Siegfried Jacobsohn

… war Journalist und Theaterkritiker. Er gründete 1905 die Zeitschrift „Die Schaubühne“ und nannte diese 1918 in „Die Weltbühne“ um. Jacobsohn blieb bis zu seinem Tod deren Herausgeber.

Siegfried Jacobsohn Quelle: Stefanie Oswalt, Die Weltbühne

Stefanie Oswalt schreibt in ihrem Buch „Siegfried Jacobsohn – Ein Leben für die Weltbühne“ – “ über die Familie Jacobson:

„… Über die Ursprünge der Familie Jacobsohn gibt es wenig Hinweise. Die wichtigste Quelle, das Stammbuch, ist schon bald nach dem Tod Siegfried Jacobsohns verlorengegangen. Er hatte das in Leder gebun­dene Buch in hebräischer Sprache „wie einen Augapfel“ gehütet und trug es Zeit seines Lebens an Stelle eines Passes bei sich. Angeblich ließen sich die Ursprünge der Familie mit Hilfe dieses Buches bis ins 14. Jahrhundert zurückverfolgen.“

Also ist die Familie Jacobsohn jüdischen Glaubens und laut Peter Jacobsohn ging sein Vater einem sephardischen Ursprung des väterlichen Zweiges seiner Familie nach.

Über Sephardimdeutsch Sephardenschreibt Wikipedia:

„… bezeichnen sich die Juden und ihre Nachfahren, die bis zu ihrer Vertreibung 1492 und 1513 auf der Iberischen Halbinsel lebten. Nach ihrer Flucht ließen sich die Sepharden zum größten Teil im Herrschaftsgebiet des Osmanischen Reiches (Thrakien, Makedonien, Bosnien) und in Nordwestafrika (Maghreb) nieder. Ein kleiner Teil siedelte sich auch in Nordeuropa an, insbesondere in den Seehandelsstädten der Niederlande (unter anderem Antwerpen und Amsterdam), und in Norddeutschland (vor allem in Hamburg), aber auch in Frankreich (Bordeaux, Bayonne), in Italien (Livorno, Ferrara), in Amerika, Indien und Afrika. Ihre Kultur beruhte weiterhin auf der iberischen. Darin unterscheiden sich Sephardim von den mittel- und osteuropäisch geprägten Aschkenasim.

Im griechischen Thessaloniki befand sich bis zur Besetzung durch deutsche Truppen im Jahr 1941 die wohl größte europäische sephardische Gemeinde; es hieß daher auch „Jerusalem des Balkans“.

Und über die Namensherkunft die gleiche Quelle:

„…Der Name Sephardim leitet sich von der im biblischen Buch Obd 20 EU genannten Ort- oder Landschaft Sefarad ab, wo zur Entstehungszeit des Buches Angehörige der Verlorenen Stämme des Nordreichs Israel gelebt haben sollen. Der Name wurde im Mittelalter auf die Iberische Halbinsel und die von dort stammenden Juden übertragen. (…) 2019 schätzt man die Anzahl der Sephardim auf 3,5 Millionen Menschen.“

Wohnhaus der Fam. Jacobsohn in Sulingen Quelle: Stefanie Oswalt, Die Weltbühne

Letztendlich lassen sich die Wurzeln der Familie aber nur bis zum Urgroßvater Jakob Jacobsohn verfolgen, der in Sulingen bei Hannover – im heutigen Landkreis Diepholz – lebte und starb.

„In Sulingen gilt die Familie Jacobsohn als eine der „alten“ jüdischen Familien. Noch heute finden sich Spuren auf dem örtlichen jüdischen Friedhof, auf dem auch Siegfried Jacobsohns Großeltern, der Gerber und Kaufmann Simeon Jacobsohn (1798-1876) und seine Frau Frommet, geborene Falk, (1805-1878) beerdigt sind. Simeon und Frommet lebten in ei­nem Eckhaus in der Langen Straße, der Hauptstraße des Ortes“, schreibt Stefanie Oswalt.

In Sulingen geht Bernhard Jacobsohn in die 1841 in einem Wohnhaus eingerichtete jüdische Schule. Seine Großmutter Frommet war die Schwester des in Sulingen 1803 geborenen Synagogenvorstehers Bendix Falk. Bereits Mitte des 19. Jahrhunderts entfernt sich Familie aber von den jüdischen Traditionen und dem einengenden Leben in der kleinen Gemeinde. Siegfried Jacobsohns Vater Bernhard – der am 20.12.1849 in Sulingen geboren wurde – ging in den siebziger Jahren nach Berlin und dort starb er 1917.

Über seine Biographie berichtet sein Enkel, „er habe seine größte Zeit als Ge­meiner oder Gefreiter im Dienste der preußischen Armee verbracht.“ Was Bernhard Jacobsohn nach dem Krieg unternahm, ist nicht bekannt, Enkel Peter Jacobsohn vermutet eine gescheiterte Karriere als Börsenmakler. Stimmen muss diese Vermutung aber nicht.

Oscar Blumenthal (um 1905) Quelle: Von unbekannt – Deutsche Schachzeitung, Januar 1906, Bild-PD-alt, https://de.wikipedia.org/w/index.php?curid=5584663

Bernhard Jacobsohn war verheiratet mit Selma Blumenthal – Cou­sine des bekannten Komödienschreibers und Theaterkritikers Oscar Blumenthal und späte­ren erfolgreichen Besitzers des Lessing-Theaters. Man kannte ihn in Berlin als „blutigen Oscar“ und diesen Spitznamen verdankte er seiner scharfen Zunge und „Schreibe“.

