im Okto­ber ist Premiere von „Bitte zahlen“, wieder mit Chansons von Theobald Tiger. Für Nelsons nächste Revue, „Wir steh’n verkehrt“, Premiere Oktober 1922, schreibt er sämtliche Texte, darunter „Mir ist heut so nach Tamerlan“. Käthe Erlholz feiert Triumphe mit diesem Foxtrott, wenn sie, voller Sehnsucht nach echter männ­licher Brutalität, wie sie der Mongolenfürst noch verkörperte, ins Publikum haucht: „Hier ist doch gar kein Tamerlan, kein Tamerlan zu sehn,/ein kleines bisschen Tamerlan, ja Tamerlan war schön.“ Und während die weibliche Seele – ähnlich wie einst die Pimbusch — vom wilden erotischen Chaos träumt, ver­haspelt sich die Republik in Ersatzhandlungen.“

Und in die Zeit des Cabaret gehört natürlich auch der „Dadaismus“. Am Berliner Lützowufer findet im Juli 1920 die „Erste Internationale Dada-Messe“ Peter Panter alias Kurt Tucholsky schreibt darüber im „Berliner Tageblatt“: „Wenn man abzieht, was an die­sem Verein Bluff ist, so bleibt nicht furchtbar viel“. „Krampf sei es und es gefalle ihm überhaupt nicht. „Man ist von neun bis sie­ben ununterbrochen zersetzend lustig und satirisch aufgelegt. Dabei versteht man schon, was die Leute wollen: Die Welt ist bunt, sinnlos, prätentiös und intellektuell aufgeplustert. Aber Dada? „Naja!“ Rolf Hosfeld schreibt: „Die Ausstellung war im Nachhinein betrach­tet ohnehin bereits eher eine Finissage auf Dada Berlin. Hundertvierundsiebzig „Erzeugnisse“ werden zum Verkauf an­geboten, darunter siebenundzwanzig Arbeiten von George Grosz. Die drei Veranstalter Grosz, Hausmann und Heartfield präsentieren sich wie auf Wahlkampffotos an einer Wand gegenüber von drei karikierten Stützen der Gesellschaft.“ „Nur einer, meint Tucholsky, „ist da, der wirft den ganzen Laden um: George Grosz. Wenn Zeichnungen töten könnten, das preußische Militär wäre sicherlich tot.“

In den ersten Weimarer Jahren erschüttern zahlreiche „Fememorde“ auf linke, pazifistische oder liberale Politiker und Publizisten die junge Republik. Genannt seien Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg, Walther Rathenau, Matthias Erzberger, Philipp Scheidemann und Maximilian Harden, dem Herausgeber der Wochenschrift „Die Zukunft“.

Als Prozessbeobachter in Verfahren gegen rechtsradikale Fememörder musste er feststellen, dass die Richter in aller Regel die monarchistischen und nationalistischen Ansichten der Angeklagten teilten und mit ihnen sympathisierten. In seinem Artikel Prozeß Harden erschienen in der „Weltbühne“ am 21.12.1922 schrieb er:

„Der deutsche politische Mord der letzten vier Jahre ist schematisch und straff organisiert. (…) Alles steht von vornherein fest: Anstiftung durch unbekannte Geldgeber, die Tat (stets von hinten), schludrige Untersuchung, faule Ausreden, ein paar Phrasen, jämmerliches Kneifertum, milde Strafen, Strafaufschub, Vergünstigungen – „Weitermachen!“ (…) Das ist keine schlechte Justiz. Das ist keine mangelhafte Justiz. Das ist überhaupt keine Justiz.“

Walther Rathenau, 1921 Quelle: Von Bundesarchiv, Bild 183-L40010 / CC-BY-SA 3.0, CC BY-SA 3.0 de, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=5435081

„Tucholsky sparte auch nicht mit Kritik an demokratischen Politikern, die seiner Meinung nach zu nachsichtig mit ihren Gegnern umgingen. Nach dem Mord an Außenminister Walther Rathenau 1922 richtete er in einem Gedicht einen Appell an die Selbstachtung der Republik“ schreibt Wikipedia.

Darin heißt es:

„Steh einmal auf! Schlag mit der Faust darein!
Schlaf nicht nach vierzehn Tagen wieder ein!
Heraus mit deinem Monarchistenrichter,
mit Offizieren – und mit dem Gelichter,
das von dir lebt und das dich sabotiert
an deine Häuser Hakenkreuze schmiert.
(…)
Vier Jahre Mord – das sind, weiß Gott, genug
Du stehst jetzt vor dem letzten Atemzug.
Zeig, was du bist. Halt mit dir selbst Gericht.
Stirb oder kämpfe. Drittes gibt es nicht.“

In: „Die Weltbühne“. 29. Juni 1922, S. 653

Beispiele der Kritik an Politikern ließen sich beliebig fortsetzen. Besonders hart ging er mit der SPD ins Gericht, deren Führung er deren Versagen, ja Verrat an den eigenen Anhängern während der Novemberrevolution vorwarf. Über Friedrich Ebert schrieb er 1922 im Prozeß Harden: „Und über allem thront dieser Präsident, der seine Überzeugungen in dem Augenblick hinter sich warf, als er in die Lage gekommen war, sie zu verwirklichen.“

Die Inflation der Nachkriegsjahre ab 1919 erreichte 1923 ihren Höhepunkt, als die Mark auf den Kurs von 4,2 Billionen Mark für einen US-Dollar verfiel. Die Folgen für die Wirtschaft aber auch für die Bevölkerung waren katastrophal. Auch Tucholsky sah sich gezwungen, seine publizistische Arbeit aufzugeben zugunsten einer Tätigkeit in der Wirtschaft.

Am 1. März 1923 trat er in das Berliner Bankhaus Bett, Simon & Co. als Privatsekretär des Seniorchefs Hugo Simon ein, wo er als Privatsekretär des Seniorchefs Hugo Simon arbeitete.

Hugo Simon Quelle: https://www.heimatverein-seelow.de/geschichte-schweizerhaus/wer-war-hugo-simon/

Aus Wikipedia:

„…1911 gründete er zusammen mit Otto Carsch die Privatbank Carsch Simon & Co. 1922 trennten sich die Partner, und Simon gründete zusammen mit Kasimir Bett und Kurt Gutmacher das Nachfolgeunternehmen Bett Simon & Co.“

Lange währte diese „Karriere“ nicht, denn bereits am 15. Februar 1924 schloss er erneut einen Mitarbeitervertrag mit Siegfried Jacobsohn. Als Korrespondent der „Weltbühne“ und der angesehenen „Vossischen Zeitung“ ging er im Frühjahr 1924 nach Paris.

Große Veränderungen in privater Hinsicht brachte das Jahr 1924, denn bereits im Februar ließ er sich von Else Weil, die er im Mai 1920 geheiratet hatte, wieder scheiden.

Über sie schreibt Wikipedia: „Als Nr. 49 ist ihr Name auf der Deportationsliste des 30. Transportes von Drancy in das KZ Auschwitz-Birkenau aufgeführt. Nach 72 Stunden Fahrt erreichte der Transport am 11. September 1942 das Vernichtungslager. Else Weil starb entweder auf dem Transport oder in einer der Gaskammern. Als Todesdatum wurde später der 31. Dezember 1945 festgelegt.“ Und bereits am 30. August 1924 heiratete er schließlich Mary Gerold.

Mary Gerold , Dezember 1919 Quelle: http://www.harbuch.de/frische-themen-artikel/Tucho_und_Harburg.html

Während seiner Korrespondentenzeit in Paris versucht er, das gegenseitige Verständnis zwischen Deutschen und Franzosen zu fördern. Übrigens, am 24. März 1924 trat er in die Freimaurerloge „Zur Morgenröte“ in Berlin – zum Freimaurerbund zur aufgehenden Sonne gehörig – ein und besuchte Logen in Paris und wurde im Juni 1925 Mitglied in den beiden Logen „L’Effort“ und „Les Zélés Philanthropes“ in Paris (Grand Orient de France).

1926 wurde Tucholsky in den Vorstand der von Kurt Hiller gegründeten Gruppe „Revolutionärer Pazifisten“ gewählt. Als Siegfried Jacobsohn am 3. Dezember 1926 stirbt, erklärt sich Kurt Tucholsky sofort bereit, die Leitung der Weltbühne zu übernehmen. „Oberschriftleitungsherausgeber“ aber will er nicht werden und auch nicht dauerhaft nach Berlin zurückkehren, er bleibt Mitherausgeber, die Leitung übernimmt Carl von Ossietzky.

Dem Andenken Siegfried Jacobsohns

Die Welt sieht anders aus. Noch glaub ichs nicht.
Es kann nicht sein.
Und eine leise, tiefe Stimme spricht:
„Wir sind allein.“
Tag ohne Kampf – das war kein guter Tag.
Du hasts gewagt.
Was jeder fühlt, was keiner sagen mag:
du hasts gesagt.
Ein jeder von uns war dein lieber Gast,
der Freude macht.
Wir trugen alles zu dir hin. Du hast
so gern gelacht.
Und nie pathetisch. Davon stand nichts drin
in all der Zeit.
Du warst Berliner, und du hattest wenig Sinn
für Feierlichkeit.
Wir gehen, weil wir müssen, deine Bahn.
Du ruhst im Schlaf.
Nun hast du mir den ersten Schmerz getan.
Der aber traf.
Du hast ermutigt. Still gepflegt. Gelacht.
Wenn ich was kann:
Es ist ja alles nur für dich gemacht.
So nimm es an.

Aus Wikipedia:

„… In den Jahren 1927 und 1928 erschienen seine essayistische Reisebeschreibung „Ein Pyrenäenbuch“, die Textsammlung „Mit 5 PS“ (womit sein Name und die vier Pseudonyme gemeint waren) und „Das Lächeln der Mona Lisa“. (…) Gleichzeitig blieb er ein kritischer Beobachter der Zustände in Deutschland. So prangerte er im April 1927 in dem dreiteiligen Artikel „Deutsche Richter“ in der „Weltbühne“ die in seinen Augen reaktionäre Justiz der Weimarer Republik an. Nach Tucholskys Überzeugung war eine zweite, diesmal erfolgreiche Revolution nötig, um eine grundlegende Änderung der undemokratischen Verhältnisse herbeizuführen.“

„Eine Bilanz von zehn Jahren Republik“ nennt Tucholsky seinen Artikel „November-Umsturz“, erschienen 1928. „Die deutsche Revolution steht noch aus.“ Er nähert sich der KPD an und veröffentlicht klassenkämpferische Propaganda-Gedichte in der parteinahen „A.I.Z“ (Arbeiter Illustrierte Zeitung).

Wie sehr Tucholsky auch während seiner Auslandsaufenthalte der „Rechten“ in Deutschland ein „Dorn im Auge“ war, zeigen Prozessen mit politischen Gegnern. Wegen des Gedichts „Gesang der englischen Chorknaben“ (1928) wurde z.B. ein Prozess wegen Gotteslästerung gegen ihn eingeleitet.

Und im selben Jahr trennten sich Kurt Tucholsky und Mary Gerold endgültig, denn bereits 1927 hatte er Lisa Matthias kennengelernt, eine Journalistin und Verlegerin.

Lisa Matthias auf ihrem Wagen sitzend Quelle: Tucholsky, ein deutsches Leben von Rolf Hosfeld

Einen Schritt rückwärts, Ende April 1920 schreibt Tucholsky nach dem Kapp-Putsch in der „Weltbühne“: „Hilfe? Von dieser Regierung nicht, Sie beschwert sich über die Aktionen der Gewerkschaften – der etrunkene Kapitän lehnt in der Ecke, ein beherzter Matrose rgreift das Steuer, und sein Vorgesetzter lallt: „Das ist eine Nebenregierung!“ Der neue Reichswehrminister will die Reichswehr unpolitisch haben. Das ist falsch. Sie muss durch und durch politisch sein, und die Frage lautet nicht: Republik oder Monarchie — sondern sie lautet: Demokratie oder Gewalt­herrschaft.“ Andernfalls, meint er, wird unvermeidlich der zweite Putsch kommen. Deshalb wird nun ganze Arbeit ge­leistet werden müssen. Die Schuldigen muss man ihrer Ämter entheben, die Militärgerichtsbarkeit und die Einwohnerwehren auflösen, die Schulen und Universitäten zu demokratischer Ge­sinnung verpflichten. Und vor allem sollte unmissverständlich klargestellt werden, dass der Offizier, genau wie jeder andere Staatsbürger, den Gesetzen unterworfen ist, und dass Hochverräter nicht immer Ballonmützen und rote Schlipse tragen.“

Hans von Seeckt – von 1920 bis 1926 Chef der Heeresleitung der Reichswehr – der sich während des Kapp-Putsches neutral, also illoyal der Regierung ge­genüber verhalten hatte, schaltete als „Gegenwehr“ alle Republik freundlichen Offiziere aus, die Reichswehr wurde nach dem Muster einer im vaterländischem Sinne totalitären Partei, die „den Staat über die Gesetze“ stellt, organisiert. Unter seiner Regie wurde Anfang August 1920 ein Amnestiegesetz, dass die Teilneh­mer des militärischen Hochverrats straffrei stellte, verabschiedet, mit Ausnahme von zehn Rädelsführern. „Doch nur drei Männer werden angeklagt, einer schließlich verurteilt, schreibt Rolf Hosfeld. „Gestern standen sie noch bei Kapp/ Mit wehenden Fahnen – aber nicht zu knapp! / Bolschewisten? Nein. Aber Hochverräter/Sah ich, und ihre geistigen Väter—/ Laufen noch alle frei herum:/Ludendorff, Ehrhardt und Baltikum, … dichtet Tu­cholsky.

Der steckbrieflich gesuchten Kapitän Ehrhardt wird vom Münchner Polizeipräsident Pöhner nach Bayern eingeladen und gründet dort die rechtsradikale „Geheimorganisation Consul“ (OC) – in den kom­menden Jahren auf rund 5000 Mitglieder angewachsen – wird sie für die meisten der rund 350 politische Attentate und Fememorde bis 1922 verantwortlich sein. Das erste prominente Opfer wird Ende August 1921 der Zentrumspolitiker Mathias Erzberger sein. „»Es kondoliert, wer grad noch hetzte“, dichtet Tucholsky, „Du warst der Erste nicht — bist nicht der Letzte“.“

Das nächste Opfer wird Pfingsten 1922 Philipp Scheidemann, den im Kasseler Habichtswald zwei Attentäter der OC mit einer Blausäurespritze zu vergiften versuchen, er überlebt nur knapp.

