Stahlgewitter – Der I. Weltkrieg

Kaiser Wilhelm II. verkündet in einer Rede – verfasst vom Reichskanzler Bethmann Hollweg – „In dem jetzt bevorstehenden Kampfe kenne ich in meinem Volke keine Parteien mehr. Es gibt unter uns nur noch Deutsche, und welche von den Parteien auch im Laufe des Meinungskampfes sich gegen mich gewendet haben sollte, ich verzeihe ihnen allen.“

Durcheinander hatte er gebracht, dass er noch kurz vor dieser Rede die gesamte Sozialdemokratie als „vaterlandslose Gesellen“ bezeichnet hatte. Es wurde ihm nicht übel genommen und mit den Stimmen der SPD genehmigte der Reichstag die erforderlichen Kriegskredite.

Wilhelm II. verordnete am 31. Juli 1914 den Kriegszustand nach Art. 68 der Reichsverfassung. Am 1. August befand sich das Deutsche Reich im „Kriegszustand“. Der sozialdemokratische Fraktionsvorsitzende Hugo Haase betonte, seine Partei lasse „in der Stunde der Gefahr das eigene Vaterland nicht im Stich“, der Reichskanzler Bethmann Hollweg feierte die Einigkeit mit den Worten: „Was uns auch beschieden sein mag, der 4. August 1914 wird bis in alle Ewigkeit herein einer der größten Tage Deutschlands sein“, und der Parlamentspräsident Johannes Kaempf beteuerte in seinem Schlusswort, „dass das deutsche Volk einig ist bis auf den letzten Mann, zu siegen oder zu sterben auf dem Schlachtfelde für die deutsche Ehre und die deutsche Einheit“.

Brüder, laßt uns Arm in Arm
In den Kampf marschieren!
Schlägt der Trommler schon Alarm
Fremdesten Quartieren.

West- und östlich glüht der Brand,
Sternenschrift im Dunkeln
Läßt die Worte funkeln:
Freies deutsches Land!
Hebt die Hand empor:
Kriegsfreiwillige vor!“

„Lied der Kriegsfreiwilligen“ von Klabund, gewidmet seinem Bruder Hans und es sollte über zwei Jahre dauern, bis er dieses Gedicht schrieb:

Der Kinder Augen sind wie goldner Regen,
in ihren Händen glüht die Schale Wein.
Ich will mich unter Bäumen schlafen legen
Und kein Soldat mehr sein.

Die drei Klabund-Chronisten Matthias Wegner, Guido von Kaulla und Kurt Wafner beginnen dieses Kapitel mit der gleichen Eröffnung, nämlich der allgemeinen Meinung, man gehe in einen aufgezwungenen Krieg und das Vaterland müsse gegen diesen „Überfall“ verteidigt werden.

Matthias Wegner:

„…Inzwischen hatte Deutschland den Ersten Weltkrieg ausgelöst. Die Obsession der Gewalt verwirrte auch Klabund wie so vielen anderen seiner Künstlerkollegen gründ­lich den Kopf. Er wollte nun unbedingt Soldat werden.“

Guido von Kaulla:

„…Der Ausbruch des Krieges trifft 1914 die Bevölkerung unerwar­tet. Man glaubt an die gerechte Sache eines Verteidigungskrieges und ist überzeugt, dass er bis zum Jahresende vorbeisein werde.“

Kurt Wafner:

„Als der erste Weltkrieg begann, war Klabund dreiundzwanzig Jah­re. Eine patriotische Welle ging über das Land, und viele aus dem Kreis namhafter Dichter und Denker scheuten sich nicht, das chauvinistische Streitross zu zäumen.“

Auch Klabund wie so viele aus diesen Kreisen schloss sich diesem Patriotismus an und meldete sich wie diese als Kriegsfreiwilliger. „Darunter befanden sich auch einige, die bisher aus ihrer antiautoritären und pazifistischen Gesinnung keinen Hehl gemacht hatten. Zu ihnen gehörten zum Beispiel Johannes R. Becher, Hugo Ball, George Grosz, Erich Mühsam, Ernst Toller. Es zählten dazu Hermann Hesse, Richard Dehmel – und Klabund“, schreibt Kurt Wafner.

Die Liste ließe sich beliebig fortsetzen – auch Gottfried Benn gehörte dazu – aber eine Entschuldigung ist sie natürlich für Fredi nicht. Erklären lässt sie sich vielleicht am besten aus dem Zeitgeist und den so genannten „preußischen Tugenden“, die zu der Zeit längst zu „Tugenden“ einer obrigkeitshörigen und militärisch geprägten Monarchie verkommen waren.

Guido von Kaulla nennt das: „Auch Fredi, jung, erlebnishungrig, in der Tradition vaterländischer Gedankengänge aufgewachsen, wird von der Woge der allgemeinen patriotischen Hochstimmung begeisternd mitgeris­sen. Der Krieg erscheint ihm, teilt der Eigenbericht später mit, vor allem 1914 als eine Steigerung des Lebens.“

Bei vielen hielt die „Begeisterung“ nicht lange an, so schreibt Kurt Wafner:

„… Sie waren umnebelt von der Sucht, das Vaterland verteidigen zu müssen und meldeten sich als Kriegsfreiwillige. Bei den meisten dauerte der Rausch nur ein paar Wochen; dann kam die große Ernüchterung. Wenn, wie Grosz berichtete, das Heldentum einiger Idealisten ge­dämpft wurde „durch Dreck und Läuse, Stumpfsinn, Krankheit und Verkrüppelung“.

George Grosz, geboren am 26. Juli 1893 in Berlin als Georg Ehrenfried Groß war ein deutsch-amerikanischer Maler, Grafiker und Karikaturist.

Am Ersten Weltkrieg nahm er als Kriegsfreiwilliger Infanterist teil, wurde aber schon im Mai 1915 als dienstuntauglich entlassen. „Krieg war für mich Grauen, Verstümmelung und Vernichtung.“ Gewandelt zum Kriegsgegner wollte er keinen deutschen Namen mehr tragen und nannte sich ab 1916 George Grosz.

„Ich zeichnete Soldaten ohne Nase, Kriegskrüppel mit krebsartigen Stahlarmen […] Einen Obersten, der mit aufgeknöpfter Hose eine dicke Krankenschwester umarmt. Einen Lazarettgehilfen, der aus einem Eimer allerlei menschliche Körperteile in eine Grube schüttet. Ein Skelett in Rekrutenmontur, das auf Militärtauglichkeit untersucht wird.“

Wikipedia schreibt:

„… 1917 wurde er erneut eingezogen. Nach eigener Angabe sollte er als Deserteur erschossen werden und sei nur durch die Intervention von Harry Graf Kessler gerettet worden. Er wurde in eine Nervenheilanstalt überwiesen und am 20. Mai als „dienstunbrauchbar“ entlassen.“

George Grosz starb am 6. Juli 1959 in Berlin.

Aus den Briefen an Walter Heinrich ist zu lesen, wie sich Klabund bemühte, Soldat zu werden und mit welch teilweise „romantischen Vorstellungen“ er diesen Krieg verband.

München. 3. 8. 1914

Lieber Herr Heinrich,

ich melde mich als Kriegsfreiwilliger bei den bairischen leichten Reitern. Hoffentlich nehmen sie mich. Ich meine, untätig hinter der Front zu liegen, lässt einen verfaulen und reibt mehr auf als noch so strapaziöser Dienst. Zum mindesten wer­den sie mir doch eine Waffe in die Hand drücken. Man kriegt gar keine Berliner Zeitungen mehr (sehr verspätet). Österreich schweigt überhaupt. Hier ist man bei der Arbeit: gestern wurden sie­ben Russen wegen Umtriebe erschossen.

Herzlichen Gruß H.

Nachts, wenn die Rekrutierungsbüros geschlossen sind, zieht Fredi mit anderen jungen Leuten durch die Cafes und Lokale der Stadt – auf Tischen stehend hält er Ansprachen – der Inhalt ist zu erahnen.

Walter Heinrich bekommt den nächsten Brief und auch der klingt wenig optimistisch:

„… München, 24. VIII. 1914

Lieber Herr Heinrich,

ich werde wohl nun die Hoffnung aufgeben müs­sen, irgendwie an die Front zu kommen. Ich werde mich auf mein Militärpapier: Landsturm ohne Waffe und ins Gebirge zurückziehen müssen. Da­mit man wenigstens nichts von den verfluchten Extrablättern zu Gesicht bekommt. Ich habe mich inzwischen über Reiß, dem ich ein lyrisches Flugblatt Kriegslieder von mir (einen Bo­gen, hübsche bunte Titelzeichnung, 50 Pfg) ange­boten hatte, heftig geärgert. Er hat abgelehnt. Leichten Herzens! Ich ärgere mich umso mehr, als er die moralischen Forderungen, die er an mich anlässlich unserer Korrespondenz über Georg Müller (Sie erinnern sich) richtete, auf sich selber nicht anzuwenden gesonnen ist. Wenn ich das Flugblatt jetzt bei einem andern Verlag herausbringe, ist es für die Propaganda meiner bei Reiß erschienenen Werke glatt verloren. Und was könnte es für Pro­paganda machen, wenn es beispielsweise in 10 000 Exemplaren verkauft würde. — (Was gar nicht un­möglich ist.) Es tritt aber ein, was Reiß mir da­mals so heftig zum Vorwurf gemacht hat, ich wolle meine Produktion in alle Winde verstreuen. Wer bürgt mir dafür, dass Reiß mein nächstes Gedicht­buch druckt? Dass er sich nur die Rosinen, Novel­len und Romane aus dem Kuchen sucht? Wer soll mir dafür bürgen, wenn nicht sein „moralisches“ Verantwortlichkeitsgefühl? — Können Sie nicht – mal gelegentlich mit Reiß sprechen? Viele herzliche Grüße stets Ihr ergebener Alfred Henschke.“

Eine weitere Musterung folgt, aber mit dem Fronteinsatz wird es wieder nichts, „die Leiden des jungen Henschkes“:

„… München, 6. 9. 1914

Lieber Herr Heinrich,

ich werde nun noch einmal beim Landsturm ausge­mustert. Wahrscheinlich: tauglich zu Kanzleidien­sten. Wenn man mich doch wenigstens in Brüssel verwenden könnte. Ich werde an Goltz schreiben. Es ist schlimm, in München und im Cafe herumzusitzen und auf die Depeschen zu warten. Ich wollte mich schon ganz absorbieren und ins Gebirge fahren nach Murnau (weil ich es auch eigent­lich mal wieder nötig hätte: gestern Abend und heute Nacht wackelte mein Kopf wie auf einer Stange und die Glieder zerrissen sich und schienen alle für sich zu existieren. Und das Ausatmen tat mir rasend weh. Das ging noch bis heute früh sieben. Jetzt ist’s 1, und alles wie weggeblasen.) -aber man kann es ja nicht.