Über ihn schreibt Wikipedia:

„… Oscar Blumenthal, auch Oskar Blumenthal, geboren am 13. März 1852 in Berlin, gestorben am 24. April 1917 ebenda) war ein deutscher Schriftsteller, Kritiker und Bühnendichter.

Blumenthal begann 1869 ein Studium der Philologie und promovierte 1875 über den Dichter Christian Dietrich Grabbe (1801–1836) zum Dr. phil., dessen gesammelte Werke und handschriftlichen Nachlass er zugleich herausgab.

Ab 1874 war er auch Herausgeber und Redakteur der Zeitschrift „Deutsche Dichterhalle“ und ab 1875 der „Neuen Monatshefte für Dichtkunst und Kritik“. Von 1875 bis 1887 war er als Feuilletonchef für das „Berliner Tageblatt tätig“. In dieser Zeit begründete er seinen Ruf als gefürchteter Theaterkritiker: Wegen der Schärfe seiner Kritiken wurde er auch „blutiger Oskar“ genannt. Von 1888 bis 1897 war er Direktor des von ihm gegründeten Lessingtheaters in Berlin. Von 1894 bis 1895 leitete er außerdem auch noch das Berliner Theater.

Lessingtheater in Berlin Quelle: Wikipedia

Zusammen mit Gustav Kadelburg schrieb er mehrere Lustspiele, darunter während eines Sommeraufenthaltes 1896 in der Villa Blumenthal in der Nähe von Bad Ischl das Stück „Im weißen Rößl“, das dem erfolgreichen gleichnamigen Singspiel von Ralph Benatzky von 1930 als Vorlage diente.

Ralph Benatzky auf einer österreichischen Briefmarke

Blumenthal war mit Marie Franke verheiratet. Er starb nur wenige Wochen nach ihr am 24. April 1917. Sein Grab befindet sich auf dem Jüdischen Friedhof Weißensee. In vier Berliner Stadtteilen wurden Straßen nach ihm benannt.

Blumenthal war ein Schachspieler und Schachkomponist, der 1902 den Begriff „Miniatur“ für eine Schachkomposition mit höchstens sieben Steinen einführte.“

Ein kleiner Ausschnitt aus einem seiner Kurzgedichte sei eingefügt:

Bei Opern macht oft gleichen Kummer
Das Tonwerk wie das Textgedicht:
Die Dichtung reizt die Lust zum Schlummer,
Doch die Musik erlaubt ihn nicht.

Stefanie Oswalt beschreibt die wenigen bekannten Fakten über Selma:

„… Sie wurde am 5.2.1857 in Breslau geboren und kam schon bald mit ihrer Familie nach Berlin. Das „Berliner Adressbuch für das Jahr 1869“ verzeichnet ein „Posamentier- und Knopfwarengeschäft Blumenthal & Jacobsohn“, und wenn es sich hier nicht um einen Zu­fall handelt – schließlich sind beide Namen recht häufig – so darf man vermuten, dass zwischen den Familien geschäftliche Kontakte bestan­den. Vielleicht lernten sich Jacobsohns Eltern auf diesem Wege ken­nen? Sicher ist nur, dass Selma Blumenthal in den kommenden Jahren ein „Atelier für. Damenschneiderei“ in der Werderstraße 7 leitete. Vater Bernhard taucht in den Adressbüchern als „Buchhalter“ auf, und offenbar arbeitete er im Unternehmen seiner Frau. Ab Mitte der 1880er Jahre firmierten die Eheleute Jacobsohn als „Kaufmann“, und 1901 warb Selma in der Kochstraße bereits ganz französisch-elegant unter Blumenthal-Jacobsohn „Robes de Confection“, Werderstraße 7 – das bezeichnete eine durchschnittliche, kleinbür­gerliche Adresse am Werderschen Markt, direkt neben der Nikoleikirche, gegenüber des „Palazzo Gerson“, einem großen Warenhaus und nur wenige Minuten zu Fuß vom Alexanderplatz entfernt. Das war keine schlechtes Viertel, aber wer sich Besseres leisten konnte, zog in die vornehmen Gegenden Charlottenburgs, an den Kurfür­stendamm, das „Ostviertel“ (heute Schöneberg), das Hochschulviertel oder in die Villenkolonie Westend. Ein Blick in das Straßenverzeich­nis von 1881 charakterisiert das unmittelbare Umfeld, in dem Jacob­sohn aufwuchs als kleinbügerlich berlinerisches Handwerker- und Kaufleute-Milieu, bestehend aus zahlreichen jüdischen und nicht­jüdischen Geschäften: Fuhrunternehmer, kleine Schneidereien und Kurzwarenhändler, eine Buchhandlung, eine Zigarrenfabrik.“

Berlin Neue Synagoge Quelle: Von Taxiarchos228 – Eigenes Werk, FAL, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=82868677

Interessant die Beschreibung seiner Großeltern und deren Umfeld aus der gleichen Quelle:

„… Jacobsohns Großeltern mütterlicherseits lebten nicht weit entfernt in der Krausnickstraße/Ecke Oranienstraße. In unmittelbarer Nähe stand die größte Synagoge Berlins, und hier begann auch das Scheunen­viertel, dessen vergangener Mythos einer „eigentümliche (n) Mixtur aus vielen Bestandteilen, nicht nur Ghetto, nicht nur Unterwelt, nicht nur billiges Amüsierviertel, nicht nur Zuflucht der aus Polen einge­reisten armen Juden, nicht nur Zille-Milljöh“, heute beschworen wird. Jacobsohn war dieses Milieu, waren die verschiedenen sozialen Fa­cetten gut bekannt, wie er später anhand einer Kritik zu Georg Her­manns Stück „Henriette Jacoby“ ausführte.“

Straßenhandel im Scheunenviertel, Grenadierstraße 1933 Quelle: Von Bundesarchiv, Bild 183-1987-0413-501 / CC-BY-SA 3.0, CC BY-SA 3.0 de, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=5345952

Die Familie war Mitglied der jüdischen Gemeinde Berlin.

