Tageszeitung Berliner Tagblatt (BT)

Klabund – Artikel

Quer durch Deutschland

Stendal hat drei Sehenswürdigkeiten: Den edlen gotischen Dom, das Überlinger Tor und die Pferdebahn, die von ei­nem Schlachtroß gezogen wird, das noch die Attacke von Gravelotte mitgemacht hat. Tangermünde liegt nur zwei Stunden von Berlin. Aber die Berliner wissen das Gott sei Dank noch nicht, daß so nahe beim Kurfürstendamm eine der schönsten deutschen Städte, ein architektonisches Wunder, liegt. Ich traf keinen einzigen Berliner, nur eine Berlinerin, und wir beschlossen, uns Tangermünde gemein­sam anzusehen. Zu solch einem Besuch zu zweit eignet sich Tangermünde außerordentlich besser jedenfalls als Magdeburg, eine Stadt, in der ich weder leben noch ster­ben möchte. Hier lebt der expressionistische Stadtbau­meister Taut, der aus Gram und Verzweiflung ganz Mag­deburg grell bepinselt, damit nur etwas Leben in diese graue Bude komme. Denn grau und gräulich ist sie anzu­sehen. Der Dom mit einem schönen Lettner ausgenom­men. Auch Otto der Große in Gold unter einem Steinbal­dachin macht sich auf dem Marktplatz ganz repräsentabel. Im Stadttheater spielt man Altheidelberg. Ich möchte ger­ne etwas von Jungmagdeburg wissen. Gibt es das über­haupt? Ich übernachte schlecht und teuer und zerschlage vor Wut eine Waschschüssel, was die Wohnung nicht gera­de wesentlich verbilligt. Halberstadt aber besänftigt mich: Die bunten Holzhäuser um den Holz- und Fischmarkt her­um gehören zum prächtigsten, was man in Deutschland sehen kann.

Nur Hildesheim hat noch schönere, vor allem reichere. Hil­desheim ist die architektonisch schönste Stadt Deutsch­lands. Eines der sieben Weltwunder. Hier hat die bürger­liche Kultur der deutschen Renaissance ihr edelstes Erbe hinterlassen. Auch der Markt von Goslar bezaubert in sei­ner stilistischen Einheitlichkeit. Mitten auf dem Markt, auf einem Brunnen, steht ein goldner Adler. Er hat die Krone schief auf und ist ganz jämmerlich gerupft und zerzaust. Aber man muß ihn dennoch lieben. Es ist der deut­sche Adler. In einer Nische hockt das Dukatenmännchen, von der deutschen Regierung für die Reparationszwecke bisher noch nicht fruchtbar gemacht. Es kehrt den ver­schiedenen Herrschaften, die auf dem Markt von Goslar große Reden zu schwingen pflegen — immer redet einer auf dem Markt von Goslar: entweder ist Regimentstagung oder Bürgermeisterkongress – einen bewußten Körperteil zu. Auch der bekannte Mitarbeiter der Northcliff-Presse, Herr Ludendorff, mußte natürlich in Goslar sprechen. Schimmernde Wehr, deutsche Ehr‘. In Sterling umgerechnet erweisen sich diese Phrasen gewiß ganz rentabel. Unsere deutsche moralische Valuta verträgt sie nicht mehr, und wir danken dafür. Um den deutschen Generälen zu entgehen, floh ich in den Harz.

In Thale stampft nur ein Eisenhammer. Noch den Abend kletterte ich zum Hexentanzplatz empor. Ich hatte Sehn­sucht, mit einer Hexe zu tanzen. Aber ich begegnete nur einer jungen Reisigsammlerin. Am Morgen durchs Bodetal. Ein schwarzer Molch mit hellen Tupfen kreuzt meinen Weg. Ich kenne mich in Molchen gut aus. Ich habe einmal als Hebeamme bei einer Molchin fungiert. Dreißig lebende und lebendige Junge warf Madame. Und immer kam noch eins, und immer noch eins. Ein Schmetterling, der vor mir auffliegt, scheint ein Apollofalter, der in Deutschland sel­ten ist, zu sein. Aber vielleicht täusche ich mich. Das Bo­detal hat, wie man im Reisehandbuch nachlesen mag, alpi­nen Charakter. In Treseburg wartet das Auto nach Rübeland auf mich. Es saust über eine Hochebene. Dann durch den Wahl, Der Brocken erscheint. In Rübeland befindet sich die Hermannshöhle, eine riesige Tropfsteinhöhle, von Poelzig entworfen, zweifellos sein Meisterwerk. Das Berliner Große Schauspielhaus ist nach ihrem Vorbild gebaut. Für einen etwaigen Umbau der Kammerspiele empfiehlt sich die graziöse Kristallkammer der Hermannshöhle als Mo­dell. In der Hermannshöhle befindet sich auch ein Bären­friedhof. Knochen von Schneehasen, Polarfüchsen, Viel­fraßen aus der Eiszeit trifft man alle Augenblick. Der Höhlenbär ist ausgestorben. Der Schneehase kommt nur noch als Pelzbesatz vor. Der Polarfuchs soll vergangenen Winter in der Gegend von Tempelhof wieder aufgetaucht sein. Nur der Vielfraß hat alle Epochen überdauert. Am Kurfürstendamm äst er noch heute.