Der Not gehorchend hab‘ ich eine kleine dramatische Szene geschrieben: „Russland marschiert“. Personen: Ein Polizist, ein Jude, ein Wirt, ein Soldat, ein Mädchen, ein Balte, zwei Russen. Ort: Petersburg, August 1914. Das Stück wird in einer privaten Aufführung der Kam­merspiele hier (zum Besten der Notleidenden in Ostpreußen) wahrscheinlich übernächste Woche aufgeführt werden. Ich habe es an Reiß geschickt. Jetzt bin ich es ganz zufrieden, dass er das Flug­blatt nicht genommen hat. Es wird im „Gelben Ver­lag“ erscheinen. (Ein Verlag, der durch seine Verlagsrichtung zur Zeit die beste Propaganda dafür machen kann.

Freilich begreif ich Reiß trotzdem nicht. Wer a sagt, muss auch b sagen. Er wird mir auch Dispens für ein zweites Flugblatt erteilen müssen. Ich höre, dass nur Erich Reiß in Berlin ist. Walther Reiß hätte es nach seiner Korrespondenz mit mir: … ich werde nicht die Hand dazu geben, dass auch nur das Geringste bei einem andern Ver­lag erscheint. . .“ nicht über sich gebracht.) — Was treiben Sie sonst? In Berliner Zeitungen steht, dass ich bei der bairischen Kavallerie ein- und ausge­rückt wäre. Ach, leider nicht. Leider nicht. Ich fühle mich aber nun beinah‘ verpflichtet, wenig­stens reiten zu lernen.

Herzliche Grüße der Ihre Alfred Henschke.“

Kein Kriegseinsatz und Verleger Reiß ist von seinen „Propagandaeinsätzen“ auch nicht so richtig begeistert – Kurt Wafner schreibt:

„… Doch welche Enttäuschung für den ewig Kränkelnden: Er ist zu krank, zu schmächtig für den Felddienst. Er wird ausgemustert. Aber er will doch irgendwie dabei sein – wenn nicht als Soldat, dann eben als Dichter. So veröffentlicht er zum Beispiel eine Anthologie mit Soldatenliedern, die den Krieg verherrlichen. Darin heißt es: „Möge das Soldatenlied an seinem Anteil auch des gegenwärtigen Krieges recht begriffen werden: als ein Kämpfer für deutsche Freiheit, Menschlichkeit, Innerlichkeit, für deutschen Humor und deutsche Melancholie …“

Matthias Wegner ergänzt:

„… Er wollte nun unbedingt Soldat werden – wegen seiner Krankheit ein aussichtsloses Unterfangen. Statt auf dem Schlachtfeld landete er in einem Davoser Sanatorium. Ersatzweise publizierte er „Soldatenlieder“, von denen einige sogar auf Postkarten gedruckt wurden.“

Guido von Kaulla fasst die Bemühungen – einerseits Fronteinsatz – andererseits die „Propaganda eines Dichters“ so zusammen:

„… Am 25. 10. 14: er zermartere sich den Kopf, wie er noch in den Krieg kommen könne. Wenn er schießen lernte, fliegen lernte? Reiten könne er. Er reite beinahe täglich und tue alles, was er nicht dürfe, rauche auch Zigaretten – und sein Arzt müsse zugeben, dass er munterer sei denn zuvor. Am 31. 10. 14: vielleicht käme er (irgendwie) an die Front. Das sei eine schwache Hoffnung. Er reite. Und er lerne schießen. Trotz aller Anstrengungen: er wird nicht als diensttauglich eingezogen, so oft er auch noch wieder gemustert wird. Am 9. 11. 14 schreibt Klabund, der jetzt nicht „als lyrisch feige Wanze“ zurückste­hen will, an den Verleger A. R. Meyer nach Berlin u. a.: Er werde wohl wieder in die Schweiz gehen. Nächstens. Er könne beim besten Willen nicht mittun – merke er mal wieder.

Gleich Ernst Toller und Johannes R. Becher, gleich Rene Schickele und Rainer Maria Rilke beteiligt er sich am Ge­schehen durch „Kriegsgedichte“. Eine Postkarte mit seinem Ge­dicht „Kriegsfreiwillige vor!“ erlebt eine sehr hohe Auflage. Der Verleger Dr. Albert Mündt bringt „Klabunds Soldaten­lieder“ – der Verleger Goltz ein „kleines Bilderbuch vom Kriege“ mit handkolorierten Holzschnitten von Richard See­wald. Wieder werden – kein Problem für einen gelernten Lyrikarbeiter – Vorräte zum Teil entsprechend geändert. Aus „Der Ermordete“ wird „Der Verwundete mit Kopfschuss“. Aus einem „Abschied“ zur Friedenszeit wird der eines ins Feld zie­henden Soldaten. Dazu dann auch noch das „Landknechtslied“ aus * dem „Faust“ von anno 1910: „Maria himmelobem.“

Erste Theaterstücke, die natürlich auch den Krieg verherrlichen werden aufgeführt. Guido von Kaulla schreibt:

„… Erst die Kriegsumstände eröffnen die Möglichkeit, aufge­führt zu werden. Am 18. 9. 14 trägt Klabund im Rahmen eines „Vaterländischen Abends“ Kriegsgedichte vor. Dann folgt mit dem Einakter „Russland marschiert“ die Feuertaufe als Büh­nenautor. Im Abendspielplan der Münchener Kammerspiele (damals noch in der Augustenstraße) erscheint diese rasch entstandene Arbeit ab 10. 10. 14 zusammen mit zwei anderen „Kriegskomödien“ von Klabund: mit der grotesken Londoner Rekrutierungsszene „Tommy Atkins“ und einem Schwank-Potpourri ausländischer Presseberichte: „Der feiste Kapaun“ unter dem Sammeltitel „Kleines Kaliber“.

Fredi an Walter Heinrich:

„…Lieber Herr Heinrich,

„Russland marschiert“ und „Der feiste Kapaun“ sowie „Tommy Atkins“ sind selbstverständlich nur Mittel, um über diese Zeit hinwegzukommen. Und wie ich mei­ne recht anständige Mittel. Die ganze Trilogie soll in den Münchner Kammerspielen und der Societät Berlin zur Aufführung kommen. Wissen Sie keinen netten Gesamttitel? Es sind alles drei Komödien, zwei spielt in Bordeaux, drei in einem Rekrutierungsbüro in London. Zwei ist ein Sammelsurium wahn­witziger ausländischer Presseberichte. (Ich lese das Echo de Paris im Original.)

— Es ist ein Spiel, aber ich war unglücklich, ehe ich es nicht hatte. Die er­sten Kriegswochen waren eine Tortur. Ich bitte doch Reiß ans Herz zu legen, dass er sie alle drei in einem hübschen kleinen Bande mit einer Zeichnung von Szafranski druckt, sobald die Semmeln noch warm sind. Ich hoffe, dass er mich nicht im Stich lässt jetzt. (Und etwa alle meine Kriegssachen andern Verle­gern in die Hände spielt), es würde mich nach dem guten Anfang bei Reiß schmerzen.  

Sie werden mir glauben, dass ich nicht renommiere, wenn ich schreibe, dass mir andere Verleger genug zu Gebote stehen. Ich will nicht. Und hoffe, dass auch Reiß meine Sa­chen nicht bei andern sehen will und die Vereinba­rungen, die sein Bruder getroffen hat, umstößt. (Sein Bruder hat den Roman angenommen. Es könnte sein, dass ich das Honorar einmal brauchte.) Entschuldigen Sie, wenn ich immerzu von Reiß rede, aber es geht mir durch den Kopf, weil ich von ihm überhaupt nichts höre. Und dann hab‘ ich die letzte Zeit rasend gearbeitet, wie ein Pferd, manch­mal von 10 Uhr früh bis 3 Uhr nachts. Ich bin ein wenig überreizt, trotzdem ich gestern und vorgestern im Gebirge war, was mich wundervoll beruhigte. Kennen Sie Mittenwald? Die architektonisch schön­ste Stadt Bayerns. Ein Bauerngesang. Mit dem Kar­wendel als Notenblatt. — Wissen Sie, dass ich eine Soldatenliedersammlung habe? Wohl die beste, die es zur Zeit gibt? Hunderte? Richtige Soldatenlieder‘! Ich will sie jetzt herausgeben. Reiß wird sie schwer­lich wollen. Er hat ja sein Wenn‘s die Soldaten . . .* das sehr hübsch ist, auf Vollständigkeit (Bayern und Österreich fehlt ganz) ja aber auch keinen Anspruch  macht.

Der Ihre Alfred Henschke.

Und auch sein Bruder Hans will unbedingt „in’s Feld“:

München, 25. 10. 1914

Lieber Herr Heinrich,

„Mein Bruder Hans wird morgen oder übermorgen ausrücken. Er schrieb mir eine Karte wie: „Wir wer­den uns nur als freie Deutsche wiedersehen“, aber leider erhielt ich gleichzeitig einen Brief meines Vaters, der den patriotischen Eindruck der Karte beträchtlich zu mildern wusste. Er hat nämlich, ab­gesehen von seinem gewiss reichlichen Wechsel, Schulden wie ein Major gemacht und kann das Geld, da er dem Alkohol nicht sehr zugeneigt ist, nur in Gemeinschaft freundlicher Damen um die Ecke ge­bracht haben. Was das für freundliche Damen sind, kann man sich denken, wenn man Kottbus nur einen Blick geschenkt hat. Es gibt unendlich viele Solda­tenkneipen mit roten Lichtern in Kottbus. Dass auch der Patriotismus sich schließlich nicht an­ders als erotisch zu entladen weiß, ist eine Hypothese, die mir nie geglaubt wurde, obgleich ich sie statistisch (Sänger-, Turn-, Kriegervereinsfeste) zu be­legen versuchte. Bei den Kriegsfreiwilligen haben wir den unumstößlichen Beweis. Ich erinnere mich bei der Kriegserklärung Österreichs an Serbien: ich war in Leipzig, Tausende marschierten (ich auch) unter Führung eines besoffenen Bäckergesellen nach dem österreichischen Konsulat. Ehrbare Leute alles. (Der Bäckergeselle musste schließlich in einer requi­rierten Droschke gefahren werden, er wollte von sei­ner Fahne nicht lassen.) Als man auseinanderging, wusste man nicht wohin. Man war noch immer nicht entspannt, noch immer geladen. Keiner sagte zum andern was: aber alle trafen sich … in den Bordell­gassen wieder. Ich habe das zuvor nie erlebt, dass in solchen Häusern auch nicht ein Mädchen frei war. * In Leipzig erlebte ich‘s. Die Gassen dröhnten vom Schritt der Kolonnen. Jeder war ein „Krieger“ und zog, von den Huren bewundert und mit Blumen ge­schmückt, zum Tore hinaus.