Philipp Scheidemann 1918 Quelle: Von Bundesarchiv, Bild 146-1970-051-17 / Grohs (Groß), Alfred / CC-BY-SA 3.0, CC BY-SA 3.0 de, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=5482548

Am 24. Juni 1922 fällt Außenminister Walther Rathenau auf der Königsallee im Berliner Grunewald einem brutalen po­litischen Mordanschlag zum Opfer. Man hatte ihn auf offener Straße in seinem Cabriolet mit Maschi­nenpistolen und einer Handgranate hingerichtet. Die Täter stammen auch hier aus der „Organisation Consul“. „Rathenau galt in deutschnationalen und völkischen Kreisen als die jüdische Personifikation der Dolchstoßlegende schlechthin“, schreibt Hosfeld.

„Gegenwehr“ gibt es, in allen größeren Städten zeigen Zehntausende Demonstranten ihre Empörung über den Mord, allein in Ber­lin gingen weit über 400000 Menschen auf die Straße.

Nicht nur Tucholsky unterliegt der Illusion, mit derartigen Massenveranstaltungen könnten Veränderungen herbei­ geführt werden. Hoffnungen, die sozialistischen Parteien unter Einbeziehung der USPD könnten eine Regierung bilden – tatsächlich hatten Redner der SPD und der Unabhängigen im Reichstag einen Tag nach dem Mord an Rathenau fast gleich­lautende Forderungen nach der Bildung einer Arbeitsge­meinschaft vorgetragen – erfüllten sich nicht.

Der nächste auf der Liste der Organisation Consul“ ist Ma­ximilian Harden – Publizist, Kritiker, Schauspieler und Journalist, Herausgeber der Wochenschrift „Die Zukunft“ und Initiator der Harden-Eulenburg-Affäre, die zu einem Skandal führte, der bis ins Kaiserhaus reichte.

Neun Tage nach dem Attentat auf Rathenau am 3. Juli 1922 wird er auf dem Weg nach Hause mit acht Schlägen einer kantigen Eisenstange auf den Kopf schwerverletzt. Tucholsky spricht an diesem Tag zusammen mit Harry Graf Kessler, und Ernst Lemmer auf einer Rathenau-Versammlung des „Deutschen Friedenskartells“, als er von diesem Attentat erfährt. „Ich kann nicht mehr – Sie werden das begreifen/ bei jedem Attentat ein Trauerliedchen pfeifen – /es sind zu viel/ Und was macht die Republik? Freundlich lauscht sie diesen blutigen Szenen verdösten An­gesichts.“

„Wenn uns die Republik nicht hilft, dann müssen wir uns selber helfen“, schreibt er in diesen Tagen. Mit Karl Vetter – Politiker, Verleger und Journalist entwirft er ein Programm aus 99 Punkten mit dem Titel „Verlebendigung der bis dahin trockenen Republik von Weimar“.

Der Geburtstag der Reichsverfassung am 11. August 1922 wird im Berliner Lustgarten gefeiert, mehr als 500000 Besucher sind gekommen. Auch hier spielt Karl Vetter eine entscheidende Rolle und die ist in diesem Link zu lesen.

Als Folge dieser Morde erlässt die Reichsregierung zwei Verordnungen zum Schutz der Repu­blik, die im Juli durch das Gesetz zum Schutz der Re­publik abgelöst werden. „Hätten wir wirklich eine Repu­blik, dann, aber nur dann langten die bestehenden Gesetze vollauf, um widerspenstige Beamte, um randalierende Staatsbürger im Zaum zu halten“, meint Tucholsky, aber … „In Wirklichkeit eröffnete das Republikschutzgesetz angesichts einer nach wie vor fast durchweg antirepublikanischen Justiz eine Büchse der Pandora, und die ursprünglich damit verbun­dene Absicht verkehrte sich schnell in ihr Gegenteil. Es bot zwar eine Handhabe zum Verbot extremistischer Organisatio­nen, wurde von der Justiz aber vor allem einseitig gegen die äußerste Linke eingesetzt. Eine der gefährlichsten Waffen ge­gen die deutsche Republik ist das sog. Republikschutzgesetz gewesen und ich habe das damals nicht gleich verstanden“, schreibt er später.

Rolf Hosfeld schreibt:

„… Schon während er mit dem Reichsinnenminister über die Möglichkeiten einer Verlebendigung der Republik berät, stellt der Reichwehrminister aus Republikschutzgründen Strafan­trag gegen ihn wegen Beleidigung des Offizierscorps in dem nach der Ermordung Erzbergers für die „Weltbühne“ verfassten Artikel „Die Erdolchten. Warum“, fragt er sich angesichts dieses Strafantrags (es ist nicht der erste), „quälen wir uns eigentlich mit dieser Republik herum?“

Und hier ist bereits eine einset­zende Phase zunehmender Resignation zu hören: „Das Politische tritt immer mehr in den Hintergrund, es fängt an, langweilig und gleichgültig zu wer­den“, schreibt Tucholsky im September 1922 in gedrückter Stimmung an Siegfried Jacobsohn. Immerhin kommt es aber Ende September in Nürnberg zur Vereinigung von SPD und USPD.

Wilhelm Cuno im Januar 1919 Quelle: Von Bundesarchiv, Bild 183-2002-0625-505 / CC-BY-SA 3.0, CC BY-SA 3.0 de, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=5426147

Rolf Hosfeld:

„… Der Wille zur Ge­meinsamkeit der Republikaner nach dem Rathenau-Mord sollte sich jedoch nur für kurze Zeit als tragfähig erweisen. Im November tritt der demokratisch gesinnte Zentrumspoliti­ker Joseph Wirth zurück und wird durch den konservativen, außenpolitisch völlig unerfahrenen Katholiken Wilhelm Cuno ersetzt. Wirths Bemühungen um eine Große Koalition waren am Widerstand der durch die Vereinigung mit der USPD nach links gerückten Sozialdemokraten gescheitert. Auch Tucholsky lehnt sie strikt ab. In der realen Politik mit ihren mitunter komplizierten Kompromissnotwendigkeiten fühlt er sich zu­nehmend wieder unwohl.“

Noch im Dezember 1922 steht der Harden-Attentäter samt Komplize und Auftraggeber vor Gericht (Harden-Prozesse). Tucholsky schreibt: „Es waren die grauenvollsten drei Tage, die ich in Moabit erlebt habe“. Unstrittig ist, Harden sollte getötet werden, trotzdem liegt laut Urteil am Ende kein Mordversuch vor, sondern nur schwere Körperverletzung. „»Solch eine Verhandlung hat die Welt noch nicht ge­sehen“, resümiert Tucholsky und Hosfeld schreibt:

„… Harden jedoch erweist sich bei seinem Auftritt am dritten Verhandlungstag, so Tucholsky, als Deutschlands letzter Euro­päer von Ruf. Er habe immer den Kaiser bekämpft, sagt der Angegriffene vor Gericht, aber der habe „doch niemals ver­sucht, mich ermorden zu lassen“. Was nicht verhindert, dass während der Verhandlung die Frage aufgeworfen wird, ob nicht Herr Harden in Wirklichkeit ein Schädling des deutschen Volkes sei, worauf schon der Historiker Friedrich Thimme hingewiesen habe. „Ist“, fragt Harden das Gericht in seiner abschließenden Rede, „Deutschland eigentlich ein »wildes Land“.

„Wir sind jetzt erst eigentlich in die Liquidation des verlorenen Krieges eingetreten“, verkündet Reichskanzler Gustav Stresemann am 22. November 1923 vor dem Reichstag, nachdem am 15. November die neue Währung, wie geplant, in Umlauf gebracht wurde. Die Rentenmark war jedoch nur als Übergangslösung zur Überwindung der Inflation eingeführt worden. Am 30. August 1924 wurde sie im Rahmen des Dawes-Plans von der Reichsmark abgelöst, die durch Gold und wertbeständige Devisen gedeckt war und die deutsche Währungsstabilität garantieren sollte. Mehr als drei Milliarden Dollar amerikanisches Kapital flie­ßen in den nächsten fünf Jahren ins Land. „Die Leute sind froh, dass die Rentenmark einigermaßen stabilisiert ist“, schreibt Tucholsky im Frühjahr 1924.

Korrespondent in Paris

Mit dem Ende der Inflationszeit zieht auch Siegfried Jacobsohn Bilanz: Die „Weltbühne“ hat einigermaßen unbe­schadet überstanden. Und so bietet er Tucholsky Mitte Juli eine feste Mitarbeit im Verlag an. Zunächst aber lehnt dieser ab „weil die Zeit mir dagegen zu sein scheint“. Er glaube, „dass es hier endgültig aus ist. Außer dem Geschrei Juden raus! und Wie steht der Dollar?“ höre man kaum noch ein vernünftiges Wort. „Am 15. Februar 1924 unterschreibt er dann doch einen Vertrag mit Jacobsohn, der ihn zum Eintritt in die Redaktion der „Weltbühne“ verpflichtet, ihm aber mindestens drei Monate Reisen im Jahr zusichert“, schreibt Rolf Hosfeld.

Innerlich aber hat sich Tucholsky schon lange von Berlin verabschiedet und so sitzt er am 6. April 1924 in Zug nach Paris – neuer Korrespondent der „Weltbühne und der „Vos­sischen Zeitung“ – ohne klare Vorstellun­gen über seine Zukunft. „Ich habe nur meine Schwärmerei satt“ schrieb er zuvor an den seit 1921 in Paris lebenden Walter Mehring geschrieben.

Es ist kalt in Paris, es schneit, als er ankommt, aber „die Stadt macht auf den ersten Eindruck wie Ber­lin. Ja. Nu komm man“, schreibt er an Mary: „Du wirst zum ersten Mal in Deinem Leben sehen, was eine Großstadt ist.“ Er mietet sich zunächst im Hotel Grammont in der Nähe der Opera Comique ein und Ende April bezieht er eine Dreizimmerwohnung in der Avenue Mozart. Als einen der ersten Artikel an neuer Wirkungsstätte schreibt Peter Panter am 18. Juni für die „Vossische“ „Das menschliche Paris“.

Sofort nach seiner Ankunft besucht er Aline Menard-Dorian – „eine „sehr reiche Dame“ – die im 16. Arrondissement nahe des Bois de Boulogne einen haupt­sächlich von Mitgliedern der französischen „Liga für Menschen­rechte“ gut besuchten pazifistischen Salon unterhält.

Pauline Ménard-Dorian Quelle: Wikipedia

In einer Übersetzung der französischen Wikipedia Seite ist über sie zu lesen:

„… Pauline Ménard-Dorian wurde am 21. Juli 1870 im Château du Fraisse als Tochter des reichen Politikers und Geschäftsmanns Paul-François Ménard und von Louise-Aline Dorian geboren. Als Mitglied einer prominenten republikanischen Familie diente ihr Großvater mütterlicherseits, Pierre Frédéric Dorian, als Minister für öffentliche Arbeiten für die Französische Dritte Republik. Sie wurde als Protestantin erzogen. Sie verbrachte ihre Kindheit zwischen dem Leben in einem Hotel in der Rue de la Faisanderie und dem Anwesen ihrer Familie in Fraisse und Lunel .

Ihre Mutter war Gastgeberin republikanischer Salons, an denen Jules de Goncourt , Edmond de Goncourt , Emile Zola , Alphonse Daudet , Auguste Rodin , Ellie-Abel Carrière , Victor Considerant und Georges Clemenceau , Georges Périn , Allain-Targé , Challemel-Lacour und Henri Rochefort teilnahmen.

1894 heiratete Ménard-Dorian Georges Victor-Hugo, einen Enkel von Victor Hugo. Sie haben zwei Kinder, Marguerite und Jean . Durch ihre Ehe war sie eine Schwägerin der Prominenten Jeanne Hugo . Sie und ihr Mann veranstalteten in Paris beliebte literarische und politische Salons, an denen Zola, Marcel Proust, Léon Daudet, die Brüder Goncourt, Jean Cocteau, Max Jacob, Eugène Carrière und Erik Satie teilnahmen . Die Ehe war unglücklich, und Ménard-Dorian reichte 1899 die Scheidung ein.

Ménard-Dorian starb am 24. Dezember 1941 im Mas de Malherbes in Aimargues.

Alexander Fjodorowitsch Kerenski Quelle: .Wikipedia

„Das ganze durchgefallene Europa des politischen Exils ist dort versam­melt, kommentiert er … der unsägliche Alexander Fjodorowitsch Kerenski, (geboren am 22. April 1881 in Simbirsk; gestorben am 11. Juni 1970 in New York) russischer Politiker und zeitweise Chef der Übergangsregierung zwischen Februar- und Oktoberrevolution im Jahr 1917.

Francesco Saverio Nitti 1920 Quelle: Wikipedia

Francesco Saverio Nitti (geboren am 19. Juli 1868 in Melfi; gestorben am 20. Februar 1953 in Rom), italienischer Präsident des Ministerrats (Ministerpräsident) vom 23. Juni 1919 bis zum 21. Mai 1920 und erneut vom 21. Mai 1920 bis zum 15. Juni 1920 und Mihály Károlyi, vollständiger Name: Mihály (Michael) Adam Georg Nikolaus Graf Károlyi von Nagykároly (geboren am 4. März 1875 in Budapest; gestorben am 20. März 1955 in Vence bei Nizza, Frankreich), ungarischer Politiker, der als Ministerpräsident 1918 die Republik Ungarn ausrief.

Mihály (Michael) Adam Georg Nikolaus Graf Károlyi von Nagykároly (1918) Quelle: Von Pendragon, CC BY-SA 3.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=3511823

Kontakte hatte er mit Hellmut von Gerlach (Teilnehmer 1922 am ers­ten Treffen der deutschen und französischen Friedensgesell­schaft in Paris) und mit George Grosz, der mit seiner Frau im Hotel Odessa am Montparnasse lebt.

„Angenehm“, schreibt er „ist vor allem, dass Frank­reich keinen Militärfimmel kennt. Es gibt ein unbeirrbares Zivil im Franzosen und der französische Offi­zier rangiert sogar etwas hinter dem sogenannten Zivilisten. Pazifismus ist in Paris nach dem Massensterben auf den Feldern von Flandern und der Normandie ein beständiges Thema, quer durch die politischen Lager. Selbst die schärfsten französischen Nationalisten haben kei­nerlei Expansivgelüste.

Der Dr. jur. Tucholsky tankt: „Kultur en Masse“ und Historie, er durchstreift die Parks und geht in Theater und Museen, besucht die Schlachtfelder des mörderischen und nutzlosen ersten Weltkrieges und die Gedenkstätten desselben. Und nicht zu vergessen, seine Treffen mit zahlreichen Künstlern und Politikern.