Im Molkenhaus kurz nach Harzburg wäre ich gern längere Zeit geblieben. Ich trank mehrere Liter Milch. Übernach­ten mußte ich oben, dicht unter dem Dach, eine Hühner­stiege zum Trockenboden hinauf. Die „besseren“ Zimmer sind für die Herren Ausländer, für den englischen Krä­mergeist, für den welschen Erbfeind, für die Herren vom Feindbund reserviert. Weil ich den letzten Zug von Wernigerode nach Ilsenburg verpaßte (er geht gegen 4 Uhr), ging ich zu Fuß nach Ilsenburg, obwohl ich schon acht Stunden Wanderung hinter mir hatte. In Ilsenburg wurde ich im Gasthaus zur Ilsenburg gastlich aufgenommen. Es wurde mir eine Schleie aufgetragen, die, wenn ich mich so ausdrücken darf, nicht von schlechten Eltern war. Sie war eine würdige Schwester jenes Aales, den ich auf dem Rheindampfer vorgesetzt bekam. Am Morgen früh die Ilse­schlucht hinauf, zu den Ilsefällen, dann durchs Schnee­loch auf den Brocken. (An den Harzklub: der Weg durchs Schneeloch ist miserabel markiert. Und wir verfehlten an einem Tage fünf Partien den Weg und irrten in der schau­erlichen Einsamkeit umher.) Der Brocken ist eine Groß­stadt und rangiert nicht weit hinter Hamburg und Mün­chen. Der Kaffee ist schlecht. (Heine hat sich schon in seiner Harzreise über den schlechten Kaffee beschwert. Wir Deutschen sind ein Volk von Tradition. Wie an allem Guten, so halten wir eisenstirnig noch mehr an allem Schlechten fest.) Die Aussicht wird gerühmt. Ich finde die Aussicht von der Bismarckklippe, unterhalb des Gipfels, weit schöner. Vor allem ist weit und breit kein Mensch zu sehen. Das ist an sich schon eine herrliche Aussicht. Der Weg herab geht in Buchen. Er ist matschig. Der Schnee ist erst kürzlich getaut. Man übernachtet im Molkerhaus. Früh an der Herzog-August-Klippe vorbei (sehr hübsche Aussicht!), an dem Radaufall – er macht gar keinen Ra­dau, er fließt und tröpfelt so sanft, als ob einer eine Wasch­schüssel ausleert – nach Harzburg. Siehe oben. Nun über den Elfenstein – Küstenklippe, die Mausefalle, die Fei­genbaumklippe, wunderliche Felsgebilde, Rankerhalle im Okertal. Der Weg von Harzburg nach Rankerhalle, einer der schönsten und deshalb wenig begangenen Wege im Harz. Auf dem Elfenstein rastete ich. Die Elfen wehten wie Wolken im Winde. Die Ebene dampfte silbern. Fa­brikschornsteine hoben sich wie deutende Finger. Harz­burg ist ein langgestreckter roter Hund, der sich, wie auf der Maulwurfsjagd, in den Berg hineinbeißt. Ich ließ auf dem Elfenstein meinen Hut liegen. Als ich schon zwei­hundert Meter im Hochwald war, merkte ich es. Ich lief hinab. Als ich auf dem Stein ankam, saß eine Elfe da und spielte mit meinem Hut. Sie war wie eine gotische Sandsteinfigur anzusehen. Wie die Königin Editha im Magdeburger Dom. Wie lange ist’s her, daß sie schon starb, die schöne Frau. Tausend Jahre wohl. Und nun sitzt sie als Elfe auf dem Elfenstein und spielt mit meinem Hut. Die Hahnenfeder, die ich im Forsthaus Scharfenstein einem Hahn stahl, flattert regenbogenartig im Winde. – Von Ran­kerhalle durch das Okertal, das durch allerlei Fabrikanla­gen und die Nähe größerer Städte viel von seiner einsti­gen Schönheit verloren hat. Ich fand es von Dutzenden von wandernden Schülern bevölkert, die es mit ihrem Irokesengeschrei erfüllten. Mit einem gewaltigen Tigersprung setzte ich von Goslar nach Frankfurt am Main, wo ich das Goethe-Haus am Einstürzen fand und Wanzen nachts in meinem Bett. Ich floh in das besetzte Gebiet, nach Wies­baden, auf den Neroberg, sah die griechische Kapelle im Abendstrahle funkeln und aß im Carlton für 600 Mark recht billig zu Abend, eine Summe, die ich am Ende nicht bezahlte, sondern sie zur Erledigung einer Elsässerin an­heimstellte, die mit ihren Franken die Regelung verhält­nismäßig einfach vornahm. In Mainz, dem Hauptort der schwarzen Schmach (in Parenthese: ich habe auf meiner Reise von der schwarzen Schmach gar nichts, von der wei­ßen Schmach allerhand bemerkt), tagte der Kongreß „Lebensbildung und Menschengestaltung“ des Bundes entschiedener Schulreformer, an dem ich begeisterten Anteil nahm. Ich trat dem Bunde sofort bei, ließ mir Reisediäten Berlin-Mainz auszahlen, schwieg auf der offiziellen Ta­gung fein still, um mein Maul abends in der Rheingau­weinstube beim Schoppen 21er desto weiter aufzureißen. Wackere Kumpane hielten mir da die Stange: Die tapfe­ren Mainzer Lehrer Karl Schell und Franz Ose, die Dich­ter Rene Schickele und Karl Zuckmeier. Überhaupt spiel­te sich hinter den Kulissen des Kongresses das wahre Le­ben der seelischen Leidenschaft und des geistigen Kamp­fes ab. Hier wurden Kameradschaften besiegelt, die fester gefügt sind als Kongreßbeschlüsse. Hier ging der einzel­ne in sich und aus sich heraus. Menschen von geistigem Stand und Rang wurden sichtbar: der Inder Bhagarada, Martin Buber, Wilhelm Michel, Rene Schickele, Annette Kolb, Professor Oesterreich, Professor Foerster, Graf Keßler, Theodor Haubech, der Primaner Werchshagen und so man­che andere. Von Mainz fuhr ich den Rhein nach Koblenz hinauf und war betroffen über die Kulissenromantik, die sich in Gestalt verfallener Burgen, die von Fremden­verkehrsvereinen angelegt scheinen, und pompösen, ge­schmacklosen Nationaldenkmälern einem wie billiger Jahr­marktstand anbietet. In Bingen haben die Franzosen gerade gegenüber dem Nationaldenkmal auf dem Niederwald eine niederträchtige Kaserne hingebaut. Das ist gewiß ge­schmacklos: aber die beiden Pendants sind einander wert. — Ein Wort zum Thema: Besetztes Gebiet. Wir Deutsche dürfen guter Hoffnung sein. Die besetzten Gebiete sind deutsch und bleiben deutsch. Die Franzosen haben es wohl verstanden, sich Sympathien zu erwerben. Die ganze Be­satzung macht den Eindruck von Unorganischem, von Auf­gepapptem. Trotz der Tausende von französischen Zivil­personen, die die Schlange der Truppen bilden — in Mainz haben sie schon zwei französische Schulen —, ist eine Verschmelzung mit der Bevölkerung nicht eingetreten. Es stehen sich zwei wesensfremde Elemente unvermischt ge­genüber. Die Franzosen werden einmal, rühmlich oder un­rühmlich, das hängt von ihnen ab, von dannen ziehen.

(aus: Berliner Tageblatt, 30. Juni 1922)

Das Ende der Lyrik

Kein Zweifel kann obwalten: Die Konjunkturkurve der rei­nen oder unreinen – der Lyrik überhaupt – ist in jähem Fall begriffen. Kein Mensch kauft, liest, druckt fürder Ge­dichtbücher, nur einige unverbesserliche Optimisten sind noch mit der Herstellung teils gereimter, teils ungereim­ter Verse beschäftigt, die in immer kleiner werdenden Por­tionen in Zeitschriften und Zeitungen zum tropfenweisen Ausschank gelangen. Der Reichspräsident, der lebenden Epikern und Dramatikern zu ihrem unvollendeten acht­zigsten Jahre herzliche Glückwünsche ad multos annos zu übersenden pflegt, vergaß völlig, einem Lyriker vom Ran­ge Rilkes zu seinem verfrühten Hinscheiden zu gratulie­ren. In der Tat: was hatte der reine Torwart der deutschen Gegenwartslyrik, was hatte der edle Parsifallensteller hier in einer lyriklosen, der schrecklichen, Zeit noch zu verlie­ren? Er packte sein wohlassortiertes metaphysisches Suitcase und begab sich aeroplanvoll in die sattsam bekann­ten lichten leichten Höhen des Jenseits von Gut und Böse, ebenso, kurz wie lang entschlossen, Hölderlin und Nietz­sche und Goethe künftig nicht mehr aus dem Asphodelen-weg zu gehen. Aber, so fragt sich der kritische Verstand nüchtern wägend auf dieser Erde zurückgeblieben — ist es mit der Lyrik wirklich materiell essentiell aus? —

Ist die mehr oder weniger sinnlos zusammenassoziierte Sozietät bilderreicher und gedankenarmer Konglomerate -nicht mehr ökonomisch oder seelisch verwendbar? Hat das Gedicht als solches aufgehört, effektiv und moralisch zu existieren?

Dies war eine heikle Frage und für einen lyrischen Schrift­stellereibesitzer mit langjährigem Dampfbetrieb geradezu katastrophal aufgeworfen. Ergab sich ein striktes Nein – auf was für einen Betrieb hieß es da, sich schleunigst um­stellen, wofern man Frau und liebe Kinderchen nicht um ihr tägliches Sandwich bringen wollte – Verfertigung von Steuererklärungen, Aufstellung eines lyrisch angehauch­ten Reichsmarineetats, hymnisch trompetende Bücherrevisionen im Stil der Heineschen Nordseebilder – was sollte man ergreifen, wenn nicht jeden dargereichten Strohhalm, um abends im Eden die Kohlensäure aus dem Sekt zu klop­fen?

Oder – war es nicht möglich, das noch vorliegende Mate­rial (wie ja die Gasanstalten selbst den Koks trefflich zu verwerten gelernt haben) zu verwenden, zu modeln, um­zuformen — alten Wein in neue Schläuche – ich meine: die noch auf Lager liegende Lyrik unter falscher Flagge aufs stürmische Meer der Druckerschwärze hinaussegeln zu lassen – die Verse einfach in Prosa zu setzen — kein Aas merkt was – noch ist defte Prosa gefragt – so wird aus lüsternem Gestammel ein lustiges Apercu, aus einer Ode an den großen Kurfürsten eine beschwingte Annonce kur­fürstlichen Magenbitters. Sanfte Töne gehen in kesse Charlestontöne über. Die Jetztzeit wird zur Jazzzeit. Es gab ein Sechsnächtedichten — dann war die Umwandlung sämtli­cher Gedichte in prosoide Schlager restlos gelungen, und aus einem lyrischen Gedichtbuch „Das Glockenspiel“, ei­nem Wälzer von 300 Seiten auf echt Japan für 7,50 Mark, der vor dreißig Jahren noch jedes Mädchenherz hätte hö­her schlagen lassen —wurde im Handumdrehen „Die Harfenjule“, ein ruppiges Heft auf Zeitungspapier mit achtzig der allerneuesten im Adlon und im Obdachlosenasyl gleichbeliebten Schlager, wie: Vergessen, vergessen, ver­gessen … — Warum liebt der die Erotik? — Und ich baum­le mit de Beene – Berlin, o wie süß ist dein Paradies! — Meine Mutter war ein Mädchen — Kein lieber Gott geht durch den Wald – Wenn in Werder die Kirschen … – Na­tur! Natur! Du Götterwelt! Für nur 50 Pfennig (Selbstko­stenpreis) in allen schlechteren Buchhandlungen erhält­lich.