Entschuldigen Sie die Schrift, ich habe meine Feder nicht. Ich zermartre mir den Kopf, wie ich noch in den Krieg kommen könnte. Wenn ich schießen lernte, fliegen lernte? Reiten kann ich. Ich reite beinahe täglich und tue alles, was ich nicht darf, rauche Zigaretten, – und mein Arzt muß zugeben, daß ich munterer bin denn zuvor. (Unberufen unbeschlappert, dreimal untern Tisch geklappert.) Herzliche Grüße, grüßen Sie bitte Reiß.“

Die Einschläge lassen nicht lange auf sich warten. „Die Ferne verliert sich, als der Tod in seiner Nähe zuschlägt. Leybold – bei Kriegsbeginn eingerückt und bei Maubeuge auf den Tod erkrankt – stirbt am 8. 9. 14 beim Ersatztruppenteil in Itzehoe“, so Guido von Kaulla.

Wikipedia:

„… Hans Leibold, geboren am 2. April 1982 in Frankfurt am Main war ein deutscher expressionistischer Dichter. Das schmale Werk des gefallenen Dichters wurde zu einer Inspirationsquelle des literarischen Dadaismus. Seine absurden Texte und Gedichte bedeuteten einen wichtigen Schritt in der Entwicklung des Frühexpressionismus.

Er wird bei Ausbruch des Ersten Weltkrieges im Sommer 1914 eingezogen und schon bald vor Namur schwer verwundet. Drei Tage nach seiner Rückkehr zum Regiment erschoss er sich in der Nacht vom 7. zum 8. September. Für Gründe ist man auf Vermutungen angewiesen, aber eine (eingebildete?) Syphilis-Erkrankung könnte der Auslöser für die Tat gewesen sein.“

Ihm gewidmet ist das am 1. Dezember 1914 im „ Prager Tageblatt“ erscheinende Gedicht „An einen gefallenen Freund“:

Arm in Arm sind wir gegangen
Durch das Himmelreich der Welt.
Mit dem Lasso haben wir gefangen
Schöne Frauen, die wie Rehe sprangen
Und wir wehten segelnd auf dem Belt.

Und in Stunden, die wie Schleier glitten,
Sind wir durch den hellen Park geritten,
Sonne regnete auf Rain und Ruf.
Deine Lippen sprachen leichte, schwere
Verse, und die goldne Ähre
Rauschte an der Rappen Huf.

Grosse Stadt war unsre Mutter,
Nahm uns gern im dunklen Abend auf.
O nach Wolkenfahrten banden wir den Kutter
Schwingend an des Kirchturms Knauf.
Grosse Stadt ist unsre Mutter,
In den niedern Strassen funkelt unser Lauf.

Stehn noch immer jener Kirche Türme?
Sind noch immer Frauen einem lieb,
Seit es dich in namenlose Stürme
In entbrannte Ozeane trieb?
Deine Lippen schweigen leicht und schwer,
Deine Stirn steht abendrotumwettert.
Ein entseelter Franktireur
Hat dein Herz, mein Herz zerschmettert.

Fredi tanzt auf allen Hochzeiten, sie müssen nur patriotisch sein und einen Beitrag zu diesem „großartigen Krieg“ leisten. Mal wieder in Crossen schreibt er:

„… Crossen, 23. 12. 14

Lieber Herr Heinrich,

alles Gute zu Weihnachten und zu 1915!

Hier spürt man in zwei Stunden mehr vom Krieg als in München in einem halben Jahr. Das machen die vielen gefangenen Russen, die man sieht. Sechstausend sind’s. Die meisten hervorragend gut mit hellbraunen festen Mänteln und großen Schuhen ausgerüstet. Einzelne allerdings: zum Jammern: nur mit schmutzigen Tüchern umwickelt. Einzelne kleine greisenhafte Kerle. Mongolen. Bärtige Juden. Balten mit Fransen.

Herzlich Alfred Henschke.“

Und über „die vielen gefangenen Russen“ gibt er einen Artikel, der in den Crossener Heimatgrüßen abgedruckt wurde, aber am 4. Januar 1915 im Ber­liner Tageblatt erschien.

6000 Gefangene Russen im Lager bei Kähmen 

Sieben Tote bei einer Revolte – Eine 1915 im „Berliner Tagblatt“ erschienene Reportage von Klabund 

Heimatgrüße 1994/1

Der Redakteur der „Heimatgrüße“ be­kam vor kurzem ein wertvolles Bildgeschenk für sein Archiv vom Landsmann Hans-Jürgen Kiesel (…) Dazu gehörte eine Serie von heute wohl einmaligen und interessanten Fotos. Sie veranschau­licht das Leben der russischen Kriegsgefangenen während des I. Weltkrieges in Crossen. Ein passender Text dazu war schnell gefunden. Es ist die folgende Reportage von   Klabund, die Lands­mann Herbert Boretius vor einigen Jah­ren bei Archivstudien wiederentdeckte. Sie erschien am 4. Januar 1915 im Ber­liner Tageblatt. Der Stil des Dichters ist unverkennbar. Doch auffällt, dass sich Alfred Henschke hier Im Alter von 24 Jahren als ein durchaus national geson­nener Berichterstatter entpuppt. 

Kaum war ich in Krossen einge­troffen, sah ich schon einen Zug von etwa 300 gefangenen Russen, die in einem   langsam schläfrigen Marsch, von Landsturmleuten mit aufgepflanz­ten (erbeuteten französischen) Bajo­netten eskortiert, durch die Straßen zu ihrer Arbeitsstätte zogen.

Sie waren zum größten Teil vor­züglich mit hohen schwarzen Juchten­stiefeln und dicken lehmfarbenen Män­teln ausgerüstet. Einige wenige gingen in Holzpatinen und hatten sich aus umgeworfenen Tüchern phantastische Uniformen hergestellt. Einige sahen wie Mönche oder fromme Pilger aus, die mit leidenden Gesichtern wie zur Me­lodie eines unhörbaren Trauermarsches marschierten. Einer in dottergelbem Umhang leuchtete, gleichsam ihr Götze und wie die Inkarnation ihrer gefange­nen Sehnsucht, der braunen Kolonne weit voraus. Am Schluss krochen klei­ne greisenhafte Kerle mit gelben zer­knitterten Masken: Kirgisen und Mon­golen aus den sibirischen Regimen­tern. Kosaken sah ich keine. Auch später bei meinem Besuch im Lager nicht. Es sind sicher welche darunter, aber sie haben sich unkenntlich ge­macht. Wenn man nach Kosaken fragt, glauben sie, man wolle sie für die Kosakengreuel in Ostpreußen ver­antwortlich machen und spießen oder hängen.

Durch das Entgegenkommen des Lagerkommandanten Oberstleutnant H. und des Lagerinspektors Hö. war es mir vergönnt, dem Russenlager einen Besuch abzustatten. Herr Hö. hatte die Freundlichkeit, mich zu führen.

Das Lager ist eine halbe Stunde von dem reizvoll an der mittleren Oder gelegenen Städtchen Krossen entfernt, auf hügeligem Gelände jenseits des Flusses. Das Landsturmbataillon, dem die Russenwache übertragen ist, besteht zum größten Teil aus Berlinern.

Am Eingang des mit mehrfachem Stacheldrahtzaun umgebenen und von den Russen selbst erbauten Lagers steht die massive Kaserne des Wachtkommandos. Dann beginnt die Gott­bergstraße (so benannt nach dem hiesigen Landrat), die links und rechts von der Tischlerei, der Bäckerei, der Küche, dem russischen Dampfbad, den Bureauräumen der Lagerinspektion, der kleinen mit einem himmelblau-himbeerroten Turm verzierten Kirche umsäumt wird und zur „Renaten schanze“ und zum „Barbaraturm“ fuhrt.

Die „Renaten schanze“ und der „Barbaraturm“ stellen eine Festung innerhalb des Lagers dar, sie sind mit Maschinengewehren und Kanonen be­setzt, deren jede einen der Höfe des Lagers beherrscht. Die Kanonen wer­den von einer Abteilung Landsturm Artillerie bedient. Leider ist es in einer stürmischen Herbstnacht, die eine der eben erbauten Baracken fortzufegen drohte, zu einer Revolte gekommen, die wohl auf ein Missverständnis zurückzuführen ist. Sieben Russen wur­den erschossen; sie liegen mit ihren an Krankheit oder Verwundung verschiedenen Kameraden auf dem russischen Friedhof. Die Sterblichkeitsziffer ist sehr gering. Von den 6000 Gefangenen sind bisher 30 gestorben.

Die Lazarette befinden sich auf ei­nem besonderen Hof. Sie zählen von L 1 bis L 7. L 1 ist das chirurgische La­zarett, L 5 das für Hautkrankheiten, zu denen in erster Linie die Läusekrank­heit zu rechnen ist, die im Osten, leider nicht nur unter den Russen, grassiert. Für ansteckende Krankheiten (das La­ger wurde bisher vom Flecktyphus verschont) werden zurzeit außerhalb des Lagers wohnliche Erdbaracken er­richtet. In den Lazaretten und der Lazarettapotheke arbeiten gefangene russische Ärzte und Apotheker unter der Leitung deutscher Stabsärzte und Militärapotheker

Die Holzbaracken, in denen die Russen wohnen, sind hoch und luftig und sehr gut ventiliert. Einige Baracken gehen halb in den Erdboden. Sie ha­ben nach meinem Gefühl vor den frei­stehenden Baracken, besonders im Winter, viel voraus, sind wärmer und machen überhaupt einen gemütlichen Eindruck. Die Lagerstätten oder Betten sind dreifach übereinander gestaffelt. Die Gefangenen schlafen auf Holzwoll­säcken und erhalten als Oberbett feste Wolldecken. Jede Baracke wird von ei­nem großen Ofen geheizt. In einigen Baracken sind noch einige kleine Koch­öfen vorhanden, wo sich die Leute ihr Essen aufwärmen oder Tee kochen können. Die hölzernen Tische, auf de­nen sie essen und arbeiten, lassen sich durch sinnreiche Vorrichtung (Um­klappen der Plätte) in große, mit Zinn ausgeschlagene Waschschüsseln verwan­deln.

Eine Lagerfeuerwehr exerziert unter Führung eines Landsturmmannes, der im Privatberuf Brandmeister der Berli­ner Feuerwehr ist, an einer von der Freiwilligen Feuerwehr Krossen überlassenen Spritze. Nach deutschem Kommando.

in der Küche kam ich gerade dazu, wie das Mittagessen ausgeteilt wurde. Ein Koch eines großen Berliner Hotels ist Oberkoch; ihm unterstehen zwei Dutzend russische Köche. Es gab Reis­fleisch, das heißt Rindfleisch in einer dicken Reissuppe. Zehn Zentner Fleisch waren dazu verarbeitet. Ich konnte mich durch Kostprobe davon überzeugen, wie schmackhaft das Essen hergestellt war. Jeder Mann empfängt einen Liter, Leute, die am Vormittag angestrengt gearbeitet haben, andert­halb Liter. Dazu erhält jeder jeden Tag ein Pfund (in der Stadt gebackenes und auch von den Einwohnern gern gegessenes) „Russenbrot’* – mit Kar­toffelmehl durchsetztes Roggenbrot.