Geboren am 28. Januar 1881 in Berlin – einen Tag nach „Kaisers Geburtstag“ – fiel Jacobsohn durch sei­nen kleinen Wuchs auf: Das Baby wog nur dreieinhalb Pfund und dieser „Wuchs“ trug ihm den Spitznamen „Kleiner Mann“ ein. „Zurecht, denn auch als Erwachsener maß er nur 157 Zentimeter und brachte ziemlich kons­tant 57 Kilo auf die Waage“ schreibt Stefanie Oswalt.

Geburtshaus Jacobsohn in der Werder Str. 7 1881 Quelle: Stefanie Oswalt, Die Weltbühne

Und Stefanie Oswalt erwähnt auch eine empfind­liche Augenkrankheit und ein taubes rechtes Ohr. Siegfried Jacobsohn hat über diese gesundheitlichen Einschränkungen nie selbst gesprochen

Stefanie Oswalt dient als Quelle für die Geschwister:

„… Ein Jahr nach Siegfried wurde am 24.3.1882 seine Schwe­ster Charlotte Franziska („Lotte“), am 21.3.1887 seine Schwester Katherina („Käte“) und am 9.8.1888 Schwester Gertrud („Trude“) geboren.

Sein jüngster Bruder Wilhelm („Hörnchen“) kam 1896 zur Welt. Von Bruder Friedrich („Fritz“) ist der Geburtstag (18. Mai) bekannt, nicht aber das Geburtsjahr. Seine Biographie liegt weitge­hend im Dunkeln – für die „Schau- und Weltbühne“ verfasste er mehr als 79 Beiträge, zumeist Opernkritiken; der letzte Artikel erschien am 3. Januar 1933. Möglicherweise starb er in den 40er Jahren im New Yorker Exil.“

Zu diesen Geschwistern und zu seinen Eltern hatte Siegfried ein sehr enges Verhältnis und bis zu seiner Eheschließung lebte er im elterlichen Haus.

Ab 1890 besucht Siegfried Jacobsohn das traditionsrei­che Friedrichs-Werdersche Gymnasium in der Dorotheenstraße, dessen Direktor Friedrich Gedike hatte das Gymnasium Anfang des Jahrhunderts zu einer Schule gemacht, die für die „bildungsbeflissenen Stände“, unabhängig von der Religi­on, zugänglich war.

Friedrichs-Werdersche Gymnasium Quelle: Von Fridolin freudenfett (Peter Kuley) – Eigenes Werk, CC BY-SA 3.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=15685246

„Der eigene Verstand der Schüler sollte gefördert werden; nicht die berufliche Bestimmung des Einzelnen stand im Mit­telpunkt der Ausbildung, sondern es war ein Anliegen der Lehrer, eine generelle „Sensibilität für die gesellschaftliche Umwelt, Kritikfä­higkeit und Selbstkritik“ zu vermitteln. Der Schwerpunkt der Erziehung lag auf dem altsprachlichen Unterricht – auch zu Jacobsohns Zeiten, wie seine zahlreichen griechischen und lateinischen Sprüche und Lebensweisheiten nahelegen, die später immer wieder in seinen Artikeln und Korrespondenzen auftauchten“, schreibt Stefanie Oswalt und weiter: „Zu Jacobsohns Zeit um 1890 zählte die Schule 626 Schüler, von denen 340 Schüler evangelischen, 225 jüdischen und 35 katholischen Glau­bens waren. (…) Ge­leitet wurde das Gymnasium damals von Bernhard Büchsenschütz.“

königliche Friedrich-Wilhelm Universität um 1900 Quelle: Stefanie Oswalt, Die Weltbühne

Schon mit 16 Jahren, also 1896, beschloss Siegfried Jacobsohn Theaterkritiker zu werden. Im Oktober 1897 verließ er ohne Abschluss die Schule und begann – was damals auch ohne Abitur möglich war – ein Studium an der Friedrich-Wilhelms-Universität in Berlin. Seine Eltern waren von der Vorstellung sicher nicht gerade begei­stert, ihren Ältesten, der Klassenprimus war, vor dem Abitur abgehen zu lassen. Aber der Sechzehnjährige konnte sich durchsetzen. Am 21. Oktober 1897 schrieb S.J. sich zunächst für vier Semester in der Philosophischen Fakultät der „Königlichen Friedrich-Wilhelms-Uni­versität zu Berlin“ ein.

„Dank des erhaltenen Abgangszeug­nisses ist Jacobsohns Studium vollständig dokumentiert. Im Durch­schnitt besuchte er während eines Semesters etwa fünf bis sechs Veranstaltungen, die teilweise mehrmals pro Woche stattfanden. Sein Hauptinteresse galt der deutschen Literaturgeschichte. Hier hörte er die Vorlesung Wilhelm Diltheys zur „Einführung in die Philologie“ und besuchte Vorlesungen und Übungen zur Literatur des Mittelalters und der Neuzeit. Daneben beschäftigte er sich in sei­nem Studium mit verschiedenen Aspekten der Antike und der mittel­alterlichen Geschichte, etwa der „Athenischen Kultur des 5. Jahrhun­derts“, den „Göttern Griechenlands“ oder der „Deutschen Geschichte vom Vertrag von Verdun bis zum Interregnum“ sowie der Geschichte des „Erasmus von Rotterdam und seiner Zeit.“ Außerdem finden sich einige Veranstaltungen zur Musikgeschichte.

