Zeitschrift „Vivos Voco“

Klabund – Preußentum und Sozialismus

Preußentum und Sozialismus nennt Oswald Spengler den Separatdruck eines Kapitels aus dem zweiten Teil seines Werkes „Der Untergang des Abendlandes“. Der erste Teil hat mit Recht das größte Aufsehen erregt. Er faszinierte durch geniale historische, mathematische und philosophi­sche Intuitionen. Im Farbigen und Linearen hinreißend, illustrierte er die These von der ewigen Wiederkehr Got­tes im gelebten Leben der menschlichen Kulturen, von seinem Kommen, Nahen, Dasein und Entschwinden. Die Jahreszeiten sind das Symbol nicht nur der Natur-, son­dern auch der Menschheitsgeschichte. Es gibt nichts, was ewig besteht. Es gibt, taoistisch gesprochen, nur eine Phi­losophie des Weges, nicht des Zieles. Der Begriff des Zie­les ist nichts als eine phänomenologische oder moralische Fiktion. Die Verwirklichung trägt den Keim der Verwe­sung schon in sich, wie in der Geburt der Begriff des To­des schon fixiert liegt. Ins Leben treten, heißt in den Tod eingehn: spricht Laotse. Leben und Tod sind wie die zwei Seiten einer Medaille. Hier heißt es nicht: entweder — oder. Sondern: sowohl — als auch. Lebe dein Leben und stirb deinen Tod. Es ist all-eins.

Wir leben im Niedergang der abendländischen Kultur, die den Charakter der Zivilisation angenommen hat. Dies heißt’s erkennen, bekennen – und danach leben. Wir müs­sen mit Anstand zugrunde gehn und diesen unsren Unter­gang bewußt gestalten. Wir atmen nur noch mit halber Lunge. Wir leben im Angesicht des Todes. Aber wir wol­len die Augen nicht schließen, sondern weit öffnen, und sollte uns die Sonne der Wahrheit auch blenden.

In seinem neuen Buch ist Spengler von der hohen Warte, von der er Mensch und Menschheit betrachtete, hernie­dergestiegen. Die Nebel der Niederung haben ihn umfan­gen und seinen Blick getrübt. Die Kur, die er unserer Zi­vilisation verschreibt, ist eine Blut- und Eisenkur. Er wird zum glühenden Verfechter des militaristischen Gedankens, den er mit dem sozialistischen Gedanken identifiziert, und die Erfüllung beider sieht er im Preußentum. Friedrich Wilhelm I., nicht Marx ist der erste bewußte Sozialist ge­wesen: sagt Spengler. Das Buch schillert von derartigen Paradoxen, die ein Zehntel Wahrheit und neun Zehntel Unsinn miteinander vermengen. An Stelle des Beweises tritt kühne Diktion und märchenhafte Dialektik. Spengler unterscheidet den einzig echten preußischen Sozialismus von dem falschen englisch-marxistischen Sozialismus. Der Entscheidungskampf beider Sozialismen steht, nach Spengler, bevor. „Geschäft und Beruf als die zwei Auffas­sungen der Arbeit stehen sich hier unvereinbar gegenüber.“ Der Preuße ist, von Gott, berufen. Der Engländer: gottlos, geschäftig, nur auf den Zweck der Arbeit bedacht, den Erfolg, das Geld, den Reichtum. Für den Preußen ist die Arbeit selbst das sittlich-wertvolle. Beide Sozialismen sind imperialistisch gerichtet, und das Ende wird der Cäsaris­mus sein. Mit dieser Prophezeiung hat Spengler vermut­lich und leider Recht. Recht und Unrecht, Sinn und Wahn­sinn gehen in diesem Buch wie Tag, Dämmerung und Nacht ineinander über. Spengler legt das Buch der deutschen Jugend ans Herz: als Trost, als Mahnung. Es ist das ge­fährlichste Buch, das es für die deutsche Jugend geben kann: denn es versucht, den Giftkeim des militaristischen Gedan­kens mit allen Mitteln philosophischer und historischer Dia­lektik in die jungen Seelen zu pflanzen. Geht die Saat auf, so wird eine blutige und furchtbare Ernte folgen. Es wird die Bibel aller Militaristen und Revanchepolitiker wer­den. Es ist die Heiligsprechung des Untertanengeistes, der Leutnantsepauletten und des Regierungsrates. Die All­deutschen werden es in Massen zu verbreiten suchen. Es stehen Sätze in dem Buch, die man sechsmal liest, weil man zuerst an ihren Ernst nicht zu glauben vermag und irgendeine versteckte ironische Spitze sucht. Schließlich entdeckt man zu seinem Entsetzen, daß sie ernst gemeint sind. Man höre beispielsweise: „Weltgeschichte ist Staaten­geschichte, Staatengeschichte ist die Geschichte von Krie­gen.“ Das schreibt der Autor vom Untergang des Abendlan­des und läßt es gar noch gesperrt drucken. Weiter: „Ideen, wenn sie zur Entscheidung drängen, verkleiden sich in politische Einheiten. Sie wollen mit Waffen, nicht mit Wor­ten ausgefochten werden.“ „Ideen, die Blut geworden sind, fordern Blut. Krieg ist die ewige Form höhern menschli­chen Daseins, und Staaten sind um der Kriege willen da. Sie sind der Ausdruck der Bereitschaft zum Kriege.“ Hier ist, aber nicht im shakespearischen Sinne, Narrheit, und diese Narrheit hat Methode. Krieg, Krieg, Krieg: das also ist das A und 0 dieses falschen Propheten von Deutsch­lands innerer Größe. Dschingiskahn in der Gloriole Gottes. Graf Arco, wer weiß, als Nationalheld? Warum erscheint Spengler nicht im alldeutschen Verlag von J. F. Lehmann? Ist das der neue deutsche Geist, der seine große Begabung dazu mißbraucht, sich selbst zu beflecken? Der Untergang des Abendlandes hat den Untergang Spenglers gezeitigt. Wird er wieder auferstehn? Ich wage keine Prophezeiung.(aus: Vivos voco 1, 1919/20)

Zeitschrift „Vivos Voco“

Die Zeitschrift erschien ab 1919 als „Zeitschrift für neues Deutschtum“ in Leipzig. Herausgeber waren Richard Woltereck und Hermann Hesse bis 1922, sowie  Franz Carl Endres.

Das Blatt verstand sich als pazifistische und lebensreformerische Zeitschrift.