(aus: Berliner Tageblatt, 1927)

Die Renaissance der Lyrik

Neulich habe ich mir gestattet, an dieser Stelle den Un­tergang der Lyrik zu beunken. Wie sich jetzt herausstellt: ziemlich voreilig und vorwitzig. Nicht nur, daß (im Verlag Gebrüder Enoch, Hamburg) inzwischen eine „Anthologie jüngster Lyrik“ erschienen ist, deren Äpfel nicht weit vom Zweig des Vorwortes fielen — in den Spalten der sommer­lich geputzten Revuen und Magazine tobt die allerneuste Lyrik sich geradezu orgiastisch aus. Es zeugt für die Geschicklichkeit und den Geist sowohl der Magazindirektoren sowi’e der Lyriker, daß diese Lyrik sich ausschließlich im Inseratenteile breit macht, wo sie allerdings die bisher beliebte sachliche Reklame im amerikanischen Stil tropisch überwuchern beginnt. Aus den neuen Ruinen sprießt überall altes Leben. Die Romantiker sind den Sousrealisten um viele Bärtelängen voraus. Kaiserborax und Insekten­pulver, Lincoln und Erdal in der Tube, Kodak und Cham­pagner, Houligant und künstlicher Dünger, Kurorte und Modesalons, Forma und Formamint reizen zu Hymnen von infernalischer Pracht. Treten wir zurück und geben wir einigen dieser namenlosen lyrischen Dichter das Wort, um das sie zwar nicht gebeten haben, das ihnen aber ohne Mühe zuströmt, wie nur je den begnadeten Barden des geistigen Mittelstandes,

„Lido, der sonnige Lido,
Sinnbild des Glückes und der Macht,
Spiegel der Dogenherrlichkeit,
Urquell des künstlerischen Empfindens –
träumende Lagunen —
Wo edle Größe einst lächelnd im Purpur,
sich mit dem Meere vermählte,
Wo strenger Ernst den Mammon proteus-
gleich in Mosaik und Marmor wandte,
Wo Farben und Töne ihre Wiege hatten,
Und die Künstler daran zu Titanen wurden –
Wo die Gondeln zu verschwiegenen Freunden des
Schmerzes und der Liebe wurden.
Ewige Lagunen,
Zweite Heimat aller derer,
Die das Leben in Kunst, im Rhythmus und in der
Freude suchen —
Macht und Feste
haben einen Kreislauf wie Sonne und Mond.
Feste waren,
Feste sollen wieder sein.“

Da kann der Berliner nur begeistert Feste! Feste! rufen. -Dem Panegyriker des Lido steht der kleine Erotiker des Houligant um nichts nach:

„Houligant-Haarwässer in wohlduftender
Eigenart.
Houligant-Puder, so mild, so sammetweich,
Houligant-Creme „En Beaute“ …
Es liegt etwas Verführerisches, Geheimnisvolles in
alledem
Und nun gar Quelques Fleurs,
Ein Stelldichein der Blumendüfte,
Ein Stück unvergänglicher Weltpoesie …“

Goethe kann einpacken, wenn der smarte Parfümeur der Dame von (heutiger) Welt Quelques Fleurs und damit ein Stück unvergänglicher Weltpoesie einpackt. Auch Ford ist unter die Lyriker gegangen. Dem bisher ge­pflogenen Antisemitismus schwört er schnurstracks ab. Er erfährt zu seinem Schrecken, was für tüchtige Leute die Juden (der General Motors) sind. Wenn er nicht klein bei­gibt, werden Chevrolet, Buick und Cadillac ihm in eini­gen Jahren den Garaus gemacht haben. Seine Luxustype, den Lincoln, besingt Ford folgendermaßen:

„Der bezaubernden Schönheit des Lincoln
Entspricht seine unerreichte Präzision.
Der Lincoln enthält Teile, die auf
Hunderttausendstel Millimeter genau sind.
Das entspricht dem dreißigsten Teil der
Dicke eines Menschenhaares.
Und bedeutet etwas so Feines
Wie der Schimmer der menschliehen Haut,
Den man nur an seinem Glanz
wahrnehmen kann.“

So präzis der Lincoln ist: so wenig präzis drückt sich sein Sänger aus. Was ist das: ein Schimmer, den man nur an seinem Glanz erkennen kann? Ich habe keinen Schimmer. Auch der gute alte Johann Maria Farina (gegenüber Am Jülichsplatz) lässt sich nicht lumpen. Er äußert sich im teutschen Barockstil:

„Machen jetzo viel Aufhebens von den Zaubermitteln
des Maestro Cagliostro.
Kenne mir ein besseres Medikamente, ein rechtes
Jugendwässerlein,
So auch einem alten Mann wohl ansteht und seine
fatigierte Haut wundersam belebet.
Wie lobe ich mir das einzig wahre Eau de Cologne
des Herrn Johann Maria Farina.”

Dieser alte Johann Maria Farina scheint trotz seines Al­ters noch manches Jugendwässerlein zu trüben. Ein anderes Gedicht trägt die Überschrift:

Musik im Sommer

„Ist nicht die Geige das Musikinstrument des
Sommers?
Werden in uns nicht romantische Gefühle wach,
Wenn wir an einem heißen Sommerabend im Freien
Eine liebe Weise auf einer Fidel hören?“

(Wer anders streicht diese Fidel als die rassige Edith Lorand, die demnächst ihre tausendste Platte auf Parlophon spielt —.)

Ich kündige hiermit die Herausgabe einer Anthologie allerneuster Lyrik an. Sie wird unter dem Titel „Eiscreme­soda“ noch im Hochsommer im Verlag Erich Reiß (Ber­lin) erscheinen und viel zur Erfrischung überhitzter Hirne beitragen. Ihre Mitarbeit haben bisher zugesagt: Mercedes-Benz, Norderney, Dr. Sandows brausendes Fruchtsalz, Peters Union, Kola Dultz, Hotel Adlon, Origi­nal Fön, Reibero, Odol, Pension Stolzenfels, Dr. Dralles Birkenwasser, Deutsche Lufthansa, Herrmann Gerson, Ne­stor Queen, Kaliklora, Creme Mouson, Elektrola und vie­le andere.

(aus: Berliner Tageblatt, 21. Juli 1927)

Davoser Nacht

Ich wache davon auf, daß ich husten muß.
Ich horche in die leere Nacht hinein.
Ich huste wieder. Es ist mir qualvoll, diese sanfte Stille
zerstören zu müssen. Sie lag, wie ein glatter, stummer Teich,
und nun kommt jemand und wirft dicke Feldsteine hinein,
daß das beleidigte Wasser zischend und klatschend auf¬spritzt.
Ich huste.
Plötzlich höre ich, daß auch im Nebenzimmer jemand hustet.
Ich bin froh, daß auch ein anderer Mensch nachts husten muß.
Ich huste fragend.
Er hustet Antwort.
Und nun beginnen wir, Konversation zu husten.
Ehen – ehen – hu – hu, huste ich. Das bedeutet ungefähr:
Schöne Nacht, heute.
Cha – cha – rom – rom, antwortet er. Und das heißt: Na, es
geht. Ich könnte mir eine schönere denken.
So gibt ein Rachenlaut den anderen, und wir unterhalten
uns ganz angeregt.
Endlich verstummt er.
Ich huste noch einmal fragend.
Er gibt keine Antwort mehr.
Er ist eingeschlafen.

Ich steig aus dem Bett, trete zur Balkontür und schlage den Vorhang zurück.