Erasmus, abgebildet von Quentin Massys (1517) Quelle: Wikipedia

Zur Vorbereitung auf seinen späteren Beruf besuchte Jacobsohn Übungen zur Litera­tur- und Musikkritik. Veranstaltungen in Philosophie finden sich hin­gegen kaum in seinem Zeugnis; außer zwei Vorlesungen zur „Ästhe­tik“ besuchte er nur eine Veranstaltung mit dem Titel „Logik und Einleitung in die Philosophie“. Diese Beobachtung korrespondiert mit dem Werk Jacobsohns, das in höchstem Maße von Konkretion geprägt ist. Theoretische Gedanken etwa zu künstlerischen, ästheti­schen, gesellschaftlichen oder politischen Fragen entwickelte er kaum, und philosophische Werke und Autoren wurden von ihm höchstens kommentarlos zitiert“, berichtet Stefanie Oswalt

Und sie schreibt: „Weil ihn das Studium „unerbittlich langweilte“ und ihn die universi­täre Auseinandersetzung mit „literarischen Leichen“ abschreckte, wandte sich Jacobsohn bald anderen Dingen zu. Immer mehr widmete er sich dem Studium seiner theaterkritischen Vorbilder. Stunden um Stunden verbrachte er im Zeitschriftensaal der Königlichen Bibliothek und analysierte die Theaterkritiken Paul Schienthers aus der „Vossischen Zeitung“.

Von ihm selber stammen diese Sätze: „Warum übertrug sich aus diesen Zeilen der Duft des Kunstwerkes? Ich sezierte. Ich zergliederte Aufbau, Wortstellung, Wortwahl. Was an alledem Handwerks-Meisterschaft war, das musste zu üben, musste durch unermüdliche Übung nach und nach zu erwerben sein. (…) Unvermeidlich, daß Schienther Kunstanschauung und Stil, sowie auch Geschmack und Urteil des Schülers bestimmte. Trotzdem man ihm hierin, je länger, desto entschiedener, widersprach.“

Julius Bab Quelle: https://www.geni.com/people/Julius-Bab/6000000041371931188

Einige Hinweise auf verschiedene Kontakte während seiner Universitätszeit sind erhalten. So studierten zur selben Zeit Julius Bab, Albert Soergel, Martin Buber und Ernst Lissauer in Berlin, 1897 lernte er den Begründer der Anthroposophie, Rudolf Steiner, kennen und mit dem bekannten Schau­spieler Albert Bassermann war er seit 1899 befreundet.

Martin Buber Quelle: Wikipedia

Man schreibt das Jahr 1901 und Siegfried Jakobssohn beendet acht Semester Studium und nimmt seine „Karriere“ in „Angriff“. Helfen soll ihm Fritz Mauthner, Philosoph, Schriftsteller (Belletrist, Essayist) und Publizist, der ab 1876 für das „Berliner Tageblatt und das „Deutsche Montagsblatt“ schreibt. Bei diesem taucht Jakobssohn mit einem selbstverfassten Artikel auf und erhält von Mauthner Zuspruch: „Drei solche Artikel an sichtbarer Stelle und Sie gehören zu Berlins bekanntesten Theaterkritikern“,

Albert Bassermann Quelle: https://www.steffi-line.de/archiv_text/nost_film20b40/10_bassermann.htm

Etwa zur gleichen Zeit wird Hellmuth von Gerlach auf ihn aufmerksam und nimmt mit Vermittlung Albert Bassermanns zu ihm Kontakt auf. Von Gerlach, Chefredakteur der politisch links orientierten „Welt am Montag“ gewinnt ihn für die Theaterkritik seines Blattes.

Helmut von Gerlach Quelle: Wikipedia

Siegfried Jacobsohn ist am Ziel und im März 1901 beginnt er als Theaterkritiker. und er erreicht sofort ein beachtliches Publikum, denn die „Welt am Montag“ hat­te eine wöchentliche Auflage von mehreren Zehntausend Exemplaren.

1914 erinnert sich Jakobssohn an diese Anfänge: „Ich wohnte, ein junger Kritiker, zusammen mit einem jungen Schauspieler von Rein­hardts jungem kleinen Theater dicht neben diesem. Ab und zu schlepp­te der Schauspieler ein Rudel seiner Kollegen zu mir herauf. Das wa­ren dann ziemlich tolle Nachmittage oder Abende oder Nächte des Winters 1901 zu 1902. Arnold spielte in meinen vier Wänden den Serenissimus weiter.“

Stefanie Oswalt schreibt über diese Anfänge:

„… Jacobsohns Geisteswelt nachzuspüren heißt, sich seinen Texten und Kritiken jener Jahre zuzuwenden. Denn der junge Mann verbrachte seine Abende und Nächte im Theater, verbrachte den Großteil seiner Zeit damit, die gewonnenen Eindrücke in seinen Kritiken zu formu­lieren. Aus heutiger Perspektive verblüffend ist die Freiheit, mit der Jacobsohn seine Beiträge von Anbeginn an formulieren konnte. Schon bei der „Welt am Montag“ erlaubte sich der Zwanzigjährige ein subjek­tives Urteil, ohne auf Empfindlichkeiten Dritter besondere Rücksicht zu nehmen – eine bemerkenswerte Demonstration freien Geistes und jugendlichen Selbstbewusstseins, die auch später seine journalistische Arbeitsweise, namentlich das Gesicht der „Schau- und Weltbühne“ ent­scheidend beeinflussen sollte. (…)

