In der Nacht vom 30. April zum 1. Mai 1903 zog ein etwas merkwürdiger „Festzug“ von der „Dichtelei“ in der Amalienstraße in Richtung Türkenstraße 57, dem der Dichter Frank Wedekind Laute spielend voranschritt.
Und hier ist eine „historische Ungenauigkeit“, denn Walther Diehl schreibt in seinem Buch „Die Künstlerkneipe Simplicissimus“, der Zug habe seinen Anfang in der Amalienstraße genommen, ergo habe die „Dichtelei“ auch in dieser gelegen. Wikipedia aber beheimatet die „Dichtelei“ in der Adalbertstraße.
Vielleicht kam die Verwechslung zustande, weil die „Zeitzeugen“ dieser Nacht nicht nur durch das Lautenspiel des Frank Wedekind etwas verwirrt waren, sondern auch durch die Walpurgisnacht, die in der Nacht zum 1. Mai stattfindet und die Hexen vertreiben soll und ausgerechnet in München diese ein besonderes Spiel trieben.
Übrigens, das Ziel in der Türkenstraße war ein altes Kaffeehaus, das den Namen „Kronprinz Rudolf“ trug. „Kathi (Kobus) pachtete das Lokal und ließ es nach ihren Plänen ausstatten. Es wird noch heute gesagt, die Gäste der Kathi hätten die Möbel aus der „Dichtelei“ an der Amalienstraße in das Lokal an der Türkenstraße getragen. Für diese Behauptung gibt es keinen Beweis“, schreibt Theo Prosel in seinem Buch „Freistaat Schwabing“.
Aber die Geschichte fängt eigentlich ganz anders an! Und sie ist die Geschichte der „Künstlerkneipe Simplicissimus“ in München und ihrer Wirtinnen und Wirte.
Kathi Kobus
Sie war die erste Wirtin des Simplicissimus.
Geboren am 7. Oktober 1854 in Niklasreuth, einem Ortsteil der oberbayerischen Gemeinde Irschenberg im Landkreis Miesbach. Niklasreuth, ehemals eine selbstständige Gemeinde, liegt am Nordwesthang des Auer Berges 763 m über dem Meeresspiegel im oberbayerischen Voralpenland.
Über die Geburt und die ersten Jahre der Kathi Kobus schreibt eine ihrer Nachfolgerinnen – Toni Netzle in ihrem Buch „Mein alter Simpl“:
„… Am 7. Oktober 1854 brachte Theresia Kobus, geb. Bertl in der Nähe von Traunstein ein Mädchen auf die Welt, das auf den Namen Katharina getauft wurde. Der Vater war der als leichtfertig bekannte Joseph Kobus, der es aber später in Traunstein sogar zu Hausbesitz brachte. Kathi musste ein wildes junges Mädchen gewesen sein, man hat sie, auch ihrer roten Haare wegen, „Kobusfüchsin“ gerufen. Sie verliebte sich in Ferdinand, den Nachbarsjungen, dessen adelige Mutter bei Androhung der Enterbung die Heirat verbot. Als der Vater Kobus von der Schwangerschaft seiner Tochter von diesem adeligen Herrn erfuhr, enterbte wiederum er seine Tochter und wies sie aus dem Haus. Kathi ging nach München, aber leider starb nach ein paar Monaten ihr kleiner Sohn.
Sie arbeitete wie viele junge Mädchen in dieser Zeit vorwiegend als Maler-Modell, kellnerte und lebte von Gelegenheitsarbeiten. Nach dem Tod ihres Vaters zog die Mutter zu ihr, sie versuchten in verschiedenen Branchen ein Geschäft zu betreiben, war aber alles nicht von großem Erfolg beschieden.“
Im Jahre 1895, so schreiben die Chronisten, wurde sie Kellnerin in der „Dichtelei“, einer Kneipe mit angeschlossener Brettlbühne und bereits dort war Kathi eine „Institution“, die vor niemand Respekt hatte. Zu ihren Gästen zählten ziemlich alle Mitarbeiter um den Herausgeber Albert Langen der Satirezeitschrift „Simplicissimus.
„Die Mitarbeiter um den Herausgeber Albert Langen hingen Tag und Nacht zusammen. Dabei dürfte es unausbleiblich gewesen sein, dass sie auch ihre irdischen Begierden wie Essen und vor allem Trinken gemeinsam befriedigen wollten. Bald hatten sie ein Stammlokal, das gleich um die Ecke lag, die „Dichtelei“. Dort stand ihnen ein fester Tisch zur Verfügung. Sie verbrachten debattierend die halben Nächte, bis sie voll neuer Ideen endlich den Heimweg antraten“, schreibt Toni Netzle.
Toni Netzle vermutet, die Zeitungsleute seien hauptsächlich wegen der „feschen Kellnerin“ Kathi Kobus in der „Dichtelei“ gelandet und sie erzählt auch, wie es zum Umzug und einer eigenen Kneipe kam:
„… Mit dieser Wesens- und Lebensart konnte ihr Bleiben unter einem Hausbesitzer und einem Wirt, der sich fast täglich neue Schikanen für seine Kellnerin ausdachte, nicht von langer Dauer sein. Ihren wahren Charakter erkennend, überredeten die Gäste Kathi Kobus, sich doch eine andere Lokalität zu suchen. Um die Ecke in der Türkenstraße sei gerade eine Gastwirtschaft ohne Wirt, die könne sie sicher zu günstigen Bedingungen anpachten.
Kathi fackelte nicht lange. Gesagt, getan.“
Und diese Lokalität war eben der „Kronprinz Rudolf“
Besagtes Haus in der Türkenstraße war im Eigentum der Firma Georg Hemmeter einer Schnapsfabrikation und seit September 1894 befand sich im vorderen Teil des Hauses eine Gastwirtschaft.
Toni Netzle beschreibt diese so:
„… Ursprünglich war die Gaststätte, die so unglücklich in zwei Räume geteilt ist, die nur durch einen langen Gang, genannt der „Schlauch“, verbunden werden, anders bestimmt. Nur der hintere, etwas größere Raum sollte für die Gäste sein. Der kleinere Raum, vorne zur Türkenstraße, war als Schwemme gedacht. Dieser Raum hatte eine eigene Eingangstüre und war dem einfachen Volk von der Straße und den Chauffeuren und Kutschern der Herrschaften, die sich im großen, hinteren Raum vergnügten, vorbehalten.“
Erster Wirt war Josef Gehr, der seine Gaststätte „Thannhäuser“ nannte. Komischerweise Thannhäuser mit einem „h“ und so ist es zweifelhaft, ob er „Wagnerianer“ war.
Gelohnt hat sich für keinen der zahlreichen Wirte die Gaststätte, denn Toni Netzle beschreibt einen bunter Reigen wechselnder Betreiber zwischen 1895 und 1903:
„… Im März 1895 schon übergab er seine Wirtschaft an einen Anton Schober, der sein Wirtsdasein schon nach vier Wochen wieder beendete und an einen Alois Krischke weitergab. Dieser hielt in der Tat 13 Monate seinen Betrieb geöffnet, um ihn am 2. Mai 1896 an einen Georg Behringer abzugeben. Nach fast eineinhalb Jahren ging auch er. Die nächsten Wirte, Josef Pinegger, Margareta Schnitzler, Johann Hesele, Anton Schneider, Katharina Huberle, Karl Fischer und Karl Langmeier, versuchten immer nur für ein paar Wochen ihr Glück im Geschäft mit den Schönen der Nacht und dem Alkohol. (…)
Zurück (…) zum Jahreswechsel 1899/1900. Zumindest ist anzunehmen, dass der damalige Besitzer Langmeier die Jahrhundertwende in seinem Lokal erleben durfte.
Franz Lorenz, der erste Wirt im neuen Jahrhundert, musste ein österreichischer Monarchist gewesen sein. Er taufte das Lokal in „Kronprinz Rudolf“ um. Es ist fast mit Sicherheit anzunehmen, dass es ein Akt der Verehrung des österreichischen Kaiserhauses war. (…)
Nach knapp einem Jahr war auch Herr Lorenz als Wirt müde und gab seinen „Kronprinzen“ an Johann Körber ab. Aber der warf wenig über ein Jahr später das Handtuch in den Hof der Schnapsfabrik Hemmeter und machte damit den Weg frei für Kathi Kobus“
Und so kam es zu dem oben erwähnten „merkwürdigen Festzug“ in die Türkenstraße. Den Namen „Kronprinz Rudolf“ wollte sie nicht übernehmen und nannte ihre Kneipe „Neue Dichtelei“ und damit war „Ärger“ vorprogrammiert, Theo Prosel schreibt über die vergebliche Namensnennung:
„… „Zunächst nannte sie ihre nunmehrige Wirkungsstätte „Neue Dichtelei“, was ihr aber dann gerichtlich verboten wurde. So hatte ihr neuer Laden keinen Namen.“
Eine Idee hätte sie schon und dazu haben sie ihre Gäste animiert, die Mitarbeiter des Simplicissimus. Theo Prosel schreibt:
„… . Zu den Stammgästen der neuen Stätte zählten aber damals alle Mitarbeiter der Zeitschrift „Simplicissimus“: Thöny, Gulbransson, Th. Th. Heine, von Reznicek, Ludwig Thoma, Otto Julius Bierbaum, de Nora und andere. Täglich kamen sie zusammen und hielten sich, was die Zeche anbelangte, in bescheidenen Grenzen. Sie alle verdienten zwar sehr gut, hatten aber nie Geld.
Zum Erstaunen der ganzen Runde fuhr plötzlich Sekt auf. Wer der edle Spender war, wusste keiner, aber der Sekt mundete großartig. Kaum war eine Flasche leer, kam eine neue. Das ging so bis zum Morgengrauen.
Dann verließen die wackeren Zecher, ohne dass einer gezahlt hätte, die gastliche Stätte. Auf der Straße gestand einer der Herren seinen Streich ein. Er hatte für diese reichliche Sektspende der Kathi Kobus das Recht übertragen, ihr Lokal „Simplicissimus“ zu nennen.“
Es soll Thomas Theodor Heine, der Schöpfer des roten Bullys, gewesen sein.
Theo Prosel weiter:
„… Dieser mündliche Vertrag hatte nur einen Schönheitsfehler, nämlich den, dass der Vertragspartner der Kathi Kobus gar nicht das Recht hatte, über den Namen „Simplicissimus“ zu verfügen. Die Namensrechte hatte einzig und allein der Verleger Langen. Es blieb nichts übrig, als diesem ein Geständnis abzulegen. Donnerndes Gebrüll soll die Antwort gewesen sein. Zerknirscht musste man der Kathi Kobus die Sachlage beichten. Diese setzte sich in einen Wagen und fuhr zum Verleger Langen.“
Über diese Unterredung erzählte Kathi Kobus:
„Ich wurde sehr ungändig empfangen. Aber da hab ich mich auf die Knie hing’schmissen und hab g’sagt: Herr Langen, Sie müssen mir den Namen lassen, ich hab‘ scho‘ alle Schilder bestellt, machen S‘ mi net unglücklich. Nach einigem Zaudern sagte Langen nur: Hol dich der Teufel, womit die Erlaubnis erteilt war.“
Toni Netzle erzählt die Geschichte der Namensgebung ein bisschen anders, betont aber, ihre Version sei vielleicht eine ihr erzählte Legende:
„…ging die trinkfeste Kathi mit Albert Langen eine Wette ein: Wenn es ihr gelänge, ihn unter den Tisch zu trinken, dürfe sie den Namen seiner Zeitung über ihr Lokal schreiben. Es ist nicht schwer zu erraten, wer gewonnen hat. Die nicht ganz so vulgäre Variante dieser Legende ist, dass Kathi vor ihm einen Kniefall machte, und ihn, am Boden lang hingestreckt wie eine Novizin bei der Aufnahme in ihren Orden, in ihrem Traunsteiner Dialekt um die Verleihung des Namens gebeten haben soll.
Das Resultat ist bekannt.
Sie durfte ihr Lokal „Simplicissimus“ nennen.
Immer war das Lokal ein Inbegriff für „Schwabing“. Immer war es ein Aushängeschild für „Schwabing“. Doch noch nie befand sich das Lokal „Simplicissimus“ in Schwabing. Ganz offiziell gehört es noch immer zum Stadtteil Maxvorstadt. Schon in dem schönen Lied „Gleich hinterm Siegestor fängt Schwabing an“ lässt sich das leicht geographisch feststellen, der SIMPL liegt vor dem Siegestor!“
Einer der Teilhaber im Simplicissimus, der Maler und Zeichner Thomas Theodor Heine (geboren am 28. Februar 1857 in Leipzig, gestorben am 26. Januar 1948 in Stockholm) verehrte dann Kathi Kobus, das Wahrzeichen des „Simpl“, den roten Simpl-Hund, dessen Urheber er war.
Walther Diehl schreibt über diesen Simpl-Hund die wichtigen Zeilen:
„… Ein Unterschied besteht zwischen dem französischen Bully (nicht Mops, wie immer wieder behauptet wird) der Zeitschrift Simplicissimus und dem des Lokals: Der Bully der Zeitschrift hat eine Kette zerbissen, der des Simpl bemüht sich mit den Zähnen, eine Sektflasche zu öffnen. Das kann als Beweis dafür angesehen werden, dass die Namensübertragung an den Simpl tatsächlich etwa so erfolgte, wie sie Prosel nach Erzählung von Kathi Kobus wiedergibt. Die Sektflasche beim Hund hat Symbolcharakter.“
Die Version muss stimmen und auch die Rassebestimmung, denn ein Mops war schon damals bestimmt nicht in der Lage mit diesem Gebiss und dieser Kopfform eine Kette zu zerbeißen oder eine Sektflasche zu öffnen. Und schon immer war die ach so beliebte Rasse eine einzige Tierquälerei.
Die Jahrhundertwende war die Zeit der ersten literarischen Kabaretts in Deutschland. Genannt sei das 1901 in Berlin von Ernst Freiherr von Wolzogen gegründete „Überbrettl“ und indirekt lese ich bei Toni Netzle, dieses Kabarett könne für Kathi Kobus ein „Vorbild“ oder eine Anregung gewesen sein.
Vielleicht aber war es umgekehrt, denn besagter Ernst Freiherr von Wolzogen (geboren am 23. April 1855 in Breslau, gestorben am 30. Juli 1924 in Puppling bei Wolfratshausen) war Schriftsteller und Verlagslektor und lebte von 1892 bis 1899 in München und dort gründete er die „Freie Literarische Gesellschaft“. Sinn und Zweck dieser Gesellschaft habe ich nicht gefunden, aber Wikipedia schreibt:
„…Eine Literarische Gesellschaft ist eine Vereinigung zur Förderung von Literatur und Kultur.
Andere Gesellschaften widmen sich dem Studium einer besonderen literarischen Form (…) oder der Förderung von Literatur und Kultur in einem bestimmten Raum. (…)
Schließlich gibt es auch literarische Gesellschaften, die sich recht allgemein der Förderung von Literatur und Kultur widmen.“
In seiner Münchner Zeit lernte er Sophia Goudstikker kennen, eine Fotografin, Unternehmerin und Frauenrechtlerin und er schreibt über diese ein Buch (Das Dritte Geschlecht) in dem er das „Phänomen dieser Frau und ihrer Freundinnen“ beschreibt.
Sophia N. Goudstikker (geboren am 15. Januar 1865 in Amsterdam, gestorben am 20. März 1924 in München) könnte man getrost als frühe Feministin bezeichnen.
Wikipedia schreibt:
„… Sophia Goudstikker setzte sich ihr Leben lang für Frauenfragen ein. Im Jahr 1894 gründete sie zusammen mit ihrer späteren Lebensgefährtin Ika Freudenberg die Gesellschaft zur Förderung geistiger Interessen der Frau, den späteren „Verein für Fraueninteressen“; 1899 richtete sie in München den ersten Bayerischen Frauentag aus.
Goudstikker war Vorsitzende der von ihr in München gegründeten Rechtsauskunftsstelle für Frauen. Sie vertrat schutzlose Frauen vor Gericht und erntete in der Bevölkerung für ihren selbstlosen und erfolgreichen Einsatz Respekt. Ab dem Jahr 1912 arbeitete sie mit einer der ersten deutschen Juristinnen, Marie Munk, in ihrer Rechtsschutzstelle zusammen. Die Lebenswege beider Frauen trennten sich Ende des Jahres 1914. (…)
1887 eröffnete Sophia Goudstikker in München gemeinsam mit ihrer Freundin, der radikalen Frauenrechtlerin Anita Augspurg, das „Hofatelier Elvira“, das eines der ersten Frauenunternehmen im Deutschen Reich war.