In der Hauptbaracke sang uns der russische Gesangverein, der unter Lei­tung eines gefangenen Petersburger Musikdirektors steht, einige slawische Lieder vor. Zuletzt sangen sie das schwermütige Lied ihrer Erinnerung an die Heimat: „Sag, wo bist du nur, geliebte Heimat?“

In jeder Baracke kommandiert ein russischer Feldwebel. Es sind auffal­lend viel Polen, Juden und Russen aus den Ostseeprovinzen hier, die recht gut Deutsch sprechen. Von der Erlaub­nis, Briefe zu schreiben, machen sie ausgiebigen Gebrauch. Dem Zensor wurden an einem Tag 1500 Briefe zur Prüfung abgeliefert. Sie empfangen auch Post und dürfen sich durch ihre Abgesandten in der Stadt Waren und Bedarfsartikel besorgen lassen. Aus Gründen der Feuersgefahr ist es ihnen verboten, Zigaretten zu rauchen. Wer arbeiten will, findet auch jetzt noch reichlich Gelegenheit. Er erhält außer besonderer Brot- und Essenration einen täglichen Sold von 15 bis 30 Pfennig.

Man möchte von Herzen wünschen, dass die gefangenen Deutschen in Russ­land ebenso human behandelt werden wie die Russen im Gefangenenlager Krossen, das nach meinem vorurteils­losen Eindruck ein wahres Musterla­ger ist. Es legt ein erfreuliches und erhebendes Zeugnis ab von deutscher Ordnung, deutscher Menschlichkeit: deutscher Kultur.“

Der Krieg ist nicht wie vorhergesagt Weihnachten 1914 zu Ende und die Verluste werden immer höher. Auch Walter Heinrich schreibt an Klabund, dass sein Neffe gefallen ist und dieser Brief erschüttert ihn:

„… München, 28. 10. 15

Lieber Herr Heinrich,

ich fühle, was Ihr kleiner Neffe Ihnen bedeutete: wohl das, was mein Bruder mir ist. Das Schlimmste ist doch der Tod. Die Vernichtung eines jungen Her­zens zerstört mehr, als die Erbauung eines Straßbur­ger Domes je wieder errichten könnte. Auch ich bin auf die Organisation des Todes, wie sie der Krieg erzeugt, immer wieder in Resignation und Tränen gestürzt. Ich bin müde von dem vielen Tod. Als neu­lich eine Maschinengewehrkompagnie verladen wur­de, hab‘ ich geheult wie ein Schloßhund. — Ich liege seit einigen Tagen im Bett. Ein mixtum compositum von Magen- Darm- Lungen- und Nie­renkrankheit, hoffentlich brauch‘ ich nicht operiert zu werden. Ich habe wie eine schwangere Frau im­mer heiße Flaschen auf dem Bauch liegen (und wei­ter unten eiskalte). Es gibt keinen vernünftigen Menschen mehr in Europa. Wir sind alle „ver­rückt“

Herzlichst drückt Ihnen die Hand Ihr Alfred Henschke.

Auch Bruder Hans wird verwundet, aber überlebt. In einem Brief vom 11. Oktober 1915 an Heinrich schreibt er:

„…Ich selber werde auch immer jünger. Immer jünger. Das ist eigentlich verdächtig. Schmeckt so nach Auflösung nach der andern Seite hin. Ich sehe jetzt so jung aus, als ob ich mein Bruder wäre. Und mein Bruder sieht so alt aus, als ob er ich wäre. (…) Meinem Bruder geht es besser. Er ist aus dem Laza­rett entlassen. Hat Urlaub und kommt dann nach Jüterbog zum Offizierskursus. Möchten Sie ihn ken­nenlernen? Sie wissen, dass ich viel von ihm halte. Seit er aus dem Feld zurück, habe ich ihn aber leider noch nicht gesehen.“

Und in einem Brief aus Davos der Satz: „Kurz: der zur Zeit nur irgend liefer­bare „Friede“,

Und bereits am 1. Sep­tember 1915 ist im „Berliner Tageblatt“ zu lesen:

„… Man liegt in Decken eingehüllt auf der Veranda. Der Karwendel schwimmt wie ein großer Dampfer im Dunkel. (…) Neun Monate bist Du schon im Krieg, mein Bruder (…) Siebzehn Jahre bist du alt. (…) Von der Sekunda in den Krieg. (…) Lieber Bruder – wen hab‘ ich wohl lieber als Dich! Du weißt es nicht, denn Du bist zu jung, es zu wissen. Nun hast Du den Sturm auf Warschau mitgemacht und liegst verwundet in einem Warschauer Laza­rett, „Leicht verwundet an Kopf und Auge durch Schrappnellschuß“.

Ganz langsam setzten wohl die Zweifel ein, aber Matthias Wegner fasst Fredis Einstellung so zusammen: 

„… Auch sein „Kleines Bilderbuch vom Krieg“ (1914) markierte, trotz gelegentlich auftauchender, leiser Zweifel, einen Tiefpunkt der Verirrung. Guido von Kaulla datierte die „Wende“ anhand der Briefe Klabunds an Walther Heinrich und der im März und April 1915 verfassten Nachdichtungen chinesischer Kriegslyrik, doch spricht, worauf von Kaulla selbst hinweist, ein Artikel Klabunds im „Berliner Tageblatt“ vom 16. Oktober 1916 noch eine andere Sprache:

„Frankreich ist seit der Marne Schlacht vollkommen verrückt: Vom geringsten Schuhputzer bis hinauf zu Anatole France ist jeder Franzose Chauvinist. Chauvinist schlimmster Sorte. […] Sie hassen nicht nur den deutschen Geist, sondern auch jeden einzelnen Deutschen.“

So ganz war der Fanatismus noch nicht erloschen, 1917 aber war die Wandlung vollzogen. Am 3. Juni dieses Jahres veröffentlichte die „Neue Zürcher Zeitung“ einen Offenen Brief Klabunds an den deutschen Kaiser, in dem er diesen zum sofortigen Rücktritt auffor­derte.

(…) Der Brief erregte weithin Aufsehen, die Rechte in Deutschland schäumte und es kann nicht verwundern, dass sie von nun an und noch über seinen Tod hinaus in Klabund einen ihrer vehementesten Gegner sah. Für Klabund bedeutete dieser Brief eine radikale Zäsur. Er machte sich Vorwürfe, nicht schon längst anderen Sinnes geworden zu sein. Die gründliche politische Analyse gehörte nicht zu seinen Stärken, dafür aber die schonungslose Selbstkritik.“

Die Kritik am andauernden und immer sinnloseren Krieg – wenn er denn jemals einen Sinn gehabt hatte – wird lauter, aber auch die Verfechter und damit auch Klabund bekommen diese zu spüren. In einer Buchkritik schreibt Julius Bab (geb. am 11. Dezember 1880 in Berlin, gestorben am 12. Februar 1955 in Roslyn Heights, New York) ein Dramatiker, Theaterkritiker und Mitbegründer des Kulturbunds Deutscher Juden:

„…Und nicht viel besser scheint es mir, wenn ein in letzter Zeit viel genannter junger Poet von dem bekannten Maienliedchen „Frühling, Frühling wird’s überall“ sich zu dem Refrain eines angeblichen Schlachtgedichtes inspirieren lässt: „Tiger, Tiger, brüllt übers Feld!“ […} Autor dieser ästhetischen Taktlosigkeit ist der sogenannte Klabund.“

Seine Münchner Freundin Marietta tut seine „Erzeugnisse“ ab mit den Worten: „Kleines Kaliber -!“ und Kurt Eisner, der Kritiker der sozialdemokratischen Tageszei­tung „Münchener Post“ u. a. schreibt:

„… Auch Klabund hat sich von dem bisher gepflegten Gebiet auf das militärischer Zusammenstöße begeben. Er dichtet mit dem maschinellen Datumstempel. […] Nach diesen Vorbildern verhöhnt er, während sich die Erde mit dem Blut auch ihrer Söhne bedeckt, in drei Szenen Russen, Franzosen und Engländer. […] skandalöse Dummheit ohne Hülle“

Guido von Kaulla meint:

„… Hier wollen nicht Kerr-Feinde ihr Mütchen kühlen, hier gilt allein Klabund der Beschuss. Die Ernüchterung und das Nachdenken setzen ein. Noch tönt er im Heftchen „Dragoner und Husaren“ (1915) über seine zum Teil schon vor dem Kriege entstandenen Soldatenlieder ölig wie ein Rauschebartprofessor: „Es ist mir eine Freude, dass viele der Lieder bereits in den Reihen der Soldaten umgehen und von ihnen gesagt und gesungen werden!“ (Klabund) Und ebenda verkündet er, dass die chinesische Kriegslyrik (die er im Früh­jahr 1915 übertragen hat) vieles von dem enthalte, was er „zum Krieg als Krieg lyrisch zu sagen wüsste.“

Und weiter:

„… Aber im Nachwort zur großen wissenschaftlich genauen Soldatenlieder-Anthologie, die er Mitte 1915 herausgibt, hat dann plötzlich alles schnöselige Geschreibe ein Ende und man spürt, dass er endlich für das Erkennen der Bitterkeit des Kriegsgeschehens reif geworden ist. (…)

Im Frühjahr 1916, als unzählige Menschen vor Verdun sterben, zeigt seine Kurzgeschichte „Die Schlachtreihe“ ach­tungsvolles Begreifen der Tragik eines Soldaten vor ausweg­losem, nicht von ihm herbeigerufenem und mit anderen Solda­ten zu teilendem Todesgeschick. Es ist Fredis Mitschüler Cuno von Falkenhayn, den er da seinem alten Lateinprofessor (der als Feind aller hochstrebenden Phrasen „acies“ mit „Heer“ über­setzt) schreiben lässt: „Acies heißt doch die Schlachtreihe“ -und dann: „Falkenstein fiel vor Verdun“.

Die Schlachtreihe 

Unser Lateinlehrer, der alte Professor Hiltmann, war wie Fontane ein geschworner Feind aller feierlichen und hochtrabenden Phrasen. So konnte er es in den Tod nicht leiden, wenn man nach dem Lexikon acies mit „die Schlachtreihe“ statt einfach und simpel mit „das Heer“ übersetzte.

Der Ultimus unserer KIasse war einer derer von Falkenstein, ein herzensguter, aber dummer Junge.