Draußen ist die Nacht ganz hell. Der Mond hat die weiten Schneeflächen grünlichweiß angepinselt. Die Landschaft sieht aus wie ein irisierender riesiger Roquefort. Aber in den grünen Strahlen beginnt schon ein leiser vio­letter Schimmer aufzublinken. Der Morgen kann nicht mehr allzu fern sein. Der Morgen. Morgen.

Mich schaudert’s. Von dem Gedanken an morgen und dem Morgen und in meinem dünnen Pyjama. Ich krieche ins Bett zurück und schließe die Augen. Ich will nicht sehen, wie es Tag wird. Wie wieder ein neu­er Tag wird.

Ich will schlafen — schlafen — bis mittags um 12 minde­stens. Dann ist der halbe Tag schon herum und gefaßter läßt sieh dem Nachmittag, dem freundlicheren, ins sonni­ge Antlitz sehen.

Dann lieg ich bis vier in der Sonne. Dann geh ich ins Cafe. Schickele wird dasitzen und blaß, ich werde mich zu ihm setzen, und wir werden, wie die andern Sterblichen auch, fachsimpeln.

„Zahlt Ihnen das „Berliner Tageblatt“ auch so wenig für ein Feuilleton?“ werde ich fragen.

Denn Schriftsteller sind immer unzufrieden: mit Gott, der Welt, sich selbst, den anderen Schriftstellern, den Zei­tungsredaktionen, dem Honorar und der Dichterakademie.

(aus: Berliner Tageblatt, 17. Februar 1928)

Das Berliner Tageblatt (BT)

Aus Wikipedia:

Das „Berliner Tageblatt“ (BT) war von 1872 bis 1939 eine überregionale Tageszeitung im Deutschen Reich. Die vollständige Bezeichnung lautete: „Berliner Tageblatt und Handelszeitung“ Von Rudolf Mosse gegründet, richtete sich das Blatt an ein Massenpublikum und entwickelte sich als auflagenstärkste Zeitung im Deutschen Kaiserreich zu einem Leitmedium. Während der Weimarer Republik vertrat das „Berliner Tageblatt“ eine linksliberale Linie und wurde als nichtoffizielle Parteizeitung der Deutschen Demokratischen Partei wahrgenommen, womit ein deutlicher Rückgang der Auflage verbunden war. 1933 erfolgte die Gleichschaltung und 1937 zur Abwicklung die Eingliederung in den Deutschen Verlag. Die Zeitung besaß Redaktionsbüros in mehreren Städten im In- und Ausland. Der Hauptsitz befand sich im Mossehaus in der Jerusalemer Straße 46–49 in Berlin.

Struktur und Inhalte

Das „Berliner Tageblatt“ erschien mit einer Berliner- und einer Reichsausgabe wöchentlich jeweils zwölfmal. Die Woche begann im Hause Mosse immer montags mit einer Abendausgabe; eine Morgenausgabe gab es an diesem Tag nicht. Dienstags bis sonnabends wurden eine Morgen- und eine Abendausgabe ausgeliefert, sonntags nur eine Morgenausgabe (später nur noch Sonntagsausgabe genannt). Die Satzschrift war bis zum 21. März 1927 Fraktur, danach Antiqua.

Wochentags umfasste die Zeitung 16 und sonntags 32 Seiten mit Berichten aus den Bereichen Kultur, Politik, Wirtschaft und Sport. Kennzeichnend für das aus heutiger Sicht moderne und vielfältige Blatt waren Sensationsberichte über Rekorde, Unfälle, Attentate, Verbrechen, Feuerbrünste und sonstige Ausnahme-Tatbestände. Die Titelseite blieb weitestgehend der Politik mit einem kritischen Leitartikel vorbehalten. Auf der zweiten Seite ging es weiter mit innenpolitischen und deutschlandweiten Nachrichten. Es folgten die Auslandsberichterstattung und ein kurzer Wirtschaftsteil nebst Börsenkursen.

Dem Feuilleton wurde ein hoher Stellenwert beigemessen: Neben Reiseberichten, Kurzgeschichten, Fortsetzungsromanen, Gedichten gab es Bücherempfehlungen, Kino-, Theater- und Rundfunk-Wochenspielpläne sowie Kritiken zu Kunstausstellungen, Kino-, Kabarett-, Theater- und Konzertaufführungen. Einen konkreten Nutzwert boten Tabellen mit diversen aktuellen Vergleichspreisen für Brot, Milch, Briketts und weiteren Artikeln des täglichen Lebensbedarfs. Zeit ihres Bestehens enthielt die Zeitung viele Kleinanzeigen und besonders am Wochenende sehr üppige gewerbliche Annoncen.

Regelmäßige Beilagen, meist in Heftform, waren unter anderen:

Ulk – Illustriertes Sportblatt – Technische Rundschau – Berliner Stadtblatt (expliziter Lokalteil des Berliner Tageblatts) – Der Weltspiegel – Der Frauenspiegel – Haus, Hof und Garten

Auflage und Statistik

Das „Berliner Tageblatt“ zählte zeitweise zu den auflagenstärksten Zeitungen im Deutschen Reich, wobei die Angaben in der heute vorliegenden Literatur erheblich voneinander abweichen. Hintergrund: Eine einheitliche und quartalsbezogene Erhebung gab es noch nicht, Kontrollmechanismen wurden erst ab 1933 installiert. Nach Eigenangaben des Mosse-Konzerns soll die Auflage während der Weimarer Zeit an manchen Sonntagen bei 300.000 gelegen haben. Konkret werden beispielsweise für 1929 werktags 137.000 (davon 83.000 Hauptstadtauflage) und sonntags 250.000 Exemplare angegeben. (…)

Nachweislich erreichte die Auflage des „Berliner Tageblatts“ am Vorabend des Ersten Weltkriegs ihren Höchststand, ging ab 1916 zurück, schwankte in der Weimarer Zeit stark und fiel 1932 extrem. Als gesichert gelten die Angaben für folgende Jahre:

1906: 95.000 Exemplare gemäß Meldung an das Kaiserliche Statistische Amt
1914: 245.000 Exemplare gemäß Meldung an das Kaiserliche Statistische Amt
1919: 160.000 Exemplare gemäß Meldung an das Statistische Reichsamt
1932: 25.000 Exemplare gemäß Ermittlung im Zuge der Eröffnung des Konkursverfahrens 1937: 56.000 Exemplare gemäß Ermittlung des Reichsministeriums für Volksaufklärung und Propaganda.

Diese Zahlen sprechen dennoch für die hohe Akzeptanz und Qualität des „Berliner Tageblatts“. Wegen der großen Medienvielfalt lag die Auflage der meisten Tageszeitungen zwischen 5.000 und 20.000 Exemplaren.

Anfänge in der Kaiserzeit

Das am 1. Januar 1872 gegründete „Berliner Tageblatt“ bestand anfangs nur aus Anzeigen. Um eine größere Aufmerksamkeit bei den Lesern zu erzielen, ergänzte Rudolf Mosse sehr bald die Seiten mit redaktionellen Beiträgen. Erster Chefredakteur war Arthur Levysohn. Ihm folgte 1906 Mosses Vetter Theodor Wolff, der den Charakter der Zeitung 27 Jahre maßgeblich prägte. Er war bei personellen Entscheidungen die letzte Instanz, trug die Verantwortung für Gestaltung, Gesamtinhalt sowie Themenauswahl und bestimmte die weltanschauliche Ausrichtung.

Das „Berliner Tageblatt“ trug ausgeprägte Züge eines Familienunternehmens: In den Redaktionsbüros im In- und Ausland waren sämtliche Führungspositionen mit nahen Verwandten von Rudolf Mosse besetzt. Zeitweise beschäftigte der Verlag über 4.000 Mitarbeiter, von denen ein hoher Anteil der jüdischen Glaubensgemeinschaft angehörte. Diese Wurzeln spiegelten sich in der Zeitung nur bedingt wider. Wenn es um explizit jüdische Themen ging, wurden diese in Reaktion auf aktuelle Ereignisse diskutiert, und nicht aus einer aktiv propagierten ideologisch motivierten Haltung heraus. Politisch hatte das Blatt in der Kaiserzeit eine liberale Ausrichtung, wobei zu Lebzeiten Mosses auf eine gewisse Neutralität beziehungsweise parteiliche Ausgewogenheit bei politischen Themen geachtet wurde. Grundsätzlich gab das „Berliner Tageblatt“ in den ersten vier Jahrzehnten ihres Bestehens einen Sachverhalt nicht als Kommentar, sondern als Bericht oder Nachricht wieder.