Fritz Mauthner Quelle: Von unbekannt – Aus Spemanns goldenes Buch des Theaters (1902), Scan –Goerdten 17:17, 27. Feb. 2007 (CET), PD-alt-100, https://de.wikipedia.org/w/index.php?curid=2306741

Anfang Juni 1902 konnte er Fritz Mauthner von der Un­terzeichnung eines „ausgezeichneten unkündbaren dreijährigen Ver­trages“ berichten. Ab Winter 1901/1902 erhielt er ein Gehalt von monatlich einhundert Mark, das bis zum Frühjahr 1902 auf zweihun­dert Mark anstieg, und das damit dem Durchschnittseinkommen ei­nes Journalisten bei einer mittelgroßen Zeitung entsprach. Dafür übernahm Jacobsohn die Verantwortung für die Theater- und Musik­kritik, hielt wöchentlich eine Sprechstunde in der Redaktion ab, be­sorgte die Schlussredaktion seines Teiles der Zeitung in der Nacht vom Sonntag auf den Montag und übernahm gelegentlich Vertretungen des Lokal- und Feuilletonredakteurs. Zum ersten Oktober schließ­lich sollte Jacobsohn die gesamte Feuilleton-Redaktion übernehmen. Der journalistische Erfolg begann, sich auf die Theaterpraxis auszu­wirken. Zunehmend hatten seine Kritiken Einfluss auf die Theater­besetzungen. Albert Bassermann fragte 1904 an, welchen Regisseur Jacobsohn für die Spielleitung des Deutschen Theaters vorschlagen könne.“

Sein Arbeitspensum war enorm und im Frühjahr 1903 meldete sich die frühe Augenkrankheit, seine Augen wurden erneut stark in Mitleidenschaft gezogen. Urlaub in Schweden soll lindern und dort beginnt er mit der Arbeit an seinem ersten Buch, gewidmet seinen Eltern.

Stefanie Oswalt:

„… (das er) als eine Art „freiwilliger Dissertation“, ein „Ge­sellenstück“, betrachtete. Es sollte die Entwicklung Berlins zur ers­ten Theaterstadt des Deutschen Reiches nachzeichnen und gleichzei­tig eine Bestandsaufnahme der Berliner Theater darstellen. Die Ar­beit an dem Buch erforderte ein breites Quellenstudium. Jacobsohn las „alle erreichbaren Zeitschriftenbände“« der Jahre 1870-1900. (…) Zur Fertigstellung des Manuskripts zog sich Jacobsohn im Sommer 1904 wieder für drei Monate in die Einsamkeit des schwedischen Höganas zurück.

Gustaf af Geijerstam Quelle: Wikipedia

In einem Brief an Jacobsohn erinnert sich der schwedische Schriftstellers Gustaf af Geijerstam, zu dem er zu dieser Zeit ein geradezu familiäres Verhältnis hatte, an die Arbeitsdisziplin Jacobsohns: „Sie standen vier Stunden früher auf als ich, ein Viertel­jahr hindurch jeden Morgen um Fünf-was ich niemals begriffen habe und niemals begreifen werde -; aber dafür tranken Sie abends umso mehr. Vor unserer Veranda lag das Kattegat. An die Klippen schlug die Brandung. Meistens war Sternenhimmel. Wir hattens so gut. Und wir hatten ein Ziel: wir wollten beide an Goethes Geburtstag fertig werden.“

„Nur sechs Wochen nach Fertigstellung des Buches kam es zu jenem Ereignis, in dem Jacobsohn selbst den Wendepunkt seines Lebens und den „Abschluss seiner Kindheit“ sah“, so Stefanie Oswalt und weiter: „Von einem Kritiker-Kollegen des Plagiats bezichtigt, geriet Jacobsohn innerhalb von wenigen Ta­gen in ein öffentliches Kreuzfeuer. Lange angestaute Ressentiments entluden sich gegen den jugendlichen Überflieger, und zum ersten Mal in seinem Leben bekam Jacobsohn die Wirkungskraft antisemi­tischer Hetze zu spüren.

Der Fall Jacobsohn? Am 12. November 1904 erschien in der Abendausgabe des „Berliner Tageblatts‚“ ein Artikel, geschrieben vom Theaterkriti­ker Alfred Gold, sein Titel: „Ein psychologisches Rätsel“ und darin eine von ihm geschriebene Kritik – erschienen in der Wiener Wochenzeitschrift „Die Zeit“ – der er einem Artikel Jacobsohns gegenüber stellt.