Jahre gingen ins Land.

Der Weltkrieg brach aus.

Hiltmann, als geschworner Feind aller feierlichen und hochtrabenden Phrasen, konnte sich mit ihm nicht befreunden.

Es tobten die männermordenden Kämpfe vor Verdun. Da erhielt Hiltmann eines Tages eine Feldpostkarte von Falkenstein, der vor Verdun lag. Auf der stand nichts als:

„Sehr geehrter Herr Professor!

Acies heißt doch die Schlachtreihe…

Ergebenster Gruß

Ihres Falkenstein.“

Da stützte der alte Hiltmann den weißen Kopf auf sein Stehpult und die Tränen rannen über seine runzeligen Wangen und tropften auf die Korrekturen des lateinischen Extemporale. Falkenstein fiel vor Verdun.

Auch Kurt Wafner beschreibt Klabunds Wandlung:

„… Aber schon im zweiten Kriegsjahr wandelt sich Klabund von ei­nem emsigen Schwadroneur deutscher Tugenden zurück zu einem streitbaren Verfechter humanistischer Ideale. Berichte über die Kriegsgräuel waren offenbar bis nach Davos gedrungen, wo er sich aufhielt und hatten den patriotischen Dunst vertrieben.“

Wafner führt dazu den folgenden Brief von Fredi auf.

„… Dem Rauschzustand 1914 habe ich längst abgeschworen, so gut wie Hugo Ball oder Johannes R. Becher, die alle stramme Kriegsfreiwillige und Anbeter der großen Sensation waren. Glaubten wir damals nicht an ein überfallenes Deutschland? Ich halte es für ehrenvoller, einen als falsch erkannten Standpunkt aufzugeben, als konsequent im Irrtum zu verharren. Schon im Frühling 1915 hat sich der Umschwung in mir vorbereitet, als ich die chinesische Kriegslyrik schrieb.“ Da heißt es zum Beispiel in einer Übersetzung: „Ich bin gespickt mit tausend Messern und müde von dem vielen Tod. Ich will mich unter Bäumen schlafen legen und kein Soldat mehr sein…“

Kurt Wafner weiter:

„… Es genügte Klabund nicht, das chauvinistische Schlachtross zu verlassen; er wollte sich als Pazifist zu erkennen geben. Und wo, so dachte er, könnte das wohl wirksamer geschehen, als sich direkt an das Oberhaupt der Deutschen und einen Verantwortlichen des Völkermor­dens zu wenden. Am 3. Juni 1917 brachte die „Neue Zürcher Zeitung‘ einen Offenen Brief an Kaiser Wilhelm II.

Es gehörte schon eine Portion Mut dazu, in der Zeit der Völker­verhetzung zum Frieden, zur Menschheitsverbrüderung aufzurufen, selbst wenn diese Töne ihr Ziel verfehlten. Klabunds Glaube an das Gute im Menschen musste hier vor der bitteren Realität kapitulieren.

Immerhin, diese provokante Herausforderung hätten die Crossener ihrem „verlorenen Sohn“ nun doch nicht zugetraut – und so spien sie Gift und Galle. Und der Gang Vater Henschkes durch die Gassen der Stadt glich wohl oft einem Spießrutenlauf.“

Der „Beschuss“ ist heftig und zieht sich über Monate hin, so geht am 11. 10. 17 geht ein Brief nach Crossen:

„…Lieber Va­ter, perfide Denunziationen (…) hatten mir ein schlimmes Schicksal zugedacht. Man hatte mich beim Armeekommando verdächtigt, der Autor der an der Front von der Schweiz aus verbreiteten revolutionären Flugblätter zu sein, die die Soldaten auffordern, bis an den Rhein zu gehen und was dergleichen läppisches Zeug ist, was mir nie auch nur in den Sinn kommen könnte. Eine halbe Stunde, nachdem ich von Lindau die Grenze passiert habe, traf dort der Befehl ein, mir die Ausreise zu ver­weigern, und mich unter militärischer Bedeckung in die Festung Küstrin zu verbringen. (…) Auf absehbare Zeit, ehe die Verhält­nisse geklärt sind, ist mir also die Rückkehr nach Deutschland unterbunden.“

Kurt Wafner:

„… Unwillen befiel Klabund, weil er sich hat vom Kriegsgeschrei be­tören lassen. Und Scham. Davon zeugt die im Juni 1917 verfasste „Bußpredigt‘. Sie macht seine Wandlung besonders augenfällig. Darin heißt es:

„Wir schwiegen vor den Krieglingen aller Länder, die es heute noch gibt; ihnen kann man nicht ins Gewissen reden, denn sie haben keines. Aber ihr, die ihr, wie ich, längst erweckt seid – erwacht von einem üblen Traum, der wie ein Alp euch drückte – bekennt, aus fal­scher Scham bisher nur schweigend, dass dieser Traum ein Trugbild war … Schwört ab dem Taumel 1914! … Ein rasender Protest gegen den kriegerischen Gedanken und das kriegerische System in der gan­zen Welt tut Not.“

Der Brief an Kaiser Wilhelm II, – darin enthalten die Aufforderung, zurückzutreten – markiert laut allen Biographien den Wandel Klabunds vom Kriegsbefürworter zum Kriegsgegner. Und diesen Wandel habe seine erste Frau, Brunhilde Heberle maßgeblich beeinflusst. Aber stimmt das so?

Als kurze Wiederholung, 1916 lernt er Brunhilde kennen und bereits im Februar 1917 ist klar, die beiden werden heiraten. Im vorigen Kapitel habe ich geschrieben:

„…Februar 1917 Reise nach Locarno, Guido von Kaulla schreibt: „… Im Februar 1917 reist Klabund nach Locarno-Monti – mit Irene, die ihn schon zu der pantheistischen Erzählung „Franziskus“ inspirierte.“

Übrigens wohnen die beiden in diesem Februar 1917 in Locarno-Monti in einer Villa, die den prophetischen Namen „Villa Neugeboren“ trägt. Eigentümerin dieser Pension ist Hilde Jung – ihr Geburtsname Neugeboren. 

Zurück zum „Kaiserbrief“ und der hat natürlich auch in der Familie Heberle und in Passau gewaltigen Wirbel ausgelöst. Aber nicht nur dort wird Klabund wegen ihm angegriffen und wider besseres Wissen wird er auch dort – und nicht nur dort – als Drückeberger bezeichnet. Im Mai 1918 nach Erscheinen dieses Briefes reiht sich die Passauer „Donau-Zeitung“ in die Schar der Kritiker ein. In einem Artikel (Henschke mit „K“) heißt es:

„…Vielleicht befassen wir uns einmal mit dem Treiben eines Deserteurs (Fahnenflüchtigen), der verwandtschaftliche Beziehungen in unsere Stadt hinein hat“.

Und zum Titel: „Deutsche Drückeberger in der Schweiz“ im gleichen Blatt:

„… Hier gehört auch der Novellist und Dichter Alfred Hentschke erwähnt. (…). Er hat aber nur von seinem kugelsicheren Schwei­zer Aufenthalt einen frechen anmaßenden „Offenen Brief“ an den deutschen Kaiser gerichtet. Hentschke scheut sich wohl­weislich, deutschen Boden zu betreten. Er ist Refraktär (d.h. einer, der sich seiner militärischen Gestellungspflicht durch den Aufenthalt im neutralen Ausland entzogen hat.“

Die Villa Neugeboren 

Die in diesem Kapitel verwendeten Zitate stammen aus der Seite:

http://www.gusto-graeser.info/Monteverita/Personen/NeugeborenHilde.html

die von Hermann Müller betreut wird.

Besitzerin der Villa war die „Gräser-Jüngerin“ Albine Neugeboren. geb. Capesius, Sie war – Jahrgang 1861 – Gattin eines sächsischen Unternehmers und lebte einen großen Teil des Jahres im Tessin.

Hermann Müller schreibt:

„… Albine Neugeboren war die erste (und vielleicht die einzige) Jüngerin von Gusto Gräser. Sie soll als Krebskranke von den Ärzten aufgegeben und dann durch eine von Gusto verordnete Diät gerettet worden sein. (…)   Überzeugt von seinen Ideen und seiner Lebensweise begleitete sie ihn wochenlang auf seinen Wanderungen durch die Alpen, sie, die barfüßige Millionärsgattin, bei den Bauern um ein Nachtquartier im Heu bittend.

(…) Gab ihre etwa zwölfjährige Tochter Hildegard zu Karl Gräser in die Lehre, wo das Kind, wie die Achtzigjährige erzählte, „Schreckliches“ erlebte. „Hatte immer Hunger“. Ging nachts auf die Felder, um Kraut zu stehlen. Hasste deshalb die Gräsers. 1909 brachte Gusto seine siebenköpfige Familie ins Haus der Neugeborens. Hildegard musste für die Kinder Kleidchen nähen, wiederum nicht zu ihrer Freude. Dennoch war ihr ganzer Lebensstil von den Gräsers geprägt. Sie war es, die Hermann Hesse 1915 zu sich einlud, worauf er 1916 tatsächlich ihr Gartenhäuschen bezog. In ihrem Hause in Monti (d. h. dem ihrer Mutter Albine) trafen sich Hesse und Gräser am 7. September 1916 erstmals wieder nach jahrelanger Entfremdung.

Landmann berichtet, dass nach dem Rauswurf Gustos durch Oedenkoven (November 1900) sich in Monti um ihn eine Gruppe Geistesverwandter versammelt habe. Ihr Standort und Stützpunkt dürfte das Haus von Albine gewesen sein. Dort fanden später auch Ernst Bloch, Klabund, Jakob Flach und angeblich auch Lenin einen Unterschlupf. Ohne die gräserische Gesinnung von Frau Albine hätte sich diese Freistatt rebellischer Geister nicht bilden können.“

Und weiter:

„… Die Villa Neugeboren war zur Zeit des ersten Weltkriegs noch keine Pension. Vielmehr lud Albines Tochter Hildegard, die das große Anwesen von mehreren Häusern allein bewohnte, ihr sympathische pazifistische Künstler zu sich ein, so auch Hermann Hesse, Ernst Bloch und Klabund. Erst ab 1922 wurde das Haus offiziell Pension, später dann ein vegetarisches Erholungsheim für Naturfreunde. Der religöse Sozialist und Theologe Leonhard Ragaz, der sich auch für Gräser einsetzte, hielt dort um 1930 Tagungen ab.

Hier schrieb Bloch „Geist der Utopie zu Ende“, es entstand seine Betrachtung über den „sittlichen Führer“. Von hier aus ging Klabunds Offener Brief von 1917 in die Welt, in dem er Kaiser Wilhelm zum Rücktritt aufforderte. Klabund arbeitete an einer Nachdichtung des „Tao Te King“ von Laotse, wie zur selben Zeit auch Gusto Gräser. Im Geist dieses Hauses entstanden Hesses Schriften gegen den Krieg und sein Roman „Demian“. Die Tochter Hilde von Albine Neugeboren wurde seine „Beatrice“.