Frans Masereel Quelle: http://masereel.org/

Genannt seien z.B. Frans Masereel, bedeutender belgischer Grafiker, Zeichner und Maler sowie Pazifist, der Maler Marc Chagall, an der Sorbonne hört er Vorlesungen und trifft sich mit Paul Graetz, einem bedeutenden Komiker in der Theater- und Kabarettszene Berlins und hört sich die alt gewordene Diseuse Yvette Guilbert an, die er seit Kindertagen aus dem „Winter­garten“ kennt. „Er ist in diesen ersten Wochen ein Flaneur, be­gierig, alles Neue in sich aufzunehmen. Aber, meint er im Rückblick, letztlich sei er doch immer „sehr allein in Paris“ gewesen, was nur in Grenzen stimmt“, schreibt Rolf Hosfeld.

Yvette Guilbert begrüßt das Publikum 1894, Henri de Toulouse-Lautrec

Tucholsky hält von Anfang an Vorträge in Paris, fünfzig sind es angeblich im Laufe der Jahre geworden und maßgebliche französische Persönlichkeiten nehmen den deutschen Pazifisten durchaus ernst, darunter auch der nationalfranzösisch gesinnte Politiker Raymond Poincare.

Rolf Hosfeld hält ihn als einen Teil des „Rapprochement“, der Verständigungsbemühungen, vor dem deutsch-französischen Abkom­men von Locarno, zu denen auch Auftritte Albert Einsteins und der Brüder Mann ge­hören. Und K.T. schreibt nicht nur für die „heimatlichen Zeitungen“, sondern auch für ausländische Organe.

Ende Juli 1924 ist Tucholsky für kurze Zeit wieder in Ber­lin, den Grund beschreibt Rolf Hosfeld:

„… Der Grund für seinen Aufenthalt in Berlin im Sommer 1924 ist jedoch ein Angebot Hermann Ullsteins, an der Ent­wicklung eines modernen Monatsmagazins nach angloamerikanischem Muster inklusive freizügiger Fotografie mitzu­arbeiten. Es sollte „Uhu“ heißen und erschien zum ersten Mal im Oktober 1925. Er sei „auf Wunsch der Berliner Herren“ ge­kommen, schreibt Tucholsky an Maximilian Harden, „um ihnen hier ein bisschen zu helfen“, und werde kaum vor An­fang September zurück in Paris sein. Ullstein bemüht sich zwar darum, ihn in Berlin zu halten, doch auf Dauer ist das nichts für ihn. Der „Uhu“ ist nur eine Episode.“

Der „Uhu“ gilt rückblickend als wegweisende Publikation der Weimarer Zeit. Die Zeitschrift bezog in politischer Hinsicht frühzeitig Position gegen die Nationalsozialisten, was sich vor allem in Form von Karikaturen wie „Hitler erhält den Friedensnobelpreis 1932“ oder das satirische Reichstags-Rommé niederschlug, schreibt Wikipedia.

Das wichtigste Ereignis seines Berlinaufenthalts nach seiner Scheidung wird die Hochzeit mit Mary am 30. August auf dem Standesamt Berlin-Friedenau. Zwei Wochen später kehren sie nach Paris zurück, vorerst in die Avenue Mozart wohnend und Im Mai 1925 bezieht das Ehepaar dann ein kleineres Landhaus im Vorort Le Vesinet weitab des Zentrums.

Mary Gerold u. Kurt Tucholsky 1925 Erich Danehl u. Kurt Tucholsky 1927 Quelle: http://www.harbuch.de/frische-themen-artikel/Tucho_und_Harburg.html

Es folgt von Mitte August bis Mitte Oktober 1925 eine Reise mit Mary in die Pyrenäen, daraus entsteht sein späteres Pyrenäenbuch. Nebenbei berichtet er für seine deutschen Leser über die Basken. „Freie Bauern sind sie meist, fromm, patriarchalisch, heimatverbunden und nicht selten Schmuggler. Wohl selten ist ein geschichtliches Symbol schmutziger miss­braucht worden als das Hakenkreuz, das man auch in baski­schen Inschriften finden kann.“

„Wie schön, in diesen Tagen in Frankreich zu sein“, sinniert Tucholsky, als am 26. April 1925 in Deutschland Paul von Hindenburg zum Reichspräsidenten gewählt wird. „Hindenburg“, meint Tucholsky nach der Wahl, „das bedeute die Republik auf Abruf, Krach mit aller Welt und letztlich Krieg. Und nun? Der alte Generalfeldmarschall, dem der Krieg wie eine Badekur bekommen ist, ein unselbständi­ger Mensch, wird sich von der denkbar schlechtesten Ge­sellschaft in seinem Umfeld leiten lassen. Sie wird ihn bera­ten? Nein, sie wird regieren. Und er wird tun, was er sein ganzes Leben getan hat: er wird unterschreiben.“ Siegfried Jacobsohn versucht zu beschwichtigen, er glaube nicht, dass diese Wahl der Anfang vom Ende sei. Doch Tucholskys Prognose sollte sich bewahr­heiten.

Am 10. September 1926 wird Deutschland in Genf Mit­glied des Völkerbunds, nicht lange, denn bereits 1933 kündigt Hitler diese Mitgliedschaft wieder auf.

Umbruch – der Herausgeber

„Ihm ganz allein verdanken wir, was er uns hinterlassen hat. Wir alle, die wir unter seiner Führung gegen dieses Militär, gegen diese Richter und gegen diese Reaktion ge­kämpft haben, kennen seinen tiefsten Herzenswunsch: die Wahrheit zu sagen. Die Wahrheit Mozarts, die Wahrheit Scho­penhauers, die Wahrheit Tolstois – inmitten einer Welt von Widersachern: die Wahrheit.“

Mit diesen Zeilen eröffnet die Nummer 40 des 22. Jahrgangs der „Weltbühne“ vom 7. Dezember 1926 auf der ersten Seite. Es sind die Zeilen Tucholskys auf Siegfried Jacobsohn’s Tod. Am 2. Dezember hatte Tucholsky ihm noch einen Brief geschrie­ben, der ihn nicht mehr erreichte und am Vormittag des 3. Dezember 1926 erreicht Tucholsky in Paris ein Telegramm aus Berlin: „Jacobsohn Gehirnschlag so­fort kommen.“

Rolf Hosfeld schreibt:

„… Eine Minute später greift er erregt zum Tele­fonhörer, um sich diese vollkommen unerwartete Nachricht bestätigen zu lassen. Siegfried Jacobsohn, der Mensch, mit dem ihn mehr verband als mit jedem anderen, war am frühen Mor­gen um vier Uhr in der Grunewalder Douglasstraße 30, wo er erst vor drei Monaten eine komfortable Achtzimmerwohnung bezogen hatte, den Folgen eines epileptischen Anfalls erlegen.“

„Jetzt sitz ich ganz allein. keinen hör ich vor Beifall schrein, und die besten Witze aus ganz Berlin wird man nie wieder dem stets zu Scherzen aufgelegten Jacobsohn erzählen können. Dieser Berliner hatte wirklich einmal alle guten Eigenschaften sei­ner Stadt in sich versammelt. Er war pünktlich, akkurat, aus Egoismus altruistisch, kurz der idealste deutsche Redakteur, den unsere Generation gesehen hat“, so Tucholsky

Mary und Kurt Tucholsky – im Oktober in einen geräumigen ehemaligen Kardinalssitz in der kleinen Residenzstadt Fontainebleau umgezogen – eilen sofort nach Berlin, Tu­cholsky muss ihn nun ersetzen.

Bereits vor dem Tod von S.J. hatte es in der Redaktion einige Veränderungen gegeben. Tucholsky hatte – es war im Juli 1924 – vorgeschlagen, Carl von Ossietzky für eine Mitarbeit zu gewinnen. Das zog sich, weil „Besagter“ nicht so recht wollte. Aber am 1. April 1926 ist er dann doch in die Redaktion eingetreten, „obwohl sich Jacobsohn der Qualitäten des „Umstandskommissars“ mit dem Spitzna­men Marquis v. O. anfangs nicht immer ganz sicher war“, so jedenfalls Rolf Hosfeld und er schreibt weiter: „Im Sommer durfte Ossietzky jedoch bereits die Manuskripte di­rekt an die Druckerei liefern, ohne den prüfenden Umweg über Kampen berücksichtigen zu müssen. Jacobsohn war in­zwischen zur Druckerei Stein am Nauener Tor in Potsdam übergewechselt, und Ossietzky saß dort gern im Cafe Rabien an einem Marmortisch rechts des Eingangs, schrieb seine Leit­artikel und las die Fahnen Korrektur.“

Cafe Rabien Quelle: Tucholsky, ein deutsches Leben von Rolf Hosfeld

Am 19. Dezember 1926 findet im „Deutschen Theater“ die Trauerfeier für Siegfried Jacobsohn statt und die habe ich in meinem Portrait über ihn beschrieben. Eine Teilnehmerin, nämlich Pauline Nardis, erinnert sich: „Stolperte der sonst überaus selbstbewusst auftretende Tucholsky wie ein Geschlagener über die Stufen zum Rednerpult, eher hilflos und fast ver­legen“ Leider ist die freie Rede von Tucholsky nicht erhalten geblieben. Sein zur gleichen Zeit erschienenes „Pyrenäenbuch“ ist in tiefer Verehrung an einen unwiederbringlichen Verlust „Dem Andenken Siegfried Jacobsohns“ gewidmet.

Alleine in Berlin zurückgeblieben – Mary ging nach der Trauerfeier nach Fontainebleau zurück – überlegt er, die „Weltbühne“ nicht auch aus Paris leiten zu können, Vorbild Jacobsohn und seine Sommermonate in Kampen, aber auf Drängen von Edith Jacobsohn bleibt er vorläufig in Berlin. An Mary schreibt er: „Frau Jacobsohn ist doch viel vernünfti­ger, als er gedacht habe, fast ganz gescheit“. Im Raum steht kurzzeitig auch die Überlegung, die Zeitschrift zu verkaufen, aber schon Ende Januar 1927 ist klar, die „Weltbühne“ besteht weiter. „Dann arbeite ich Ossietzky ein und komme rasch“, schreibt er an Mary und wird einige Monate in Berlin bleiben, um erst nach einem Aufenthalt in Dänemark sehr spät wieder nach Frank­reich zurückkehren.

Wieland Herzfelde, rechts, 1960 im Gespräch mit Otto Nagel, links, und seinem Bruder John Heartfield über eine von dessen Fotomontagen Quelle: Von Bundesarchiv, Bild 183-73744-0001 / Ulrich Kohls / CC-BY-SA 3.0, CC BY-SA 3.0 de, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=5357967

In einer möblierten Zweizimmerwohnung in Charlotten­burg einquartiert, besucht er am 25. Januar 1927 einen Künstlerball, bei dem auch George Grosz, Bert Brecht, Ernst Toller, der Verleger Wieland Herzfelde und der Schrift­steller Richard Huelsenbeck zugegen sind und lernt dort „eine junge Dame namens Lisa Matthias“ (Hosfeld) kennen, die dieser so beschreibt: „Die dreifache Mutter und Journalistin ist mit dem Weltbühnen-Autor Leo Matthias ver­heiratet, den sie wegen Tucholsky verlassen wird. Sie hat etwas von Vicki Baums damals in Mode gekommenen modernen Frauentypen an sich. Bubikopf, Autofahrerin, quirlig, aktiv, informiert, ganz und gar aufgeklärt, etwas frivol und leicht promisk. Sie ist, und das scheint sofort eine Saite in Tucholsky zum Klingen gebracht zu haben, wie die verflossene Pimbusch der Rheinsberger Tage eine perfekte Anti-Mary.“

Tucholsky und Lisa Matthias im schwedischen Läggesta (1929) Quelle: Von Sonja Thomassen – Sonja Thomassen, CC BY-SA 3.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=452602

„Er hatte sich in mich verliebt, ich finde ihn reizend“, vertraut sie ihrem Tagebuch an. Und Hosfeld weiter: „Kaum sind sie sich begegnet, hängt er jeden Tag flirtend am Telefon, um angeregt mit ihr zu plaudern. Und schon kurz danach sind sie verabredet und wollen übers Wochenende gemeinsam verreisen. Tucholsky, wie ein ewiges Kind gern im Reiz des Augenblicks lebend, kann dieser antipodischen Attraktion seines durch Fontaine­bleau nun scheinbar festgelegten Lebens keine Minute wider­stehen. Und er kann auf keinen Fall allein sein. Es dauert nicht lange, und bald bezeichnet er sich übermütig als ihren „Vaginalklown“, sie als das „Lottchen mit dem Lotterleibe“.

Heuss-Plastik aus Bronze vor dem Theodor-Heuss-Museum der Stadt Brackenheim Quelle: Von Robin Müller, CC BY-SA 3.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=5832620

Berlin hat sich nicht sonderlich verändert, aber zu dem provinziellen Berliner Snobismus ist hinzugekommen, schreibt er: „Theo­dor Heuss hat sich auf eine Unterstützung des unsäglichen Schmutz- und Schundgesetzes, einem Gesetz zum Schutz von Kindern und Jugendlichen vor jugendgefährdenden Schriften, der so genannten Schundliteratur, das von 1926 bis 1935 existierte, eingelassen, das in Wirklichkeit eine versteckte Zensur darstellt. Parlamentspräsident Paul Löbe verweigert der „Weltbühne“ die Ausstellung von Presse­ausweisen für den Reichstag.