Nach Ausbruch des Ersten Weltkriegs stellten die Redakteure in ihrer Berichterstattung vorübergehend innenpolitische Auseinandersetzungen komplett zurück. Mit zunehmender Dauer des Krieges und dem ausbleibenden Sieg begann die Bereitschaft der auferlegten Zurückhaltung zu bröckeln. Versorgungsmangel sowie Kriegsmüdigkeit führten im zweiten Kriegsjahr zu ersten wilden Streiks und Demonstrationen. Das Ende des politischen Burgfriedens kam im Sommer 1916: Als erste Zeitung thematisierte das „Berliner Tageblatt“ die Kriegszielfrage öffentlich. Daraufhin wurde die Ausgabe vom 28. Juni 1916 beschlagnahmt und die Auslieferung der Zeitung vom 1. bis 7. August 1916 verboten. Für Wolff war damit bis Kriegsende die Veröffentlichung von Exklusivberichten äußerst mühselig. Reichskanzler Bernhard von Bülow verweigerte dem Blatt generell Interviews und Theobald von Bethmann Hollweg untersagte allen Regierungsstellen jegliche Zusammenarbeit mit den Redakteuren des „Berliner Tageblatts“.

Entwicklung in der Weimarer Republik

Politische Positionierung

Im Zuge der Novemberrevolution positionierte sich das Blatt als ein Verfechter der Radikaldemokratie mit stark linksliberalen Tendenzen. Am 14. November 1918 erschien unter dem Titel „Volksstaat oder verkehrter Obrigkeitsstaat?“ ein Gastbeitrag von Hugo Preuß, in dem auf die Legitimitäts- und Demokratiedefizite der Revolutionsregierung und auf die Dringlichkeit der Einberufung einer auf soziale und liberale Reformen hinarbeitenden Nationalversammlung hingewiesen wurde – einen Tag später berief Friedrich Ebert, Vorsitzender des Rates der Volksbeauftragten, aufgrund dieses kritischen Artikels Preuß in das Amt des Staatssekretärs im Reichsamt des Innern, um durch ihn die Regierungsvorlage eines Entwurfes für eine neue, republikanische Verfassung erarbeiten zu lassen. Am 16. November 1918 erschien in der Morgenausgabe unter der Überschrift „Die große demokratische Partei“ ein von Theodor Wolff verfasster und von 60 weiteren Personen unterzeichneter Aufruf zur Gründung der Deutschen Demokratischen Partei (DDP). Das „Berliner Tageblatt“ stand in der Folgezeit dieser Partei sehr nahe, lehnte den Sozialismus sowie einen übersteigerten Wohlfahrtstaat ab und trat für eine individuelle Freiheit der Menschen ein. Damit praktizierte die Redaktion fortan einen klar erkennbaren Meinungsjournalismus

Der Gründungsausruf trug auch die Unterschrift des 78-jährigen Rudolf Mosse, der einerseits stets die Hand über Theodor Wolff gehalten, andererseits eine zu starke und vor allem einseitige Politisierung in seinen Zeitungen immer abgelehnt hatte. Weil sich das „Berliner Tageblatt“ gegen Kommunismus und gegen eine Räterepublik aussprach, wurde am 5. Januar 1919 die Redaktion für eine Woche von bewaffneten Spartakisten besetzt und das Mossehaus durch den Einsatz von Artillerie, Handgranaten und Maschinengewehren stark beschädigt.

Als Mosse am 8. September 1920 auf Schloss Schenkendorf starb, hinterließ er einen millionenschweren und schuldenfreien Konzern. Zum Nachfolger hatte er seinen Schwiegersohn, Hans Lachmann-Mosse, bestimmt. Der betriebswirtschaftlich orientierte Finanzfachmann übernahm damit die verlegerische Leitung eines der größten deutschen Zeitungsverlage. Seinem Chefredakteur hatte Mosse testamentarisch neben der vollständigen personellen sowie inhaltlichen Verantwortung nun auch 50 % Mitspracherechte bei der kaufmännischen Leitung eingeräumt, der diesen Einfluss sowohl beim „Berliner Tageblatts“ als auch bei der „Berliner Volks-Zeitung“ und der „Berliner Tages-Zeitung“ künftig ausübte. Spannungen zwischen Wolff und dem 17 Jahre jüngeren Lachmann-Mosse waren damit vorprogrammiert.

Wolff, der aus heutiger Sicht unbestritten zu den besten Journalisten seiner Zeit zählte, entwickelte sich immer mehr zu einem Politiker. Er forderte wiederholt im „Berliner Tageblatt“, den Versailler Vertrag nicht zu unterzeichnen. Zur Kriegsschuldfrage veröffentlichte er zwei Bücher, in welchen er sich gegen die Alleinverantwortungsthese stellte. In mehreren Artikeln bekämpfte Wolff demokratisch gewählte Kabinette, in denen die DDP nicht vertreten war, und forcierte offen deren Prinzip der Privatwirtschaft. Für seine Partei reiste er als offizieller Vertreter zu verschiedenen Konferenzen ins Ausland und setzte sich mit Vehemenz für das demokratisch-parlamentarische Regierungssystem ein. 1920 wollte ihn Hermann Müller zum Botschafter in Paris machen, was Wolff ablehnte. Seine fehlende Neutralität in den Leitartikeln, stieß bei Lachmann-Mosse zunehmend auf Kritik, der bei einer politisch immer weiter auseinanderklaffenden Leserschaft einen Auflagenrückgang voraussah. Tatsächlich verlor die DDP schon ab 1920 in großem Maße Stimmen an die DVP und DNVP, da innerhalb der Partei Uneinigkeit bei der Reparationsfrage bestand. Zudem entstand in der Öffentlichkeit das Bild, dass die DDP eine „Partei des Hochkapitals“ sei.

Am 4. Dezember 1926 trat Wolff aus der DDP aus. Anlass war die Zustimmung seiner Partei bei der Verabschiedung des sogenannten Schmutz- und Schundgesetzes. Neu war diese Rechtsnorm nicht, zur Durchsetzung erfolgte nun in Berlin und München die Installation spezieller Zensurbehörden. Wegen Koppelgeschäften, der Verbreitung von Schleichwerbung, Schwindelanzeigen sowie jugendgefährdender Inserate, war das „Berliner Tageblatt“ bereits mehrfach abgemahnt und Ausgaben beispielsweise vom 7. bis 14. Oktober 1920, 1. bis 12. Juli 1922, 10. bis 16. November 1923 verboten worden. Das Haus Mosse zeigte sich bei Anzeigenkunden nie wählerisch. Schmutz- und Schwindelinserate bildeten einen nicht unerheblichen Teil des Annoncengeschäfts. Darunter fielen unter anderem Engelmacherei, Wunderheilungen, Pornografie, falsche Preisangaben, aber auch Inserate frivoler Kabarett-, Kino- oder Theaterveranstaltungen. Koppelgeschäfte waren branchenüblich, je öfter beispielsweise ein Theater inserierte, umso besser fielen die Kritiken aus.

Trotz seines Austritts blieb Wolff seiner politischen Linie treu: In den folgenden Jahren entwickelte sich das „Berliner Tageblatt“ zur Speerspitze der liberalen Demokratie. Allein das Politikressort bestand aus einem 90-köpfigen Stab mit Redakteuren, Leitartiklern, Auslandskorrespondenten, die sich selbst als „Kerntruppe der Republik“ bezeichneten. Später wurde seine Agitation differenzierter beurteilt. Er bekämpfte Linke, Rechte, Konservative, aber auch Angehörige demokratischer Parteien. Seine Methoden gingen weit über Verbalattacken hinaus. So stieß die Gründung der Republikanischen Partei Deutschlands (RPD) bei Wolff auf derartig entschiedenen Widerstand, dass er unter anderem die Entlassung von Carl von Ossietzky veranlasste, der als Redakteur bei der zum Mosse-Konzern gehörenden „Berliner Volks-Zeitung“ beschäftigt und Gründungsmitglied der RPD war. Ähnlich erging es dem Sozialdemokraten Kurt Tucholsky, der in einem abschätzigen Rückblick Theodor Wolff als einen herablassenden, „etwas dümmlichen Mann“ mit „angeblich so liberalen“, aber einseitigen Prinzipien beschrieb.