Besuchende Gäste waren u. a. Emmy Ball-Hennings, Else Lasker-Schüler und Franziska zu Reventlow, der Komponist Othmar Schoeck, der Maler Gustav Gamper, der Puppenspieler Jakob Flach, die Rilkefreundin Lou Albert-Lasard und der Dramatiker Reinhard Goering. Von dieser alternativen Zelle eines anderen Deutschland im Exil gingen politische, künstlerische und spirituelle Strahlungen aus in die Dada-Szene, in die deutsche Revolution, in den Expressionismus. In noch zu erforschendem Maße auch in die Jugendbewegung“

Das Anwesen der Neugeborens bestand aus mehreren Häusern. In einem wohnte Ernst Bloch mit seiner Frau, vermutlich im Haupthaus. „Die anderen Häuser und namentlich das zeitweise von Hesse bewohnte Gartenhäuschen bezeugen durch ihren Stil die lebensreformerischen Neigungen der Besitzerin Albine Neugeboren.“

Albine Neugeboren kehrt 1914 zu Kriegsbeginn nach Deutschland zurück, ihre Tochter bleibt in Monti. Am 25. April 1940 stirbt Albine Neugeboren.

Hildegard Jung-Neugeboren (1891-1979) 

„Hildegard Neugeboren war die Tochter der Gräserfreundin Alwine Neugeboren. Sie wuchs in Jena auf, schloss sich mit Begeisterung den „Wandervögeln“ an, lernte rhythmische Gymnastik bei Dalcroze in Hellerau, unterrichtete zwei Jahre in Naumburg. Sie kam dann mit Kriegsbeginn nach Monti (…) und verwaltete das elterliche Anwesen, die Villa Neugeboren.

Von ihrer Mutter war sie als junges Mädchen zu Karl Gräser in die Lehre gegeben worden (…) Sie hasste seither die Gräsers, war aber durch und durch in ihrem Geist geprägt. Als Mitglied der abstinenten Wandervögel und überzeugte Pazifistin machte sie ihr Haus während des Krieges zu einem Heim für Kriegsgegner, namentlich für Künstler. Neben Gusto Gräser, dessen große Familie ihre Mutter schon 1909 beherbergt hatte, gehörten Hermann Hesse, Karl Soffel, Ernst Bloch, Jakob Flach und Klabund zu ihren Gästen.“

Zu Kriegsbeginn befindet sie sich allein in dem weitläufigen Anwesen in Locarno-Monti; ihre Mutter war nach Deutschland zurückgekehrt. Jungenhaft keck und schwärmerischer Sehnsucht voll, lädt sie kurzerhand den ihr nur von seinen Büchern her bekannten Schriftsteller Hesse ein, bei ihr zu wohnen. Ein romantisches Gartenhäuschen stehe ihm zu freier Verfügung.

Seit 1917 war sie mit dem Neurologen und Psychiater Dr. Felix Jung verheiratet.

Hilde, in Deutschland aufgewachsen, kehrte nach dem Krieg dorthin zurück. Mit Hermann Hesse blieb sie, wie ihre Mutter, lebenslang freundschaftlich verbunden.

Gusto Gräser 

Gräser wurde am 16. Februar 1879 zu Kronstadt in Siebenbürgen geboren, er starb am 27. Oktober 1958 in Freimann bei München.

Sein Wirken kann man unter dem Begriffen Naturkult, Vegetarismus, Abstinenz, Pazifismus, Zivilisationskritik zusammenfassen.

„Führende Geister seiner Zeit sahen in ihm die Verkörperung des „neuen Menschen“, die Verwirklichung der Ideale von Nietzsche und Walt Whitman und zugleich einen neuen Franziskus. Sein Leben außerhalb der Regeln der Zivilisation war den Meisten unbegreiflich, erregte Anstoß und Hass. Für andere aber wurde er zum Vorbild; Dichter wie Hermann Hesse und Gerhart Hauptmann erhoben ihn in mythischen Rang.

Seine eigene Dichtung blieb zu seinen Lebzeiten weitgehend ungedruckt. In Sprüchen und Gedichten, die er auf Postkarten und Flugblättern verbreitete, rief er seine Mitwelt zur Umkehr auf.“

Die „Anti-Wilhelm-Deutschen“ (Bloch)  

Klabund lernte Hilde Jung durch Hermann Hesse kennen. Und er passte sicher in diesen Kreis nach seiner „Wandlung“– wie er sie selber nannte – zum Kriegsgegner. Und damit komme ich nochmal zu der Frage, wie sehr ihn seine Ehefrau bei dieser beeinflusst hatte.

Zur Erinnerung, in allen bekannten Biographien wird der Einfluss von Brunhilde Heberle erwähnt. Dem widerspricht aber die Reaktion auf seinen „Wilhelm-Brief“ im Hause Heberle, der unter anderem auch dort nicht sehr „positiv“ aufgenommen wurde. Dr. Max Heberle war sicher nicht der Kriegsgegner, sondern ein „Kind“ der Kaiserzeit und warum sollte dann seine gerade 20jährige Tochter eine völlig andere Meinung haben, als die in ihrem Elternhaus herrschende?

Angelehnt an Asterix kommt mir diese Villa Neugeboren wie ein „pazifistisches Dorf“ vor. Hermann Hesse und Ernst Bloch als ehemalige „Kriegsbegeisterte“ haben eine Wandlung vollzogen und Alwine und Hilde Neugeboren sind – beeinflusst durch die Brüder Gräser – gegen jeglichen Krieg.

Wäre es da nicht logischer, wenn Klabund und Irene Heberle mit diesem Kreis in Monti zeitweise lebend, ihre Einstellung dort geändert haben?

Sicher ist, dass die beiden nicht nur mit Hermann Hesse immer wieder zusammentrafen, sondern auch Ernst Bloch und vor allem Gusto Gräser dort trafen. Hermann Müller hat Besuche von ihnen beschrieben:

„… Mitte März im Kriegsjahr 1917 fährt Bloch nach Locarno, genauer: nach Monti della Trinità oberhalb von Locarno, wie aus einer späteren Karte an Georg Lukács hervorgeht. Er wohnte, wie vor ihm schon Hermann Hesse, im Hause der mit Gräser befreundeten Familie.“

„Hesse hat dann wieder vom 23. März bis Mitte Mai 1918 im Gartenhäuschen der Villa Neugeboren gewohnt, zeitweise zusammen mit Flach.“

„Hesse war von 5. bis 29. September 1916 in Monti. Dann war er von Ende März bis Mitte Mai 1917 in Locarno und hat von dort aus Hilde immer wieder besucht. Vom 23. März bis 19. Mai 1918 wohnte er wieder in Monti zusammen mit seinem Sohn Bruno. Hatte dort Besuch von Freunden wie Gustav Gamper, Jakob Flach und anderen. Ja, das Buch von flach über Ascona ist auch eine Quelle.“

„In Locarno trifft Hesse 1916  … Johannes Nohl und den unter dem Pseudonym Klabund lebenden deutschen Schriftsteller Alfred Henschke. … Die Besuche wiederholen sich  im März/April 1917 sowie von März bis Juni 1918, zuletzt auch mit seinem Sohn Bruno im Gartenhaus der Neugeboren. Mit Nohl finden analytische Sitzungen statt sowie wieder Treffen mit Klabund.“

„Also zeitgleich verkehrt Hesse zwischen September 1916 und Juni 1918 sowohl mit Gräser wie mit Klabund und Nohl.“

Ab 1918 beginnt Klabund mit der Übertragung chinesischer, japanischer und persischer Dichtungen ins Deutsche. Auch hier ist der Einfluss von Monti zu spüren.

Hermann Müller schreibt dazu:

„… Der Dichter Klabund, der 1917-1919 im Hause der Gräserfreundin Albine Neugeboren wohnt, in Monti sopra Locarno, zeitweise zusammen mit Hermann Hesse, Ernst Bloch und Carl Soffel (und sicher gelegentlich Gusto Gräser begegnend) – Klabund also benennt in einem Gedicht drei Gottmenschen oder Menschgötter: Jesus, Buddha und Laotse. „Laotse aber ist der Größte unter ihnen“. Er schafft – parallel zu Gusto Gräser – eine Nachdichtung von 24 Sprüchen des chinesischen Weisen. Sie erscheinen 1919, gleichzeitig mit Hesses anonymer Flugschrift „Zarathustras Wiederkehr“.

Nicht nur Klabund, der ehemals Kriegsbegeisterte, ist zu einem Jünger des Laotse geworden. Die Weisheit des alten Langohrs beschäftigt auch den Bildhauer-Dichter Hans Arp und den jungen Philosophen Ernst Bloch. Um und durch Gusto Gräser ist Ascona mitten im Weltkrieg eine kleine Insel des Tao geworden.

Jesus, Franziskus, Tolstoi und Laotse sind die „Gottmenschen“, die aufleuchten in der Finsternis dieser „Weltmitternachts-stunde“ (Bloch). Der Tolstoifreund und – Biograph Pavel Birijukoff hält in Ascona (vermutlich auf dem Monte Verità) 1916 eine „Vegetarische Konferenz“ ab, eine Manifestation gegen den Krieg, zusammen mit dem einstigen Diefenbachjünger Magnus Schwantje.

Klabund schreibt 1917 von Monti aus seinen offenen Brief an Kaiser Wilhelm II, in dem er ihn zum Rücktritt auffordert. Zur selben Zeit lässt Hesse seine Antikriegs-Artikel unter dem Pseudonym „Emil Sinclair“ erscheinen, unter dem Namen jenes Mannes, der dem angeklagten Hölderlin hilfreich und treu zur Seite stand.

Ernst Bloch dagegen, ebenfalls ein Mitglied der geistigen Kommune von Monti, wehrt sich gegen „das Amulett des nackten Herzens … weil die bösen Mächte nicht das Tao, nicht die Idee, sondern bloß wieder die Kanonen begreifen“. Es sei nötig, so schreibt er in „Geist der Utopie“, seiner Erstschrift, die er in Monti vollendet, es sei nötig, der Macht „ebenfalls machtgemäß entgegenzutreten, als kategorischer Imperativ mit dem Revolver in der Hand“. Damit sperrt sich Bloch, der sich damals einen „radikalen Pazifisten“ nennt, gegen das Ansinnen seiner pazifistischen Hausgenossen und namentlich Gusto Gräsers. Und dies, obwohl er zu dieser Zeit sich zu franziskanischen Idealen bekennt, zum „Evangelium der Nicht-Gewalt“, und der Meinung ist, es gelte „asiatisch zu werden, in die östliche Welt, in die Welt Tolstois und Buddhas zu ziehen.