Alfred Gold im Alter von 30 Jahren, Porträt von Moritz Coschell, Berlin 1904

Stefanie Oswalt:

„… Bei dem Artikel Jacobsohns handelte es sich um eine Sammelrezension, in der er unter anderem über Albert Bassermanns Darstellung des Dr. Niemeyer in „Traumulus“ schrieb – einem Stück von Arno Holz und Oscar Jerschke, das am 26. September im Lessing-Theater zur Auf­führung gekommen war. Eine weitere Passage widmete sich der italienischen Charakterdarstellerin Eleonora Duse.“

Eleonora Duse (1896) Quelle: Wikipedia

Als Reaktion auf diese Plagiatsvorwürfe stellt Jacobsohn 1913 die Passagen nebeneinander, sein eigener Text-Auszug zuerst:

„(…) Ein Mädchen stellt sie dar, das durch Leidenschaften und Not und Verlassensein zu einer mühevoll errun­genen und umso tiefer verinnerlichten Läuterung und Neuordnung des Le­bens gelangt ist, das eine ganz eigene und ästhetische Weltanschauung sich erworben hat, in der es von der Außen­welt gleichsam nur den Duft und die äußern Eindrücke abstreift; das mit ei­nem Male in Beziehungen gestellt wird vor eine Seite des Lebens, denen es in­nerlich ganz entfremdet und feindlich ist; das einen Augenblick lang seinen Halt zu verlieren droht, um am   um am Ende sich doch aufzuraffen und zurückzu­kehren zu ihrer Freiheit, ihrer Größe, ihrer Kunst. Das ist die Magda der Sandrock. In jedem Wort, in jeder Be­wegung, in jedem Zucken ihrer spötti­schen, sentimentalen Lippen klingt eine lange, lange Leidens- und Befreiungs­geschichte nach.“

Der Alfred Gold Text:

„… (…) Eine Frau stellt sie dar, die durch Leidenschaften und Not und Verlas­senheit zu einer zu einer mühevoll errungenen und umso tieferen Läuterung und Neu­ordnung ihres Lebens gelangt ist; die plötzlich doch wieder in Beziehungen gestellt wird, denen ihr Geschick sie ganz entfremdet hatte; die einen Au­genblick sich zu verlieren droht, um sich am Ende aufzuraffen und zurück­zukehren in ihre Freiheit, ihre Schön­heit, ihre Kunst. Das ist der große Zug der Duseschin Gestalt. Innerhalb die­ses Zuges erzählt jedes Wort , jeder Blick, jedes Zucken der Lippen eine lange, bange Leidens- und Befreiungsgeschichte, findet jede Situation den ihr gemäßen Ausdruck. Dieser schwere Kummer, dem die Worte versagt sind!“

Jacobsohn selbst war über diese Übereinstimmung überrascht: „Es war verblüffend und schlimmer als das. Wie es dastand, musste mich jeder für einen Dieb halten“, aber er hat eine Begründung: Es handele sich nicht um ein Plagiat, sondern sei eine Folge der Überfrachtung seines Gedächtnisses im Zusammenhang mit den Recherchen für „Das Theater der Reichs­hauptstadt“, für das er unzählige Kritiken gründlichst studiert habe: In seinem Gedächtnis, „von dessen abnormer Stärke und Zuverläs­sigkeit“ fast jeder Proben erhalte, der eine Zeitlang mit ihm verkehre, hätten Worte, Bilder, Sätze und ganze Satzfolgen fremder Autoren geschlummert, die durch die geringste Assoziation geweckt würden und es ihm in zahllosen Fällen zu seiner Qual unmöglich machten, einen eigenen Ausdruck für seinen Eindruck zu finden.

Die wahren Gründe werden sich wohl nicht mehr ermitteln lassen. Plagiat hin oder her, sei’s drum. Überrascht aber waren nicht nur er, sondern auch einige Zeitungen und Erich Mühsam erinnerte sich an einen aufmunterten Brief, den er Jacobsohn schickte. Und zu den „Verteidigern“ zählte z.B. auch Max Harden.

Maximilian Harden 1903 Quelle: https://www.dhm.de/lemo/biografie/maximilian-harden

„Eine breite Welle der Ablehnung schwappte ihm entgegen. „Gekränkte Eitelkeiten übten Rache. Er­leichterte Rivalen trafen die Verfügung, daß dieser Schänder ihres Stan­des ihnen niemals mehr gefährlich werden dürfe. (…) Er selbst sah sich als Opfer von Übertreibungen, Fälschungen und Verleum­dungen einer „unethischen, kulturfeindlichen und stockantisemiti­schen“ Presse, die selbst neun Jahre nach dem Vorkommnis nur seine Sensationsaffairen ausschlachte, während sie alle Erfolge Jacobsohns totschweige“, schreibt Stafanie Oswalt und weiter: „Tatsächlich waren viele der Angriffe auf Jacobsohn antisemitisch motiviert – entsprach doch auch der Plagiatsvorwurf einem antisemitischen Stereotyp, das den Juden als „geistigen Dieb“ denunziert.

Getroffen hat ihn das Zerwürfnis mit Fritz Mauthner und die Berliner Litfaßsäulen seien wochenlang mit Riesenplakaten – „Jacobsohns Entlarvung; Plagiator Jacobsohn; Sieg­frieds Tod“ – beklebt gewesen. Seine berufliche Zukunft war völlig unklar, nachdem „Welt am Montag“ ihn in „beiderseiti­gem Einverständnis bis auf Weiteres beurlaubt“ und anschließend entlassen hatte.

Um Abstand zu gewinnen entscheidet sich Jacobsohn zu einer sechsmonatigen Reise durch Europa. Stefanie Oswalt titelt dieses Kapitel: Wien – Italien – Paris und damit komme ich der „Schaubühne/Weltbühne“ ein ganzes Stück näher.