Paul Löbe Quelle: Von Bundesarchiv, Bild 102-01053A / CC-BY-SA 3.0, CC BY-SA 3.0 de, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=5479322

Hindenburg zieht es vor, am zweiten Todestag Friedrich Eberts, als der Reichstag eine Ge­denkfeier veranstaltet, in der Uniform eines kaiserlichen Gene­ralfeldmarschalls gemeinsam mit Herrn Mackensen (geschla­gen in Rumänien), Wilhelm III. (geschlagen in Frankreich) und vielen anderen bekannten „Militärstars“ an einem „Schlieffen-Tag“ zu Ehren des Generalstrategen Seiner Majestät teilzuneh­men. Alles ist noch da. Auch die Justiz, wie gehabt. Eine Justizreform? Daran ist nicht zu denken. Tatsächlich ist bei den Richtern die Auslese, die der Stand erbarmungslos vornimmt, gefährlicher und schlimmer als bei der ihnen gesinnungsver­wandten Reichswehr.“

Rolf Hosfeld schreibt: „Doch die Zeit der scharfen Konfrontationen scheint vorüber zu sein. Anfang Mai 1927 findet in Berlin ein großes Treffen der deutschnationalen Wehrvereinigung „Stahlhelm“ statt. Um die 100000 sind erschienen, und Stahlhelmführer Franz Seldte hat zuvor die Eroberung der „Festung Berlin“ angekündigt. Die Berliner aber lassen das Spektakel einfach links liegen. Zum Abschluss – Tucholsky befindet sich gerade zur Fahnenkorrek­tur bei seinem Drucker Stein – marschiert der Stahlhelm nach Potsdam, wo eine offizielle Begrüßung durch den Oberbürger­meister stattfindet. Er beobachtet sie, vermutlich am Nauener Tor, wie sie die heutige Hegelallee Richtung Sanssouci hinuntermarschieren. „Sie gingen in angehaltenem Atem einher und befanden sich in eingebildeter Lebensgefahr, unschlüssig, ob sie Potsdam für die Sehnsucht ihrer Träume halten oder wie eine Stadt im besetzten Gebiet behandeln sollten.“ Nein, das blutige Pathos der Bürgerkriegsjahre nach 1918 ist raus, und das Schau­spiel, das sich ihm da bietet, stellt kaum mehr als ein mäßiges Amüsiervergnügen kleiner Vereinsmeier dar. „Der Stahlhelm gehört in den Affenkäfig“, schreibt er wie in einem Nachruf in der „Weltbühne“. Aber andererseits sei es auch „nicht wahr, dass der normale Typus der Deutschen Volkspartei und der Indifferenten auf die ekelhaften Grundsätze des Imperialismus verzichtet hat“. In diesem Zusammenhang fällt der folgende, problematische Satz: „Die wirkliche Gefahr in Deutschland ist der interfraktio­nelle Stresemann-Typus.“ Wirklich?

Und diese Einschätzung von beiden – Tucholsky und Hosfeld – verstehe ich Überhaupt nicht, denn die „Konfrontationen“ steigerten sich zum Einen stetig und ausgerechnet der „Stahlhelm, Bund der Frontsoldaten“ war nun wirklich nicht eine demokratische Vereinigung, vielmehr ein Wehrverband zur Zeit der Weimarer Republik, der kurz nach Ende des Ersten Weltkrieges am 25. Dezember 1918 von dem Reserveoffizier Franz Seldte in Magdeburg gegründet wurde. Seldte war zusammen mit Theodor Duesterberg Vorsitzender der Vereinigung. Sie galt als bewaffneter Arm der demokratiefeindlichen Deutschnationalen Volkspartei (DNVP). So stellte der Stahlhelm bei Parteiversammlungen vielfach den (bewaffneten) Saalschutz. Warum aber hält Tucholsky dann wieder einmal zahlreiche Vorträge, vor allem auf Versammlungen der „Liga für Menschenrechte“?

Franz Seldte (rechts) mit Alfred Hugenberg (links) und dem Berliner Stahlhelm-Führer Franz von Stephani (Mitte) Quelle: Von Bundesarchiv, Bild 102-01258 / CC-BY-SA 3.0, CC BY-SA 3.0 de, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=5479427

Die Monologe des „Herrn Wendriner“? „ungeordneten Monologe seines eigenen Herrn Wendriner, eines jüdischen Geschäftsmanns aus Berlin, wo wenigs­tens die Sprache stimmt. Denn nichts ist schwerer, erfordert mehr Arbeit und Kultur, als einfache Sätze unvergesslich zu machen und sie nicht auf Draht aufzuziehen. Die Worte mit der Wurzel ausgraben: Das ist Literatur“, beschreibt sie Rolf Hosfeld und diese „Nonologe“ erscheinen in der „Weltbühne“ zwischen 1822 und 1930.

Im Herbst 1925 sollte der „Herr Wedriner“ nach Absprache mit Edith Jacobsohn – die seit 1924 in eigener Regie den Williams-Verlag betrieb – in Buchform erscheinen, Es kam nicht zustande, und die bisher ge­druckten Wendriner-Geschichten erscheinen Ende 1927 in dem Sammelband „Mit 5 PS“ bei Rowohlt.

Pauline Nardi beschreibt Januar 1927 Tucholsky als einen in ihren Augen völlig verwandelten, sehr traurigen, schüchtern, müde und an­triebslos wirkenden Menschen. Der Verlust von Siegfried Jacobsohn wirkt nach und die Redaktionsarbeit ist auch nicht sein Ding. „Es ist grauenhaft, es frisst einen auf. Alles zerflattert einem unter den Fin­gern“. Aber Ossietzky beginnt langsam, ihn zu entlasten und Ende März geht es um das unge­liebte Haus in Fontainebleau, es soll gekündigt wer­den soll. Ende April löst Mary das Anwesen auf. Wie es in Zukunft wei­tergehen soll? Tucholsky will jedoch auf keinen Fall in Berlin bleiben.

K. T. und Mary Juni 1927 Abreise nach Kopenhagen Quelle: Tucholsky, ein deutsches Leben von Rolf Hosfeld

Im Mai, oder wenig später gibt er die Leitung der „Weltbühne“ an Ossietzky ab und reist nach Kopenhagen. Mary folgt ihm, aber Anfang Juni verabschiedet sie sich und fährt mit dem Schiff nach Riga zu ihrer Mutter.

Sein neues Domizil in Dänemark ist der siebzig Kilometer süd­westlich von Kopenhagen gelegene „königlich konzessionierten Landgasthof Mogenstrup Kro“, ein Ausbau des Orts Mogenstrup. „In­zwischen bin ich nach Dänemark gemacht, und werde wohl kaum zurückkommen, sondern wieder in Paris oder sonstwo im Ausland bleiben“.

„Oder sonstwo“ ist in den nächsten Monaten ein ziemlich unstetes Leben. Zum Beispiel bittet er Lisa Matthias Mitte Juli 1927 nach Hamburg zu kommen und sie kommt. Tucholsky hält sich in der Hansestadt auf, um seinen alten Freund Hans Fritsch, Jakopp genannt, zu besuchen. den er wie Erich Danehl, ge­nannt Karlchen in den letzten Monate des Weltkriegs kennengelernt hatte. Lisa Matthias und er fahren  nach Lüneburg und streifen die nächsten vier Tage verliebt durch die Heide. Noch zwei weitere und amüsante Tage in Hamburg, dann reist sie wieder ab.

Am 27. Juli 1927 kehrt Tucholsky endlich wieder nach Hause zurück – nach Frankreich. nach Paris – und mietet vorübergehend eine mö­blierte Wohnung in der Avenue de Colonel Bonnet nahe dem Maison de Balzac zwischen Marsfeld und Bois de Boulogne und auch Mary ist aus Riga zurück. Erneuter „Aufbruch“ am 9. September zu einer Spessart-Wanderung mit Erich Danehl und Hans Fritsch, die am 29. September endet. Lisa Matthias schließt sich in Würzburg der „Herrengesellschaft an. Wohl das Ergebnis dieser „Wanderei“, die „Vossische Zeitung“ druckt Peter Panters Reisebericht „Das Wirtshaus im Spessart“ am 18. November ab.

K. T. Erich Danehl Hans Fritsch Quelle: Tucholsky, ein deutsches Leben von Rolf Hosfeld

Noch ein Umzug, nach dem Spessart bezieht er im Oktober in Paris eine neue Wohnung am Rondell der Place de Wagram etwas südlich des von ihm so geliebten Parc Monceau.

Tucholsky bewegt sich deutlich nach links.

Mai 1927, Tucholsky hält sich noch in Dänemark auf, wird er in den Vorstand der Roten Hilfe Deutschlands (RHD) gewählt, einer politischen Hilfsorganisation, die der KPD nahestand und von 1924 bis 1936 bestand und es erscheint im März 1928 sein erstes Gedicht in der auflagenstarken kommunistischen „Arbeiter Illustrierten Zeitung (AIZ)“, dessen Herausgeber der „rote Medienmogul“ Willi Münzenberg. Ist. Bis Oktober 1930 wird er insgesamt 37 Texte für die „AIZ“ verfassen, zählt Rolf Hosfeld auf. Als Kommunist aber will er auf keinen Fall gelten: „Man muss draußen stehen, geistig unabhängig bleiben, man darf nicht dazugehören“.

Im Januar 1928 ist Tucholsky in Berlin und lebt bei Lisa Matthias, Er leidet an chronischen Reizungen im Hals, in der Nase und in den Nebenhöhlen, ein Dr. Friedmann soll ihn untersuchen. Der rät zu einem Aufenthalt im Süden, und tatsächlich fährt Tucholsky im Februar an die Riviera. Zurück in Paris trifft er sich mit Ernst Rowohlt und am 24. März 1928 kommt es zum Verlagsver­trag über ein neues Buch. Es wird, nicht ohne Anspielung auf Lisa Matthias, „Das Lächeln der Mona Lisa“ heißen und erscheint im Dezember 1928 während er sich bei Lisa Matthias im Tessin aufhält.

Das Verhältnis zu Mary ist mit der Zeit erheblich abge­kühlt, bereits Anfang 1928, nachdem er mal wieder aus Paris nach Berlin entflohen war, schreibt er: „Was ist der Nagel jeder Ehe? Zu langes Zusammensein und zu große Nähe“ und daher wird dieses Jahr ein Jahr der großen Ferne. Und auch bei Mary kommt die Einsicht „Es geht nicht mehr“. Von Lisa Matthias weiß sie nichts, nichts genaues, aber Ahnungen, In ihr Tagebuch schreibt sie: „Es liegt offenbar nicht nur eine Grenze zwischen uns, sondern ein ganzes Weltall“. Sie höre „ab und zu seine Worte, „aber Nebel liegt vor meinen Augen und Ohren. Ich habe nicht mehr die Kraft, stark und inbrünstig zu wünschen“.

K. T. und Rudolf Nelson Quelle: Tucholsky, ein deutsches Leben von Rolf Hosfeld

Am 20. November 1928 verlässt Mary Tucholsky. Mit einer Bahnfahrkarte in der Tasche fährt sie nach Berlin. Zurück bleibt ein „kurzer, sichtlich mit äußerster Anstrengung geschriebener Abschiedsbrief, der alles sagt, was es noch zu sagen gibt. In einem Zustand der momentanen Betäubung weigert er sich zunächst, ihn zu lesen. Doch seit der Minute, wo er ihn zum ersten Mal in der Hand hält, wird er ihn bis zu seinem Tod stets sorgfältig in seiner Brieftasche aufbewahren. Zu dieser Art von tragischer Nähe ist er dann doch fähig, und letztlich nur dazu“, schreibt Rolf Hosfeld. Und weiter; „Lieber Nungo“, so Marys Begründung ihres nicht leicht, aber mit souverän überlegter Selbstbeherrschung gefällten Entschlusses, „immer wieder setzt sich einer seit elf Jahren in den Zug und fährt fort, und immer wieder blutet es von Neuem. Ist sein Beuteltier, ist der Pygmalion, hat erzeugt und reißt sich jetzt los mit ungesäumten Ohren, geht fort auf zit­ternden Beinen und hat Angst vor dem Leben und vor frem­den Menschen und dem Alleinsein. Aber es war zu groß u. zu schön als es anfing, um es hässlich enden zu lassen. Kommt, wenn er braucht und ruft — ist der rote Faden. Seine Meli.“ In ein paar Tagen wird sie dreißig Jahre alt werden. Zu ihrem Geburtstag schickt Tucholsky ihr ein kurzes Telegramm nach Berlin. „On verra“ – man wird sehen.

Auch 1929 bereitet ihm sein Gesundheitszustand erneut Probleme, er klagt über ständige Kopfschmerzen. Anfang Juni fährt er nach Dresden, um sich im Sanatorium am Königspark bis Mitte Juli wegen Depressionen und seiner Kopfschmerzen behandeln zu lassen.

Schweden

Fischerstelle Kivik – gemalt von Carl Flodman

Am 25. Juli 1929 ist er in Kivik, einem kleinen Fischerdorf nördlich von Ystad. Wikipedia schreibt:

„… Kivik ist ein Ort in der schwedischen Gemeinde Simrishamn. Er liegt in der südschwedischen Provinz Skåne län und der historischen Provinz Schonen, direkt an der Ostsee. (…) Schonen ist eine historische Provinz im Süden Schwedens. Schonen gehörte bis ins 17. Jahrhundert zu Dänemark.

„Manchmal, wenn ich der Ostsee den Rücken wende, der alten Frau, sehe ich in das Land Schonen hinein, die Ostsee plätschert, ich guck gar nicht hin. Denn wir sind verheiratet, seit … zig Jahren“, meint er.

Das Lächeln der Mona Lisa, in Schweden begonnen und Georges Courteline gewidmet, wird ein sehr politisches Buch.

Georges Courteline 1921 Quelle: Wiokipedia

Georges Courteline, eigentlich Georges Moineau (geboren am 25. Juni 1858 in Tours; gestorben am 25. Juni 1929 in Paris), war ein französischer Romancier und Dramatiker. In seinen Satiren karikierte er Militär und Beamtentum, indem er die alltäglichen Absurditäten dieser Lebenswelten schilderte. Und deshalb ist Tucholskys Widmung zu verstehen, denn auch die „Mona Lisa“ nimmt diese „Absur­ditäten“ aufs Korn. „Eine Revue durch die Welt der deutschen Unter­tanenmentalität“, schreibt Rolf Hosfeld und er meint, „Die Sammlung erhält am Ende „den schönsten Umschlag der Welt“. Und zwar von Ragnvald Blix.

Ragnvald Blix (geb. am 12. September 1882 in Oslo; gestorben am 2. Mai 1958 in Kopenhagen) war ein norwegischer Karikaturist, der unter anderem auch für den „Simplicissimus“ arbeite (466 Zeichnungen).

Die Erstauflage im Dezember 1928 läßt Rowohlt mit 10 000 Exemplaren andrucken. Die Resonanz ist überaus positiv, z.B. der Schriftsteller Max Herr­mann-Neiße meint, es bleibe ein in Deutschland seltener Fall, dass ein Publizist amüsant und radikal zugleich sein könne, und Richard Huelsenbeck attestiert Tucholsky, dem großen Ent­schleierer des Alltags, das beste Deutsch, das er kenne.

Der so Gelobte ist im Dezember wieder in Paris und er und Lisa Matthias treffen unter anderem, die Schriftstellerin und Journalistin und Ciaire Goll und den Dichter Ivan Goll. Den Jahreswechsel verbringt man in Lugano und Tucholsky kehrt nach Paris zurück.