Goudstikker und Augspurg waren mit ihren kurz geschnittenen Haaren, der unangepassten Kleidung und ihrem offenen Bekenntnis zur Notwendigkeit eines Befreiungskampfes der bürgerlichen Frau sowie ihrem kaum verborgenen homoerotischen Habitus faszinierende Erscheinungen der Münchner Bohème ihrer Zeit. Schnell avancierte das Geschäft zur führenden „hofphotographischen Anstalt“ und zum gesellschaftlichen Treffpunkt, wo neben bekannten Schriftstellern wie Thomas Mann und Heinrich Mann auch Mitglieder der königlich-bayerischen Familie zu den Kunden zählten.“
In den Verein konnten auch Männer eintreten. 1897 zählte er 237 Mitglieder, darunter 22 Männer wie Max Haushofer, Rainer Maria Rilke und Ernst von Wolzogen.
Aus Wikipedia:
Ika Freudenberg (eigentlich Friederike Freudenberg; geboren am 25. März 1858 in Raubach bei Neuwied; gestorben am 9. Januar 1912 in München) war eine führende Akteurin der bürgerlichen Frauenbewegung in Bayern.“
Ernst Freiherr von Wolzogen kehrt nach Berlin zurück und gründet dort am 18. Januar 1901 in der Alexanderstraße 40 eines der ersten literarischen Kabaretts in Deutschland, das „Überbrettl“. Vergleichbare Etablissements gab es vorher bereits in Paris, am bekanntesten wohl das „Le Chat Noir“ von Rodolphe Salis am Montmartre.
„Dieses Konzept der Kleinkunst wirkte als ein Gegenmodell zu etablierten Kunstformen und entsprach damit sehr dem spontanen, sozialkritischen Lebensgefühl insbesondere der jungen Künstlergeneration um die Jahrhundertwende“, schreibt Wikipedia.
Aus wirtschaftlichen Gründen zog sich Wolzogen bereits 1902 aus dem Projekt zurück und kehrte 1918 nach Puppling bei Wolfratshausen in Bayern zurück.
Hatte er nicht aus München eine ganze Reihe seiner Ideen mitgebracht? Denn fast gleichzeitig traten auch Künstler im Simplicissimus auf, „ob singend, erzählend oder malend, alle waren gerne gesehen. Eine Bühne gab es nicht, der jeweils Vortragende stellte sich einfach auf einen Stuhl, und bei Gefallen bekam er oder sie von Kathi ein Glas des billigsten Weins und eine dünne Gulaschsuppe. Für manchen Interpreten lebenserhaltend!“, schreibt Toni Netzle.
Selbst Lenin soll bei seinem Münchner Besuch im Simpl gesehen worden sein.
Und sie beschreibt auch einen der zahlreichen „Skandale“ in Kathis „Künstlerkneipe“:
„… Thomas Mann soll die Ursache für den ersten großen Gesellschaftsskandal in der Stadt gewesen sein, als er seine Novelle „Wälsungenblut“ (die Geschichte einer Geschwisterliebe), auf einem Stuhl stehend in der Kneipe vorlas. Jeder wusste welche Familie gemeint war. Thomas Mann war da bereits mit einer Tochter dieser großbürgerlichen Familie Pringsheim verheiratet!“
Als „Hausdichter“ der Kathi Kobus galten unter anderem Julius Beck, dessen Dialektgedichte sie selbst vortrug, Ludwig Scharf, Joachim Ringelnatz und Erich Mühsam.
Julius Anton Beck – geboren am 2. Mai 1852 in München, gestorben am 15. März 1920 in Seefeld, einer Gemeinde im westlichen Landkreis Starnberg war Schriftsteller, Redakteur und Rezitator. Wikipedia schreibt:
„… Beck wurde als unehelicher Sohn der „Stadtmusikertochter“ Marie Beck aus Freising geboren. Nach der Volksschule besuchte er 1865–68 die „Gewerbeschule in Ingolstadt“ das heutige Christoph-Scheiner-Gymnasium. Anschließend bildete er sich autodidaktisch weiter, und nach einer Zeit der Hospitation an der Universität München in den Fächern Geschichte, Literaturgeschichte und Philosophie begleitete er als Sekretär einen Wiener Aristokraten auf Reisen durch Europa.
Von 1872 bis 1882 war er als Schauspieler und Regisseur tätig, danach lebte er als unabhängiger Schriftsteller und Journalist in München. (…)
1885 heiratete er Elise Hartmann, die spätere niederbayerische Dialektdichterin, mit der er häufig gemeinsam als Rezitator, auch eigener Werke, auftrat. Das Ehepaar spielte eine zentrale Rolle in der Münchner literarischen Vereinigung „Orion“. Im Jahr 1888 wurde der Sohn Julius Adolph geboren.
Von 1887 bis 1888 war Beck leitender Redakteur des „Bayerischen Landboten“. (…) Von 1890 bis 1891 hatte er die Leitung der „Neuen Freien Volkszeitung“ inne. (…) In den Jahren 1895–96 gab er die „Münchner Humoristischen Blätter“ heraus. (…) Neben seiner journalistischen Tätigkeit und Beiträgen zu Zeitschriften trat er als vielseitiger Schriftsteller, Rezitator und Lehrer der Vortrags- und Bühnenkunst hervor. Seine Werke umfassen Schauspiele, Possen, Erzählungen, Kalender, Libretti zu Operetten, einen Roman, Kinderbücher, Brettspiele und Gedichte.
Beck gehörte zum engeren Kreis der Künstler, die Kathi Kobus im „alten Simpl“ in der Türkenstraße um sich geschart hatte.
(…) Julius Beck verstarb im Alter von 67 Jahren bei einem Landaufenthalt und ist auf dem Münchner Ostfriedhof, Feld 81 begraben.“
Ludwig Scharf – geboren am 2. Februar 1864 in Meckenheim in der Pfalz, gestorben am 21. August 1939 auf Schloss Patosfa bei Kaposvár in Ungarn – war ein deutscher Lyriker und Übersetzer.
Bei Wikipedia ist zu lesen:
„… Der schwerbehinderte Ludwig Scharf – er verlor als Schüler durch Krankheit einen Fuß – wuchs in Blieskastel auf (gelegen im Saarpfalz-Kreis, etwa 15 km südwestlich der Kreisstadt Homburg) und besuchte das dortige Gymnasium, ehe er 1879 auf das Gymnasium in Zweibrücken wechselte. Nach dem Abitur 1884 zog er nach München, wo er ein Studium der Naturwissenschaften, Jura und Philologie begann, jedoch nicht zu Ende führte.
Während des Studiums war er Mitglied im akademisch-philosophischen Verein München. Als Mitglied der Gesellschaft für modernes Leben und der Literaturvereinigung „Elf Scharfrichter“ war er eine zentrale Figur der Münchner Moderne. Dort war er auch mit dem saarpfälzischen Maler Albert Weisgerber befreundet, der einige Porträts von Scharf anfertigte.
Seine Gedichte veröffentlichte Scharf in modernen Literaturzeitschriften wie „Die Jugend“ , „Simplicissimus“, „Pan“ oder den „Zürcher Diskußjonen“. Sein 1892 erschienener Gedichtband „Lieder eines Menschen“ gilt als eines der bedeutendsten lyrischen Werke des Naturalismus.
Scharf zog mit der Malerin und Schriftstellerin Ella Somsich (Pseudonym Elohim Sorah) vor dem Ersten Weltkrieg auf ihr Grafenschloss im Komitat Somogy, Südwestungarn.“
Seine Gedichte veröffentlichte Scharf in modernen Literaturzeitschriften wie „Die Jugend“ , „Simplicissimus“, „Pan“ oder den „Zürcher Diskußjonen“. Sein 1892 erschienener Gedichtband „Lieder eines Menschen“ gilt als eines der bedeutendsten lyrischen Werke des Naturalismus.
Scharf zog mit der Malerin und Schriftstellerin Ella Somsich (Pseudonym Elohim Sorah) vor dem Ersten Weltkrieg auf ihr Grafenschloss im Komitat Somogy, Südwestungarn.“
Über die „Elf Scharfrichter“ und ihre legendären Auftritte im „Simplicissimus werden noch ein paar Zeilen zu schreiben sein, und über Erich Mühsam folgt ein eigenes Kapitel. Er schreibt über den „Simpl“ und seine Blütezeit einmal:
„…So lange, bis Wedekind in der Torggelstube einen festeren Kreis um sich schloss, mit höheren geistigen Ansprüchen und sorgfältiger gewahrter Exklusivität, und bis Konkurrenzlokale, wie der „Bunte Vogel“ und „Boheme“, einen Teil der Künstlerschaft von dem nicht übertrieben abwechslungsreichen Lärm, Gedränge und Gestank der echtesten Münchener Künstlerkneipe abzogen, fluktuierte im „Simplicissimus“ der Kathi Kobus die Geistigkeit Münchens in allen ihren Verästelungen und Cliquen, und man konnte an manchen Abenden die heterogensten Elemente der Literatur und Kunst an den verschiedenen Tischen vertreten sehen.“
Bliebe noch ein gewisser Hans Gustav Bötticher, der unter dem Pseudonym Joachim Ringelnatz im „Simplicissimus“ auftrat. Toni Netzle schreibt:
„… Joachim Ringelnatz ist mit seinen Gedichten bei Kathi groß geworden und soll auch mit ihr ein schlampiges Verhältnis gehabt haben. Er sei im Übrigen der einzige gewesen, der für sich eine feste Gage ausgehandelt haben soll, stolze 5 Reichsmark am Abend. Für ihn ein Vermögen und für die geizige Wirtin jedes Mal ein Akt der Überwindung.“
In seinem Buch „Simplicissimus – Künstlerkneipe und Kathi Kobus“ beschreibt er launisch die „Verrückte Wirtin“ und ihre Gäste. Zu schön und daher einige Auszüge.
Vorweg schreibt er – und diese Anweisung ist zu befolgen:
„…Wenn Dir dies Buch vor Augen kommt, betrachte es als einen Brief von mir, mit dem ich unsere gemeinsamen Erinnerungen an eine Reihe herrlicher Münchener Tage wieder auffrischen möchte.
Von der trauten Kneipe in der Türkenstraße laß mich besonders plaudern, die Dir und später auch mir den Abschied von der lustigen Bierresidenz so recht schwer gemacht hat.
Und nun setze keine kritische Brille auf, sondern zünde Dir eine gute Zigarre an, stelle den Klappstuhl auf „letzte Zacke“ und dann: Auf nach dem Simplicissimus! Ich habe ja nur wenig von dem Vielen gebracht, das darüber geschrieben, gesungen, gesprochen oder was abgebildet ist, aber ich hoffe, Du wirst doch einiges darunter finden, was Dir Freude macht.“
Und hier seine Erinnerungen:
„… Denke daran, wie wir das erstemal auf das rote Licht zusteuerten, das als einziges äußerliches Wahrzeichen des sonst so unscheinbaren Hauses wie ein Leuchtturm die Straße hinunterblickt und den nächtlichen Passanten unaufhörlich zuruft: „Es ist noch viel zu früh zum Schlafengehen!“ Denke daran, wie wir zögernd einen Moment an der Schwelle auf die Geigentöne lauschten, die durch Türen und Vorhang gedämpft an unser Ohr drangen, und wie uns auf einmal so warm ums Herz ward, als wir uns unter lachenden Menschen, unter Licht, Lust und Leben befanden. Es war wie immer ein volles Haus. Lebenslustige und Lebensdurstige aus allen gebildeten Ständen verschiedener Nationen zusammengewürfelt. Wir nahmen an einem der ersten Tische Platz und tranken Kaffee, dem wir, der Situation angemessener, später Bowle nachschickten, und bald waren wir mitten im Strudel der gemeinsamen Unterhaltung.
Der Lampenschimmer spiegelte sich in den Rahmen der vielen Bilder, die über und über die Wände bedeckten, und in dem schönen Rokokospiegel, vor dem das dreieinige Orchester wirkte.
Das waren berauschende Klänge
Der echtesten Wiener Musik.
Es war ein malerisches Bild, das die Gäste in dem künstlerisch dekorierten Zimmer boten. Die farbenprächtigen, oft pompösen Toiletten der Damen, die zum Teil höchst originellen Typen junger Künstler und Malweiberl, die reichen Stillleben auf den weißgedeckten Tischen und das ewig-junge Blumenmädchen mit ihren wundervollen Rosen und Nelken das Ganze bot einen famosen Anblick.
Dem entsprach auch die Unterhaltung, die teils allgemein, teils gruppenweise, witzig und kritisch, aber stets galant und durchweg nie geistlos geführt wurde.
Wir waren sofort ganz im Banne des dort herrschenden Tones. Und als dann die Wirtin auf der Bildfläche erschien und in ihrer treuherzigen Art die Honneurs machte, da drückten wir ihr die Hand und duzten sie wie alte Bekannte, indem wir uns dabei der ganz falschen Meinung hingaben, dass sie sich bei einer solchen Menge von Gästen die einzelnen Gesichter sicher nicht merken könne.
Sie verteilte dann Zettel, auf denen das lustige Simplicissimuslied des Freiherrn von Osten-Sacken stand zum Mitsingen, und wir stimmten kräftig mit in die übermütige Melodie ein.
Besinnst Du Dich noch auf den begeisterten Schlesier, welcher weinselig unaufhörlich erklärte, dass sich das eigentliche Simplicissimusleben im hinteren Zimmer abspiele.
Aber er hatte recht. Der hintere Raum war der Superlativ zu dem vorderen, und den Komparativ bildete ein schmaler Verbindungsgang.
Überall strotzten die Wände im reichen Bilderschmuck. Ölgemälde, Aquarelle, Zeichnungen, Radierungen von Uhde, O. Seidel, Kaulbach, Segantini. Reznicek, Harburger, Vautier, Weißgerber, Futterer, Acbe und anderen sowie zahlreiche Photographien hingen im malerischen Durcheinander.
Ja, das hintere Zimmer! Wir lernten es auch bald kennen. Es schien nicht leicht da hineinzukommen, auf den ersten Blick sogar unmöglich; denn jeder Stuhl war besetzt, und in den ganz engen Zwischenräumen wimmelte es wie in einem Ameisenhaufen; aber es bedurfte nur eines guten Wortes an die Wirtin, und sie hätte noch Hunderte dort untergebracht. Sie war ja berühmt wegen dieses Verpackungstalentes.
Ja, dort fanden wir erst Leben! Das waren reizende, wirklich entzückende Abende und Nächte in dem traulich gedämpften Rotlicht, und jetzt in der Ferne denke ich oft daran. Dann träume ich mich zu einem Glas Magdalener an Deine Seite zurück. Wir haben uns einen Platz nahe der Künstlerecke unter einem Bild erobert, welches eine auffallend gekleidete, vollbusige Dame darstellt. „Sarah von Dringeies“ steht darunter. Alle Bilder dort sind mit Erlebnissen verknüpft, und auch von diesem wissen die Eingeweihten, dass die Sarah von Dringeies in Wirklichkeit ein maskierter lustiger Graf von Schönborn war. Sie wissen auch, dass der Maler des Bildes, Herr Stefany, selbst ganz frappierend als Damendarsteller ist und jährlich auf allen Faschingsbällen und -festen, wie auch im Simpel in Damenkleidung so graziös tanzt, dass alles von ihm entzückt ist, zumal wenn er in dem sparsamen Kostüm der Salome erscheint.
Nicht weit von diesem Porträt leuchtet aus dunkler Ecke das mehr originelle als schöne Simpelplakat, der rote Hund auf gelbem Felde, der eine Sektflasche zu öffnen sucht. Der Hausdichter behauptet allerdings, das Vieh denke absolut nicht daran, die Flasche (Hausmarke) zu öffnen, da es wasserscheu sei. Unter diesem Wappen hängt der Charakterkopf Ludwig Scharfs, und unter diesem wiederum hängt nein sitzt der richtige leibhaftige Lyriker Ludwig Scharf mit seiner geistreichen Frau. Um denselben Tisch gruppiert sich ein Kranz von Stammkünstlern und Stammgästen mit oder ohne Namen, willkürlich zusammengesetzt.
Da sitzt eine schmächtige, blasse Gestalt mit langem Kopf-und Barthaar, stechenden Augen und feinen Händen. Das ist Erich Mühsam, der Schriftsteller, der Skeptiker, der Pessimist, der Anarchist, dessen beißender Witz bekannt ist. Man sieht es seinen Manieren an, dass er aus einer guten Kinderstube hervorgegangen ist. Seine humoristisch-satirischen Gedichte, die er auf dem Tische stehend vorliest, klingen trotz ihrer geistvollen Fassung nicht immer recht überzeugend. Neben ihm hat die Gräfin Reventlow Platz genommen, das interessante Gesichtchen mit den klugen Augen. Sie spricht nicht viel, diese talentvolle außergewöhnliche Frau. Nur dann und wann richtet sie mit schelmischem Lächeln irgendeine Frage an Mühsam oder an ihre interessante Nachbarin, die Schriftstellerin Frau Andre-Douglas.