Wien 1904. 18. Dezember. „Glaubst du, ich komme zum Schreiben? So viele Eindrücke, die mich bedrängen und sich überdies nicht gleich über­mitteln lassen. Am liebsten spaziere ich langsam um die Ringstraße herum, weide die Augen auf alten Barockbauten von höchster Reife des Geschmacks und genieße mit allen Nerven dieses überraschende Ergebnis: plötzlich nicht mehr zu arbeiten, an Arbeit gar nicht zu denken.“

Theodor Herzl (vor 1900) Quelle: Wikipedia

Er studiert das Theaterleben der k.&k. Mon­archie, schließt literarische Bekanntschaften, lernt Theodor Herzl, Sigmund Freud und Arthur Schnitzler kennen und eine wichtige Bekanntschaft ist der Schriftsteller und spätere Kritiker Alfred Polgar, aber auch den fruchtbaren Nährboden für Antisemitismus und Fremdenhass kennen. Nach nicht einmal zwei Wochen ein Fazit: „Ein paar Wo­chen wird mich das amüsieren; aber bei dem Gedanken, hier etwa bleiben zu sollen, war‘ ich gleich auf der Stelle tot.“

Arthur Schnitzler, ca. 1912 Quelle: Wikipedia

Stefanie Oswalt:

„…  Am 22. Januar 1905 reiste er mit dem Nachtzug über Triest weiter gen Süden. Auf dem Schiff nach Malta feierte er seinen vierund­zwanzigsten Geburtstag. Zum ersten Mal geriet der junge Mann mit der tropischen Exotik des Südens in Berührung. (…) Am 23. Februar folgte er der Familie Geijerstam, seinen schwedischen „Ersatzeltern“, die er auch in Rom schon kurz getroffen hatte, nach Florenz. (…) Dann kehrte er Italien den Rücken. Uber Pisa ging es Anfang März per Zug nach Paris.

»Paris, Paris! Du Wirbel und Du Wüste, (…) wo man doppelt so viel arbeitet und doppelt so intensiv genießt; wo man zum ersten Mal im Leben fühlt, was Kultur ist, organisch gewachsene, jeder kleinsten Lebensregung mitgeteilte Kultur. Köstlich der Größenwahn dieses Volkes (…) Warum nur lernen wir Deutschen nicht das von den Fran­zosen.“

Auf dieser Reise ist wohl der Gedanke entstanden, eine eigene Zeitung zu gründen, seiner Mutter schrieb er: „Sein Hirn gähre von Zukunftsplänen, literarischen und persönlichen“.

Nochmal Stefanie Oswalt:

„… Und bei sei­nen Kontakten in Wien hatte er offenbar auch schon die Möglichkeit eines eigenen Projekts erwogen – Willi Handl, Alfred Polgar, Hermann Bahr, Arthur Schnitzler – sie alle tauchen auch später als Auto­ren der „Schaubühne“ auf. Durch Julius Bab war S.J. über die Ent­wicklungen bei der Welt am Montag informiert, und er verfolgte sehr genau, was die Berliner Gazetten und Zeitschriften nach wie vor über die Affaire publizierten.. Zumindest bis zum Jahreswechsel 1904/ 1905 war ihm ein Weitermachen bei der Zeitung durch die persönli­chen Intrigen im Zusammenhang mit dem Plagiatsvorwurf zwar ver­leidet, aber die Möglichkeit war wohl nicht völlig ausgeschlossen. Offenbar bemühte er sich auch um eine Stelle als Theaterkritiker bei Maximilian Hardens „Zukunft“.“

Hermann Bahr Quelle: https://www.literaturport.de/literaturlandschaft/autoren-berlinbrandenburg/autor/hermann-bahr/

Die „Berliner Zeitung am Mittag“ bot ihm eine Stelle als Korrespondent in Paris an, „aber das Heimweh war stärker, und der Ehrgeiz hatte ihn gepackt“, schreibt Stefanie Oswalt und er selbst: „Ich will Herr eines eige­nen Blattes sein und zurück nach Berlin. Das vor allem (…) Mit zu­sammengebissenen Zähnen und einer Geduld, die nichts ermatten wird, will ich mir einen Fußbreit Boden nach dem anderen zurückgewinnen – in der Stadt, die meine Heimat ist.“

Am 10. Mai 1905 an die Eltern: „Ein Blatt: jung, tapfer, farbig, ohne Profitsucht, ohne alle Konzes­sionen, ganz durchglüht von einem Willen, meinem Willen; wo jeder sagen kann, was ihm die andern Blätter aus Dummheit oder Feigheit verwehren; das sich der keimenden Kräfte in Dichtung und Kritik mit Leidenschaft annimmt. Ich habe, glaube ich, besondere Erzieher­talente, aber auch eine so wütende Sachlichkeit, daß ich nie zögern werde, Schriftsteller zu drucken, die mehr sind und mehr können als ich. (…) Herrlich denk‘ ichs mir, nach meinem Geschmack jede Wo­che gewissermaßen ein Haus zu bauen, das immer eine andre und doch immer dieselbe Physiognomie haben wird, in immer neuem, immer wertvollem Menschenmaterial zu arbeiten – Regisseur einer gedruckten Bühne.“

Ende Mai 1905 reiste er ab, mit Zwischenstation in Köln. Über seine Rückkehr nach Berlin berichtet Jacobsohn aus der Erzählerperspekive:

„SJ. flog förmlich nach Berlin. Er fuhr von Cöln des Nachts. Das Coupe war leer. Er wälzte sich auf der Holzbank, fiebernd, in Flam­men. Fortwährend sprang er ans Fenster, ob denn Berlin nicht end­lich zu entdecken sei. Er wußte sich stark. Was wollte er nicht alles! Noch einmal: Speere werfen und die Götter ehren. Noch einmal: des Hasses Kraft, die Macht der Liebe auf Gebilde schlechter, guter Kunst entsenden. Ganz von vorn beginnen. Sich wehren, von der Zehe bis zum Scheitel dicht gewaffnet. Kämpfen, siegen und zurückerobern -mehr, viel mehr erobern, als er je besessen! Plötzlich lag die Stadt in morgendlicher Junisonne vor ihm. Da löste sich in einem Tränenguss des Glücks der Glutkrampf dieser letzten Stunden. Er war zu Haus“, mit Plänen zu einer Theaterzeitschrift im Gepäck.