Die folgenden Monate verbringt er lt. Rolf Hosfeld mit dauernden Reisen:

„… Mitte März ist Tucholsky nach Zwischenaufenthalten in Basel und Hamburg, wo er am 12. und 13. Vorträge hielt, für zwei Wochen in Berlin. „Seit fünf Jahren wohne ich in Paris“, hatte er kurz zuvor geschrieben, „aba wenn’ck mir ma richtich amüsüren will, denn fahr’ck nach Berlin.“ Am 17. März tritt er dort im Bechstein-Saal in der Linkstraße am Potsdamer Bahnhof auf. Angekündigt ist eine Lesung aus eigenen Wer­ken, und die Veranstaltung ist vollständig ausverkauft. Auch Mary, die inzwischen als Prokuristin einer Lithografischen Anstalt arbeitet, ist anwesend. Das Programm führt ihn in den nächsten Tagen nach Frankfurt, Köln und Mannheim, findet hervorragende Kritiken und endet am 24. März mit einer gro­ßen Matinee im Berliner „Theater am Nollendorfplatz“. „Die Tour­nee war gut, überall bummvoll“.

K. T. und Lisa Matthias Quelle: Tucholsky, ein deutsches Leben von Rolf Hosfeld

Es ist der 5. April 1929, als Lisa Matthias und Kurt Tu­cholsky von Travemünde aus die Fähre nach Trelleborg besteigen und von dort zu­nächst nach Stockholm reisen, um In der dritten Aprilwoche dann in Mariefred am Mälarsee anzukommen. In dem Weiler Läggesta am westli­chen Ufer des Mälarsees findet Tucholsky ein kleines, recht einfaches Sommerhaus, um dort bis Anfang Oktober zu wohnen und zu arbeiten, denn Lisa Matthias fährt Anfang Mai nach Berlin zurück.

Unterbrochen wird diese „schwedische Idylle“, als Tucholsky über den so genannten „Blutmai“ in Berlin unterrichtet wird. Trotz eines generelles Verbot aller Ver­sammlungen und Demonstrationen unter freiem Himmel vom Dezember 1928 rief die KPD zu Massendemonstrationen im Mai 1929 auf. Das Ergebnis in den ersten Maitagen bei Zusammenstößen mit der Polizei: dreißig zivile Tote, darunter alte Kriegsversehrte und junge Frauen, 194 Verletzte und 1228 Verhaftungen. Verantwortlich dafür der sozialdemokratische Polizeipräsi­denten Zörgiebel, der der KPD einen Bürgerkrieg oder Umsturzversuch unterstellte. Im Gegensatz zur Polizei, die mit Maschinengewehren, spanischen Rei­tern und Panzerwagen ausgerüstet erschien, waren die Demonstranten unbewaffnet. Telegramme aus Moskau heizten die Spannungen an.

Karl Friedrich Zörgiebel 1948 (links, mit Hut) auf der Rittersturz-Konferenz, rechts: Hinrich Wilhelm Kopf Quelle: Von Bundesarchiv, B 145 Bild-F046120-0014 / Vollrath / CC-BY-SA 3.0, CC BY-SA 3.0 de, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=5456702

Tucholsky schreibt: „An dem Berliner Blutvergießen sind nicht nur die Kom­munisten schuld, doch deren Schuld steht außer Zweifel. Die blutdürstigen Telegramme aus Moskau zeugten von einer Realitätsblindheit sondergleichen, an heftigem Größenwahn noch die Kirche übertreffend – und das ist traurig genug.“ Die Empörung aber der Berliner Kommunisten über das Verbot hält er für gerechtfertigt, die Bewaffnung der Polizei für ungerechtfertigt.

„Bedauerlicherweise muss man ange­sichts dessen zu dem Schluss kommen, dass unter dem Kaiser die Achtung vor dem Menschenleben offenbar größer war als unter dem gegenwärtigen sozialdemokratischen Polizeipräsi­denten Zörgiebel. Wieso diese anhaltende Kriegsverwilde­rung?, wird er in der „Weltbühne“ fragen. Es sei die Sorge um die Zivilgesellschaft, nicht Kommunisten­freundschaft, die aus solchen Sätzen spricht, meint Rolf Hosfeld.

„Deutschland, Deutschland über alles

Wikipedia schreibt:

„… ist ein Buch von Kurt Tucholsky und John Heartfield, das zuerst 1929 im kommunistischen Neuen Deutschen Verlag in Berlin erschien. Das gesellschaftskritische Werk, das rund hundert Foto-Text-Montagen enthält, zählt zu den bekannteren Werken Tucholskys. Es war eine der umstrittensten literarischen Publikationen der Weimarer Republik. Bis heute wurden mehr als 100.000 Exemplare gedruckt.

Und bei Rolf Hosfeld ist über die Motivation Tucholskys zu lesen:

„… Schon 1912 hatte er sich für Fotos aus der Mark Brandenburg mit Schloss Rheins­berg begeistern können, und 1925 entdeckte er die Möglich­keiten der Tendenzfotografie. „Die Wirkung ist unauslöschlich und durch keinen Leitartikel der Welt zu übertreffen. Eine knappe Zeile Unterschrift – und das einfachste Publikum ist gefangen.“ Was man gar mit Gegenüberstellungen und Klebe-Bildern von Fotografien machen könne, „braucht nicht gesagt zu werden, seit John Heartfield gezeigt hat, wie man das auf Bucheinbänden macht.“ Und nun versuche er, gemein­sam mit Heartfield, diesem „kleinen Weltwunder“ eine „neue Technik der Bildunterschrift“ zu entwickeln.“ Die me­dial bedingte Gefahr der Vereinfachung und Manipulation in­begriffen.“

Der Autor Markus Scharrer in einer Buchbesprechung:

„… In „Deutschland, Deutschland über alles“ versucht Tucholsky die hehren Parolen der politischen Gegner mit Bildern und Texten zu brechen. Dabei unterlegt er mit Hilfe John Heartfields scheinbar alltägliche Bilder von Menschen aller Schichten mit seinen kritischen Texten. (…) Inhaltlich setzt sich Tucholsky mit den finanziellen und psychologischen Auswirkungen auf die Opfer des Ersten Weltkrieges sowie deren Hinterbliebenen auseinander. Gleichzeitig warnt er die Gesellschaft vor den Folgen des immer noch latenten Militarismus, des Revanchismus und der Geschichtsfälschung.

Ein weiteres Ziel der Kritik von Tucholsky ist die Justiz, welche unverhältnismäßig hohe Strafen für linke Gewalttäter aussprach, während rechtsgerichtete Täter oft ungeschoren für Morde an Politikern und linken Aktivisten davonkamen (…) Auch die Stellung der Kirche als Hort konservativem bis revanchistischen Gedankenguts wird in mehreren Beispielen kritisch hinterfragt.
Am Ende seines Werkes plädiert Tucholsky für eine Heimatverbundenheit jenseits von Politik und Staat, jenseits von monströsen Denkmälern und Schlössern, jenseits von nationalistischem Pathos, jenseits von Parolen und Geschichtsfälschung seitens der Schulen. Es solle Deutschland eine Heimat sein, in der sich Pazifisten und Linke ebenso wohlfühlen können wie Konservative.“

„Deutschland, Deutschland über alles“ erscheint am 6, August 1929 in einer Erstauflage von 15 000, die bereits nach weni­gen Tagen ausverkauft ist. Mitte 1930 erreicht die dritte Auflage 50000 Exemplare.

Am 22. Januar 1930 verlegt Tucholsky Wohnsitz nach Schweden und über den Umweg Stockholm zieht er Anfang Februar in die Villa Nedsjölund in Hindås.

Villa Nedsjölund in Hindas Quelle: Tucholsky, ein deutsches Leben von Rolf Hosfeld

„Im Frühjahr 1930 entwirft Tucholsky“ – so schreibt Rolf Hosfeld – „das folgende Szenario. Da liegt etwas in der Luft in Deutschland, und was es genau ist, weiß niemand so recht. Wahrscheinlich nicht der große fa­schistische Coup oder Putsch, denn der wäre nach einem hal­ben Tag schon wieder beendet. Viel wahrscheinlicher sei, dass „unter dem Stoß und dem Vormarsch der von der Regierung gänzlich ungehinderten Hitlergarden“ plötzlich eine „neue Ära“ ausbrechen werde. In der Innenpolitik werde es spürbare Personalveränderungen geben, selbst die gemäßigtsten Sozial­demokraten würden ihre Ämter verlieren, und nach dem Tod Hindenburgs käme es dann zu einer Verfassungsänderung. Deutschland würde auf mittlere Sicht mit Italien zusam­mengehen und dabei selbst Südtirol und den ganzen Anschluss vergessen, um freie Hand für eine Revanche gegen Frankreich zu haben. „Sie wollen den Krieg. Mehr: sie wollen die Auslöschung Frankreichs und die Unterjochung Mitteleuropas.“ Kaum jemand hat die Ereignisse der kommenden Jahre so klar vorausgesehen wie Kurt Tucholsky.“

Und ebenfalls im Frühjahr 1930 befinden sich die Nationalsozialisten im Aufwind. Regionale Wahlen in Baden, Thüringen, Lübeck und bei den preußischen Provinziallandtagen sowie bei den Kommunalwahlen in Hessen und Berlin, überall können sie beträchtliche Stimmengewinne erzielen.

„Ein alter General ist uns geblieben, als letzte Hoffnung dieser Republik“, er meint Hindenburg, als er diese Zeilen in der „Weltbühne“ schreibt. „Mussolini hat seinen kleinen König; die hier haben ihren breiten Hindenburg, der Reichstag wird so gut wie nach Hause ge­schickt.“

Weihnachten 1930 in der Villa Nedsjölund und Tucholsky arbeitet an einem neuen Manuskript, nachdem er am 10. Dezember mit Rowohlt einen Vertrag geschlossen hatte. Sein Titel: „Schloss Gripsholm“. Mit dem Satz „»Für IA 47 407“ widmet er „Schloss Gripsholm“ Lisa Matthias und diese Widmung ist ihr Autokennzeichen. Ab Ende März 1931 wird „Schloss Gripsholm“ im „Berliner Tageblatt“ in Fortsetzung vorabgedruckt. Rowohlt verkauft im ersten Jahr fünfzigtau­send Exemplare.

Schloss Gripsholm Quelle: Von Hofres, CC BY-SA 3.0 de, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=11385349

Rolf Hosfeld schreibt:

„… Der Vorschlag stammt von ihr. Er will, dass das Buch eine Hommage an sie wird, aber sie will nicht na­mentlich erwähnt werden. Sie möchte in bedachter Rücksicht auf den für sie unvermeidlichen Bruch mit ihm anonym blei­ben. Bis zum 11. Februar 1931 hält sie sich noch in der Villa Nedsjölund auf, hilft ihm beim Zusammenstellen von Texten für den mit Rowohlt verabredeten Sammelband „Lerne lachen ohne zu weinen“, der im Oktober erscheinen soll, und fährt dann zurück nach Berlin.

Der Abschied ist das vorläufige Ende von etwas. Noch ein­mal trifft sie ihn Anfang April bei der Beerdigung seines plötz­lich verstorbenen Freundes Jakopp in Hamburg. Er hat sie dringlich gebeten zu kommen, denn er kann in diesen Tagen unmöglich alleine sein. (…) Ende des Monats setzt Lisa Matthias dann einen Brief auf, in dem sie ihm vorschlägt, jeden persön­lichen Kontakt in Zukunft kategorisch zu unterlassen. (…) Sie wollte immer mehr, als er ihr bieten konnte. Und im Grunde hatte er sich ja schon von ihr verabschiedet, als er sich dazu entschloss, nach Schweden zu ziehen. Tucholsky lädt sie noch einmal nach Paris ein. Sie lehnt ab. Zufällig treffen sie sich im Sommer kurz in London. Dann verschwindet sie endgültig aus seinem Leben.“

Nach Klagen über „eine Magensache“ und Nasenbeschwerden reist er am 19. Juli 1930 nach Luzern, um dort im Kurhaus Sonnmatt Linderung zu finden und nach einer Tessin-Reise verbringt er den Sommer in Berlin, trotz allem immer noch sein Berlin.Oktober 1930 – Tucholsky sucht und findet Gertrude Meyer, einer schwedischen Jüdin mit deutscher Mutter – nachdem er in Schweden immer noch „sprachlos“ ist – Sie wird seine Sekretärin, Schwedischlehrerin und Dolmetscherin und kommt zweimal pro Woche zu ihm ins Haus. Bald entsteht eine engere Beziehung. Nach seinem Selbstmord wird Gertrude Meyer ihn und einen Abschiedsbrief in seinem Haus finden.Nachdem Tucholsky von der Machtübernahme durch die „Rechte“ überzeugt ist, trifft er sich immer wieder mit Carl von Ossietzky. Unter anderem auch in Hindås, um mit ihm über einen Ausweich-Ort für die „Weltbühne“ zu beraten, alles vorweggenommen. Und am 16./17. März 1931 findet ein Treffen der beiden in Lübeck statt – strategische Überlegungen über die zukünftige Ausrichtung des „Blättchens“. Kaspar Hauser textet in der „Weltbühne“ am 7. Oktober: „Herr Wendriner steht unter einer Diktatur“.

Wichtiges Thema in Lübeck ist aber auch der bevorstehende Prozess wegen angeblichen Landesverrats gegen Ossietzky, sowie den Autor des Artikels „Windiges aus der Luffahrt“ vom 12. März 1929 in der „Weltbühne“ Heinz Jäger und hinter diesem Pseudonym verbirgt sich der sozialdemokratische Journalist Walter Kreiser. Über den Prozess und seine Hintergründe will ich im Portrait Carl von Ossietzky berichten.

Mai 1931 Reise über die Schweiz nach Paris, in Juni ist er in London und ab 3. Juli bis 03. Oktober 1931 hat er ein Haus in Kent gemietet, zusammen mit Gertrude Meyer.

Harold Nicolson (1913) Quelle: Wikipedia

Rolf Hosfeld schreibt:

„… Kaum angekom­men, lädt ihn der Kritiker und Labour-Politiker Harold Nicolson, verheiratet mit der Schriftstellerin Vita Sackville-West, auf den Landsitz Sissinghurst Castle in Kent zu einer seiner übli­chen Geselligkeiten in der Tradition des Bloomsbury-Kreises ein.