Da sehen wir ferner Heinz Lebrun, den gottbegnadeten Sänger. Augenblicklich verwendet er seinen vollen Tenor dazu, einer jungen, ziemlich grell gekleideten Dame eine donnernde Standrede zu halten mit der Quintessenz: Ich bitte, singe niemals wieder öffentlich! Er hat seine Ansprache mit den Worten eingeleitet: „Mary, du bist eine Gans!“ Aber sie ist keineswegs darüber beleidigt, denn diese Mary ist ein herzensgutes Persönchen und gerade das Gegenteil von dem, was sie scheint. Wie sie auf den Gedanken kam, Malerin zu werden, weiß man nicht.
Tatsache ist, dass ihr jede Spur von Geschmack oder Begabung mangelt und dass sie sich infolgedessen kümmerlich durchs Leben schlägt. Ja, singen sollte sie wirklich nicht. Sie hat heute übrigens besonderes Pech, denn auch an ihrer linken Seite sitzt ein sangeskundiger Kritiker und noch dazu einer, dessen Schlagfertigkeit und treffender Witz sehr gefürchtet sind, Klavierhumorist H. Koppel. Auch Kothe, der berühmte Lautensänger, mit seiner genialen Frau ist anwesend. Kubasch, der schneidige Humorist, und Herzog der „Guitarre-Sänger nach Brettl-Manier“ zechen gleichfalls dort. Dann schimmern aus bläulichem Zigarettenrauch die melancholischen Augen der Freifrau von R.
Soll ich sie alle nennen, diese merkwürdigen, interessanten oder lustigen Erscheinungen der Künstlerschaft und Boheme? Es sind ihrer so ja viel, und der „letzte Tisch“ präsentiert eine täglich anders zusammengemischte Korona.
Gewiss sind auch viele ganz unbedeutende Lumen (Leuchten) dazwischen, aber sie tragen zur allgemeinen vergnügten Stimmung mit bei, denn in einer Kunst sind dort alle Meister, in der Kunst zu leben und leben zu lassen.
Das ist die Künstlerstammtafel, über der eine recht gute Parodie auf ein Bild von Stuck hängt. Auch die anderen Tische sind von einem bunten, recht bemerkenswerten Publikum besetzt. Damen und Herren der besten Gesellschaftskreise, Studenten, Maler, Schauspieler, Künstler aller Art, Menschen aller Art, viele darunter, die von weit hergekommen sind, um die vielbesprochene Kneipe einmal anzusehen. Auch der Deutsche Kronprinz soll hier gewesen sein.
Der Bowle, dem Terlaner, allmählich auch dem Sekt wird fleißig zugesprochen. Etwas wie Ungeduld oder Enttäuschung liegt aber noch auf vielen Gesichtern. Soll’s denn heut gar nichts werden?
Inzwischen hat Kapellmeister Klieber seine Tätigkeit am Klavier aufgenommen. Der gute, alte, künstlerhaarige Klieber, der mit zum Inventar des Simpels gehört. Er spielt höchst zuverlässig und träumt dabei von seiner geliebten Privatbeschäftigung mit Chemie, von Salzsäure und Nitroglyzerin. Manchmal greift er dabei auch wie im Traume rechts hinter das Piano, allwo ganz zufällig immer ein guter Tropfen zu finden ist.
Und nun kommt sie, die Seele des Simplicissimus, die Kathi Kobus, die stramme, imposante Traunsteinerin mit dem feschen Anflug von Schnurrbart, der ihren sonst so weichen Zügen etwas Festes, beinahe Stolzes gibt.
Das ist die vielgefeierte und vielgenannte Wirtin der Künstlerkneipe. Sie hat das Lokal mit ganz geringen Ersparnissen begonnen und es in wenig Jahren ohne fremde Hilfe nur durch wirklich unermüdlichen Fleiß, durch bewundernswerte Ausdauer und Umsicht zu dem gemacht, was es jetzt ist.
Wer die Künstlerkneipe und ihren Betrieb kennt, der weiß, was das sagen will. – Sie tritt an alle Tische heran, reicht vielen die Hand, und während sie mit unwiderstehlichem Lächeln die Gäste bittet, doch enger zusammenzurücken, damit später kommende noch Platz fänden, nickt sie den Bekannten zu mit ihren klaren Augen. Diesen Augen, denen man es nicht ansieht, dass sie bei gegebenen Momenten so energisch blitzen können.
Ein halblautes Flüstern geht ihr voraus. Die Vertrauteren erzählen den Fremden, was sie über Kathi und ihr Lokal wissen, so auch, dass sie sich vor einiger Zeit eine Villa in dem herrlich gelegenen Wolfratshausen gekauft habe.
Inzwischen haben sich das Hinterzimmer und der Seiten¬gang ganz mit Menschen gefüllt, und Kathi besteigt nun mit den Worten: „Seids amoal Staad!“ das Podium. Sie trägt „Das Kanonische“, „Die Blutegeln“ und andere Gedichte in ihrer Mundart vor, flicht aber fortwährend Anreden und Ausrufe an das Publikum oder ihr Personal ein, wie „Geh, so seids doch Staad!“ oder „Sakradi! Wer schmeißt mir denn da hint’n wieder alle Glasein z’samm!“
Nun ist die Stimmung in Fluss gebracht, was sich an der lauteren, lustigeren Unterhaltung bemerkbar macht, die nach Kathis Vortrag einsetzt. Unterdessen hat der ungarische Geigenspieler Dunajec seine Violine herausgeschält. Langsam betritt er das Podium, nachdem er zuvor die Bekannten begrüßt und einigen Damen galant die Hand geküsst hat; dann lässt er den Bogen über die Saiten gleiten, von denen Erich Mühsam erzählt, dass der Künstler sie aus seinen eigenen Därmen geschnitten habe.
Während er spielt, wiegt er sich nach dem Rhythmus des Stückes in den Hüften, und seine blonden Locken tanzen dazu. Das Ave Maria und später Barcarole aus Hoffmanns Erzählungen klingen durch den Raum. Man klatscht, und der Geiger wird an irgendeinen Tisch gebeten, wo man seiner Vorliebe für Sekt entgegenkommt. Dann hört man Kathis Stimme: „Silentium für Ludwig Scharf!“
Ludwig Scharf spricht unter tiefstem Schweigen der Zuhörer. Auf allgemeinen Wunsch bringt er zunächst sein „Proleta sum“, später „Das tote Kind“ und andere ernste Gedichte. Als sich der Beifallssturm gelegt, setzt die Musik ein und dann folgt wieder ein Vortrag und so geht’s weiter.
Da singt die Anny Durini Schnadahüpfl zur Gitarre. Schriftsteller Julius Beck erntet mit höchst dramatischer und humoristischer Rezitation reichen Applaus, ebenso der beliebte Louis Staller durch seine mit vornehmem Charm gebrachten Chansons. Besonderen Jubel aber ruft das Erscheinen der graziösen, temperamentvollen Brettldiva Mary Irber hervor. Das Tonerl jodelt, einer spielt Mandoline, und später lässt sich irgendein fremder, zufällig anwesender Schauspieler oder Sänger hören.
„Silentium für den Hausdichter Hans Bötticher!“ Zum Rang eines Hausdichters ist er wohl deshalb erhoben, weil er seinen Pegasus ganz in den Dienst der Kathi gestellt hat. Er erzählt oder lügt alles Mögliche intime von ihr und dem Simplicissimus und wird dafür von ihr, wenn er geendet, regelmäßig an den Haaren vom Podium heruntergezogen. Besonders gute Aufnahme finden seine Simplicissimusträume. Von ihm stammt auch das zweite Simplicissimuslied, das jetzt im Chorus unter Leitung Koppels gesungen wird. Große Heiterkeit ruft eine improvisierte Oper: „Die Elsa von Wolfratshausen“ hervor, bei der eine schnurrbartgezierte und nur spärlich in Gardinenspitzen gehüllte Dame sich mit einem Kochlöffel ersticht. Schauspieler Wulms und Max Pollinger sind die wirkenden Kräfte.
Die Heiterkeit wird immer toller und bricht in hellen Jubel aus, als Kathi frische Knödelsuppe ankündigt. „Tanzen!“ „Maxi, tanzen!“ rufen einige Stimmen, und nun werden rasch ein paar Stühle weggeräumt. Max Pollinger und Bobby Weiß produzieren sich mit Cakewalk und Matchiche; daran reihen sich Landler, Stürmische Bravorufe erschallen, als Pollinger mit Kathi einen Schuhplattler und zum Schluss einen Dreher tanzt; denn das Teufelsweib, das alles kann, kann auch tanzen und wie sogar!
Und Lieder und Worte schwirren durcheinander, Sektpfropfen knallen, Gläser klingen und „Meine Herrschaften, Polizeistunde!“ ruft Kathi.
Alle sehen nach der Uhr. Man will es nicht glauben, dass es schon drei ist, und man möchte so gern noch ein wenig bleiben, aber jetzt wird Kathi energisch. Sie weiß eben, wie streng die Polizei ist und wie hoch ihre Strafen sind. Also wir müssen gehen, und wir gehen um einige glückliche Stunden bereichert.
Ja, es ist reizvoll das Leben in dieser Künstlerkneipe, und das sagen sie alle, die es kennen —- nein, doch nicht alle.
Es ist auch manches dagegen gesprochen oder geschrieben, teils aus Überzeugung, teils von Muckern, Griesgrämigen, Neidischen oder Leuten, die der Ansicht waren, dass Kritik und Kredit zwei sehr voneinander abhängige Begriffe seien.
Gewiss, es ist auch mancher Schatten auf das sonnige Leben im Simplicissimus gefallen. Leid, Neid, Leichtsinn und Sorge sind immer treue Trabanten der Boheme gewesen, und es ist manch harter Strauß dort ausgekämpft worden, aber dem Fremden bleiben diese kleinen dunklen Flecken in dem großen bunten Bild verborgen, und Humor und ausgelassene Fröhlichkeit haben dort immer die Oberhand behalten.
Nicht wahr, lieber Freund, Du gibst mir recht? Es ist eine ganze Welt für sich, dieser Simpel, und es ist kein Wunder, dass von überall Menschen herkommen, um ihn zu sehen, und dass sich Künstler und Künstlerinnen jeder Art dort hingezogen fühlen. Erinnere Dich nur an den stürmisch-vergnügten Abend, den uns Isadora Duncan bereitete.
Schade, dass Du den Fasching hier nicht mehr erleben konntest!
Dieses Leben, diese Lustigkeit! Die vielfarbigen, spaßigen, geschmackvollen Masken und Kostüme, die rauschenden Walzer und dazwischen Kathi selbst mit ihren Heben in der kleidsamen Chiemgauer Bauerntracht.
Doch es ging auch über die Grenzen der Türkenstraße. Künstlerischer Festzug durch München mit fünf Wagen voll buntkostümierter Simpelgäste unter Anführung der Serenissima Kathi Kobus, reizvolle Maskenfeste, glänzende Bals pares, immer im Gefolge unserer lieben Kathi
Es war eine köstliche Zeit!
Ach, wie freue ich mich auf den Tag, wo ich das alles wieder sehen und miterleben werde, und ich will gewiss dabei Deiner mit ganzer Seele gedenken.
Vielleicht aber bringt Dich Fortuna auch noch eher nach München als mich, und dann, lieber Freund, dann bitt‘ ich Dich nur eins:
Grüß mir den Simplicissimus!
Grüß Kathi Kobus!
Lust bekommen? Dann wären wir schon zu zweit!
Über die Gäste des „Simpl“ schreibt dann Walther Diehl:
„… Gäste wurden im Simpl zu Auftretenden, Auftretende waren im nächsten Augenblick wieder Gäste. Wer alles da deklamierte, lässt sich vollständig nicht ermitteln. Hier einige Namen von Persönlich¬keiten, die Stammgäste des „Simpl“ waren: Ludwig Thoma, Max Halbe, Erich Mühsam, Johannes R. Becher, Emmy Hennings, Lotte Pritzel, Theodor Etzel, Hugo Ball, der Silhouettenschneider Moritz Engen und ein Student aus Cossen an der Oder, Alfred Henschke mit dem Pseudonym Klabund, dessen Muse das Malermodell Marietta Kirndörfer war, genannt „Marietta di Monaco“ und später nur noch kurz „Marietta“.
Marietta trug im Simpl Klabund-Gedichte vor, später unter anderem Turngedichte von Ringelnatz, und unvergessen ist sie mit ihrer Ganghofer-Parodie. Zeitweilig verließ Marietta München, war in Paris im Cafe du Dome, in Zürich und in Ascona. Sie starb am 22. Januar 1981 in München.
Karl Valentin soll 1907 kurz im Simpl aufgetreten sein. Es ist vorstellbar, dass dem Sonderling die Atmosphäre dort nicht behagte.
Zwischen Dichtern, Literaten und bildenden Künstlern hat er sich vermutlich nicht wohlgefühlt.“
„Auch eine große Zahl Adeliger gehörte zu den Gästen der Kathi Kobus: Friedrich Wilhelm, der Sohn Kaiser Wilhelms II. (der mit dem Schnurrbart „Es ist erreicht“) war Gast im Simpl, der damalige König von Siam, ein Herzog von Connaught, und ein Prinz zu Stollberg, um die Prominentesten zu nennen, “ berichtet Walther Diehl.
Und die alle vereint sangen bestimmt des öfteren eines der ersten Werke von Joachim Ringelnatz, das so genannte Simplicissimus-Lied aus dem Jahre 1909, das zur Melodie „Strömt herbei, ihre Völkerscharen“ gesungen wurde.
Simplicissimus-Lied
Mitternacht ist’s. Längst im Bette
Liegt der Spießer steif und tot,
Ja, dann winkt das traulich nette
Simpl-Gasglüh-Morgenrot.
Und mich zieht’s mit Geisterhänden,
Ob ich will, ob nicht, ich muß
Nach den bildgeschmückten Wänden
in den Simplicissimus.
Wo sich zum gemeinen Wohle
Künstler und Boheme trifft,
Wo die Kathi still zur Bowle
Mischt das tödliche Gift;
Wo mit Mandolinenklängen
Sich verwebt der Weißwurst Dampf,
Lausch ich fröhlichen Gesängen
Und dem Mords-Klaviergestampf.
Wo das Malweib uns stets heimlich
Vor- und hinterrücks skizziert,
Wirkt der Dichter rühm- und reimlich,
Tanzt man, scherzt und rezitiert.
Ist auch vollbesetzt das Zimmer,
Fremdling, stoß dich nicht daran,
Kathi Kobus findet immer
Plätze noch für zwanzig Mann.
Schwelg‘ ich dann bei Knödelsuppe
Hier im Simplicissimus,
Ist die ganze Welt mir schnuppe,
Bis die Polizei ruft: „Schluß!“
Scheid‘ ich einst von diesem Globus‘
sei mein letzter Abschiedsgruß:
„»Pfüat di Gott mein‘ Kathi Kobus!
Heil dir Simplicissimus!“
Und noch so ein Beispiel, wie Joachim Ringelnatz Kathi Kobus frotzelte ist die „Simplicissimus-Bowle“
Im Hofe links steht eine Tonne
Am Himmel oben steht die Sonne.
Und zwischen Sonne und dem Fass
Steht Kathi mit der Ananas.
Besagtes Fass enthält statt Bier
Aqua und H2 So4.
Und wenn (jetzt wird die Kathi blass)
Der Schatten von der Ananas
Dann auf die Wassertonne fällt,
Dann — ist die Bowle hergestellt.
Im Jahr 1911 oder 1912 – so ganz sicher sind sich die Chronisten da nicht – gibt Kathi Kobus den „Simplicissimus“ auf und zieht sich nach Wolfratshausen, einer Stadt im oberbayerischen Landkreis Bad Tölz-Wolfratshausen zurück.
Theo Prosel einer der Nachfolger im „Simpl“ schreibt über den „Rückzug – und der findet bei ihm 1912 statt:
„… Von 1903—1912 hatte der „Simpl“ seine glücklichen und großen Tage. In dieser Zeit hatte Kathi, wie sie mir selbst berichtete, ein Vermögen von 800 000 Goldmark erworben. Über ihre Finanzgebarung machte sie folgende Angaben:
„Ich habe jeden Tag das Geld, was mir nach Bezahlung der Ware übriggeblieben ist, in eine Zigarrenkiste geworfen. Wie die voll war, habe ich sie zur Bank getragen. Dees war mei‘ Buchhaltung.“ (…)
1912 zog sich Kathi mit den besagten achthunderttausend Goldmark nach Wolfratshausen in eine Pensionsvilla, die sie „Kathis Ruh“ nannte, zurück.