Dies eben war das Wollen und Meinen jener kleinen taoistisch-pazifistischen Gemeinde in Monti sopra Locarno. Zu ihr gehörte auch der Biologe Karl Soffel, der mit Klabund und Hildegard Jung zusammen Bücher publizierte.“

Soffel erwarb einige Jahre später das Haus der Gebrüder Gräser auf dem Monte Verità und taufte es auf den Namen seines Lieblingsheiligen: „Casa Francesco“. Im Innern und an der Außenwand des Hauses ließ er Fresken jenes Mannes anbringen, in dem sich der Geist der drei Gottmenschen Jesus, Budhha und Laotse (und der Gusto Gräsers!) in einer traditionellen Weise verbildlichen ließ: Franziskus.

Heute steht dieses Haus vor dem Abriss. Ob damit der letzte sichtbare Rest des „Menschenbunds“ von Monti verschwindet, der „den frommen Progreß der Armut, der Liebe und der Erwartung“ entzünden wollte?

Noch aber gibt es die Tao-Dichtungen von Klabund und Gusto Gräser und die Siddharta-Erzählung von Hermann Hesse. Sie spielt scheinbar in Indien, in Wirklichkeit aber in China und eher noch auf den Bergen über Locarno und Ascona.

In einem Brief an Romain Rolland am 8. November 1921 schreibt Hermann Hesse:

„… „Und nun zu Lao Tse. Er ist für mich seit vielen Jahren das Weiseste und Tröstlichste, was ich kenne, das Wort Tao bedeutet für mich den Inbegriff jeder Weisheit. Es gibt von seinem kleinen Buch mehrere deutsche Übersetzungen, eine poetisch-freie von Ular, eine noch poetischere, aber völlig freie, vom Original unendlich weit entfernte von Klabund, und manche andere.“

Im Fritz Heyder Verlag erscheint „Mensch, werde wesentlich! LAOTSE – Sprüche, deutsch von Klabund. Im Nachwort heißt es:

„… „Laotse stand auf der Grenzscheide, sah nach vorn, sah zurück, und schrieb das Buch vom Sinn und Sein, von Welt und Wesen in zwei Teilen, genannt das Taoteking, daraus hier einige Sprüche genannt wurden: zum Nachdenken und Nach-leben. Der Mensch soll nicht nach außen, sondern von innen leben.

Wenngleich das Klimatische bei der Entstehung des taoistischen Menschen eine Rolle gespielt haben mag, so scheint mir der Trennungsstrich zwischen östlichem und westlichem Menschen quer durch die Seele der Menschheit zu gehn, die nur durch das himmlische Gesetz der Wage, der Polaritäten, des Gegensatzes zwischen Tag und Nacht, Mann und Weib, Gut und Böse sich in der Schwebe hält.

Der Typ des östlichen und des westlichen Menschen: man kann ihn auch den Menschen des (Sonnen-)Aufgangs und den Menschen des (Sonnen-)Untergangs bezeichnen, ereignet sich überall: in allen Zeiten und Völkern und Klimaten. Der faustische und der apollinische, der sentimentalische und der naive Mensch sind parallele Polaritäten. Das östliche Denken, wie Laotse es denkt, ist ein mythisches, ein magisches Denken, ein Denken an sich: das westliche Denken ist ein rationalistisches, empiristisches Denken, ein Denken um sich, ein Denken zum Zweck.

Der östliche Mensch beruht in sich und hat seinen Sinn nur in sich. Seine Welt ist eine Innenwelt.

Der westliche Mensch ist „außer sich“. Seine Welt ist die Außenwelt. Der östliche Mensch schafft die Welt, der westliche definiert sie. Der westliche ist der Wissenschaftler. Der östliche Mensch ist der Weise, der Helle, der Heilige, der Wesentliche. Zu werden wie er, zu sein wie er: ruft er uns zu; denn wir sind müde des funktionellen, des mechanischen, des rationellen Da-seins und Dort-denkens. Der Relativismen des Wissens und der Wissenschaft. Der unfruchtbaren Dialektik. Des geistigen Krieges aller gegen alle. Die Sehnsucht nach einem wahren Frieden der Seele, dem absoluten Sinn in sich und an sich ist deine tiefste Sehnsucht, Mensch! Drum: werde wesentlich!“

Hermann Müller meint: „wiederum Äußerungen von Klabund, die so ganz der Denkweise von Gräser, Hesse und ihrer Freunde in Monti entsprechen. Er hatte nicht nur taoistische, hatte auch franziskanische Regungen – vielleicht beides in seiner Montizeit?

Augen
hinter dem Wagen stand ein kleiner Käfig
mit zwei halb verhungerten Wölfen.
sie kamen, als sie Franziskus sahen, an das Gitter
und betrachteten ihn mit großen grünen Augen.

Franziskus traten Tränen in die Augen:
meine Brüder, meine wilden Brüder,
und gefangen hinter Stäben!
und der eine Wolf erhob seine Stimme:
Bruder, der du wider Willen oder Wissen
freundlich uns besuchst,
denke oft an uns Gefangene!

auch wir wandelten durch Wald und Weite,
Feld und Freiheit, einst wie du!
hatten Liebe, hatten Leben.
unsere stählern festen Sehnen
trugen flink uns über Moos und Stein.
keinem Feind gelang mit uns der Kampf.

unsere Kinder jubelten,
wenn wir das Futter brachten.

sonne war in unseren Augen.
unsere Augen waren Sonnen in der Nacht.
aber uns bezwang das Schicksal,
mächtig aus des Menschen Hand gemacht.

viel erbärmliches ist,
doch nichts erbärmlicheres als der Mensch.
unser Hunger ist ihre Sättigung.
unsere Qual ihre Lust.
unser Tod ist ihr Leben.
unsere Liebe ihr Hohn.

1917 erscheint „Dreiklang“, in denen er den Krieg beklagt sowie auf Umsturz der bestehenden Verhältnisse drängt. Darin enthalten „Der Waldmensch“. Und auch hier ist der Einfluss von Monti zu spüren. Fast mythisch – oder schon etwas esoterisch empfinde ich sein Naturverständnis.

In einem Brief schreibt Hermann Müller – und darin beschäftigt ebenfalls das Thema der Natur den Absender:

„… ich muss Ihnen noch besonders danken für den Hinweis auf Hesses „Wanderung“ – dass dieses Buch in Monti entstanden ist. Das war mir seither nicht bewusst. Kein Wunder, dass sich dort – genau wie bei Klabund – sein Lob der Bäume findet. Eine Heiligung geradezu und Feier, wie sonst nirgends vorher oder nachher in seinem Werk. Da schlägt die Baumverehrung Gusto Gräsers durch! Nicht umsonst schreibt dieser ihm Ende 1918 von „Bum des Lebens“. Großgeschrieben! Sicher haben sie sich mehr als einmal über Bäume unterhalten oder vielmehr über den „Weltenbaum“ als kosmisches Symbol, das Urthema Gusto Gräsers.

In der Hesse-Biographie von Gunnar Decker, S.360f.:

Das Bild vom Baum des Lebens bestimmt den Geist der „Wanderung“. Denn hier spricht sich sein religiöses Bekenntnis aus. Es ist das eines Mystikers, der nach Gott auf dem Grund seiner Seele lauscht, der das Jenseits im Diesseits nicht für eine Lüge hält. Es ist ein paradoxes Sprechen, das den Mystiker zeigt – dieses Wissen, dass Gott sich in der Welt zeigt, indem er sich verbirgt. Das Größte offenbart sich immer im Kleinsten – wie umgekehrt. Es ist ein Gott des Wachsens und Vergehens.

Der Mystiker ist auch ein Pantheist. Gott wohnt nicht in der Kirche, nicht in den Dogmen – er ist in allem, was lebt. Er ist die Kraft zur Verwandlung. …

Das Kapitel „Bäume“ in „Wanderung“ gilt darum – zu – Recht als Hesses Glaubensbekenntnis: „Bäume sind für mich immer die eindringlichsten Prediger gewesen. Ich verehre sie, wenn sie in Völkern und Familien leben, in Wäldern und Hainen. Und noch mehr verehre ich sie, wenn sie einzeln stehen. … In ihren Wipfeln rauscht die Welt, ihre Wurzeln ruhen im Unendlichen … Nichts ist heiliger, nichts ist vorbildlicher als ein schöner, starker Baum.“

Offensichtlich malt Hesse hier das Bild vom Baum des Lebens aus, vom „Weltenbaum“, wie Gräser ihn in seiner Dichtung vorgezeichnet hat. Weder Hesse noch Klabund noch Bloch waren Waldmenschen; sie waren Stadtmenschen, Literaten, Büchermenschen. Aber alle drei sprechen in dieser Zeit, ihrer Montizeit, vom Baum, sie heiligen und feiern ihn.“

Ein langer Ausflug hinauf nach Monti in eine völlig andere Welt und in dieser wurde die „Wandlung“ vollzogen – die Wandlung von Klabund und Brunhilde Heberle. Und dann lässt sich auch der Titel des vorherigen Kapitels erklären: Irene – „weil das Frieden bedeutet“.

Matthias Wegner schreibt über diese „Wandlung:

„… Das Bekenntnis zur politischen Wende kommt spät, aber nicht zu spät. Die Radikalität, mit der der vom Kriege aus­gesperrte Beobachter in Davos seinen aufgeheizten Chauvinismus hinter sich lässt, bringt wieder den liebevollen und bescheidenen Menschenfreund aus Crossen zum Vorschein, der seine Umgebung durch seine Höflichkeit und seine Sanftmut verzaubert. „Ich bin gespickt mit tausend Mes­sern und müde von dem vielen Tod“, heißt es in einer seiner schönen Übertragungen aus dem chinesischen Schi-King, „Ich will mich unter Bäumen schlafen legen und kein Soldat mehr sein.“

(…) Die Zeilen spiegeln die eigene Transformation zum gereiften Pazifisten. Immer heftiger äußert sich die Ver­achtung alles Kriegerischen in seinen Texten und Briefen. Zur schärfsten Abrechnung mit deutscher Hybris wird ein offener Brief an den Kaiser, den er am 3. Juni 1917 in der „Neuen Zürcher Zeitung“ veröffentlicht. Der flammende Appell steigert seinen Bekanntheitsgrad in Deutschland erheblich und wird ihn in der Weimarer Republik dem Argwohn der Konservativen, bald auch der Wut der Natio­nalsozialisten aussetzen. Bei der Linken wird sie ihn eher als Naivling abstempeln.“

Klaus Mann bezeichnet diesen Brief als: „geschrieben im Fie­ber … seines weltumspannenden Ethusiasmus“.