Sissinghurst Castle Quelle: Es wird angenommen, dass es sich um ein eigenes Werk handelt (basierend auf den Rechteinhaber-Angaben)., CC BY-SA 3.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=1310250

Man spricht, laut Nicolsons Tagebuch, über Deutschland, über Brüning und Hitler, und Tucholsky äußert die Ver­mutung, dass Brüning die Hitlerbewegung funktionalisieren werde, um in Deutschland eine Art Wirtschaftdiktatur zu er­richten. In London trifft er den Schriftsteller und Journalisten Mark Neven DuMont. Graf Bernstorff von der deutschen Bot­schaft ist bei dieser Begegnung im Carlton mit von der Partie. Am Nachbartisch sitzt Lord Beaverbrook, und neben ihm der von den Bolschewisten verjagte Alexander Kerenski. Auch Friedrich Sieburg, den er aus seiner Pariser Zeit kennt, begeg­net er in diesen Tagen. Für die „Voss“ schreibt er kleine Feuil­letons über das Londoner Leben.“

Ein Paukenschlag und für mich ein „Jahrhundertartikel“ – am 4. August erscheint in der „Weltbühne“ Ignaz Wrobels Artikel „Der bewachte Kriegsschauplatz“ und darin schreibt er „Soldaten sind Mörder.“ „Diese „Glosse“ wird über Jahrzehnte bis in die heutige Bundesrepublik hinein einer der wichtigsten politischen Artikel sein“, habe ich geschrieben.

In der gleichen Nummer der „Weltbühne“ wird eine Exhortatio, also eine Ermahnung oder Mahnung des Papstes Benedikts XV. veröffentlicht, die der Vatikan am 28. Juli 1915 herausgegeben hatte, allerdings in Deutschland durch die Bischöfe in einer verfälschten und abgemilderten Form. Der Originaltitel: „Allorché fummo chiamati“. Der Krieg ist eine grauenhafte Schlächterei!

Wie nicht anders zu erwarten, die Reichswehr erhebt Anklage gegen die „Weltbühne“ und gegen Ossietzky, da Tucholsky in Schweden unerreichbar ist und die Klage wird abgewiesen. Nachzulesen in meinem Artikel: „Soldaten sind Mörder“.

„Anfang Oktober verlässt Tucholsky England, liegt danach für einige Zeit mit einer „prachtvollen Mandelentzündung“ in Paris im Bett, unterzieht sich dort einer Operation und ist am 2. November wieder in Schweden“, so Rolf Hosfeld.

Unter Ausschluss der Öffentlichkeit findet am 17. und 19. November 1931 der so genannte „Weltbühne-Prozess“ statt. Rolf Hosfeld schreibt: „Os­sietzky und Kreiser werden zu jeweils eineinhalb Jahren Ge­fängnis verurteilt, nicht etwa als politische Uberzeugungstäter, sondern als gewöhnliche Kriminelle. Dieser Prozess war nach den Worten des Berliner Juristen und späteren Mitanklägers im Nürnberger Kriegsverbrecherprozess Robert Kempner voll­kommen illegal.“

Weltbühneprozess Nov. 1931 Quelle: Tucholsky, ein deutsches Leben von Rolf Hosfeld

Tucholskys Kommentar zum Urteil; Er selbst wäre an seiner Stelle (Ossietzky) geflohen. „Doch dieses Pack hat nun die Gelegenheit genutzt. Ossietzky sitzt auch für seine „große Schnauze“ mit. „Sie haben sich gerächt. Er kann froh sein, wenn er vielleicht begnadigt wird. „Diese Säue.“ Nach reichlicher Überlegung wird er nicht zum Prozess nach Berlin reisen. „Die Strafe für Oss wird keineswegs schärfer, wenn ich nicht komme“. Was ihn selbst betrifft, könne es aber durchaus sein, dass er von Nazibanden verprügelt werde, wenn er erst einmal in Berlin sei. Auch gegen Schüsse sei man wehr­los. Zudem bestehe die Gefahr, dass man ihn „bis zur Abwicklung des ganzen Verfahrens nicht mehr aus Deutschland her­auslassen“ und ihm den Pass abnehmen werde“, schreibt Rolf Hoslfeld.

März 1932 – erster Wahlgang der Reichspräsidentenwahl – zwei Monate, bevor Ossietzky hinter Gittern sitzt und Kreiser sich nach Frankreich abgesetzt hat. Tucholsky und Os­sietzky werden gegen Hinden­burg und für Ernst Thälmann votieren. Heinrich Mann, stimmt für Hindenburg; aus den gleichen Vernunftgründen wie die meisten verbliebenen De­mokraten im Land, man will einen Sieg Adolf Hitlers verhindern. Tucholsky ist anderer Meinung, er hält Hindenburg gegenüber Hitler nicht für das kleinere Übel.

Der 2. Wahlgang findet am 10. April 1932 statt.

Aus Wikipedia:

„… Die Wahl endete mit einem Sieg Hindenburgs, der 53,1 % der Stimmen erhielt. Auf Hitler entfielen 36,8 % und auf Thälmann 10,2 %. Die Wahlbeteiligung beim zweiten Wahlgang lag mit 83,5 % etwas niedriger als beim ersten Durchgang.“

Und nochmal Rolf Hosfeld, er schreibt:

„… Am 22. Dezember 1932 wird Carl von Ossietzky aufgrund einer Amnestie aus dem Gefängnis entlassen. Sollte er dem­nächst freikommen, schreibt er vier Tage vorher an Tucholsky, müsse man sich unbedingt bald treffen, in Berlin oder anderswo. Doch die Ereignisse der nächsten Wochen werden diese Pläne durchkreuzen. Am 30. Januar 1933 ernennt Hin­denburg Hitler zum Reichskanzler. Carl von Ossietzky wird am Morgen des 28. Februar um vier Uhr früh in der Bayeri­schen Straße 12 von zwei Zivilbeamten erneut verhaftet. Ein gedungener Denunziant sagt aus, er habe ihn während des Reichstagsbrandes am Abend zuvor in einer kommunistischen Kneipe am Alexanderplatz bei konspirativen Gesprächen be­lauscht. Zielgerichtet wird seit diesem Tag die hemmungslose Verfolgung aller Regimegegner im ganzen Reich verschärft. „Nun können wir aufs Ganze gehen“, frohlockt Joseph Goeb­bels noch am Abend der Brandstiftung.“

Als Ossietzky aus dem Gefängnis entlassen wird – im Sommer 1932 – hält sich Tucholsky in Zürich auf. Rolf Hosfeld meint, er lernt dort die letzte wichtige Frau in seinem Leben kennen und das ist die Ärztin Hedwig Müller, die er Nuuna nennt.

Walter Hasenclever (1917) Quelle: Wikipedia

Rastlos ist er auch in diesem Jahr, im Frühjahr einige Wochen bei Walter Hasencle­ver in Le Lavandou an der Cote d’Azur, im Juni Zürich und vom Arzt Dr. Katzenstein ins Kurhaus Tarasp im Unterengadin ge­schickt. Letztendlich landet er bei dem Rechtsanwalt und Antiquar Wladimir Rosenbaum und dessen Frau Aline Valangin, Schriftstellerin, Pianistin und Psychoanaly­tikerin in Como-logno im Valle Onsernone. Das erste Treffen Im August mit Hedwig Müller kommt bei einem gemein­samen Essen in Locarno mit den Rosenbaums zustande.

Wladimir Rosenbaum Quelle: http://www.dradio.de/dlf/sendungen/langenacht_alt/001230.html

„Hedwig Müller führte als Ärztin für innere Medizin und Kin­derkrankheiten während der zwanziger Jahre eine Sozialpraxis und engagiert sich zu der Zeit, als Tucholsky sie kennenlernt, in einer Kampfgruppe gegen geistigen Terror, die sich mit dem wachsenden Einfluss rechtsradikaler Studentenverbände aus­einandersetzt. Sie verkörpert eine gewisse Mischung aus Intellektualität, Engagement und Eros, die Tucholsky sofort in Bann zieht. Wie umgekehrt er sie durch seinen Witz und seine Gedankenschärfe herausfordert. Drei Jahre jünger als er, macht die dunkelhaarige Hedwig Müller einen aparten, selbstbewussten und bestimmenden, fast durchdringenden Eindruck. Und sie hat die seltene Qualität, Mutter, Geliebte und intellektuelle Partnerin zugleich zu sein“, beschreibt Rolf Hosfeld die Ärztin.

Hedwig Müller Quelle: Tucholsky, ein deutsches Leben von Rolf Hosfeld

Tucholsky zieht zu ihr in die Züricher Florhofgasse 1 und bleibt dort bis zum September 1933 und dort erfährt Tucholsky auch von Hitlers Machtergreifung und von Ossietzkys erneuter Festnahme. Am Morgen nach dem Reichstagsbrand stehen um vier Uhr zwei Herren vor der Tür – Gestapo. „Dieser ausgezeichnete Stilist, dieser in Zivilcourage unübertroffene Mann hat eine merkwür­dig lethargische Art, die ich nicht verstanden habe. Es ist sehr schade um Ossietzky, denn dieses Opfer ist ja völlig sinnlos“. Und weiter: „In zwei, drei Wochen werde man ihn vermutlich wieder entlassen, „wenn nicht Konzentrationslager gemacht werden“. Tatsächlich wird Carl von Ossietzky aber die nächsten drei Jahre in solchen Lagern verbringen.

An Wal­ter Hasenclever schreibt er: „Unsere Sache hat verloren. Dann hat man als anständiger Mann abzutreten. Lieber Freund, uns haben sie falsch geboren. Übersteht Hitler den nächsten Winter, dann werden wir mit ihm begraben.“ Und diese Zeilen werden geschrieben am 3. Mai, sieben Tage nach den Bücherverbrennungen im gesamten Reich am 10. Mai 1933. „Aktion wider den undeutschen Geist“ nannten die Nazis diese Barbarei und von Heinrich Heine stammt lange vor dieser Aktion der Satz: „Dies war ein Vorspiel nur, dort, wo man Bücher verbrennt, verbrennt man auch am Ende Menschen“. Er sollte Recht behalten, Die NS-Bücherverbrennung war nur das Vorspiel zum Mord an Europas Juden.

Bücherverbrennung auf dem Opernplatz in Berlin am 10. Mai 1933 Quelle: Von Bundesarchiv, Bild 102-14597 / Georg Pahl / CC-BY-SA 3.0, CC BY-SA 3.0 de, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=5415527

Natürlich war auch Tucholsky betroffen: „Gegen Frechheit und Anmaßung, für Achtung und Ehrfurcht vor dem unsterblichen Volksgeist! Verschlinge, Flamme, auch die Schriften der Tucholsky und Ossietzky!“. „Unsere Bücher sind also verbrannt und der Umfall der verschont gebliebenen Geistigen ist mehr als kläg­lich. Beinahe alle werden sie umfallen, teils, weil man sie mieten kann, teils weil sie es nicht ertragen können, außerhalb der Sa­lons zu stehen. Der Rest? Noch am Laternenpfahl zappelnd sind alle stinknational. Und die Kommunisten? Massenhaft treten sie in die SA ein.

Sein Bruch mit der „Linken“ ist endgültig. „Das jetzige Re­gime sieht stabil aus. Und wenn es nicht hält: Wer soll es dann ablösen? Diese Linke da? Die Kommunisten etwa, die in den letzten Jahren von vorn bis hinten nichts als dummes Zeug« gemacht haben?“ Er wolle mit „diesen Leuten“ niemals wieder etwas zu tun zu haben. „Das, was man einmal deutsche Linke genannt hat, wird nie mehr wiederkommen. Mit Recht nicht. Denn fast alle so genannten Linken gehen nach, wie alte Uhren nachgehen. Nichts stimmt mehr.“

Bereits im Herbst 1932 machten sich Tucholsky und Ossietzky Gedanken über eine Emigration der „Weltbühne“, evtl. nach Dänemark, aber entschieden hatte man sich für Österreich. Und diese Emigration ist im Kapitel der „Weltbühne“ bereits beschrieben. Die erste Ausgabe der „Wiener Weltbühne“ erscheint am 29. 9. 1932 mit einem Leitartikel von Tucholsky und sein letz­ter Beitrag in der Berliner „Weltbühne“ erscheint am 8. November 1932, der Titel: „Worauf man in Europa stolz ist“, es sind kurze Schnipsel über nationale Idiotien, kein wirklicher Abschied.

Am 13. März 1933 ist die Geschichte der „Weltbühne“ beendet, Verlagseigentum und das Privateigentum von Edith Jacobsohn werden konfisziert, die Redaktion in der Berliner Kantstraße 152 geschlossen und auch die Wiener „Weltbühne“ ist mit der letzten Ausgabe am 30. März 1933 Geschichte, darin enthalten ein erschütternder Artikel Egon Erwin Kischs über die Zu­stände in deutschen Gefängnissen und Konzentrationslagern. „Wenig später ist das Blatt, durch die Vermittlung Kischs in die demokratische Insel Prag umgezogen, dort als Exilorgan unter dem Namen „Die neue Weltbühne“ wieder aus der Taufe gehoben, schreibt Rolf Hosfeld, „Der Mann mit den 5 PS, der das Profil dieser außergewöhnlichen und einflussreichen Zeitschrift über Jahre erheblich mitgestaltet hatte, ist damit aber schon lange nicht mehr befasst.“

Kisch an Bord des britischen Passagierschiffs Strathaird auf der Reise nach Australien 1934 Quelle: Wikipedia

Mitte April 1933 schreibt er an Walter Hasenclever, er sie von der Bühne abgetreten und nun beginnt er, aufzuräumen. Treffen mit Ernst Rowohlt in Zürich. Auflösung aller Verlagsverträge wegen des Verbotes seiner Bücher, die Autorenrechte gehen an ihn zurück: Rowohlt habe sich sehr anständig verhalten, damals nicht selbstverständlich.

Im Juli wird Tucholsky die deutsche Staatsbürgerschaft aberkannt und als das Reichsinnenministerium am 16. August eine Liste unerwünschter „Volksverräter“ zusammengestellt, steht Tucholsky unter der Nummer 28 an prominenter Stelle. Gleichzeitig wird sein Vermögen beschlagnahmt.

Zum „Aufräumen“ gehört dann auch die Scheidung von Mary am 21. August 1933. „Die Sache ist selbstver­ständlich in aller Freundschaft vor sich gegangen. Sie ist ein tadelloser und anständiger Mensch, ich tue da mein Möglichstes.“ Schnell ging diese Scheidung über die Bühne um sie und die Familie zu schützen, sie befürchteten Repressalien auch gegen Angehörige.