Toni Netzle meint, der Wechsel sei im Jahr 1911 erfolgt:
„… Als sich zum Jahresende 1911 Kathi Kobus auf ihre „Latifundien“ nach Wolfratshausen zu¬rückzog, übergab sie die Regentschaft im „Simplicissimus“ an einen Ernst Schultes. Angeblich hat er ihr sehr viel Geld bezahlt. Vielleicht war es sogar ein Vorfahr der berühmten Volkschauspieler-Brüder Berti und Max Schultes, deren Vater sehr viel später in einem Hinterhof in der Occamstraße ein kleines Theaterchen baute.“
Lange hielt sich der Nachfolger nicht – Toni Netzle schreibt:
„… Zum 1. Mai 1914 verkaufte jener Schultes an eine Frau, Emilie Christof. Über ihre etwas sehr „lockere“ Führung der Gastwirtschaft hörten wir nur gerüchteweise. Es könnte doch sein, dass sich während der Kriegsjahre tatsächlich das „werthe Publikum“ sehr verändert hatte. Alle Jungen waren an der Front, um ihr Leben für das Vaterland auf das Spiel zu setzen — wer außer dubiosen Personen hatte schon Zeit, Geld und Muße, sich diesen dort angeblich stattgefundenen „Zechorgien“ hinzugeben? Dass aber, wie die Gerüchteküche kolportierte, die Kneipe von Amtswegen von der zuständigen Behörde geschlossen wurde, dafür gibt es keine schriftlichen Unterlagen. Zumindest ist im Archiv der Stadt München über diesen Vorfall nichts zu finden.
Aber eines ist sicher, dass die Löwenbrauerei als verantwortlicher Bierlieferant die Kathi Kobus ab 1. Februar 1917 in ihr altes Domizil zurückgeholt hat, um das Weiterbestehen des „Simplicissimus“ zu garantieren.“
Theo Prosel erzählt über die „neue Zeit“ mit der alten Kathi Kobus:
„… Nun erlebte die alte Künstlerkneipe eine Renaissance, und ein unvergesslicher Abend reihte sich an den anderen. Kathi, die ein unwahrscheinlich gutes Gedächtnis hatte, feierte allnächtlich bis in die grauen Morgenstunden Wiedersehen mit ihren alten Freunden, die der Krieg in alle Welt zerstreut hatte und die nun schön langsam wieder in München sesshaft wurden. Trotz ihrer Jahre — sie war damals schon hoch im siebten Dezennium ihres Lebens — schien sie keine Ermüdung zu kennen und war unternehmungslustig wie noch nie.“
Zum Jahresende 1922 gab Kathi Kobus bekannt, sie höre auf. Die „Münchner Zeitung“ Nr. 309 vom 8. November 1922 berichtet darüber:
„… „Das Ende des Simplicissimus. Zum lachenden, fröhlichen München gehörten seit Jahrzehnten Kathi Kobus und ihr Simplicissimus. Wohl gibt es auch heute in München noch Stätten, wo laute Freude zu Gast sitzt; die geistig beschwingte, dionysische Stimmung aber, die im Simpl ihre magischen Schleier webt, wird erdrückt von den Sorgen und Nöten, unter denen gerade die Kreise zu leiden haben, die sich bei der Kathi zusammenfinden. So zieht das Ende für diese Gaststätte herauf. Der letzte Tag des Jahres wird auch die Simplicissimus-Dämmerung bringen. Aus dem Simpl werden Bureauräume. Die berühmteste Künstlerkneipe Münchens, in der alle zu Gast weilten, die für Kunst und Literatur und Musik glühten und schwärmten und schufen, der oft besungene Simpl, der u. a. in dem Roman des Schweizer Erzählers J. C. Heer „Laubgewind“ voll Wärme und Farbe geschildert wird, er wird, wie so vieles andere Traute und Schöne im Münchner Leben, bald Vergangenheit sein.“
Büroräume sind aus dem „Simpl“ nicht geworden, was wäre das auch für ein Frevel gewesen?
Und noch ein wehmütiger Artikel. Ausgerechnet am Heiligen Abend 1922 erschien Nr. 396 der „Münchner Neuesten Nachrichten“ mit der Ankündigung des Besitzerwechsels beim Simpl:
„… Das Künstlerkabarett „Simplicissimus“ in der Türkenstraße wechselt mit dem neuen Jahr seinen Besitzer. Belanglosigkeit, einer kleinen Lokalnotiz würdig? O nein!
Es gibt Namen, an denen ein Stück Kulturgeschichte hängt; und so gewiss das vielumstrittene Anhängsel Schwabing in Münchens Kunstannalen nicht fehlen darf, so sicher behält in diesem kleinen Sonderkapitel der alte „Simpl“ seinen Erinnerungswert .. .
Es heißt viel, Generationen hindurch einem Lokal wie dem „Simplicissimus“ seinen Stil nach Möglichkeit gewahrt zu haben, wo sich so vieles ständig wandelte.
Freilich, die improvisiertem Vorträge der ersten Jahre machten später einem festen Programm Platz, aber auch dieses blieb in der Linie – und wer nach Jahren wieder in den „Simpl“ kam und Kathis herzliches „Grüß Gott“ hörte, fühlte sich nicht verloren und vergessen in fremd gewordener Welt. Er erkannte die alten Bilder an der Wand, den guten Graukopf Koppel am Klavier und entsann sich mühelos jenes Abends, da in engem Kreise von Verehrern die berühmte Isadora in entfesselter Laune auf einem Marmortischchen tanzte.
Vor allem aber war da die Kathi – ruhender Pol in der Erscheinungen Flucht! Und das soll nun plötzlich anders werden. Einmal schon freilich hatte sie ihren Abschied genommen, um auf „Kathis Ruh“ im schönen Isartal Tage beschaulicher Reife zu verleben. Aber „man“ hielt es nicht aus und sie auch nicht! Und eines schönen Morgens war Kathi wieder da! Diesmal aber soll es wirklich ernst sein.
Am 27. Dezember ist ihr Abschiedsabend. Es wird vergnügt zugehen und dabei feuchte Augen geben. Die Freunde ihrer derben Natürlichkeit, die auch ihr gutes Herz kennen lernten, werden ihr gerührt und aufrichtig die Hand drücken. Herr Brandl vom Cafe im Botanischen Garten wird den „Simpl“ weiterführen.“
Behauptungen und Gerüchten wabern durch die Chroniken der folgenden Jahre, ob sie stimmen – ob sie erfunden sind?
Nachfolger Brandl sei verpflichtet worden, Kathi Kobus auf Lebensdauer als Geschäftsführerin anzustellen.
Walther Diehl schreibt dazu:
„… Brandl muss den Simpl im Sinne der Kathi Kobus weitergeführt haben. Es scheint auch, dass die Kathi noch Einfluss genommen hat.
Möglicherweise beschäftigte Brandl sie als Geschäftsführerin. Was die Kobus bewog, den Simpl abzugeben, ist nicht überliefert. Das Alter oder schlechte Gesundheit können es nicht gewesen sein.“
Denn in der „Münchner Zeitung“ Nr. 275 vom 4./5. Oktober 1924 erscheint ein Artikel zum 70, Geburtstag der Kathi Kobus im „Simpl“ und laut dem geht es wie immer reichlich turbulent zu, Kathi wie immer im Mittelpunkt, von den 70 ist nichts zu merken.
Und Walther Diehl schreibt über ein weiteres Gerücht, die Kathi gehe nach Berlin. Was einen gewissen R. E. veranlasst, ein Gedicht zu „komponieren“, veröffentlicht in der „Allgemeinen Zeitung“ vom 11. August 1926. Der Inhalt ist schnell erzählt: Berlin ist weit und sündig und darum solle sie da bleiben, wo sie hingehört. Hat sie dann auch gemacht, denn auch die folgenden Geburtstage wurden im „Simpl“ gefeiert.
Und nochmal Walther Diehl:
„… Etwa 1925 ging der Simpl an Hanna Dienstknecht und Otto Heusinger über. Auch unter dieser Leitung wurde die Kabarett-Tradition fortgeführt.“
Über den Wechsel zu Theo Prosel berichtet Toni Netzle:
„… Für die nächsten zehn Jahre sollte der Bestand des „Simpl“ durch dieses Wirtepaar gesichert sein. Sie stellten Kathi Kobus als „Maitre de plaisier“ fest an. Kathi war wieder verantwortlich für das Programm, umsorgte die Gäste, eigentlich war alles wie früher – nur spielte sie ab jetzt die Wirtin.“
Und dann, Wikipedia schreibt:
„…Im Juli 1929 wurde sie mit Verdacht auf Paratyphus ins Schwabinger Krankenhaus eingeliefert. Am 7. August kehrte sie auf eigenen Wunsch in ihre Wohnung in der Türkenstraße 13 zurück, wo sie noch in derselben Nacht verstarb.
Sie ist auf dem Münchner Nordfriedhof bestattet (Grabfeld 79, Reihe 4, Grabnummer 7). Ihr Grabmal trägt die Inschrift „Hier ruht Fräulein Kathi Kobus Gründerin der Künstlerkneipe Simplicissimus.“
Die Kathi-Kobus-Straße in München trägt ihren Namen. In Karl Ritters Spielfilm Bal paré (1940) wird Kobus von Grete Ruß gespielt.“
Mit ihrem Todestag hat sie einen letzten „Kracher“ gesetzt, der 7. August ist der Geburtstag ihres bekanntesten Hausdichters – Joachim Ringelnatz.
„Nach Kathis Tod wurde es etwas ruhig im Simpl, die Bedeutung dieses Kabaretts ließ nach“, schreibt Walther Diehl. Aber bereits im Januar 1931 war es mit der Ruhe und er nachlassenden Bedeutung vorbei – Tusch und erster Auftritt der „Vier Nachrichter“, einem Kabarettensemble der besonderen Art. Besonders deswegen, weil die Mitglieder dieser Truppe aus dem Theaterseminar des legendären Dozenten Artur Kutscher an der Münchner Universität stammten, jenem Artur Kutscher, dem ich eine eigenes Portrait gewidmet habe und zu dessen Studenten auch Klabund gehörte.
Wikipedia schreibt über die „Vier Nachrichter“:
„… „Die vier Nachrichter“, war ein Münchener Kabarettensemble der frühen 1930 er Jahre bestehend aus Helmut Käutner, Bobby Todd und Kurd E. Heyne. Anfänglich gehörte auch Werner Kleine zu der Gruppe. Ihm folgte als Komponist Norbert Schultze unter dem Pseudonym „Frank Norbert“. Dieser Deckname wurde für alle folgenden Komponisten beibehalten.“
Etwas Besonderes waren sie auch deshalb, weil ihnen eine besondere Ehre wiederfuhr, 1935 wurden sie durch Joseph Goebbels verboten.
Anton Kuh (geboren am 12. Juli 1890 in Wien; gestorben am 18. Januar 1941 in New York), war ein österreichisch-jüdischer Journalist, Essayist, Erzähler und Redner. Er stammte aus einer Prager Familie mit schriftstellerischer Veranlagung.
„Anton Kuh veröffentlichte Satiren und zahlreiche kurze Prosastücke, in denen er sich im Sinne von Pazifismus und Demokratie kritisch, witzig und hellsichtig mit seiner Zeit auseinandersetzte. Von den Nationalsozialisten als „Kulturbolschewik“ geschmäht und wegen seiner jüdischen Herkunft musste er Deutschland 1933 verlassen. Nach dem „Anschluss Österreichs“ musste er 1938 seine Emigration in die USA fortsetzen. Kuh starb 1941 in New York an einem Herzanfall“, schreibt Wikipedia.
Heinz Greul (geboren 1926 in Augsburg) ist ein deutscher Autor, Produzent, Regisseur und Komponist.
Wikipedia:
„… Besondere Bekanntheit erlangte er als vielveröffentlichender Radiosatiriker. Greul war ein Mitarbeiter des Kabaretts Die Schaubude. (…) Er ging 1963 mit den Kabarettistinnen Helen Vita und Ursula Herking auf eine Tournee mit Vorträgen in ganz Europa.[1] Später schrieb er Veröffentlichungen zur Geschichte des Kabaretts.
Greul ist Verfasser und Herausgeber der ersten internationalen Kabarettgeschichte in deutscher Sprache „Bretter, die die Zeit bedeuten“ und „Bretter, die die Welt bedeuten“ (beide 1967).“
Zurück zu den „Nachrichtern“ und deren Namen leitet sich laut Wikipedia so ab:
„… Bei „Nachrichter“ handelt es sich um eine alte Bezeichnung für den Henker (der nach dem eigentlichen Richter, der das Todesurteil spricht, dieses vollstreckt). Die Kabarettisten sahen in der Preisgabe der Lächerlichkeit eine Art der Vollstreckung. Man spielte mit dem Namen vor allem aber auch auf die sich damals in ihrem Umkreis befindliche bereits hocherfolgreiche Kabarettgruppe „Die Elf Scharfrichter“ an.“
Entstanden ist die Gruppe aus der Studentenzeit bereits 1928, der Durchbruch erfolgte 1932 mit ihrem Programm „Hier irrt Goethe“. Schnell folgten Auftritte in- und außerhalb Münchens und Alfred Kerr – einflussreichster Berliner Theaterkritiker – zeigt sich begeistert. Über die weitere Karriere schreibt Wikipedia:
„… Plakate für die Aufführungen wurden teilweise unter Plakate mit dem Porträt Adolf Hitlers angebracht – konnten sich die Nachrichter 1933 als Tourneetheater selbstständig machen. Ein weiteres Stück, die Krimiparodie „Die Nervensäge“, folgte 1934. Auch Rundfunkarbeiten gab es noch bis zum 1. Oktober 1935, als die Gruppe schließlich von den Nationalsozialisten als „zersetzend und destruktiv“ eingestuft aufgelöst wurde. Zuvor war Todd als „Nicht-Arier“ auf Betreiben der Nazis bereits pro forma aus der Gruppe ausgeschieden, während sich die verbliebenen offiziellen Mitglieder der NS-Bühnengenossenschaft angeschlossen hatten“
Wem es bereits jetzt zu langatmig wird, dem füge ich einige Sätze der Klabund-Seite ein, die nachzulesen sind unter: „Am Anfang“
„… Und eines ist mir für diese Seite auch noch wichtig: In allen bisher von mir gelesenen Büchern oder Seiten im Internet wird ein enormes Wissen über die damalige Zeit vorausgesetzt.
Das habe ich nicht und deshalb werde ich Zeitgenossen/innen und Stationen in Klabunds Leben beschreiben, die wichtig waren.
Oder kennen alle Leser dieser Veröffentlichungen z.B. Alfred Kerr, oder wissen, wo Crossen liegt?“
Und bleibe noch bei den „Nachrichtern“ um deren interessante Mitglieder zu beschreiben.
Helmut Käutner – am 25. März 1908 in Düsseldorf geboren – Kabarettist, Schauspieler und einer der einflussreichsten Regisseure der Nachkriegszeit.
Wikipedia:
„… 1928 begann Helmut Käutner, Sohn eines Düsseldorfer Kaufmanns, in München zu studieren. Von 1931 bis 1935 spielte Käutner Kabarett im Ensemble „Die Nachrichter“, schrieb Feuilletons und Kritiken für die bayerische Hochschulzeitung. Von 1936 bis 1938 war er Schauspieler und Regisseur am Schauspielhaus in Leipzig, an den Kammerspielen in München, dem Theater am Schiffbauerdamm, an der Komödie und am Kabarett der Komiker in Berlin. Von 1936 bis 1939 war er Schauspieler und Regisseur am Leipziger Schauspielhaus.“
Auf seine Erfolge als Drehbuchautor und Regisseur einzugehen, hieße wirklich „Eulen nach Athen zu tragen“ und das erspare ich allen Lesern/innen. Bemerkenswert ist aber sicher, dass einige seiner Filme im III. Reich verboten waren.
Ab 1947 drehte er bereits Filme und die sind zahlreich und neben purer Unterhaltung auch sehr politisch und antimilitaristisch. Wikipedia gibt Auskunft und an viele kann ich mich erinnern.
Helmut Käutner war seit 1934 mit der Schauspielerin Erica Balqué verheiratet. „Seine letzten Lebensjahre, bereits schwer krank, verbrachte er mit seiner Frau in der Toskana in seinem Haus in Castellina in Chianti, im Norden der Provinz Siena. Dort starb er am 20. April 1980 im Alter von 72 Jahren.“ (…)
Aus Wikipedia:
„… Helmut Käutner wurde in einem Ehrengrab der Stadt Berlin in der Abt. III-U-7 auf dem Waldfriedhof Zehlendorf in Berlin beigesetzt. Zu seinem Angedenken vergibt seine Geburtsstadt Düsseldorf seit 1982 den Helmut-Käutner-Preis. In Essen, Berlin und München-Neuperlach wurden Straßen zu seinen Ehren benannt.“
Bobby Todd – eigentlich Hans Karl Rohrer wurde am 22. Juni 1904 im Höhenluftkurort Hinterzarten, etwa 25 Kilometer östlich von Freiburg im Breisgau im Südschwarzwald geboren. Todd war Schauspieler, Regisseur, Schriftsteller und Kabarettist.