Matthias Wegner weiter:

„… Es braucht keine Bevor­mundung mehr. Es hat sie satt.“ Fast gleichzeitig formuliert er in Rene Schickeles Zeitschrift „Die weißen Blätter“ die Quintessenz seiner tiefen Reue: „Die Desorganisation der Geistigen ist mit an diesem Krieg schuld. Wir alle sind an diesem Krieg schuld, weil wir ihn kommen sahen und nichts dagegen taten und, als er ausbrach, uns über seine wahren Wege täuschen ließen.“

Endlich weichen die kriegerische Schwärmerei und der blinde Patriotismus aus seiner Dichtung, um wieder ganz dem Individuellen, oft geradezu Priva­ten, Platz zu machen. Alfred Henschke-Klabund wird fortan in Deutschland ein Einzelgänger zwischen den politischen und ästhetischen Fronten sein und alle Ideologien von links bis rechts verspotten. Aus dem virtuos, aber unbedenklich drauflosschreibenden Jüngling ist ein junger Mann mit fe­sten ethischen und humanen Grundsätzen geworden. Nicht zuletzt seine Begegnung mit der Zürcher Dada-Szene, die er von Davos aus für einige Tage in Augenschein nimmt, besie­gelt die Anti-Kriegs-Entschlossenheit. Er tritt selbst mit eini­gen frechen Gedichten im Zürcher „Cabaret Voltaire“» auf, aber der Siebenundzwanzigjährige ist zu sehr Außenseiter und Einzelgänger, als dass es zu mehr als einem kurzen, ver­gnügten Flirt mit den Dadaisten kommen könnte.“

Verschiedentlich ist der Brief am Kaiser Wilhelm II. aufgetaucht – er hat – auch schon beschrieben – gewaltigen Wirbel ausgelöst. Der Wortlaut:

Offener Brief an Kaiser Wilhelm II.

Erschienen am 3.6.1917 in der „Neuen Züricher Zeitung“

Majestät!

Mehr als Sie in Ihrer politischen und menschlichen Verein­samung und Einsamkeit ahnen: flehend, werbend, fordernd sind die Blicke der ganzen Welt auf Sie gerichtet. Mag die Ih­nen feindliche Presse noch immer in Ihnen den Vandalen und Barbaren an die Wand malen, mögen unfähige und fade Diplomaten und Staatsmänner, die besser als Staatskrüppel gekennzeichnet wären, noch immer den irren Plan hegen, den Teufel Militarismus durch den Beelzebub Imperialismus, den Unterteufel Mechanismus durch den Oberteufel Rationalismus auszutreiben: in allen Ländern blicken die Augen der Menschen, die Menschen geblieben sind, blicken auch die Augen der Muschiks, Poilus, Tommys, Hecht- und Feldgrauen und Olivgrünen auf Sie. Denn Sie, Majestät, haben es in der Hand, der Welt den baldigen Frieden zu geben…

Sie beru­fen sich darauf, dass Sie im November vorigen Jahres schon einmal bereit waren „zum Frieden“. In der Tat: Sie streckten dem Feind die Hand zum Frieden hin – aber die Hand war zur Faust gekrampft und war keine menschliche, blutdurchpulste Hand. Es war die eiserne Faust des Götz von Berlichingen.

Majestät: erkennen Sie die Zeit! In ihr: die Blüte der Ewig­keit! Erkennen Sie, dass alle, gleichviel welche, Machtideen in diesem Kriege Schiffbruch gelitten haben. Die Macht ist ein tönerner Götze, wenn Geist, Güte und Gerechtigkeit nicht mit ihr verbunden. Endgültig muss es vorbei sein mit den Prin­zipien der Macht und ihren „Untergebenen“: Herrschsucht, Hoffart, Polizeigeist, Götzendienerei, Byzantinismus, Mam­monismus … (welch letztere beide immer parasitär nebenein­ander wuchern).

Majestät, Ihre Osterbotschaft hat die Herzen der Deutschen erhellt und die Stirnen mit einem schwachen Strahle zukünftigen Lichtes beglänzt. Begreifen Sie aber, dass man zu einem Volk, das frei sein will und das man ehrt und achtet – als Freier zu den Freien sprechen sollte. Sie aber sprachen freiherrlich. Noch immer spukt in den öffentlichen und geheimen Kabinet­ten Berlins das „Untertanenprinzip“. Und Sie waren schlecht beraten, als Sie die Osterbotschaft auf den Ton der Gnade stimmten. Rechte, Majestät, werden nicht verliehen. Sie sind ursprünglich da, sind wesentlich und existieren.

Geben Sie auf den Glauben an ein Gottesgnadentum und wandeln Sie menschlich unter Menschen. Legen Sie ab den Purpur der Einzigkeit und hüllen Sie sich in den Mantel der Vielheit: der Bruderliebe. Errichten Sie das wahre Volkskö­nigtum der Hohenzollern. Machen Sie sich frei von den Ah­nen; frei von dem Wahne, als könnten Sie sich auf eine kleine kapitalistisch-junkerliche Sippe, die Beamtentum und oberes Offizierskorps aus sich „rekrutiert“, stützen, die paukend und trompetend den Schmerzensschrei des Volkes übertönt. Die in Wahrheit den Thron zerspellen und den geblendeten Simson so lange peinigen wird, bis er einst die Säulen des Staates stürzt.

Jetzt, Majestät, sind Sie ein Schattenkaiser! Denn Sie ste­hen im Schatten der autokratischen Barone und plutokratischen Munitionsfabrikanten. Seien Sie Sie selbst: offenbaren Sie sich als erlauchter Christ, indem Sie dem Volk, dessen Diener Sie sein wollen (vergessen sei Ihre Inschrift in das Münchner Goldene Buch: regis voluntas suprema lex: Sie bü­ßen sie willig…), aus einem übervollen Herzen der Liebe heraus die Freiheit seines Willens und seiner Seele schen­ken. Freiwillig schenken.

Als Gnade nicht: als von einer mit dem Volke gleichen Stufe der Rechtlichkeit und Genossen­schaft. Des wechselseitigen Vertrauens. Der Brüderlichkeit. Was für ein unbeschreiblicher himmlischer Jubel würde durch die Lande gehen, wenn es hieße: Wilhelm II. verzichtet auf das veraltete, unheilvolle, unmenschliche Recht, allein un­fehlbar über Krieg und Friedenau entscheiden.

Er bedarf der Mitarbeit, der Zustimmung des Volkes bei solchen, das Volkswohl betreffenden, schwerwiegendsten Entschlüssen. Er will nicht mehr der Herr, er will der Diener der deutschen Seele sein. Das Heer werde künftig vereidigt auf den Namen des Vaterlandes. Denn es ist ein Volksheer. Unverzüglich sollen Abgeordnetenhaus und Reichstag zusammentreten, die Umgestaltung der Verfassung vorzubereiten: dass un­ter dem gleichen, direkten, allgemeinen Proporzwahlrecht, in welchem die Majoritäten nicht mehr vergewaltigt, die Minoritäten nicht unterdrückt werden können, ein parlamentarisch und demokratisch regiertes Reich erstehe, in dem die Mini­ster vom Volkswillen ernannt und getragen und vor ihm und nicht vor einem einzelnen mehr verantwortlich sind.

Denn das deutsche Volk ist in Jahren unsagbaren Leidens gereift und den Kinderschuhen entwachsen: es braucht keine Bevormundung mehr. Es hat sie satt.

Majestät! Lastet das Gefühl der grenzenlosen Verantwort­lichkeit in schlaflosen Nächten nicht manchmal schwer auf Ihnen? Wie leicht würden Sie die Bürde erfinden, wenn das Volk selbst Ihnen hülfe, sie zu tragen, teilhabend an der Verantwortung, weil teilhabend an der Regierung.

Majestät, Sie haben es in der Hand, den Frieden baldigst zu beschwören. Der Friede eines solchen Krieges kann nicht geschlossen werden: zwischen den vom Volk gewählten und vor dem .Volk verantwortlichen Leitern freiheitlich regierter Länder einer­seits und zwischen einem einzig autoritären Manne anderseits, der verfassungsmäßig der einzig befugte zum Friedens­schluss ist und seine Macht nicht direkt vom Volk, sondern von der übernatürlichen, übermenschlichen Idee des Gottesgnadentums empfing. Die neue russische Regierung und Wil­son in Amerika – die friedensfreundlichsten Ihrer Feinde -, sie warten nur darauf, dass Sie den Weg zur Freiheit Ihres Volkes beschreiten, der es ihnen ermöglichen würde, die Stimme die­ses Volkes zu hören und mit seinen Erwählten zu verhandeln.

Denn darauf kommt es an: eine Basis zu finden, wo Mensch zum Menschen sprechen kann. Nicht: Fürst zum Untertanen. Nicht: Herr zum Diener. Nicht: Feind mehr zum Feinde.

Republik ist nur ein Wort: Wilson und Kerenski denken nicht daran, sie für Deutschland zu propagieren. Sie wollen nur mit einer vor dem Volke verantwortlichen Regierung Frie­den schließen: einen Frieden, den das ganze Volk vertritt.

Die innerpolitische Frage in Deutschland – erkennen Sie das, Majestät! – ist die wichtigste, um zu einem nahen Frieden zu gelangen. Bei weitem wichtiger als irgendein wahrscheinlicher oder unwahrscheinlicher Sieg im Westen, den die deut­sche Heeresleitung vielleicht noch immer für möglich hält. Denn in einem künftigen Weltreich – es wird nur mehr einen Imperialismus der Menschlichkeit geben – wird es nicht mehr ankommen auf militärische Erfolge. Das militärische Zeital­ter, in dem es noch möglich war, Kriege durch Waffen zu ent­scheiden, geht seinem Ende entgegen. Schon heute kämpfen nicht mehr die Heere, sondern die Völker gegeneinander.

Wichtiger als Soldatenmacht ist Wirtschaftsmacht: Kultur­macht.

Seien Sie der erste Fürst, der freiwillig auf seine fiktiven Rechte verzichtet und sich dem Areopag der Menschenrechte beugt. Ihr Name wird dann als wahrhaft groß in den neuen Büchern der Geschichte genannt werden, in denen man nicht mehr die Koalitions-, sondern die Geistesgeschichte der Menschheit schreiben wird. Dann werden Sie das Volks­königtum der Hohenzollern auf Felsen gründen; während es jetzt nur mehr ein Wolkengebilde ist, das, wenn Sie die Zeit nicht erkennen, wie bald im steigenden Sturm verflogen sein wird.

Ich bin Euer Majestät ergebenster Klabund

In den Jahren 1914 – 1918 erschienen – wie es Guido von Kaulla bezeichnete – als „schnöselige(s) Geschreibe“:

1914 Soldatenlieder

1915 Der Marketenderwagen

1916: Erweiterte Neuauflage: „Dragoner und Husaren. Die Soldatenlieder“. Müller, München.