Am 24. September 1933 ist Tucholsky nach über einem Jahr Ab­wesenheit wieder in Schweden, Rolf Hosfeld schreibt:

„… Während der Rückreise hat er einige Tage in Paris Station gemacht, und die Stadt bezaubert ihn wie damals, als er zum ersten Mal hier war. Er sieht nur wenig Leute, „zum Glück“, trifft sich aber mit Hellmut von Gerlach und besucht mit ihm antifaschistische Versammlungen. Gerlach, wie er selbst von den Nazis für vogelfrei erklärt, ist unermüdlich. Der tapfere Mann, meint Tucholsky, hat zweifel­los Mut, denn jederzeit könnte ihn bei einem öffentlichen Auf­tritt ein Attentat treffen, aber „von dieser ganzen Tätigkeit der Antihitlerleute“ verspricht er sich dennoch gar nichts. Das Braunbuch über den Reichstagsbrand? Einige Indizien gegen die Nazis, aber kein einziger juristisch stichhaltiger Beweis, also wertlos“.

Und weiter:

„… Was in Tucholskys Augen wirklich noch Sinn macht, sind überschaubare handfeste Einzelaktivitäten. In den ersten Mo­naten seiner Rückkehr nach Hindas schreibt er einen Brief an Lady Margot Asquith, die Frau des ehemaligen liberalen Pre­mierministers Herbert Asquith. Die erfolgreiche Kampagne, die in England für den wegen Reichstagsbrandstiftung zu Unrecht angeklagten und schließlich freigesprochenen Kom­munisten Georgi Dimitroff geführt wurde, veranlasst ihn nun zu dem Versuch, die gleichen Kreise auch für das Schicksal Carl von Ossietzkys zu interessieren. Ein ähnliches Anliegen hat er bereits Ende Juli 1933 an den Schweizer Theologen Leonhard Ragaz gerichtet, der ihm bei den Kontakten nach England behilflich war.

Leonhard Ragaz, 1914 Quelle: Wikipedia

Henry Wickham Steed, der ehe­malige Chefredakteur der Londoner „Times“, berichtet auf An­regung Ernst Tollers am 31. Januar 1934 der britischen Öffent­lichkeit in seinem ehemaligen Blatt zum ersten Mal über „The case of Carl von Ossietzky“. Steed wird sich wiederholt für die Freilassung Ossietzkys einsetzen. Auch er erhält von Tucholsky ein Bittschreiben. Die Sache Ossietzky wird bis an sein Le­bensende sein letztes politisches Engagement bleiben.“

Henry Wickham Steed by Charles Haslewood Shannon Quelle: Wikipedia

Weihnachten 1933 Besuch von Hedwig Müller in Hindas, die über seine Rückkehr nach Schweden enttäuscht ist. Zu dritt feiern sie die Weihnachtstage und den Jahreswechsel, denn seit Oktober ist ein Kater namens Iwan sein „Hausgenosse“. Und wie soll es weitergehen? „Ich verdiene nie mehr Geld, da ist es ein biss­chen schwer. Vielleicht könnten wir unseren werten Lehmsabend hier beschließen“. Wunderbare Tage, die aber nicht allzulange dauern. „Ich bedanke mich noch einmal schönstens für alles, und gebe Dir das Brot der Liebe“, schreibt er ihr, als sie wieder nach Zürich zurückkehrt. Und, „es ist ein Jammer, dass wir nicht ständig aneinanderkläben, bis es uns graust“. Er ist wieder allein, „Iwan und ich.“

„In den letzten beiden Jahren seines Lebens kreisen seine Gedanken um drei Hauptthemen: das Scheitern der Republik und seine Gesundheit. Und die „Ossietzky-Kampagne. Anfang Mai 1934 befindet er sich in Paris auf der Durch­reise zu einem Kuraufenthalt in Challes-les-Eaux nördlich von Grenoble, so Rolf Hosfeld.

Das Schicksal des inhaftierten Carl von Ossietzky beschäftigt aber nicht mur Tucholsky, Mitte April fordert Georg Bernhard – Ullsteins ehema­liger Frankreichkorrespondent – im „Pariser Tageblatt“, Ossietzky den Friedensnobelpreis zu verleihen.

Georg Bernhard (1928) Quelle: Von Bundesarchiv, Bild 102-06068 / CC-BY-SA 3.0, CC BY-SA 3.0 de, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=5479785

Wenige Tage später, am 26, Mai kommt Unterstützung aus Strassburg, die dortige Sektion der „Deutschen Liga für Menschenrechte“ stellt einen offiziellen und begründeten Antrag an das Nobelpreiskomitee in Oslo. Mit der Verleihung 1934 wird es nichts und 1935 wird keiner vergeben.

Rolf Hosfeld schreibt: „Vom 20. Mai bis Mitte Juni 1934 unterzieht er sich einer Schwefelkur in den Savoyer Alpen (…) und wundert sich, dass ihm langsam das Geld ausgeht (…) und plötzlich sind auch die Geldsorgen verschwunden, weil unvermutet ein Lottoge­winn verbucht werden kann. Mit schwindender Kasse hat Tu­cholsky nämlich begonnen, regelmäßig zu spielen, oft mit Nuuna. Er sieht sie am 14. Juni in Zürich wieder, und sie verabreden einen gemeinsamen Sommerurlaub an der schwedi­schen Nordseeküste. Soll er sich in Zukunft bei einem kleinen Gutsbesitzer oder Bauern in Schweden zwei Zimmer mieten und ansonsten hauptsächlich in Zürich bleiben? So sehr ich zwischen 12 und halb eins auf die Uhr sehe, wo Du bleibst, schreibt er Nuuna, als er wieder in Hindas ist, so wenig wohl fühle ich mich in Zürich. Das Klima. In Wirklichkeit will er nicht von ihr abhängig sein.“

Eine „Riesenenttäuschung ist für ihn die Stellungnahme von Knut Hamsun zugunsten des III. Reiches, denn der ist die prominenteste Stimme des Aus­lands. Und das nächste Jahr? „Erlaube mir zum Schluss, Ihnen meine Pro­phezeiungen für das Jahr 1935 dahin zusammenzufassen“, schreibt er, „dass es ein gro­ßer Erfolg für die Nazis werden wird“.

Knut Hamsun, 1939 Quelle: Von Anders Beer Wilse – Knut Hamsun på Nørholm, juli 1939.Uploaded by kjetil_r, CC BY 2.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=9952522

Am 13. Januar 1935 Volksabstimmung an der Saar und über neunzig Prozent stimmen für einen Anschluss an das Reich, „und Knut Hamsun“, so Tucholsky, „den boches zur Saar gratuliert, und wie!“ „Nächstes Jahr, 1936, kommen dann die Olympischen Spiele in Berlin Ja, also wohin mit uns?“

Das größte „Sorgenkind“ aber ist und bleibt Ossietzky, „Wenn er es nur durchsteht! Sie tun alles, damit er es nicht durchsteht.“ Haft im April 1933 im Berliner Polizeigefängnis, Konzentra­tionslager Sonnenburg, Februar 1934 Verlegung in das KZ Esterwegen im Emsländer Moor, im Mai 1936 Verlegung in das Berliner Staatskrankenhaus der Polizei, wo eine schwere offene Lungentuberkulose fortgeschrittenen Zustands diagnostiziert wurde. Carl von Ossietzky starb am 04. Mai 1938 in Berlin an den Folgen der jahrelangen Misshandlungen.

Blick über die ehemalige Lagerstraße vom Haupttor aus Quelle: Von Agp – Eigenes Werk, CC BY 3.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=19019495

Gerade einmal Mitte vierzig hat er das Gefühl, „»alt geworden“ zu sein. Fünf Operationen im letzten Winter, immer wieder Depressionen und wer ist er eigentlich? Ein „aufgehörter Dichter? Schreiben? Litera­tur? Unvorstellbar, „dass es jemals nochmals fließt“. So verbringt er mit Gertrude Meyer die Monate zwischen Juli und September 1935 auf Gotland.

„Alles um ihn ist Verrat. Europa und seine diplomatisch ge­wundenen Verbeugungen vor Hitler“, so Hosfeld und Tucholsky? „Das sind Judasse ohne Silberlinge, oder, wie meine Freundin Lieschen das nennt: Umsonst geleckt.“

Und Hosfeld schreibt auch diese Sätze:

„… Anfang Oktober bestimmt er Mary zu seiner Universal­erbin. Ende November schreibt er einen letzten Brief an sie, den er nie zur Post bringt. Er will ihr zum Abschied die Hand geben und sie um Verzeihung bitten für das, was er ihr angetan hat Er liegt nachts wach im Bett und denkt an sie. Alles kommt wieder. Wie er verlassen im Parc Monceau auf einer Bank saß, als sie endgültig nach Berlin abreiste. Wie alles zwischen ihnen zu hoch angefangen hatte, so dass jede Berührung mit der Erde wie eine Entweihung erscheinen musste. Und doch. Er hat nur einmal in seinem Leben wirklich geliebt. Sie. „Es war wie Glas zwischen uns – ich war schuld.“ Hat er Angst? „Nicht vor dem Ende. Das ist mir gleichgültig.“

Der „Aufgehörte Deutsche“ Kurt Tucholsky wird am 21. Dezember 1935 gegen 18 Uhr bewusstlos in das Sahlgrensche Krankenhaus in Göteborg ein­geliefert. Seine an Walter Hasenclever geschriebene Zeilen werden wahr: „ „Daß unsere Welt in Deutschland zu existieren aufgehört hat, brauche ich Ihnen wohl nicht zu sagen. Und daher: Werde ich erst amal das Maul halten. Gegen einen Ozean pfeift man nicht an.“

Um 21 Uhr 55 stirbt Kurt Tucholsky. Die Diagnose: Überdosis Veronal, vermischt mit Alkohol und er hinterlässt nichts, nicht einmal einen Abschiedsbrief. „War es Selbstmord? Oder unvorsichtiger Tablettenmissbrauch, der durch zusätzlichen Alkohol seine tödliche Wirkung entfachte? Die Frage konnte nie endgültig geklärt werden“, schreibt Rolf Hosfeld und von ihm stammt auch der folgende Absatz:

„… Die Trauerfeier findet am 27. Dezember in Göteborg statt. Hedwig Müller löst gemeinsam mit Gertrude Meyer Anfang Februar 1936 das Haus in Hindas auf und fährt anschließend über Berlin, wo sie sich mit Mary trifft und ihr unter anderem Tucholskys letzten Brief an sie überreicht, zurück in die Schweiz.“

War sein Tod nun Selbstmord oder nicht? Wikipedia schreibt:

„… Es wurde lange als gesichert angenommen, dass Tucholsky Suizid begehen wollte – eine These, die 1993 von Tucholskys Biographen Michael Hepp jedoch angezweifelt wurde. Hepp fand Anhaltspunkte für eine versehentliche Überdosierung von Medikamenten, also eine unbeabsichtigte Selbsttötung.“

Gertrude Meyer veranlasste und finanzierte die Über­führung der Urne mit seiner Asche am 11. Juni 1936 auf den kleinen Friedhof von Marie­fred bei Schloss Gripsholm und dort wird sie unter einer Eiche beigesetzt. Auf dem einfachen grauen Grabstein wird erst nach dem II. Weltkrieg Grabstein das Goethe-Zitat „Alles Vergängliche ist nur ein Gleichnis“ aus Goethes Faust II eingraviert. Tucholsky selbst hatte 1923 in der Satire „Requiem“ folgenden Grabspruch für sich vorgeschlagen: „Hier ruht ein goldenes Herz und eine eiserne Schnauze – Gute Nacht!

Tucholsky gehörte zu den gefragtesten und am besten bezahlten Journalisten der Weimarer Republik und sicher war er ein „Jahrhundertjournalist,

Wikipedia schreibt:

„… In den 25 Jahren seines Wirkens veröffentlichte er in fast 100 Publikationen mehr als 3.000 Artikel, die meisten davon, etwa 1.600, in der Wochenzeitschrift „Die Weltbühne“. Zu seinen Lebzeiten erschienen bereits sieben Sammelbände mit kürzeren Texten und Gedichten, die zum Teil dutzende Auflagen erzielten. Manche Werke und Äußerungen Tucholskys polarisieren bis heute, wie die Auseinandersetzungen um seinen Satz „Soldaten sind Mörder“ bis in die jüngste Vergangenheit belegen. Seine Kritik an Politik, Gesellschaft, Militär, Justiz und Literatur, aber auch an Teilen des deutschen Judentums, rief immer wieder Widerspruch hervor.“

Im Schloss Rheinsberg befindet sich heute das Kurt-Tucholsky-Literaturmuseum, das sein Leben und Wirken ausführlich dokumentiert. Ein großer Teil von Tucholskys Nachlass liegt im Deutschen Literaturarchiv Marbach. Stücke davon sind im Literaturmuseum der Moderne in Marbach am Neckar in der Dauerausstellung zu sehen.“

Tucholskys Schreibtisch aus der Villa Nedsjölund in Hindås (Schweden) im Kurt-Tucholsky-Literaturmuseum Quelle: Von Schreibkraft, CC BY-SA 3.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=7150975

Kritik an ihm und den anderen „linken Literaten“? Wikipedia schreibt:

„… In der Nachkriegszeit wurden aber auch in der Bundesrepublik Stimmen laut, die linken Literaten wie Tucholsky und Bertolt Brecht eine Mitschuld am Scheitern der Weimarer Republik gaben. Mit ihrer unbarmherzigen Kritik hätten Zeitschriften wie die „Weltbühne“ letztlich den Nationalsozialisten in die Hände gespielt, lautete der Tenor der Vorwürfe.“

Golo Mann bei einer Tagung der Konrad-Adenauer-Stiftung, 1978 Quelle: Von Golo-mann-1978.jpg: *derivative work: Jazzman (talk)Bundesarchiv_B_145_Bild-F053560-0013,_Rhöndorf,_Sitzung_Stiftung_Adenauer-Haus.jpg: Wienke, Ulrich – Golo-mann-1978.jpg, CC BY-SA 3.0 de, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=15301313

Einer der bekanntesten Vertreter dieser Auffassung war der Historiker Golo Mann. Er schrieb 1958:

„Die hellsichtige Bosheit, mit der Kurt Tucholsky die Republik verspottete, alle ihre Lahmheiten und Falschheiten, erinnerte von ferne an Heinrich Heine. Von Witz und Haß des großen Dichters war ein Stück in ihm, nur leider wenig von seiner Liebe. Die radikale Literatur konnte kritisieren, verhöhnen, demaskieren, und erwarb sich eine leichte, für die Gediegenheit des eigenen Charakters noch nichts beweisende Überlegenheit damit. Sie war ihr Handwerk gewöhnt von Kaisers Zeiten her und setzte es fort unter der Republik, die es an Zielscheiben für ihren Hohn auch nicht fehlen ließ. Was half es?“

Heinrich August Winkler (2014) Quelle: Von blu-news.org – Heinrich August Winkler, CC BY-SA 2.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=36383804

Historikerkollege Heinrich August Winkler – geb. am 19. Dezember 1938 in Königsberg (Preußen – er lehrte als Professor für Neueste Geschichte an der Humboldt-Universität Berlin und seine Buchveröffentlichungen zur Geschichte der Weimarer Republik, zu Deutschlands „langem Weg nach Westen“ und zur „Geschichte des Westens“ seit den antiken Anfängen fanden in der Medienöffentlichkeit ein breites Echo . meint, die bevorzugte Zielscheibe von Tucholskys Spott sei die Sozialdemokratie mit ihren notwendigen Kompromissen gewesen:

„… In der Wirkung war der Kampf, den Tucholsky und seine Freunde gegen die Sozialdemokratie führten, ein Kampf gegen die parlamentarische Demokratie. In dieser Hinsicht standen die Intellektuellen des Kreises um die „Weltbühne“ den Antiparlamentariern der ‚konservativen Revolution‘ sehr viel näher, als beiden Seiten bewußt war.“

– Heinrich August Winkler: „Der lange Weg nach Westen. Deutsche Geschichte 1806–1933“. Beck, München 2000, S. 467.