Sohn eines Arztes studierte er in München einige Semester Medizin und Theaterwissenschaften, brach ab und widmete sich dann der Schauspielerei.
Wikipedia schreibt:
„… 1928 stand er erstmals vor einer Filmkamera, in dem 1929 uraufgeführten Lustspiel „Miss Evelyne, die Badefee“. 1930 gehörte er zu den Mitgründern des aus Anlass eines Faschingsfestes des Theaterwissenschaftlichen Seminars entstandenen Studentenkabaretts „Die Nachrichter“, wo er als Autor, Regisseur, Komponist und Schauspieler hervortrat. (…)
Auf Betreiben der Nazis als „Nicht-Arier“ pro forma früh aus der Gruppe ausgeschlossen, blieb er insgeheim jedoch bis zum endgültigen Verbot am 1. Oktober 1935 Mitglied. Todd wurde von den Nationalsozialisten als politisch unzuverlässig eingestuft und erhielt 1935 Berufsverbot.
Im März 1936 verließ Todd Deutschland und emigrierte über die neutrale Schweiz nach Italien. Er war zunächst Student an der Filmakademie Rom und Assistent am „Centro Sperimentale di Cinematografia“. Von 1936 bis 1945 übernahm er Filmarbeiten in Italien, in Rom arbeitete er als Produktionsassistent.
1947 wurde er Abteilungs-Leiter des Unterhaltungsressorts beim bis 1949 existierenden Radio München, dem früheren Reichssender München. Anschließend arbeitete er wieder als Schauspieler und Kabarettist. (…)
Noch bis in die 1960 er Jahre hinein spielte Todd zahlreiche kleinere Rollen in deutschen Filmen. Insbesondere Helmut Käutner besetzte Todd mehrfach in seinen Filmen mit Nebenrollen. (…)
In den 1950 er Jahren lebte Todd in München, seit 1962 dann wieder ganz in Italien. Er war mit der Schauspielerin, Tänzerin und Schriftstellerin Monica von Eyb (Pseudonym für Ilse Monica Meyer) verheiratet.“
Bobby Todd stirbt am 7. September 1980 in Turin.
Kurd Erich Heyne geboren am 3. Oktober 1906 in Braunschweig, war Schauspieler, Regisseur, Kabarettist und Autor.
Wikipedia schreibt:
„… Heyne legte sein Abitur 1926 am Realgymnasium in Braunschweig ab und spielte in dieser Zeit bereits intensiv Schultheater, u. a. auch mit Norbert Schultze. Er studierte Philologie in Göttingen und Berlin, später in München. Erste Erfolge hatte der Sohn eines Buchprüfers als Gesangstexter und gemeinsam mit Helmut Käutner und Bobby Todd war er Mitbegründer der Kabarettgruppe „Die vier Nachrichter“. Nach deren Verbot 1935 verlegte er sich aufs Stückeschreiben für das Theater. Zu „So leben wir“ komponierte er auch selbst die Musik.
Auch verfasste mehrere Stücke zusammen mit Helmut Käutner, zum Teil zusammen mit Bernhard Eichhorn, sowie „Ein Mann kommt in die Stadt“ mit Werner Finck.
Nach seiner Emigration in die Schweiz 1938 etablierte sich Heyne als Schauspieler und Regisseur am Basler Stadttheater, wo er zeitlebens blieb. Daneben betrieb er intensive Hörspielarbeit für den Schweizer Rundfunk, nach dem Krieg auch wieder für deutsche Stationen. Die von Heyne noch zu Nachrichter-Zeiten mit verfasste Komödie „Der Apfel ist ab“ wurde 1948 von Käutner in Deutschland (…) verfilmt.“
Kurd Erich Heyne stirbt am 7. Mai 1961 in Luzern.
Werner Kleine geboren am 1. Dezember 1907 in Planegg, war Komponist, Autor und Liedtexter und ebenfalls Mitbegründer der „Nachrichter“
Wikipedia schreibt:
„…Ab 1934 war er als Schauspielkomponist und Kapellmeister an den Münchener Kammerspielen tätig; 1937 wurde er an das Berliner Schillertheater berufen. In Berlin widmete er sich vermehrt der Komposition von Unterhaltungsmusik und Arbeiten für das Radio. Nach dem Zweiten Weltkrieg leitete er das Steintorvarieté in Halle an der Saale. In dieser Funktion schrieb er zahlreiche Revuen und dirigierte die Aufführungen auch selbst. Ab 1953 war er Abteilungsleiter für Unterhaltungsmusik am WDR in Köln. Von 1964 bis 1972 leitete er die Abteilung gehobene Unterhaltungsmusik beim Bayerischen Rundfunk in München.
Kleine schrieb neben zahlreichen Liedern und Liedertexten auch Gedichtbände und Romane.“
Werner Kleine stirbt am 25. November 1980 in Planegg, einer Gemeinde im oberbayerischen Landkreis München. Sie liegt südwestlich der Stadtgrenze von München im Tal der Würm.
Norbert Arnold Wilhelm Richard Schultze geboren am 26. Januar 1911 in Braunschweig war Komponist und Dirigent. Er verwendete bei seinen Kompositionen auch die Pseudonyme Frank Norbert, Peter Kornfeld und Henri Iversen.
Aus Wikipedia:
„… Seine bekannteste Melodie war die des Liedes „Lili Marleen“. Weitere Werke waren die Opern „Schwarzer Peter“ und „Das kalte Herz“, das Musical „Käpt’n Bye-Bye“, aus dem der Evergreen „Nimm mich (uns) mit, Kapitän, auf die Reise“ stammt, sowie zahlreiche Filmmusiken, wie zum Beispiel zu „Die Mädels vom Immenhof“ (1955
Der Sohn des Mediziners Walter Hans Schultze legte das Abitur am Realgymnasium in Braunschweig ab und studierte in Köln und München Klavier, Dirigieren, Komponieren und die Fächer Musikwissenschaft und Theaterwissenschaft. In München trat er Anfang der 1930 er Jahre als Komponist in Erscheinung. Unter dem Pseudonym Frank Norbert war er eine Zeit lang Komponist für das Studentenkabarett Die vier Nachrichter.
Es folgten von 1932 bis 1934 Engagements in Heidelberg und als Kapellmeister in Darmstadt, München und Leipzig. 1932 heiratete er seine erste Frau, die Schauspielerin Vera Spohr.“
Über das im Jahr 1938 geschrieben Lid der Lili Marleen braucht wohl kaum viel geschrieben werden. Die erste Aufnahme wurde mit einem Sänger aufgenommen, ab 1939 erfolgte die heute noch bekannte Aufnahme mit Lale Andersen.
Wenige Monate Aufnahmeleiter der Telefunken GmbH arbeitete er ab 1936 als freier Komponist für Bühne und Film, 1940 wird er Mitglied der NSDAP.
Die Zeit im III. Reich ist nicht gerade ein Ruhmesblatt, er liefert Kompositionen zu Soldaten. und Propagandaliedern. Wikipedia schreibt dazu:
„… Im Auftrag von Propagandaminister Joseph Goebbels vertonte er Stücke wie „Von Finnland bis zum Schwarzen Meer „(in dessen Refrain die Textzeile „Führer, befiehl, wir folgen dir“), das „Lied der Panzergruppe Kleist“, „Panzer rollen in Afrika vor“ oder „Bomben auf Engelland“.
Wegen seiner Kampf- und Soldatenlieder wurde Norbert Schultze immer wieder als Nazi-Propagandist angeprangert. Die Kritik galt auch der Musik für Veit Harlans Durchhaltefilm „Kolberg“ von der wesentliche Stücke, darunter das Hauptthema, aus dem Kriegsdokumentarfilm „Feuertaufe“ stammten, für den Schultze ebenfalls die Musik komponiert hatte.“
Dazu äußerte er sich nach Kriegsende reichlich flapsig:
„Wissen Sie, ich war damals im besten Soldatenalter. So um die 30. Für mich war die Alternative: komponieren oder krepieren. Da habe ich mich für das Erstere entschieden.“
Quelle: Braunschweiger Zeitung Ausgabe 1, 2005
Norbert Arnold Wilhelm Richard Schultze wurde im Rahmen der Entnazifizierung als Mitläufer eingestuft und kam nicht nur wegen der geringen Geldstrafe von 3000.– Mark billig davon, zumal ihm sofort eine Arbeitserlaubnis erteilt wurde.
Seine genannten Kompositionen unterliegen bis heute der GEMA-Gebührenordnung. „Schultze hat testamentarisch verfügt, dass sämtliche Tantiemen seiner von 1933 bis 1945 entstandenen Werke (also auch die seiner Märchenoper „Schwarzer Peter“) dem Deutschen Roten Kreuz zufließen. Dies geschieht bis in die Gegenwart“, schreibt Wikipedia.
Nach Kriegsende betreibt er von 1953-1968 einen eigenen Musikverlag und Bühnenvertrieb und er schreibt weiterhin zahlreiche Opern, Operetten (z. B. „Regen in Paris“), Musicals, Ballette (darunter „Struwwelpeter“ und „Max und Moritz“ 1956 verfilmt und Filmmusiken und Lieder. Im Jahre 1961 wird er zum Präsidenten des Verbandes deutscher Bühnenschriftsteller und -komponisten gewählt.
Norbert Schultze stirbt am 14. Oktober 2002 in Bad Tölz.
So richtig ruhig war es im Simpl also doch nicht. Davon zeugt auch ein Artikel in den „Münchner Neuesten Nachrichten“ Nr. 10 vom 11. Januar 1933:
„… Der Simpl wird immer mehr zum Startplatz für kabarettistische Hoffnungen aller Art im Flaum der jungen Jahre. Da stehen sie dann auf dem Quadratmeter, diesem Mikrokosmos eines Podiums – sind mitunter noch so rührend unfrei, sind für Minuten schon richtige Künstler auf den Brettern, die ihre Welt bedeuten, bis ein Zwischenruf, irgendetwas Unvorhergesehenes, ein neuer Gast, ein fallendes Blatt im Wind den freien Gedankenflug in eine jähe Notlandung umbiegt. –
Da ist diesmal, jung und neu, Hans Damm, wieder einer aus dem munteren Quell des Kutscherseminars, der als Ansager sich noch einige geistige Gelenkigkeit wird zulegen müssen, der aber dann mit klugen farbigen Versen überrascht und auch mit selbstgemalten und gedichteten Moritaten Eigenes, Originelles zu sagen hat. Die Gehversuche des kabarettistischen Kindes sind durchaus hoffnungsvoll – mag sein, daß er noch ein Schnelläufer wird.
Die Faschings-Schwalbe Poldi Lenz donnert wieder übers Klavier und stürmt mit ihrem einzigartigen Temperament auch die bestausgebauten Stellungen vermiester Besucher. Die Poldi ist eine wunderbare Vorlacherin – schnell zieht der Lenz auch in durchaus winterliche Herzen ein. Klar, daß das Publikum stürmisch nach ihr verlangt. Kasperltheater für die Großen zu spielen, in derbe Possen-haftigkeit versteckte Anspielungen auf die Zeitläufe und ihren Krampf zu vermitteln, ist Wolfgang v. Webers reizende, noch ausbaufähige Idee.
Weite, fruchtbare Gebiete können hier noch erschlossen werden. Manches war diesmal schon zündend. – Mit schmiegsamer, weicher Stimme singt Käthe Hagedorn schwärmerische Lieder. Adam Bötschs pianistischer Schatten spiegelt sich dezent, diskret, leicht hingehaucht an allen Wänden.“
Hanna Dienstknecht und Otto Heusinger haben also die gute Tradition fortgeführt und den „Simpl“ bis 1935 geführt. Toni Netzle schreibt:
„… Das Wirtepaar Hanna Dienstknecht und Otto Heusinger, die den „Simpl“ bis 1935 führten, gaben wegen der Nazis auf. Die Auflagen waren derart streng — jeder Auftritt musste von irgendeinem Amt genehmigt werden, Juden durften sie nicht mehr beschäftigen und selbst für Joachim Ringelnatz gab es keine Arbeitsgenehmigung mehr. Er galt als „volkszersetzend“. Jeder, der weiß, was es heißt, keine Arbeitsgenehmigung mehr zu bekommen, wusste, dass dies einem Berufsverbot gleichkam. Ringelnatz stand auf der schwarzen Liste der Nazis.“
Theo Prosel
Eine neue Ära die bei Toni Netzle so beginnt:
„… Der Schauspieler, Conférencier und Kabarettist Adolf Gondrell, erwarb im Juli 1935 den „Simpl“ von Hanna Dienstknecht und Otto Heusinger. Gondrell wollte den „Simpl“ nicht für sich haben. Er verpachtete ihn an seinen permanent mittellosen Freund Theo Prosel, ein gebürtiger Wiener, der aber wie viele seiner Landsleute Wien nicht mochte. Er war Kabarettist, Sänger und Autor – heute würde man ihn als Entertainer bezeichnen. Mit seiner Frau, der Sängerin Julia Dietrich, trat er schon bei Kathi Kobus auf und wiederholte seine Gastspiele natürlich auch unter den nachfolgenden Wirten. Bei seinem Antritt als Wirt war ihm also der „Simpl“ nicht unbekannt. Er liebte ihn und empfand es als großes Glück, einen Gönner wie Adolf Gondrell zu haben, der ihm gleich ein ganzes Lokal kaufte.“
Und Walther Diehl schreibt:
„… Und dann hatte der Simpl an der Türkenstraße eine neue Blütezeit vom 1. August 1935 bis 30. Juni 1944. Theo Prosel übernahm die Künstlerkneipe. Wer war er? Wie wurde er Simpl-Wirt, Autor, Gestalter und Teilinterpret der Programme dieses traditionsreichen Kabaretts?“
Theo Prosel wurde am 4. Mai 1889 in Wien geboren. Gemocht hat er die Stadt nicht und auch nicht ihre Bewohner. „Die Wiener san a Bagasch“, ist von ihm überliefert.
Kaufleute waren wohl die Prosel‘s und auch Theo ergriff nach dem Besuch des Klostergymnasiums in Kremsmünster und der Wiener Handelsakademie diesen Beruf und wurde tatsächlich ein paar Monate Buchhalter in einer Fabrik. Der Erfolg nicht berauschend. „Die Buachhaltung is heit‘ no net in Ordnung“ habe man ihm gesagt, bekennt er später im „Simpl“.
1914 bricht der erste Weltkrieg aus und Theo Prosel wird einberufen, 1915 gerät er in russische Gefangenschaft und über diese schreibt er anlässlich seines 60. Geburtstages: „Ich durchbrach die russische Front mit einem derartigen Elan, dass ich vor Sibirien nicht mehr zum Stehen kam.“
Im Kriegsgefangenenlager machte Prosel seine ersten literarischen Versuche mit bunten Abenden, für die er die Texte schrieb. 1918 wird er entlassen „mit dreihundert Gedichten, die ich im Kopf über die russische Grenze schmuggelte“ und landete wieder in Wien.
Weg von der „Bagasch“, Prosel geht 1920 nach München und bekommt bei Karl Valentin im Hotel „Germania“ ein erstes Engagement, er beschreibt es so: „Der Vortrag meiner Gedichte bei irgendeiner Veranstaltung hatte einen guten Erfolg, so dass ich sicherer wurde.“
Das Germania gibt es heute noch und auf seiner Internetseite ist zu lesen:
„… Das traditionsreiche Hotel liegt mitten im Zentrum von München. Das Haus wurde 1900 gegründet. Die Kleinkunstbühne Charivari, im Volksmund auch Germania Brettl genannt, war im Biersaal des Hotels untergebracht und diente in den 1920 er Jahren Karl Valentin als Bühne. Im zweiten Weltkrieg wurde das Gebäude teilweise zerstört, und schließlich erfolgreich wieder aufgebaut.“
Kathi Kobus wurde auf Prosel aufmerksam und engagierte ihn, Theo Prosel darüber in seinem Buch „Freistaat Schwabing“:
„… Am 1. Juni 1920 am späten Nachmittag meldete ich mich bei Kathi Kobus zum „Dienstantritt“. Da die polizeiliche Sperrstunde damals sehr früh war, begann das Simpl-Programm um 8 Uhr. Kathi Kobus gab mir noch einige Anweisungen: „Daß S‘ Eahna vielleicht net ei’falln lassen, einen Frack oder Smoking anzuziehn. Sie kommen so, wie Sie sind.“
Nach wenigen Tagen, als ich schon den Begriff Simpl in mich aufgenommen hatte, wusste ich auch, dass nichts deplacierter gewesen wäre, als hier in der sogenannten Zivilparadeuniform zu erscheinen. Den Zwang, Frack zu tragen, legte Kathi Kobus nur einem Simpl-Künstler auf, der bis zu meinen Tagen dem Simpl die Treue hielt, nämlich Walter Hillbring. Der war ein Jahr früher in den Simpl gekommen als ich und hatte die Unvorsichtigkeit begangen, von einer Gesellschaft kommend, im Frack ein Lied zum Besten zu geben.