Wirtschaftlicher Zusammenbruch

Im Zuge der Hyperinflation 1922/23 verlor der Konzern den größten Teil seines Umlaufvermögens, konnte jedoch seinen Immobilienbesitz im In- und Ausland retten. Ohnehin hatte die Familie ihr immenses Privatvermögen bei einer Basler Bank des SBV in Schweizer Franken angelegt.

Aufgrund der Inflationserfahrungen erwarb Lachmann-Mosse ab 1926 mittels Eigen- und Fremdkapital eine große Anzahl von Grundstücken sowie Immobilien. Ganze Häuserzeilen in Berlin am Hohenzollerndamm, Lehniner Platz, Kurfürstendamm und in der Cicerostraße gehörten bald dem Mosse-Verlag. Parallel erweiterte er mit hohen Summen die Kunstsammlung im Mosse-Palais, investierte in Musikverlage, gründete im Ausland weitere Annoncen-Expeditionen und kaufte eine Vielzahl von Zeitungen auf. Sowohl die Dresdner Bank, als Hausbank der Rudolf Mosse OHG, gewährte Kredite in Millionenhöhe, wie die Deutsche Bank, die Danat-Bank und Schweizer Banken. Speziell der Erwerb weiterer Printmedien erwies sich als unternehmerische Fehlentscheidung, weil er damit seinen bisherigen Publikationserzeugnissen eigene Konkurrenz verschaffte. Vor allem mit dem „Berliner Tageblatt“ konnten ab 1926 nur noch Verluste erwirtschaftet werden, dessen Anzeigeneinnahmen 1913 bei 2,1 Millionen Mark, 1928 bei 705.000 Mark und 1930 bei 304.000 Mark lagen. Genauso fiel die Auflage der Zeitung.

Von den Auflagerückgängen der Mosse-Zeitungen profitierte am meisten der Ullstein Verlag. Dort praktizierten die Redakteure bis zum Ende der Weimarer Republik einen ausgesprochenen interpretativen Journalismus, bei welchem auf Neutralität und politische Ausgewogenheit geachtet wurde. Scharenweise wechselten Leser und Anzeigenkunden aus dem Hause Mosse insbesondere zur „Berliner Morgenpost“. Aufgrund der unparteiischen Berichterstattung entwickelte sich die „Berliner Morgenpost“ mit einer exorbitanten Auflage von nachweislich 614.680 Exemplaren ab 1929 zur auflagenstärksten Zeitung in der Weimarer Republik.

Für den Rückgang machte Lachmann-Mosse Theodor Wolff verantwortlich. Ganz unberechtigt war der Vorwurf nicht. Speziell der Belehrungston stieß bei vielen Lesern auf immer weniger Akzeptanz. Wolff ging jedoch keinen Schritt von der Politisierung des Blattes zurück. Immer mehr verschloss er die Augen vor den wahren Zuständen in der Weimarer Republik und den Bedürfnissen sowie Problemen seiner Leserschaft.  Dies gipfelte in propagierten Programmen des „Sozialen Kapitalismus“, in denen Arbeiter und Unternehmer sich gegenseitig „Pflicht, Recht, Leistung und Gewinn“ anerkennen sollten. Diese visionären Vorstellungen waren bei steigender Arbeitslosigkeit, Kürzung von Sozialleistungen, Steuererhöhungen sowie unter dem Druck der Reparationslasten völlig realitätsfremd. Dementsprechend erreichten die Linksliberalen gegen Ende der Weimarer Republik bei Wahlen nur noch etwa ein Prozent und sanken zur Bedeutungslosigkeit herab.

Als erster Gläubiger gab im November 1927 die Deutsche Bank ihre Mehrheitsbeteiligung an der Rudolf Mosse OHG ab. Zu dieser Zeit waren bereits alle Immobilien im In- und Ausland mit Hypotheken belastet. Die Hausbank des Verlags wies ab Januar 1928 auf eine bevorstehende Zahlungsunfähigkeit hin, was die Geschäftsleitung ignorierte. Im Frühjahr 1928 hätte ein geordnetes Insolvenzverfahren zumindest Teile des Mosse-Konzern retten können, mit Beginn der Weltwirtschaftskrise 1929 war dies nicht mehr möglich. Alle ausländischen Banken zogen Geld aus Deutschland ab und bestanden auf umgehende Rückzahlung der Kredite. Von ungeheurer Signalwirkung war im Dezember 1930 die Kündigung des Chef-Justiziars und Prokuristen Martin Carbe. Er wechselte zum Ullstein-Verlag, was ein unglaubliches Ereignis in der gesamten Presselandschaft darstellte. Tatsächlich verschleppte die Mosse-Konzernleitung den Konkurs bis zum Herbst 1932. Hierfür trug Lachmann-Mosse die Verantwortung, aber speziell für das „Berliner Tageblatt“ Theodor Wolff, der zur Hälfte Mitbestimmungsrechte und -pflichten besaß. Außerdem war es das „Berliner Tageblatt“, welches die größten Verluste einfuhr.

Lachmann-Mosse forderte unnachgiebig inhaltliche Änderungen der Zeitung sowie eine Reduzierung der politischen Redakteure. Es folgten rabiate Einsparungen: Honorarkürzungen, Schließung von Agenturen im In- und Ausland, Wegfall von Beilagen und Farbdrucken sowie Seitenanzahl-Dezimierungen zerstörten das Vertrauen der Redaktionen in den Betrieb. Viele junge und gute Journalisten kündigten von sich aus. Als Entlassungen altgedienter Mitarbeiter anstanden, ergriff die Belegschaft Streikmaßnahmen. Der ökonomische Zusammenbruch des einst größten deutschen Pressekonzerns vollzog sich 1932. Über 3.000 Arbeitsplätze standen auf dem Spiel. Wolff, dem jegliches betriebswirtschaftliches Verständnis fehlte, führte einen längst verlorenen Kampf. Mit Lachmann-Mosse sprach er nicht mehr und schrieb ihm:

„Ich weiß, dass Sie gerade der Politik wenig Interesse entgegenbringen, aber sie ist das Rückgrat des Blattes. Das Publikum ist übermäßig politisch geworden. Selbst wenn meine Redakteure noch Mehrbelastung auf sich nähmen, wäre der Schaden außerordentlich. Denn jeden Tag, den das Blatt nicht voller Kampfeskraft erscheint, verliert es an Gewicht und politischer Bedeutung.“

Dass der Auflagenrückgang ein Indiz dafür war, dass reichsweit kaum noch jemand das „Berliner Tageblatt“ lesen wollte, nahm Wolff nicht zur Kenntnis. Am 13. September 1932 erfolgte die Eröffnung des Konkursverfahrens. Rund 8.000 Gläubiger meldeten ihre Ansprüche an.

Zeit des Nationalsozialismus

Entlassung von Theodor Wolff

Grundsätzlich war der sechzigjährige Theodor Wolff unkündbar. Zwar drohte er selbst wiederholt mit Amtsniederlegung, kämpfte aber in Wirklichkeit um seinen Machterhalt. Wolffs Rücktrittsgerüchte verursachten nicht nur innerhalb der Belegschaft eine große Unsicherheit; er machte diese sogar in Zeitungsartikeln zum öffentlichen Thema, sodass die Schwierigkeiten des Verlags kein Geheimnis im politischen Berlin blieben.

Nach der Reichstagswahl im Juni 1932 ergriff Lachmann-Mosse die Initiative und veranlasste in allen Mosse-Zeitungen neutralere Töne. Victor Klemperer vermerkte in seinem Tagebuch am 30. Januar 1933, dass „auch das „Berliner Tageblatt“ ganz zahm geworden sei“. Artikel verfasste Wolff nach dem Regierungswechsel nur noch wenige. Sein einspaltiger Leitartikel am 31. Januar 1933 trug die Überschrift „Es ist erreicht“ und enthielt die Namen der neuen Kabinettsmitglieder nebst zurückhaltender Kommentare über die Erfolgsaussichten der Hitlerregierung. Die Ereignisse um  den Reichstagsbrand wurden im „Berliner Tageblatt“ gleichfalls sachlich dargestellt, ohne Mitwirkung von Theodor Wolff.