Und Tucholsky selber? „Er sah seine Kritik immer als konstruktiv an: In seinen Augen hatte das Scheitern von Weimar nichts damit zu tun, dass Autoren wie er zu viel, sondern damit, dass sie zu wenig Wirkung erzielten“, so Wikipedia.

Franz Hammer (rechts) und Gattin aus Tabarz Quelle: Von Bundesarchiv, Bild 183-E1102-0038-001 / Franke, Klaus / CC-BY-SA 3.0, CC BY-SA 3.0 de, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=5433036

Im Mai 1931 schrieb er an den Publizisten Franz Hammer, Schriftsteller, Publizist, Lektor, Literaturkritiker und Kulturfunktionär:

„… Das, worum mir manchmal so bange ist, ist die Wirkung meiner Arbeit. Hat sie eine? (Ich meine nicht den Erfolg; er läßt mich kalt.) Aber mir erscheint es manchmal als so entsetzlich wirkungslos: da schreibt man und arbeitet man – und was ereignet sich nun realiter in der Verwaltung? Bekommt man diese üblen und verquälten, quälenden invertierten Anstaltsweiber fort? Gehen die Sadisten? Werden die Bürokraten entlassen (…) ? Das bedrückt mich mitunter.“

– KURT TUCHOLSKY: Briefe. Auswahl 1913–1935. Berlin 1983, S. 255.
Und weiter aus einem Brief an Hasenclever vom 17. Mai 1933:

„Ich werde nun langsam größenwahnsinnig – wenn ich zu lesen bekomme, wie ich Deutschland ruiniert habe. Seit zwanzig Jahren aber hat mich immer dasselbe geschmerzt: daß ich auch nicht einen Schutzmann von seinem Posten habe wegbekommen können.“

– Kurt Tucholsky: Politische Briefe, Reinbek 1969, S. 24.

Zu seiner Rolle in oder für die Arbeiterbewegung schreibt Wikipedia:

„… Tucholsky verstand sich als linker Intellektueller, der für die Arbeiterbewegung eintrat. Er engagierte sich vor dem Ersten Weltkrieg für die SPD, ging aber seit der Novemberrevolution 1918 zunehmend auf Distanz zu dieser Partei, deren Führung er Verrat an ihrer Basis vorwarf. Der Parteivorsitzende Friedrich Ebert hatte damals mit General Wilhelm Groener, dem Chef der Obersten Heeresleitung, ein geheimes Übereinkommen zur Niederschlagung der Revolution geschlossen, die in den Augen der SPD-Parteiführung zu eskalieren drohte. Ebert hatte Groener dafür zugesagt, die aus dem Kaiserreich stammenden Strukturen in Militär, Justiz und Verwaltung auch in der Republik zu bewahren.

Tucholsky war zwischen 1920 und 1922 Mitglied der USPD. Nachdem sich diese linkssozialdemokratische Partei 1922 erneut gespalten und mit einem großen Teil ihrer verbliebenen Anhänger wieder der SPD angeschlossen hatte, war auch Tucholsky kurzfristig SPD-Mitglied. Über die Dauer dieser Mitgliedschaft besteht in den Quellen Unklarheit. Gegen Ende der 20er Jahre näherte er sich der KPD an, legte aber Wert darauf, kein Kommunist zu sein. Insgesamt beharrte er gegenüber allen Arbeiterparteien auf einem unabhängigen Standpunkt abseits der Parteidisziplin.

Dass er die „Weltbühne“ nicht als dogmatisches Verkündigungsorgan, sondern als Diskussionsforum für die gesamte Linke betrachtete, brachte ihm 1929 folgende Kritik der kommunistischen Zeitschrift „Die Front“ ein:

„Die Tragödie Deutschlands ist nicht zuletzt die jämmerliche Halbheit seiner „‚linken“ Intellektuellen, die da über den Parteien thronten, weil es ‚einem in den Reihen nicht leicht gemacht wird‘ (um mit Kurt Tucholsky zu sprechen). Diese Leute haben 1918 glänzend versagt, sie versagen noch heute.“

Tucholsky antwortete darauf in seinem Artikel „Die Rolle des Intellektuellen in der Partei“:

„Der Intellektuelle schreibe sich hinter die Ohren:

Er ist nur unter zwei Bedingungen überhaupt befugt, in die Führung einer Arbeiterpartei einzutreten: wenn er soziologische Kenntnisse besitzt und wenn er für die Arbeitersache politische Opfer bringt und gebracht hat. (…)

Die Partei schreibe sich hinter die Ohren:

Fast jeder Intellektuelle der zu ihr kommt, ist ein entlaufener Bürger. Ein gewisses Mißtrauen ist am Platz. Aber dieses Mißtrauen darf nicht jedes Maß übersteigen. (…) Es kommt nur auf eins an: zu arbeiten für die gemeinsame Sache.“

– „Die Rolle des Intellektuellen in der Partei“, in: „Die Front“, Nr. 9, S. 250.

Und auch die folgenden Sätze stammen aus Wikipedia:

„… Nach dem Zweiten Weltkrieg versuchte man in der DDR – anders als in der Bundesrepublik – Tucholsky in die eigene Traditionsbildung einzubeziehen. Dabei wurde jedoch unterschlagen, dass er den moskauhörigen Kurs der KPD, den er für die Zersplitterung der Linken und den Sieg der Nationalsozialisten mit verantwortlich machte, aufs Schärfste abgelehnt hatte. In einem Brief an den Journalisten Heinz Pol schrieb er kurz nach Hitlers Machtübernahme am 7. April 1933, als in ganz Europa Boykott-Maßnahmen gegen Deutschland diskutiert wurden:

„Wichtig erscheint mir ferner: die Haltung Russlands gegenüber Deutschland. Wäre ich Kommunist: ich spuckte auf diese Partei. Ist das eine Art, die Leute in der Tinte sitzen zu lassen, weil man die deutschen Kredite braucht?“

– Kurt Tucholsky: Politische Briefe. Reinbek 1969, S. 76 f.

In einem Schreiben an denselben Adressaten heißt es am 20. April 1933:

„Die KPD hat in Deutschland von vorn bis hinten dummes Zeug gemacht, sie hat ihre Leute auf der Straße nicht begriffen, sie hat die Massen eben nicht hinter sich gehabt. Und wie hat sich Moskau dann benommen, als es schief gegangen ist? (…) Und dann haben die Russen nicht einmal den Mut, aus ihrer Niederlage – denn es ist ihre Niederlage – zu lernen? Auch sie werden nach bittern Erfahrungen eines Tages einsehen, dass es nichts ist mit:

der absoluten Totalität der Staatsherrschaft;
mit dem einseitigen vulgären Materialismus;
mit der frechen Dreistigkeit, die ganze Welt über einen Leisten zu hauen, der nicht einmal Moskau passt.“

– Kurt Tucholsky: Politische Briefe. Reinbek 1969, S. 77 f.

Der Literaturkritiker und Dichter

Aus Wikipedia:

„… Als Literaturkritiker gehörte Kurt Tucholsky zu den einflussreichsten deutschen Publizisten seiner Zeit. In seiner festen, mehrseitigen Rubrik „Auf dem Nachttisch“, die in der „Weltbühne“ erschien, besprach er oft ein halbes Dutzend Bücher auf einmal. Insgesamt rezensierte er mehr als 500 literarische Werke. Tucholsky sah es aber als das „erste Bestreben“ seiner Buchkritik an, „nicht das Literaturpäpstlein zu spielen“ Seine politischen Ansichten flossen regelmäßig in seine Literaturkritiken mit ein: „Wie kein zweiter verkörpert Kurt Tucholsky den politisch engagierten Typus des linksintellektuellen Rezensenten.“

Franz Kafka 1923 Quelle: Wikipedia

Zu seinen Verdiensten auf diesem Gebiet gehört es, als einer der ersten auf das Werk Franz Kafkas aufmerksam gemacht zu haben. Als „tief und mit den feinfühligsten Fingern gemacht“ beschrieb er bereits 1913 Kafkas Prosa in dessen erster Buchveröffentlichung „Betrachtung“; das Romanfragment „Der Process“ bezeichnete er in seiner Rezension als „das unheimlichste und stärkste Buch der letzten Jahre“

Heinrich Heine (1829), Zeichnung von Franz Theodor Kugler

Als Dichter von Chansons und Couplets trug Tucholsky dazu bei, diese Genres für die deutsche Sprachwelt zu erschließen. „Die Mühe, die es macht, der deutschen Sprache ein Chanson – und nun noch gar eins für den Vortrag – abzuringen, ist umgekehrt proportional zur Geltung dieser Dinge“, klagte er im Text „Aus dem Ärmel geschüttelt“. Als Lyriker verstand er sich jedoch nur als „Talent“, im Gegensatz zum „Jahrhundertkerl“ Heinrich Heine. Das Gedicht „Mutterns Hände“, das 1929 in der „AIZ“ erschien, ist ein typisches Beispiel seiner „Gebrauchslyrik“, wie Tucholsky diese poetische Richtung, deren Hauptvertreter Erich Kästner war, in einem gleichnamigen Artikel bezeichnete. Zum Tucholsky-Repertoire in Schullesebüchern gehören Gedichte wie „Augen in der Großstadt“, das von so unterschiedlichen Künstlern wie Udo Lindenberg und Jasmin Tabatabai vertont wurde, und „Das Ideal“.

Tucholsky und das Judentum

Aus Wikipedia:

„… Kontrovers wird auch Tucholskys Einstellung zum Judentum gewertet.

Der jüdische Wissenschaftler Gershom Scholem bezeichnete ihn als einen der „begabtesten und widerwärtigsten jüdischen Antisemiten“. Grundlage für dieses Urteil waren unter anderem die „Wendriner“-Geschichten, die nach Ansicht Scholems die jüdische Bourgeoisie in „erbarmungslosesten Nacktaufnahmen“ darstellten. Dagegen wurde vorgebracht, dass Tucholsky in der Figur des „Herrn Wendriner“ nicht den Juden bloßstelle, sondern den Bourgeois. Ihm ging es darum, die gesinnungslose Mentalität eines Teils des konservativen jüdischen Bürgertums anzuprangern, das seiner Meinung nach selbst die größten Demütigungen durch eine nationalistische Umwelt hinnehme, so lange es seinen Geschäften nachgehen könne.

Gershom Scholem 1935 Quelle: Wikipedia

Wolfgang Benz – Historiker der Zeitgeschichte und international anerkannter Vertreter der Vorurteilsforschung, der Antisemitismusforschung und der NS-Forschung – hält den Satz Tucholskys „und eben das ist Ghetto: daß man das Ghetto akzeptiert für den Schlüssel zum Verständnis von Tucholskys Abneigung und Ressentiment gegenüber den deutschen Juden: Tucholsky habe die zunehmende Diskriminierung und Entrechtung der Juden in Deutschland als eigene Niederlage und Verletzung begriffen, die er durch Distanzierung abzumildern versucht und daher den Juden in Deutschland vermeintliche Passivität, Anpassungsgesinnung und fehlende Bereitschaft zu demonstrativen Gegenreaktionen vorgeworfen habe. Bereits früh in Tucholskys Karriere gibt es derartige reservierte Urteile gegenüber dem deutschen Judentum. In seinem Abschiedsbrief an seinen Bruder Fritz behauptet er sogar, das jahrhundertelange Leben im Ghetto sei keine „Erklärung“ oder „Ursache“, sondern „ein Symptom“.

Aus der Sicht der Konservativen und Rechtsextremen – auch der deutschnationalen Juden – stellte Tucholsky indes das geradezu perfekte Feindbild vom „zersetzenden, jüdischen Literaten“ dar. Dass Tucholsky aus dem Judentum ausgetreten war und sich protestantisch hatte taufen lassen, spielte für diese Kritiker keine Rolle. Auch das heute noch gegen Juden vorgebrachte Argument, dass sie mit ihren Äußerungen selbst den Antisemitismus provozierten, wurde schon gegen Tucholsky ins Feld geführt. In seiner „Literaturgeschichte des deutschen Volkes“ brachte Josef Nadler (geb. am 23. Mai 1884 in Neudörfl bei Reichenberg, Österreich-Ungarn; gest. am 14. Januar 1963 in Wien, österreichischer Germanist und Literaturhistoriker, der insbesondere zur Zeit des Nationalsozialismus als Protagonist einer „neuen nationalsozialistischen Dichtung“ bekannt wurde – 1941 den Hass der Nationalsozialisten gegen den bereits Verstorbenen aufs Deutlichste zum Ausdruck: „Kein Volk dieser Erde ist jemals in seiner eigenen Sprache so geschmäht worden wie das deutsche durch Tucholsky.“

Josef Nadler Quelle: Wikipedia

Seinen letzten langen Brief widmete Tucholsky erstaunlicherweise vollständig der Situation des deutschen Judentums. An den nach Palästina emigrierten Arnold Zweig schrieb er: „Es ist nicht wahr, daß die Deutschen verjudet sind. Die deutschen Juden sind verbocht.“

Aller Kritik an Tucholsky und seinen „Salonkommunisten“ möchte ich einen Satz entgegenstellen: „Der Feind steht rechts““ Und der war letztendlich der Totengräber der Weimarer Republik.

Grab Kurt Tucholsky Quelle: 800 x 600 (128733 Byte) (Mariefred: Grab Tucholskys, 2002-07 / selbstfotografiert / der GNU-Lizenz unterstellt), CC BY-SA 3.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=444334