Kathi, die nach Nase engagierte, wusste sofort, dass ein Mann vor ihr stand, der im ersten Augenblick vom Simpl-Gift unheilbar infiziert worden war. Da er auch nicht auf Rosen gebettet war, nahm er ein Engagement an. Allerdings legte ihm Kathi die Verpflichtung auf, täglich im Frack zu erscheinen. Ihren Gästen erzählte sie sehr geheimnisvoll, Walter Hillbring sei ein geflohener russischer Großfürst. Mit mir zusammen trat auch Joachim Ringelnatz auf, Kathis Hausdichter.
Den Klavierpart bestritt damals Hugo Koppel, ein Mann mit einem weißhaarigen Lockenschopf, der täglich eine Oper aufführte. Das Libretto der Oper bildete die Weinkarte.
Mit Koppel war Kathi Jahrzehnte hindurch auf das innigste befeindet. Es verging keine Woche, wo nicht er ihr oder sie ihm kündigte. Auf diese Weise blieben sie fast zwei Jahrzehnte beisammen.“
Walter Hillbring (1890-1964) war Chansonnier und Kabarettist. Sein besonderes Markenzeichen war es, dass er zur Verzweiflung von Kathi Kobus seinen Vortrag abbrach und die Bühne verließ, wenn ihm das Publikum nicht gefiel.
„Eine Sternstunde des Münchner Kabaretts war es, als Prosel mit Adolf Gondrell bekannt wurde. Es entwickelte sich eine lebenslange Freundschaft, die aber nie frei war von gegenseitigen Frotzeleien“, meint Walther Diehl.
Adolf Gondrell, geborener Adolf Grell, kam am 1. Juli 1902 in München auf die Welt. Er war Conférencier, Film- und Bühnenschauspieler und trat in die Fußstapfen seines Vaters Adolf Grell, der ebenfalls Schauspieler war.
Adolf Gondrell begann seine Laufbahn kurz nach dem I. Weltkrieg in München als Conférencier im „Bonbonniere“ am Münchner Platzl, dessen Leiter er war. Er machte sich aber auch zeitweise einen Namen in Berlin mit Auftritten als Kabarettist in der „Scala“, im „Kabarett der Komiker“ und im „Wintergarten“.
1935 erwarb Adolf Gondrell die Künstlerkneipe „Simplicissimus“ und setzte Theo Prosel als Pächter ein.
Über seine weitere Laufbahn schreibt Wikipedia:
„… Beim Film war Gondrell seit 1933 meist in kleineren Rollen aktiv. In „Es waren zwei Junggesellen“ verkörperte er 1935 eine der beiden Titelfiguren.
Seit 1945 war er Mitglied der Münchner Kammerspiele, daneben trat er an anderen Bühnen wie der Kleinen Komödie am Max II auf. Er spielte Alfred Doolittle in „Pygmalion“, Puntila in „Herr Puntila und sein Knecht Matti“, den Bäcker in Pagnols „Madame Aurelie“, Dr. Lausitz in „Des Teufels General“ und wurde besonders als Dienstmann Alois Hingerl in „Ein Münchner im Himmel“ bekannt. Für dieses Stück hatte er Ludwig Thomas Erzählung bearbeitet. Als Synchronsprecher lieh er u. a. Fredric March (Die Abenteuer des Mark Twain) seine Stimme.
Adolf Gondrell starb bei einem Gasherd-Unfall am 13. Januar 1954, aber auch Suizid kann nicht ausgeschlossen werden. Er liegt auf dem Münchner Ostfriedhof im Stadtteil Obergiesing begraben.“
Theo Prosel – frischgebackener „Simpl-Wirt“ – wer nichts wird, wird Wirt, – spöttelt Gondrell freundschaftlich – heiratet 1921 die Wiener Opernsängerin Julia Dietrich, die ihm drei Töchter, Theodora, Gertrude und Therese, schenkte.
Über das erste Programm unter Theo Prosel stand im „Völkischen Beobachter“ vom 15. August 1935, Nr. 227:
„… Seit dem 1. August hat der „Simpl“ einen neuen Wirt, Theodor Prosel. Machen wir uns nichts vor: Es ist keine Kleinigkeit, diesen Mittelpunkt der Schwabinger Boheme, der die Zeichen der neuen Zeit nicht zu verstehen schien oder verstehen wollte und darüber langsam in die Bedeutungslosigkeit versank, wiederzuerwecken, die Motten aus den Plüschpolstern der Vergangenheit zu klopfen und ihn zu einer Unterhaltungsstätte zu machen, die ohne Verzicht auf das wirklich Gute der Überlieferung vor dem neuen Geist besteht.
Doch Theodor Prosel braucht nicht umzulernen, und da er auf dem Gebiet, auf dem die heitere Schutzgöttin der Kleinkunst haust, kein Neuling ist, bleibt die Zuversicht, dass er seine Aufgabe lösen wird. Die Mühe lohnt.
Das Augustprogramm ist in seiner Zusammenstellung ein verheißungsvoller Auftakt. Der überlegene Bass Hans v. Bachmeyers versetzt die Gäste in eine gelinde Spannung: Schafft er’s oder schafft er’s nicht? Getrost, er schafft’s! Sogar noch einen halben Ton tiefer. Es liegt etwas wie sportlicher Ehrgeiz in diesen brunnentiefen Liedern, die die weiblichen Gäste begeistern und die männlichen zu nutzlosen Nachahmungsversuchen reizen.
Maria Wolters gehört zum Nachwuchs und wirkt mit ihrer noch jugendlichen vibrierenden Natürlichkeit rührend, Gerda van Außen hat mehr Routine in ihren Couplets, doch dürfte auch sie einmal mit der flachen Hand auf ihr Repertoire schlagen, wegen des Staubes, der sich leicht ansetzt.
Martina Farrar nahm einst ihren Ausgang von der Bühne des Simpl, sie ist als reife Künstlerin zurückgekommen, voll Schmelz in Erscheinung und Stimme.
Poldi Lenz, das unverwüstliche Faktotum des Kabaretts, verursacht Explosionen der Heiterkeit. Julia Prosel kennen wir vom Reichssender München her. Sie hat den großen Stab der Verehrer ihrer wunderschönen Stimme mit herübergezogen.
Inge Mooßen, mimosenhaft in Stimme und Gestalt, bringt eigene Lyrik von einer Reinheit und Klarheit der Gefühle, die aufhorchen lassen. Der Beifall zwingt sie immer wieder zu Dreingaben.
Das Publikum wirkt mit, zwanglos, selbstverständlich, heiter, ernst, je nach Veranlagung der Auftretenden. So zur Begeisterung der Gäste, darunter viele Ausländer, auch Afra Schulz von Kiefersfelden, die das bäuerlich Bodenständige ihrer Heimat mit den „Belangen“ des Kabaretts fröhlich zu verbinden weiß.
Die Stärke des „Simpl“ lag einmal darin, dass er vielen jungen Künstlern mehr als Brettl war, ein „Sprung-Brettl“ gewissermaßen. Theodor Prosel kennt diese Seite und will sich an die Überlieferung halten. Wir wünschen ihm Glück und Erfolg.“
Und nochmal der „Völkischen Beobachter“, der schreibt über das Dezember-Programm vom 4. Dezember 1937:
„… Die Antike machte einen Purzelbaum und kam in der witzgetränkten Simpl-Bühne wieder auf fidele Beine, wo Theo Prosel den alten Lipius auf Simpl-Weise „ergänzt“. Er hat dem „Gallischen Krieg“ eine Szene häuslichen Krieges angeflickt, die auch einen Lorbeer verdient.
Und wenn noch etwas Lob verdient, dann, dass die Darsteller bei dem tobenden Gelächter ringsum noch ernst bleiben können. Mario Dietmar als Schwabing-römischer Bildhauer, Erika Fischer als verbuhlte „Siegesgöttin“, E. L. Stolzenburg, als goldblechklirrender Freiherr, Julia Prosel als dauergewellte Kalpurnia, ganz zu schweigen von Theo Prozess würdigem Cäsar, waren Gestalten von zwerchfellerschütterndem Humor. Das ausgiebige Programm schmückten weiterhin die Szenen bei der „Klaviervirtuosin“, eine köstliche Fach-„Simpelei“ zweier „Volkswirtschaftler“ und die „Schloßbesichtigung“. Die Rahmenhandlung halfen Betty Lergen und Werner Steinmüller, ein junger Tenor, gestalten. In die witzige Ansage teilten sich Walter Hillbring und Theo Prosel.“
Ab März 1936 erscheinen die „Simplbriefe“, ein monatliches Heft im DIN A 5-Format, das nicht nur das Programm des Monats enthielt, sondern auch Beiträge der auftretenden Künstler, etwa Gedichte und kurze Lebensläufe, auch Plaudereien und Poems von Prosel selbst.
Walther Diehl schreibt, dass Prosel auch heute noch von manchen Leuten als Freund des Naziregims bezeichnet wird, sei wenig einleuchtend und weiter:
„… Prosel, Humanist aus Erziehung und aus Überzeugung, verabscheute das politische Kabarett, wie es manche recht bekannt gewordene Autoren und Künstler auch noch in der Nazizeit glaubten machen zu können. Sie büßten es fast alle. Greul wirft Prosel vor, dass der Simpl „nicht gerade widerständlerisch“ war. Dieser Vorwurf kann Prosel nicht treffen, weil er zur Politik überhaupt keine Beziehung hatte. Er nahm seine Stoffe aus der Geschichte und aus den Sagen des klassischen Altertums, um menschliche Unvollkommenheiten und Schwächen vor Augen zu führen.
Ein Beweis dafür, wie falsch diese Einschätzung des Simpl-Wirts ist, mag die Tatsache sein, dass er jahrelang eine halbjüdische Sekretärin beschäftigte. Er tat das aber sicherlich nicht, um dem Regime eines auszuwischen, sondern aus rein menschlichen Gründen.“
In seine Zeit als Pächter fällt allerdings noch das Engagement der Sängerin Lale Andersen, die damals noch Wilke hieß und eine geborene Liselotte Bunnenberg war. Lale Andersens Tochter Litta Magnus-Andersen schreibt in ihrem Buch „Laie Andersen – die Lilli Marleen“ Engagement 1937 ihrer Mutter im Simpl:
„Das Simpl-Publikum empfängt sie wie eine alte Freundin und nimmt es geduldig in Kauf, dass Laie fast täglich neue Chanson-Experimente an ihm ausprobiert. Im Simpl sang Laie Andersen auch das Lied, das sie bekannt gemacht hat: „Lilli Marleen“.
Noch so einen „Gassenhauer“ hat Theo Prosel im „Simpl“ geschrieben und Ludwig Schmidseder komponierte die Melodie: „I hab die schönen Maderln net erfunden“. Die bekannteste Version sang Paul Hörbiger.
„Prosel war übrigens der erste Gastwirt in München, der einen Ruhetag pro Woche einlegte. Das war im Simpl der Sonntag, an dem der Besuch im allgemeinen sehr schlecht war“, weiß Walther Diehl zu berichten.
1938 trennten sich Julia und Theo Prosel. Sie ging zurück nach Wien. Er führte den Simpl weiter, und im Jahre 1941 übernimmt Theo Prosel als Käufer den „Simpl“.
Mit Beginn des II. Weltkrieges drückte der Erhalt des „Simpl“ schwer. Wein war nur schwer zu bekommen, Schnaps gab es keinen mehr und Speisen wurden nur gegen Lebensmittelkarten ausgegeben. Und laufend Fliegeralarme – die Kellner wurden angewiesen vor einem Alarm abzukassieren, denn Prosel hatte einen guten Kontakt zu der Stelle, die die Alarme auslöste.
Über das Ende seiner Simpl-Ära schrieb Theo Prosel in seinem Buch „Freistaat Schwabing“:
„Mit Fortdauer des Krieges und mit den widerlichen Umständen, die sich als seine Folge geltend machten, wurde es immer schwieriger, insbesondere männliche Kunstkräfte zu gewinnen. Denn nach und nach zog man einen jeden, der nur zwei Arme und zwei Beine hatte zu irgendetwas ein und sei es nur zu einer Musikkapelle, die dann auszurücken hatte, wenn man einen begrub.
Im Juni 1944, als der Krieg schon in ein Stadium getreten war, wo auch der Blindeste seinen Ausgang unschwer voraussehen konnte, kam ich plötzlich auf die Idee, Betriebsferien zu machen. Diese Einrichtung des tausendjährigen Reichs passte so gar nicht für den Simpl, aber irgendeine Vorahnung hatte mich gepackt und ließ mich nicht mehr los.
Das letzte Programm, das ich im alten Simpl startete, hatte den Titel „Einmal geht’s noch“, und tatsächlich ist es nur einmal mehr gegangen.
Als am 30. Juni die Vorstellung vorbei war und ich auch schon Polizeistunde geboten hatte, setzte ich mich mit meinen nächsten Simpl-Angehörigen zusammen und opferte aus meinen kargen Beständen einige Flaschen Sekt. Wir plauderten noch einige Zeit, dann verabschiedeten wir uns. Ich übernahm die Schlüssel und musste daher das Lokal selbst absperren. Dann gaben wir uns die Hand zum Abschied, und da sagte ich die Worte, die jederzeit durch Zeugenschaft bestätigt werden können:
„Kinder schaut euch jetzt noch einmal den Simpl genau an. Ihr werdet ihn nie mehr wiedersehen, denn im Juli kommen die Bomben.“
Über das Ende Schreibt Walther Diehl:
„… Am 13. Juni 1944 ging eine Sprengbombe in den Bühnenraum und begrub, was einmal Simpl geheißen hatte.
Prosel pachtete ein Gasthaus in Garatshausen am Starnberger See. Er hatte es auch noch einige Zeit, als er schon den Neuen Simpl am Platzl eröffnet hatte. Zu seinen Gästen dort gehörte auch Hans Albers, der in der Nähe des Gasthauses am See eine Villa besaß.“
Unmittelbar nach Kriegsende wollte Theo Prosel wieder in die Türkenstraße, in seine alte Wirkungsstätte. Toni Netzle schreibt darüber in ihrem Buch „Mein alter Simpl“:
„… Nach dem Krieg wollte Theo Prosel wieder in seine alten Räume in der Türkenstraße einziehen. Georg Hemmeter, der Schnapsfabrikant und Hausbesitzer, erzählte mir, dass er den Prosel gerne alleine wieder als Wirt gesehen hätte. Aber leider hätte Prosel als Partner und Finanzier einen Herrn an seiner Seite gehabt, mit dem er nie mehr in seinem Leben etwas zu tun haben wollte. Es sei ein sehr persönliches Erlebnis in der Nazizeit gewesen, auf das er nicht weiter eingehen wollte.
Zwei Kellnerinnen eröffneten am 21. September 1946 den wieder hergestellten „Simpl“ in der Türkenstraße unter dem Namen „Kathi Kobus“. Anna Schickinger, „schwarze Anni“ genannt, war wieder an ihrem alten Arbeitsplatz gelandet. Ihre Karriere begann sie 1920 schon bei Kathi Kobus und überstand auch alle nachfolgenden Wirte. Sie kannte die Gäste und hatte Erfahrung mit den Künstlern und Interpreten. Charlotte Verhoeven arbeitete mit Unterbrechungen auch schon im „Simpl“, besaß ein wenig mehr Geld als die schwarze Anni und wurde somit Konzessionsträgerin. Sie wurde nur die „blonde Lotte“ gerufen.
Das Beste am Wiederaufbau des „Simpl“ war die Vergrößerung. Ein findiger Architekt hatte die Idee und baute bei allen vier Fenstern, die in den Hof hinausgingen, einen Erker nach außen. Vom Hof aus sah es komisch aus, aber innen wurden dadurch fast 40 Plätze dazugewonnen. Eine große Bereicherung für den „Simpl“.
Silvester 1950 gaben die beiden Damen, die schwarze Anni und die blonde Lotte, auf.“
Am 31. Januar 1951 neue Leitung, neues Glück. Vier Wochen habe man anscheinend benötigt, um endgültig das Flair des „Simpl“ aus dem Haus zu jagen, meint Toni Netzle. Mit dem neuen Namen „Paprika“ zieht ein Wirt namens Anton Reiber in der Türkenstraße ein. An seiner Seite Maria Vamps, die zum Jahresende 1951 übernimmt.