Tatsächlich hatte er in der Nacht vom 27. zum 28. Februar Berlin in Richtung München verlassen. Am 3. März 1933 kehrte er zurück und erhielt sofort bei Ankunft im Mossehaus seine Kündigung. Die Entlassung erfolgte nicht auf Veranlassung der neuen Machthaber, Lachmann-Mosse zog damit den Schlussstrich unter die Auseinandersetzung, die er mit Wolff seit 1928 geführt hatte. Bei der Amtsenthebung teilte ihm Lachmann-Mosse mit:

„Für unabsehbare Zeit wird sich das „Berliner Tageblatt“ innenpolitisch im Wesentlichen neutral auf die Bearbeitung der großen wirtschaftlichen und außenpolitischen Fragen konzentrieren. Aber wahre Demokratie und Gerechtigkeit verlangen, dass positive Leistungen des Staates, auch dann wenn dieser Staat eine wesentlich andere Gestalt angenommen hat, sachliche Anerkennung erfahren.“ Der letzte Leitartikel von Theodor Wolff behandelte die bevorstehende Reichstagswahl am 5. März 1933. Der bereits in München entworfene Artikel erschien zwei Tage nach seiner Entlassung. Anhand dieser nach der Kündigung erfolgten Veröffentlichung wird seine Machtfülle sowie Mitverantwortung an der Orientierungslosigkeit der Führungskräfte und Mitarbeiter deutlich. Der Belegschaft fehlte zu diesem Zeitpunkt jegliche Kenntnis, wer das „Berliner Tageblatt“ überhaupt führte. Am 5. März 1933 gab Wolff in einem Wahllokal in unmittelbarer Nähe seines Hauses am Hohenzollerndamm seine Stimme zur Reichstagswahl ab und verließ Berlin mit dem Abendzug wieder nach München. Am 9. März ging er mit seiner Familie mit Zwischenaufenthalten in Österreich und der Schweiz nach Südfrankreich ins Exil. Er schrieb nochmals mehrere Briefe an Lachmann-Mosse, in welchen er darauf bestand, weiterhin als Chefredakteur im „Berliner Tageblatt“ genannt zu werden. Tatsächlich wurde sein Name erst am 21. März 1933 nicht mehr im Impressum aufgeführt.

Aufgrund unterschiedlicher Darstellungen in der Gegenwartsliteratur muss ausdrücklich darauf hingewiesen werden, dass Wolff nach dem 5. März 1933 beim „Berliner Tageblatt“ in keiner Weise mehr redaktionell involviert gewesen ist.

Verbot und vorauseilender Gehorsam

Mit der Überschrift: „März 1933: Die Untaten der alten – die Versprechen der neuen Regierung!“, und aufgrund der Spaltenbreite klein darunter „in Mandschukuo“, sollte am 10. März 1933 auf der Titelseite ein von Wolfgang Bretholz verfasster Artikel über die Vorfälle in der Mandschurei erscheinen. Weil die Headline missverstanden werden konnte, ließ Walter Haupt, der seit dem 13. September 1932 als Insolvenzverwalter des Verlags eingesetzt war, die bereits sich im Druck befindende Auflage stoppen und legte die Ausgabe zur Prüfung der Zensurbehörde vor. Diese betrachtete die Schlagzeile tatsächlich als Provokation und verhängte auf Grundlage der im Februar 1933 erlassenen Verordnungen des Reichspräsidenten zum Schutz von Volk und Staat ein Verbot der Zeitung vom 10. bis zum 13. März 1933. Alle anderen Mosse-Zeitungen waren davon nicht betroffen.

Als Joseph Goebbels am 11. März von der Angelegenheit erfuhr, ließ er mit sofortiger Wirkung das Verbot aufheben und das „Berliner Tageblatt“ konnte am 12. März wieder erscheinen; mit dem Artikel und der Überschrift. Allerdings interessierte sich Goebbels nunmehr für die anarchistischen von wilden Streiks begleiteten Zustände im Hause Mosse. Am 21. März 1933 setzte er für mehrere Tage den SA-Sturmbannführer Wilhelm Ohst als Aufpasser an den Rotationsdruckmaschinen ein, was bei der Belegschaft für noch mehr Unruhe sorgte.

Die spätere von einigen Autoren aufgestellte Behauptung, Lachmann-Mosse habe nach diesem Verbot zur Anbiederung an die Nationalsozialisten besonders viele Juden entlassen, entspricht nicht der Realität. Eigens die von Alfred Kerr im Exil kolportierten Anekdoten, wonach nicht nur Kündigungen, sondern auch Zensurmaßnahmen der „Entjudung“ dienten, bezeichnet die Historikerin Elisabeth Kraus als „unwissenschaftliche Verleumdung“ maßgeblich gegenüber der Familie Mosse. Vielmehr begann die Kündigungswelle im Herbst 1932 und betraf angesichts des hohen Anteils von jüdischen Mitarbeitern beim „Berliner Tageblatt“ logischerweise viele Juden. Im Übrigen war das „Berliner Tageblatt“ nach Hitlers Machtergreifung nicht die einzige und nicht die erste sanktionierte bürgerliche Zeitung. Beispielsweise wurden schon am 18. Februar 1933 die katholisch-konservative Germania sowie die „Märkische Volkszeitung“ für zwei Tage verboten, ganz abgesehen von kommunistischen Parteiblättern.

„Kalte Arisierung“

Trotz aller gebotenen Vorsicht, hat nach Ansicht verschiedener Historiker eine „Arisierung“ und Enteignung des Mosse-Konzerns nicht stattgefunden. Wenn überhaupt, dann könne von einer „Kalten Arisierung“ gesprochen werden. Fest steht, dass die Nationalsozialisten ein hoch verschuldetes Unternehmen mit 3.000 gefährdeten Arbeitsplätzen, nicht bezahlten Gehältern,  ausstehenden Sozialversicherungsbeiträgen, offenen Rechnungen sowie einer nicht mehr anwesenden Chefredaktion und Geschäftsleitung übernahmen. Hans Lachmann-Mosse floh am 1. April 1933 nach Paris und veranlasste von dort aus die Umwandlung des Konzerns in eine Stiftung zum 15. April 1933. Am gleichen Tag stellte die Rudolf Mosse OHG sämtliche Zahlungen ein. Bezüglich des Zwecks der Stiftung teilte er dem Konkursverwalter schriftlich mit:

„Ich will von nix profitieren. Alle Früchte, die der Baum noch trägt, sollen den hungernden Kriegsopfern (Erster Weltkrieg) gehören.“

Walter Haupt gab sich mit dieser „vaterländischen Erklärung der neu gegründeten Stiftung nicht zufrieden“. Weil er im Unternehmen keinen verantwortlichen Ansprechpartner mehr hatte und bei mehreren Banken die Unterschrift des Firmeninhabers benötigte, forderte er von Lachmann-Mosse konkrete Nachfolgeregelungen. Der äußerte sich dazu nicht. Am 12. Juli 1933 erfolgte auch bei der Stiftung der endgültige Zahlungstopp. Getreu dem schon seit 1914 so bezeichneten Too big to fail-Phänomen gaben Joseph Goebbels und Hermann Göring an, den Verlag wegen der vielen Arbeitsplätze nicht zerschlagen zu wollen. Insbesondere das „Berliner Tageblatt“ sollte erhalten bleiben. In Paris erreichte Lachmann-Mosse ein Angebot Görings, die Zeitung als Geschäftsführer weiterzuleiten. Dafür wurde ihm sogar eine „Ehrenarierschaft“ in Aussicht gestellt. Theodor Wolff, der sich zu diesem Zeitpunkt in der Schweiz aufhielt, bekam die gleiche Offerte. Beide lehnten das Angebot ab.