Toni Netzle schreibt: „Bis Mitte Dezember 1956 war aber auch rein gar nichts über das Lokal herauszubringen. Keine Zeitung, keine Nachbarn, niemand hatte irgendetwas zu berichten. Außer, dass das Publikum mit dem des „Simpl“ nichts mehr gemein hatte. Von Schiebern war die Rede und von dunklen Geschäften, aber etwas Konkretes wusste niemand. Wie war immer der Schlusssatz bei den Befragten? „Nix g’wiß weiß ma net!“ Keiner war dabei. Bis – bis es zum Eklat kam. In einer der Nächte Mitte Dezember 1956 entfernten sich die Wirte heimlich vom Tatort und waren nie mehr gesehen. Die Gerüchteküche sprach von einer Hinterlassenschaft von 200.000 Mark Schulden, in heutiger Währung gut und gerne eine halbe Million Euro!“
Nachfolger wird Eduard Marwitz. Nochmal Toni Netzle:
„…Bei ihm war ich des Öfteren zu Gast. Eduard Marwitz kam aus Düsseldorf und war für einige Zeit Mitglied des Kabaretts „Kom(m)ödchen“, also einer, der eigentlich prädestiniert für den „Simpl“ war! Als erste Tat änderte er den nicht sehr passenden Namen „Paprika“ in „Bunter Hund“ um. Inzwischen waren die Besitzverhältnisse geklärt. Der Bayerische Staat kam, als offizieller Erbe des Dritten Reichs, in den zweifelhaften Genuss der Rechte an allen Namen, die im Zusammenhang mit dem „Simplicissimus“ standen. Also auch die Abkürzungen wie „Simpl“, „Alter Simpl“ oder sonstiges. Der ehemalige Besitzer Albert Langen war nicht nur, weil er Jude war, des Landes verwiesen, sondern auch total enteignet worden. Der Name war nicht mehr verfügbar. In Anlehnung an den roten Hund mit der Sektflasche, das Signum, das Th. Th. Heine für das Lokal gezeichnet hatte, nannte Eduard Marwitz seinen „Simpl“ der nicht mehr so heißen durfte, „Bunter Hund“.
Eduard Marwitz, kurz Edi genannt, verstand es, die alten „Simpl“-Gäste zu aktivieren und bis auf wenige Ausnahmen fast alle ehemaligen und sogar ein paar neue Brettl-Künstler wieder auftreten zu lassen. Man fühlte sich wieder wohl im „Simpl“. Edi sah aber bald ein, dass er zum Wirt doch nicht besonders geeignet sei. Als er ein Angebot für eine hochdotierte Stelle in der Industrie bekam, erkaufte er das Lokal.
Am 9. Februar 1958 verabschiedete sich Edi Marwitz mit einem riesigen Fest von seinem ungeliebten Wirtedasein.“
Einen Tag später hatte der „Laden“ einen neuen Wirt – Heinz Krauss – aber den alten Namen.
Nochmal einen Absatz von Toni Netzle, denn beim neuen Besitzer spielen persönliche Erlebnisse eine Rolle und die kennt sie am besten:
„… Dieser Heinz Krauss hatte einen Partner namens Peter Fischer. Die beiden kannten sich von der Hotelfachschule her. Der Krauss hatte das große Mundwerk und der Fischer, gerade mal 21 Jahre jung, das Geld. Der Krauss verschaffte sich die Konzession und auch den Mietvertrag, der Fischer zahlte alles und hatte keinerlei Sicherheiten oder Rechte. Aber der Heinz Krauss war ja sein bester Freund. Und der Peter Fischer mein jüngerer Bruder!
Was macht in so einem Fall die ältere Schwester, wenn sie der absoluten Meinung ist, dass der jüngere Bruder von einem vermeintlichen Freund über das Ohr gehauen wird? Sie mischt sich ein, beziehungsweise erfreut die beiden Wirte sehr oft mit ihrer Anwesenheit. Sie wollte den Herrschaften Heinz Krauss und seiner blonden, sehr eleganten und teuer aussehenden Freundin auf die Finger gucken. Dass das nicht lange gut gehen konnte, lag auf der Hand. Als sie dann noch hörte, dass Bruder Peter nochmal eine große Summe Geldes nachschießen musste, machte sie Ärger. Mit dem Resultat, dass sie des Hauses verwiesen wurde. War klar aus der Sicht des Heinz Krauss und seiner Freundin, sie hatten ihren angeblichen Freund Peter noch nicht ganz ausgenommen, es gab immer noch etwas zu holen!
Mein Bruder Peter war einfach noch zu jung, um die Machenschaften der beiden zu überreißen. Nach einem Jahr hatte auch er es verstanden und den „Simpl“ wieder verlassen, gegen Krauss geklagt, den Prozess auch gewonnen, aber nie mehr auch nur einen Pfennig gesehen. Peter hatte ein wunderschönes Papier in der Hand, einen sogenannten Titel, der nutzte nur wenig, weil Krauss seine teure Freundin heiratete und jetzt alles seiner Frau gehörte und er zu einem Minimum an Gehalt bei ihr angestellt war. Soviel zu einer Geschichte aus der Abteilung Lehrgeld! Acht Jahre danach wurde mein Bruder Peter mein wichtigster Mitarbeiter im „Simpl“, von ihm habe ich ungeheuer viel gelernt.“
Einen Versuch von Theo Prosel, den „Simpl“ und die „Simpl-Tradition zu retten, gab es noch. Walther Diehl beschreibt ihn:
„…„In der Nacht vom 8. auf 9. August 1946 eröffnete Prosel am Platzl den „Neuen Simpl“. Erst später stellte er fest, dass der 9. August der Bestattungstag der Kathi Kobus war. Prosel wertete das als gutes Omen. Zunächst erfüllten sich seine Erwartungen. Nach der Währungsreform versagten offenbar die „guten Simpl-Geister“.
Die einst wohlgesonnenen Kritiken der Münchner Zeitungen blieben aus, es mehrten sich Kritiken, die so nicht gerechtfertigt waren, denn nicht nur die Zeiten ändern sich, sondern auch die Stile. Und ein „Simpl“ kann eben nicht ewig der „Simpl“ bleiben.
Obwohl Theo Prosel genug „alte Zeiten“ präsentierte, Walther Diehl schreibt:
„…Doch auch das übrige Simpl-Programm konnte sich sehen lassen. Im Mittelpunkt stand Liesl Karlstadt, die ein längeres Gastspiel gibt und der Theo Prozess Einakter „Frau Minister“ Gelegenheit zur Entfaltung ihrer volkstümlichen Meisterschaft bietet.
Im Januar-Programm 1948 des Neuen Simpl hatte Karl Valentin seine letzten Auftritte. Er starb am Rosenmontag.“
Und dieser Rosenmontag war der 9. Februar 1948.
Und weiter:
„… Im März 1948 erlebte das Simpl-Publikum ein Gastspiel von Gerd Fröbe. Die Leute tobten vor Begeisterung. Die Simpl-Gäste hörten und sahen erstmalig in München Fröbes Interpretation von Morgenstern-Gedichten (Beispiele: Die Schildkröte und Fisches Nachtgesang) und seine Pantomimen „Der Fußballtorwart“, „Die Kerze“, um nur einiges aus dem reichhaltigen Repertoire des großen Mimen zu nennen.“
Am 20. Juni 1948, dem Tag der Währungsreform war das Lokal leer und daran änderte sich nicht mehr viel.
Walther Diehl schreibt:
„… Anfang Juni 1950, fast vier Jahre nach der Eröffnung, musste der „Neue Simpl“ schließen. Es ging damals das Gerücht, Prosel hätte mit 200 000 Mark Schulden Konkurs gemacht. Der Betrag ist sicherlich übertrieben. Es waren Schulden an Lieferanten vorhanden, das Finanzamt und die Ortskrankenkasse meldeten rund 50 000 Mark an.
Prosel bezahlte seine Schulden, so absurd es klingt, erst nach seinem Tod. Die GEMA-Tantiemen für „I hab die schönen Maderln net erfunden“ deckten in wenigen Jahren alle Forderungen ab.
Die vielen Bilder allerdings, die im Simpl an der Türkenstraße und auch im Neuen Simpl an den Wänden hingen (Prosel hatte sie vor den Fliegerbomben in Sicherheit gebracht), übernahm die Löwenbrauerei als Konkursmasse. Für 150 Mark sollen sie, laut Toni Netzle, ah einen Privatmann gegangen sein.“
„Theo Prosel starb am 13. Januar 1955 nach einem Blutsturz in den Armen des damaligen Narhalla-Faschingsprinzen Fritz I. (mit Familiennamen Gleich), auf den Tag genau ein Jahr nach seinem Freund Adolf Gondrell“, schreibt Walther Diehl.
Die Stadt München widmete Theo Prosel eine Straße, den „Theo-Prosel-Weg“. Seine Grabstelle befand sich auf dem Münchener Nordfriedhof (132-A-13).
Und eine Internetseite über ihn gibt es auch, hier die Adresse:
Die Toni kommt …
Titelt Walther Diehl das Kapitel der „Simpl-Wirtin“ Toni Netzle.
„… Unter der Leitung der Schauspielerin Toni Netzle von 1960 bis 1992 erlebte der „Alte Simpl“ seine letzte Blütezeit und war besonders ein Treffpunkt von Journalisten Theater- und Filmleuten“
ist bei Wikipedia zu lesen.
Und Walther Diehl …
„… Am 1. September 1960 übernahm Toni Netzle das Traditionslokal an der Türkenstraße, das nun „Alter Simpl“ heißt. Auch Toni Netzle bemühte sich acht Jahre lang, ihren Gästen gute Kleinkunst zu bieten. Auch sie musste einsehen: Das Kabarett der Kathi Kobus, der Heusinger und Dienstknecht, Theo Prosel, Ernst Klotz, Wolfgang von Weber und Eduard Marwitz kommt beim Publikum kaum noch an. Für unsere schnelllebige, laute Zeit, ist diese Art Kleinkunst zu nachdenklich, zu leise. Sie verlangt auch Allgemeinbildung, die bei vielen Menschen nicht mehr in dem großen Maß vorhanden ist, wie vor dem zweiten Weltkrieg. Hinzu kommt, dass es nur noch wenige Kabarettisten gibt, die Literarisches Kabarett hohen Niveaus gestalten können. Wenn sich Leute überhaupt noch für Kleinkunst interessieren, dann für politisches Kabarett, dem die Liebenswürdigkeit, und häufig auch die Menschlichkeit fehlt. Aber im Zeitalter der Raketen trauert man der Postkutsche nicht nach.
Toni Netzle hat das alles rechtzeitig und richtig erkannt. Sie machte den „Alten Simpl“ zu einem Treffpunkt der Kunst- und Politprominenz und hat damit geschäftlichen Erfolg. Aber hie und da schleicht sich der Simpl-Geist wieder ein und jemand steigt auf einen Stuhl, rezitiert oder singt, so wie es zur Zeit der Kathi Kobus war‘. Davon wird Toni Netzle sicherlich noch selbst erzählen.“
Toni Netzle
Sie wurde am 25. März 1930 geboren, wo steht nirgendwo. Aber in einer Internetseite fand ich dann doch den Satz: „ Aus einer altehrwürdigen Münchner Familie.“
Also nochmal: Toni Netzle wurde am 25. März 1930 in München geboren, altehrwürdig sozusagen. Und sie ist laut Wikipedia eine bayerische Volksschauspielerin.
Bitte was? Wikipedia schreibt:
„… Ein Volksschauspieler ist ein Fernseh- oder Bühnen-Akteur, der vorwiegend in Produktionen mit ausgeprägtem Lokalkolorit auftritt. Durch die Darstellung eines bestimmten Rollentypus rufen Volksschauspieler beim Publikum häufig einen Wiedererkennungseffekt hervor.
Die Rollen eines Volksschauspielers müssen nicht zwingend komisch sein, häufig ist auch der Dialekt oder nur die Eigenart des gespielten Charakters prägend („Original“).
Die im Jahr 2005 verstorbene Schauspielerin Erni Singerl beschrieb den Begriff des Volksschauspielers einmal als einen „Darsteller, der nicht spielen muss, sondern bei dem die Handlung aus dem Bauch heraus kommt“.
Schau ich mir dann die wohl bekanntesten „Volksschauspieler“ an wie Gustl Bayrhammer, Hans Clarin und vor allem Karl Valentin und Liesl Karlstadt, trifft das mit dem Bauch sicher zu. Übrigens, natürlich gibt es solchige auch Norden der Republik.
Toni Netzle absolvierte eine Schauspielausbildung an der Otto-Falckenberg-Schule in München – eine Fachakademie für darstellende Kunst der Landeshauptstadt München (früherer Name: Städtische Schauspielschule) und 1946 gegründet und seit dem 1. März 1948 nach dem Regisseur und Theaterleiter Otto Falckenberg benannt.
Um diesmal einen „Preiß‘n“ zu nennen, Mario Adorf zählte zu den Schülern der Otto-Falckenberg-Schule.
Bei ihrer nächsten „Station“ kommt Neid auf, sie arbeitete als Agentin für die Plattenfirma Polydor und war es, die 1959 Elvis bei seinem Besuch in Deutschland betreute.
Aus ihrem Buch „Mein alter Simpl“ und ihren Erinnerungen an Elvis Auszüge:
„… Elvis Presley war jetzt in. Den aber kannte ich schon! Das klingt jetzt schauerlich nach Aufschneiden. Deswegen möchte ich schnell die Geschichte erzählen. Ich war noch keine Wirtin, sondern eine junge Schauspielerin und lose mit der Film- und Theateragentur von Ada Tschechowa, der Tochter von Olga Tschechowa und Mutter von Vera Tschechowa, verbandelt. Die berühmte Story, dass damals Vera eine Liaison mit Elvis hatte, die in Wirklichkeit nur ein PR-Gag für Elvis war, möchte ich nicht erzählen, sie ist allgemein bekannt. Aber über die eine Nacht 1959, in der wir alle zusammen ausgingen, möchte ich schon reden.
Wir trafen uns ganz heimlich in der Münzgasse neben der Maximilianstraße. Elvis, seine beiden Bodyguards, die auch mit ihm im gleichen Zug bei der Armee waren, Vera und der Tschechowa-Clan mit Freunden. Dazu zählte auch ich. Elvis wurde gefragt, wo er denn hingehen möchte. Sehr verschämt gestand er, dass er ungeheuer gerne „naked women“ sehen möchte, das gäbe es für ihn in Amerika nicht, er hätte so etwas noch nie gesehen.
Wir entschieden uns für das „Moulin Rouge“ in der Herzogspitalstraße. Ich plädierte besonders dafür, das sei seriös und ausgezeichnet, eine tolle Striptease-Bar. Ich wollte unbedingt vermeiden, dass jemand gegen diesen Vorschlag stimmte, weil ich darauf brannte, so ein Lokal besuchen zu dürfen. Ich hatte keine Ahnung, war noch nie in so einem Etablissement, stellte es mir wahnsinnig verrucht vor, noch dazu in der aufregendsten Begleitung der Welt: mit Elvis!
Im „Moulin Rouge“ saßen wir an einem langen Tisch, Elvis am Kopfende mit dem Rücken zur Bühne. Champagner und Kaviar satt kamen auf den Tisch, nur Elvis musste sein Glas unangetastet weggeben. „Du weißt ganz genau, dass du keinen Alkohol trinken darfst“, war das Argument eines seiner Begleiter. Elvis bekam ein Glas Tomatensaft.
Ich nehme an, dass die Gäste vor unserem Besuch informiert wurden, was sie dürfen und was nicht, denn außer, dass bei Eintreten von Presley geklatscht wurde, passierte gar nichts. (…)
Elvis war immer nett und freundlich, unterhielt sich auch über dieses und jenes, er fragte viel. Manchmal hatte ich den Eindruck, als ob er nicht nur von einem anderen Kontinent sei, sondern von einem anderen Stern. Wir kannten ihn, seine Songs, und vor allem soweit man Zeitungen Glauben schenken darf, auch seinen Background. Er wusste von uns gar nichts — nicht mal viel über Europa. (…)
In dieser Nacht habe ich nicht nur viel gelernt, sondern den Weltstar Elvis von einer sehr liebenswerten Seite kennengelernt. (…)
Nachtrag 1: Es gab ein wunderschönes Foto von Elvis und mir, mit einer ganz persönlichen Widmung von ihm, das ich selbstverständlich im „Simpl“ hängen hatte. In der Nacht, als die Meldung von seinem Tod kam, hat es einen vielleicht verzweifelten Fan gefunden. Es wurde mir schlichtweg von der Wand geklaut. Möge es dem Dieb über den schweren Verlust hinweg geholfen haben. Ich war und bin immer noch sehr traurig.
Nachtrag 2: Das Kleid, das ich in jener Nacht trug und das Elvis oft berührt hat, besitze ich noch heute. Manchmal zeige ich es interessierten Freunden, dann sehe ich wie abenteuerlich hässlich dieses Kleid heute ist, aber damals 1959 war es der letzte Schrei: ein grünkariertes Sackkleid mit einem Bubikragen!
Von Spiegel-TV gibt es eine Fotoserie – Toni Netzle und Elvis:
In den Jahren 1960 bis 1992 wird Toni Netzle „Simpl“ Wirtin.
Und das kam laut ihrer Erinnerungen so: Der Anwalt der Familie – ein Dr. Erich Holzherr – vertritt auch den Hausbesitzer der Türkenstraße 57, den schon erwähnten Schnapsfabrikanten Georg Hemmeter. Eine Kneipe will der eigentlich nicht mehr im Haus haben, aber dem „Simpl“ den Todesstoß zu versetzen und einen Supermarkt oder einen Wienerwald daraus zu machen, nein, das wollte er auch nicht. Da er Toni Netzle durch deren Bruder während dessen Zeit im, „Simpl“ kenne, würde er ihr den „Simpl anvertrauen.
Ausflüchte und Bedenken ihrerseits halfen nicht viel und lange Rede kurzer Sinn, Toni Netzle unterschreibt den Pachtvertrag. „Er hat mich überredet. Ein guter Mietvertrag war das nächste Zuckerl, obwohl mir die 800 Mark Miete wahnwitzig hoch vorkamen. Später, als sie auf über 10.000 Mark stieg, wusste ich wie niedrig meine erste Miete war“, schreibt sie.
Eine ganze Portion Glück, viele Freunde und auch das alte Personal aus dem „Simpl“ halfen der Teetrinkerin Toni Netzle, eine „Wirtin“ zu werden, vielleicht schwebte aber auch noch der Geist von Kathi Kobus und Ringelnatz unter der Decke, und sie zu beschützen.
Die Geschichte einer Mitarbeiterin des alten „Simpl-Personals“ – die Geschichte der Hansi Chorherr, in ihren Papieren mal mit C mal mit K geschrieben – möchte ich einfügen, denn sie ist etwas Besonderes.
Toni Netzle erzählte mir, sie habe eine Garderobenfrau gehabt, die schon zu Klabunds Zeiten im „Simpl“ gearbeitet habe und die beiden hätten …, ich könnt‘s mir schon denken.
Mein Fredi hatte einen guten Geschmack und damit meine ich nicht dass diese Hansi Chorherr eine sehr schöne Frau gewesen sein soll, sondern ich meine, wegen eben dieser Geschichte …
„… Und dann war da noch Hansi. Sie war etwas ganz besonderes. (…) Erst nach einiger Zeit habe ich Hansis Lebensweg erfahren. Ein Studium an der Kunstakademie, das nie ein Ende nahm, denn Schwabing lockte und als hübsches, junges Mädchen wurde man fast aufgesogen. Eine Liaison mit dem Dichter X (eben auch Klabund) hier, eine Muse des Malers Y dort, und jede Nacht bis zum Sonnenaufgang im „Simpl“.
Dieses Leben nahm schnell ein Ende. Hansi wurde, weil sie Jüdin war, von einem der vielen willigen Hausmeister denunziert und für viele Jahre in das Konzentrationslager Dachau verbracht. Freunde von ihr erzählten mir, dass Hansi, sicherlich nur durch einen bürokratischen Irrtum, Ende 1943 ganz offiziell aus dem KZ Dachau entlassen wurde. Vernünftigerweise sei sie sofort untergetaucht. Hätte aber ab diesem Zeitpunkt mindestens zweimal in der Woche durch einen nur ihr bekannten Schlupfwinkel, Essen und Medikamente in das Lager geschmuggelt. Durch die vielen Jahre, die sie in dem Lager verbracht hatte, kannte sie sich dort so aus wie sonst niemand.
Die langen, schrecklichen Jahre waren an Hansi nicht spurlos vorübergegangen. Sie schottete sich der Außenwelt gegenüber total ab, Tagesereignisse oder gar Politik interessierten sie nicht mehr, sie wurde zu einer skurrilen Person, von allen geliebt. (…)
Sie war die einzige, die nicht in unmittelbarer Nähe des Lokals wohnte. Nachdem sie immer mit mir in den Morgenstunden das Haus verließ („Einer muss doch auf Sie aufpassen!“), gewöhnte ich mir an, sie nachhause zu fahren. Anfangs saß sie neben mir im Auto und sprach kein Wort, beant¬wortete meine Fragen merkwürdig ausweichend, ich brachte sie nie so richtig zum Erzählen.
Eines Morgens spielte sich während der Fahrt zu ihr nachhause folgender Dialog ab. Hansi ganz langsam und zögernd: „Morgen kommt der Eli.“
„Wer ist der Eli, Hansi?“
„Ja, ja. Morgen kommt der Eli.“
„Hansi, bitte sagen Sie mir, wer ist der Eli?“
„Ja, ja. Morgen kommt er.“ Lange Pause. „Aus Amerika.“ Ich konnte meine Ungeduld kaum mehr im Zaum halten. „Bitte, liebe Hansi, sagen Sie mir doch, wer morgen kommt!“ „Der Eli — der kommt morgen.“ (…)
Mir riss der Geduldsfaden. „Wer ist Eli?“, schrie ich sie fast an. „Eli Kazan.“
Sie hätte auch Paul Lehmann sagen können, so normal war ihr Tonfall. Sie sagte nicht den vollen Vornamen, sondern die Koseform Eli (…) Elia Kazan war für uns ein Megastar, dass sie seinen Nachnamen falsch betont seinen Vornamen verkleinerte, sah ich ihr nach. Sie wusste es halt nicht anders. Nur, dass Elia Kazan zu uns in die Kneipe kommen sollte, sich außerdem bei unserer Hansi richtiggehend „angemeldet“ hätte – nein, das glaubte ich wirklich nicht.
„Hansi, meinen Sie Elia Kazan, den amerikanischen Filmregisseur?“
„Ja, ja, morgen kommt er mich besuchen“, sagte sie mit großer Bestimmtheit und Freude.
„Hansi, das haben Sie sicher verwechselt – vielleicht ist er tatsächlich morgen in München. Abe Elia Kazan kommt doch nicht zu uns in die Kneipe!“
„Ja, ja, ich kenne ihn gut. Kannte noch seine Eltern. Habe bei ihm gedreht — im „Mann auf dem Drahtseil.“
(…) Ich vergaß die Geschichte – bis zum nächsten frühen Abend.
Am Garderobentresen stand ein Mann, ganz in schwarz gekleidet, der meine Hansi in seinen Armen hielt, lang und mit dem Ausdruck großer Innigkeit. So wie ein Sohn seine Mutter in die Arme schließt, die er seit Jahren nicht mehr gesehen hat. Die Zärtlichkeit rührte mich ungeheuerlich.
Langsam ging ich nach vorne, wartend, bis sich die Beiden voneinander gelöst hatten. Der Mann hatte Tränen in den Augen, bei Hansi liefen sie wie Sturzbäche. Als sie mich bemerkte, sagte sie mit kaum wahrnehmbarem Stolz: „Das ist er, Frau Netzle.“ (…)
„Mein Eli!“
Ein Blitz durchfuhr mich, ich kannte nur Fotos von ihm, da stand er vor mir – der Weltstar -Elia Kazan!
Kazan konnte gar nicht so schnell antworten, wie ich fragte. Nachdem er bemerkte, dass mein Englisch nicht so das allerbeste war, sprach er – nicht sehr gut, aber doch – deutsch.
Ich erfuhr, mit wenigen Worten und ohne jedes Aufheben, eine Geschichte die mich erschütterte. Hansi war Jüdin und schon lange vor Kriegsbeginn in Dachau inhaftiert. Sie galt damals schon fast als ein Engel im Lager, weil sie half und sich aufopferte, um anderen das entsetzliche Leben etwas zu erleichtern. Ich habe keine Details erfahren. Beide wollten darüber nicht sprechen. Verständlich.
Ich wollte Hansi für die Dauer des Aufenthalts von Kazan in München sofort frei geben, das lehnte sie kategorisch ab. Auch mein Vorschlag, sich doch wenigstens in das Lokal, an einen Tisch oder an die Bar zu setzten, wurde nicht angenommen. Elia Kazan erklärte mir, dass er sich am liebsten mit Hansi hinter ihren Garderobentresen setzen möchte, ob ich das ausnahmsweise erlauben würde.
Welch eine schöne Erinnerung – eine ganze Nacht lang wurden unsere Gäste von Elia Kazan am Eingang begrüßt und verabschiedet, es machte ihm sichtlich auch noch viel Spaß. (…)
Meine vielen Versuche Hansi später eine Antwort auf meine vielen Fragen zu entlocken, schlugen kläglich fehl. „Wieso kannten Sie seine Eltern? Wie haben Sie Kazan kennengelernt? Wieso waren Sie auf einmal Schauspielerin und wie kamen Sie zu dem Engagement in dem Film „Ein Mann auf dem Drahtseil?“
Immer bekam ich die gleiche Antwort: „Freunde.“ (…) Hansi verwirrte mich. Manchmal machte sie auf mich den Eindruck, als ob sie in einer anderen Welt leben würde.
An ihrer Garderobe saßen noch viele. Ein Großteil des bayrischen Adels, viele Amerikaner und Israelis, die durch Hansis Hilfe überlebt hatten und inzwischen große, kleine oder gar keine Karriere gemacht hatten. Alle äußerten immer den gleichen Wunsch. Sie wollten Hansi, wo immer und in welchem Land dieser Erde sie eine neue Heimat gefunden hatten, mitnehmen, für sie da sein, für sie sorgen, ihr einen schönen und ruhigen Lebensabend bereiten. Nie nahm sie so ein ernst und lieb gemeintes Angebot an. „Ich gehöre hier her.“ Womit sie den „Simpl“ meinte. Und immer wieder hörte ich von ihren Freunden den gleichen Satz: „Ohne Hansi hätten wir nicht überlebt.“ (…)
Keine meiner Fragen hat sie je beantwortet, jede abgetan mit dem Satz: „Das ist vorbei. Alte Geschichten interessieren keinen Menschen.“ Ihre Bescheidenheit war nicht zu übertreffen.
Zu einer Zeit, als ich das alles noch nicht wusste, bat mich Hansi bei einer der obligaten Nachhausefahrten, ob sie denn am kommenden Samstag pünktlich das Lokal verlassen dürfe, sie hätte Sonntag frühmorgens einen Termin. Mühsam zog ich ihr aus der Nase, dass sie sich um sechs Uhr morgens am Flughafen mit Freunden treffen wolle. Ich schlug ihr vor, dass sie auch frei haben könnte – nein, um Gottes Willen, nein – sie hätte alles schon geregelt, Freunde würden sich um sie kümmern. Ach ja, und Montag, es könnte unter Umständen sein, dass sie nicht um sechs Uhr schon an ihrem Arbeitsplatz wäre. Es könnte ein bisschen später werden (Hansi war jeden Tag ab sechs Uhr Abend schon im leeren Lokal – was sollte sie denn daheim tun -, geöffnet wurde erst um 20 Uhr!).
Auch das mit Montag war geregelt. Ob sie sich am Flughafen mit jemand treffen, oder vielleicht nach Frankfurt fliegen würde, um dort das Wochenende zu verbringen, fragte ich sie. „Wir fliegen nach Tel Aviv.“ „Wohin?“ „Nach Tel Aviv.“ „Haben Sie ein Visum?“ „Nein.“
„Hansi, es geht doch gar kein Flieger von München nach Tel Aviv!“ „Doch.“
Mit dem belehrenden Ton einer Oberlehrerin, antwortete ich: „Hansi, kein Mensch kann so einfach über das Wochenende nach Israel fliegen! Und wir Deutsche schon überhaupt nicht.“
„Ich schon“, war die lapidare Antwort. (…)
Montagabend. Hansi war tatsächlich nicht in der Kneipe. Kurz nach acht Uhr abends kam sie mit vielen Entschuldigungen wegen ihrer Verspätung. Eigentlich wollte ich sie ärgern und fragte: „Na, wie war es denn in Israel?“
„Wunderschön! Wir haben die Kinder besucht.“
„Welche Kinder?“
„Die zwei Buben. Sie leisten ihren Wehrdienst. Sie sind in der Nähe von Haifa stationiert. Ich habe Ihnen was mitgebracht. Weil Sie immer so gut sind zu mir.“
Das war der längste zusammenhängende Satz, den ich von ihr bis dahin gehört hatte. Sie überreichte mir feierlich ein winziges Päckchen, einen kleinen, goldenen Judenstern an einem dünnen, ebenfalls goldenen Kettchen. Ich war vor Rührung den Tränen nahe. Sie sagte mir noch, dass dies eigentlich kein Geschenk von ihr sei, es sei von den … und jetzt nannte sie den Namen eines Schweizer Industriellen, der mir nur aus der Zeitung ein Begriff war. (…)
Einige Monate später lernte ich diese Familie kennen. Auch Überlebende aus Dachau. (…)
Nur eine Geschichte möchte ich noch erzählen. Sie versäumte nicht, Gästen die sie besonders mochte, ganz genau zu zeigen wo denn der von ihr so hochverehrte „Papa Heuss“, unser erster Bundespräsident, als Student immer gesessen habe, und dass sie ihn aus dieser Zeit noch kenne.“
Bei der Eröffnung des „Blühendes Barock“ in Ludwigsburg am 23. April 1954 saß ich auf den Schultern meines Patenonkels und so kam ich „Papa Heuss“ ganz nahe, ich mochte den „älteren Herrn“ sofort und dabei ist es geblieben.
Der Schluss der Geschichte von Hansi Chorherr soll auch noch erzählt werden:
„… Als Hansi einmal nicht wie gewöhnlich schon zwei Stunden vor ihrem Dienstbeginn da war, überfiel mich große Angst. In ihrer Wohnung fand ich sie, niedergestürzt und unfähig sich zu bewegen. Sie hatte sich den Oberschenkel gebrochen. Auf ihre Bitte hin verständigte ich ihre Schweizer Freunde, die sie, nachdem sie transportfähig war, zu sich nachhause holten. Eines hatten sie erreicht, Hansi an ihrem Lebensende wenigstens noch liebevoll zu versorgen. Aber ohne ihren „Simpl“? Leider verstarb sie viel zu schnell.
Für ihre jüdischen Freunde war sie eine „Gerechte“, für ihre christlichen ein „Engel“.
Toni Netzle erzählt in ihrem Buch „Mein alter Simpl“ die vielen Geschichten ihrer Gäste – Prominente und Nichtprominente – sie alle waren da und wenn ich auch nur einige dieser Geschichten nacherzählen würde, fände dieser Artikel kein Ende. Vielleicht hätte sie erzählen sollen, wer nicht da war. Das wäre schneller gegangen.
Eine kann ich mir nicht verkneifen: Udo Lindenberg flog aus dem Lokal, weil er mit Rollschuhen über den neuen Parkettboden bretterte. Und ein Kind namens „Juliana, Simplina“ wurde vor den Augen aller Gäste im „Simpl“ gezeugt.
Es hilft nur eins, das Buch lesen, ich habe es mit Tränen gelesen – Tränen der Trauer und Tränen beim Lachen.
Und ein Gespräch des WDR 5 – Erlebte Geschichten vom 22.03.2015 mit Toni Netzle habe ich auch noch gefunden:
https://www1.wdr.de/radio/wdr5/sendungen/erlebtegeschichten/toninetzle-100.html
Abschied
Toni Netzle:
„… Als am 15. Juli 1992 unser herrliches Gute-Nacht-Lied erklang – böse Zungen behaupteten über Jahre, dass es ein brutaler Rausschmeißer gewesen wäre – „»Wunderbar wie schön der Abend war, ich danke dir dafür …“, gesungen von Caterina Valente, standen mir die Tränen in den Augen. (…)
Es dauerte lange, bis ich wusste, in welche Hände ich meine wunderbare Kneipe geben konnte. Es musste schon jemand sein, der mit den Geistern von Kathi Kobus und Joachim Ringelnatz, die immer noch oben an der Decke des Lokals schwebten, etwas anfangen konnte. Robby Flörke und Hannes Vester waren die Richtigen.“
2010 brachte sie im Münchner Hirschkäfer Verlag ihr Buch „Mein Alter Simpl“ heraus. Erinnerungen an ihre Zeit als Wirtin des legendären Münchner Literaten und Künstlerlokals.
ISBN 978 – 3 – 940839 – 10 – 7
Den „Simpl“ gibt es also immer noch und Wikipedia schreibt:
„… Heute findet sich unter dieser Adresse der „Alte Simpl“, der im Universitätsviertel als Lokal nach wie vor beliebt ist. Das Bulldoggenlogo verweist immer noch auf die Anfänge als Kabarettlokal und auf die Zeitschrift Simplicissimus, allerdings spielt der „Alte Simpl“ in der Münchener Kulturszene heute keine Rolle mehr.“
Aber ein bisschen Duft aus alten Zeiten habe ich gespürt, als ich die Hilfe einer der heutigen Mitarbeiterinnen bekam. Dafür ein dickes Dankeschön nach München.
Informationen dazu: https://www.altersimpl.de/
Quellen:
Theo Prosel „Freistaat Bayern“
Walther Diehl „Sie Künstlerkneipe Simplicissimus“
Joachim Ringelnatz „Simplicissimus – Künstlerkneipe Kathi Kobus“
Toni Netzle „Mein alter Simpl“