Zum Insolvenzverwalter wurde nun Max Winkler bestimmt, der als Krisenmanager und graue Eminenz der deutschen Presse, den Nationalsozialisten ebenso bereitwillig wie früheren Kabinetten zu Diensten stand. Winkler sah keine Möglichkeiten, den Verlag wirtschaftlich fortzuführen. Erst auf mehrfaches Drängen von Goebbels stimmte er einer Sanierung über Auffanggesellschaften zu. Die Reichsregierung veranlasste am 23. Dezember 1933 ein Vergleichsverfahren zur Abwendung des Konkurses und stellte zur Befriedung der Gläubiger 30 Millionen Mark aus Steuermitteln zur Verfügung. Diese Summe entspräche heute einer Kaufkraft von rund 2 Milliarden Euro. Die Ansprüche konnten nur zu einem Bruchteil befriedigt werden. Viele kleine Gläubiger, allen voran die Handwerker vom WOGA-Komplex am Lehniner Platz, gingen leer aus. Die gerichtliche Klärung zog sich in einigen Fällen bis in die Nachkriegszeit.

Der „Frontschwein-Artikel“

In die deutsche Pressegeschichte ging der als Frontschwein-Artikel bezeichnete Leitartikel ein, welcher am 4. April 1933 mit der Überschrift „Klarheit“ im „Berliner Tageblatt“ erschien. Darin rief Wolffs langjähriger politischer Mitarbeiter Karl Vetter dazu auf, die Spannungen des Regierungswechsels zu überwinden. Er fuhr fort, dass er „den Göttern und Götzen einer Zeit, die gewesen ist, keine Träne nachweine“. Er habe „als Frontschwein trotz fehlender Hurra-Psychose seine Heimat mit derselben Pflichttreue wie jeder deutsche Soldat verteidigt“. Er appellierte in Erinnerung an Otto von Bismarck, dass „jetzt auch Adolf Hitler den Besiegten die Hand reichen“ solle. Er warf der Weimarer Republik vor, zu glauben, „mit einer abgekämpften Generation von Parteiunteroffizieren“ das neue Deutschland gestalten zu können. Vetter rief dazu auf, dem „Gegner von gestern nicht die Feindschaft von morgen“ anzusagen. Zu den Juden gewandt schrieb er, dass „das Ausland diesen keinen Dienst erweisen würde, wenn sie als alte Anklageweiber herumlaufen“. Auf dem Wege in die „Zukunft solle kein staatsbewußter Deutscher ausgeschlossen“ werden, die „aufbauwilligen Kräfte brauchen jetzt den inneren Frieden“ im Lande. Er bekannte sich „im Namen der Redaktion“ zu den „schicksalsgewaltigen Ereignissen dieser Tage“ und schrieb als Abschlusssatz: „Das „Berliner Tageblatt“ respektiere den Volkswillen vor aller Welt“.

Vetter war nicht in der Position, über die Veröffentlichung des Artikels allein zu entscheiden. Der Frontschwein-Artikel war ein offener Bruch der Redaktion zur republikanischen Vergangenheit des „Berliner Tageblatts“ und wurde nicht nur von Journalisten vielfach als Unterwerfung betrachtet. Mit diesem Artikel haben sich die Redakteure nicht nur öffentlich zum neuen System bekannt, sondern als erste Zeitung gegenüber der neuen Macht von selbst „gleichgeschaltet“.

„Aufbruch“ und Ende

Im April 1934 setzte die Reichspressekammer Paul Scheffer als neuen Hauptschriftleiter ein. Der selbstbewusste, weitgereiste, gebildete und finanziell unabhängige Scheffer arbeitete seit 1919 für das „Berliner Tageblatt“ als Korrespondent im Fernen Osten, den USA, in Italien, Großbritannien und Sowjetrussland. Im Juli 1933 hatte er schon die Leitung des außenpolitischen Ressorts übertragen bekommen. Goebbels, der wiederholt die „Eintönigkeit“ der deutschen Presse kritisierte, wollte das „Berliner Tageblatt“ als deutsches „Weltblatt“ aufbauen. Dafür sicherte er dem neuen Chefredakteur freie Hand bei der inhaltlichen Gestaltung zu.

Mit viel Energie machte sich Scheffer daran, das „Berliner Tageblatt“ vor dem völligen Absinken in die journalistische Bedeutungslosigkeit zu bewahren. Es gelang ihm, die Auflage zu stabilisieren und deutlich zu steigern. Scheffers Leitartikel und Berichte zeigten eine sachliche Brillanz und Schlagkraft, die völlig im Gegensatz zum Belehrungston anderer Zeitungen standen. Einen hohen Stellenwert maß er Auslandsreportagen bei, die fast schon literarische Qualität besaßen. Dafür schickte Scheffer junge Journalisten auf wochenlange Reisen in für viele Leser damals unbekannte und exotische Länder. Zu nennen sind besonders Margret Boveri, die im Auftrag der Zeitung in Malta, Marokko, Algerien, Tunesien, Ägypten sowie im Sudan unterwegs war und im Kaiserreich Abessinien ein von der Auslandspresse viel beachtetes Interview mit Haile Selassie führte; oder Herbert Ihering der für  exklusive Filmrezensionen nach Indien, Südamerika und Hollywood flog.

In seinen Artikeln sprach Scheffer stets von „Herrn Hitler“ statt vom „Führer“ oder „Kanzler“. Auf einer Pressekonferenz des Propagandaministeriums kam es 1935 zum ersten Eklat. Scheffer hatte in einem Leitartikel geschrieben, dass „die Völker mit intakten Religionsgemeinschaften, wie es sie beispielsweise in Italien und England gibt, den anderen Nationen an seelischer Spannkraft überlegen sind. Deutschland hingegen fehle die reguläre Verbindlichkeit“. Alfred-Ingemar Berndt, der Sprecher des Propagandaministers, schrie Scheffer an, ob er denn nicht Alfred Rosenbergs ersten Band „Mythus des 20. Jahrhunderts kenne. Zum Schrecken der Konferenzteilnehmer verbat sich Scheffer nicht nur den schroffen Ton, sondern setzte mit schneidender Ironie hinzu: „Im Übrigen nehme ich zur Kenntnis, dass Deutschland jetzt eine Religion besitzt, von der der erste Band bereits erschienen ist.“

Mit dem Vierjahresplan änderten sich ab 1936 Görings und Goebbels Ziele. Im Vordergrund stand nunmehr die Optimierung von Ressourcen, unter anderem mittels Lenkung des Arbeitskräfteeinsatzes, der Papier- und Rohstoffkontingentierung, und damit verbunden eine Reduzierung der Presseerzeugnisse. Insgesamt sank die Zahl der Zeitungen bis 1937 auf 2.500 und bis 1944 auf 977. Wie alle Zeitungen musste ab 1936 auch das „Berliner Tageblatt“ verschiedene Auflagen von Lenkungsinstanzen erfüllen. Scheffer, der stets bemüht war, dem Blatt seine Unabhängigkeit zu bewahren, gab schließlich entnervt auf und verließ Ende 1936 Deutschland. Er bereiste für zwei Jahre Südostasien, arbeitete anschließend für deutsche Zeitungen in New York als Auslandskorrespondent und ließ sich 1942 nach dem Kriegseintritt der Vereinigten Staaten als freier Journalist endgültig in den USA nieder.

Als neuen Chefredakteur setzte Goebbels den überzeugten Nationalsozialisten Erich Schwarzer ein, der ab August 1937 gleichzeitig die Kreuzzeitung als Hauptschriftführer leitete. Auf die neuen Töne, die Schwarzer anschlug, reagierten die meisten Redaktionsmitglieder teils mit Kündigung, teils mit einer Art von Dienst nach Vorschrift. Einige fanden später Arbeit bei der Wochenzeitschrift Das Reich. Letzter Chefredakteur wurde im Mai 1938 Eugen Mündler, der die Aufgabe zur Abwicklung der Zeitung übernommen hatte. Das „Berliner Tageblatt“ erschien unter seiner Regie vollständig mit dem Text der Kreuzzeitung, bei der Mündler ebenfalls als Chefredakteur eingesetzt war. Beide Zeitungen wurden letztmals am 31. Januar 1939 ausgeliefert.

Aktuelles zu Markenrechten Am 31. Juli 2007 wurde beim Deutschen Patent- und Markenamt die Wort-/Bildmarke „Berliner Tageblatt“ gesichert. Die Markeninhaberin hat ihren Sitz in Moskau Russland. Genutzt wird die Marke für eine deutschsprachige Onlinezeitung mit Sitz in Tiraspol.