Aus Wikipedia:

„… Das erste Heft der zunächst ganz auf Theaterfragen spezialisierten Wochenschrift, die in Anspielung auf Friedrich Schillers Aufsatz „Die Schaubühne als moralische Anstalt betrachtet“ den Titel „Die Schaubühne“ erhielt, erschien am 7. September 1905. Zu den wichtigsten Mitarbeitern gehörten Julius Bab, Willi Handl, Alfred Polgar, Robert Walser (ab 1907), Lion Feuchtwanger (ab 1908), Herbert Ihering (ab 1909), Robert Breuer (ab 1911) und Kurt Tucholsky (ab 1913).“

„Ein Blatt: jung und tapfer – durchblutet von meinem Willen.“

Zurück in Berlin zog Jacobsohn wieder zu seinen Eltern in die Jeru­salemer Straße Nr. 65 im „Berliner Zeitungsviertel“. Ein Konzept musst her, namhafte Autoren geworben werden und das wichtigste, Geldgeber gefunden werden. Autoren wie Hugo von Hofmannsthal und Arthur Schnitzler hatten zugesagt, das „„Blättchen“, wie er seine Zeitschrift gerne nannte, mit Beiträgen zu unterstützen. Am 10. Juli konnte Jakobsohn an Arthur Schnitzler vermerken: „Seit gestern ist das Erscheinen meines Blattes gesichert: Kon­traktlich für ein Jahr, tatsächlich wohl für mehrere Jahre (solche Menge Geld ist vorhanden.)“

Hugo von Hofmannsthal im Alter von 19 Jahren Quelle: Wikipedia

Die Finanzierung kam zustande … so schreibt Stefanie Oswalt:

„… In einem Artikel für die literarische Revue „Das Stachelschwein hat“ Jacobsohn 1924 ausführlich beschrieben, wie es ihm schließlich doch gelang, das benötigte Geld aufzutreiben: Dem­nach hatte er im Theater dem ihm damals noch unbekannten Georg Altmann von dem Projekt der Zeitschrift erzählt, der sich sofort be­reit erklärte, ihn mit 5.000 Mark zu unterstützen. Altmanns Freund Walter Reiß versprach sogar, sich mit 10.000 Mark an der Unterneh­mung zu beteiligen. Die einzige Bedingung der potentiellen Teilha­ber bestand in der Forderung, auch ein seriöser Geschäftsmann müs­se sich mit 5.000 Mark beteiligen. Tatsächlich gelang es Jacobsohn, den „Vater eines (s)einer Schulfreunde“ von seinem Anliegen zu über­zeugen. Dieser Vater suchte für seinen damals neunzehnjährigen Sohn Siegbert Cohn eine Stelle im Verlagsbereich. Cohn hatte zwei Klas­sen unter Jacobsohn das Friedrich-Werdersche Gymnasium besucht und den Älteren stets bewundert. 1905 beendete er seine „praktische buchhändlerische Tätigkeit in Berlin, Paris und London“ und suchte in Berlin eine neue Beschäftigung. (…)

Am 7. September 1905 war es schließlich soweit. Der Vorhang der „Schaubühne“ öffnete sich. Dieser Punkt markiert einen wichtigen Einschnitt im Leben Jacobsohns, denn von nun an beginnt die Identifi­kation seiner Person mit seinem Blatt. Bis zu seinem Tod brachte er jede Woche eine Nummer heraus, unbeirrbar und tangiert weder von gesellschaftlichen und politischen Umwälzungen, noch von Krieg oder persönlichen Schicksalsschlägen und Glücksmomenten. (…)

Von der ersten Ausgabe an erschien die „Schaubühne“ im wöchentli­chen Turnus, jeden Dienstag an den Berliner Zeitschriften-Kiosken und in den Bahnhofs-Buchhandlungen im gesamten Gebiet des deut­schen Reiches und des deutschsprachigen Auslands. Die erste Ausga­be sei mit „ungeheurer Neugier erwartet worden“, erinnerte sich S.J. später, und „die Leute rissen sich die 40.000 Exemplare aus den Hän­den. Der Inhalt hätte so sein müssen, daß mindestens 10.000 sich auf die nächste Nummer hätten stürzen müssen. Er war aber so, daß kei­ne 10 das taten. Und bis 1918, also in 13 Jahren, brachten wirs auf 1200.“

Die Pleite ließ nicht lange auf sich warten, bereits im Februar 1906 war es soweit und Jakobsohn gab den eigenen Verlag auf – die „Schaubühne“ erschien im Verlag Oesterheld & Co von Erich Oesterheld in Berlin und ab 1908 verlegte sie der Berliner Erich-Reiß-Verlag. Im September verhandelte Jakobsohn über eine Fusion mit Lion Feuchtwanger und dessen Zeitschrift „Der Spiegel“. Die erste gemeinsame Nummer erschien ab dem 4. November unter dem gewohnten Titel „Die Schaubühne“.

Lion Feuchtwanger

Siegfried Jakobsohn wollte wieder Herr im eigenen Hause werden und Stefanie Oswalt berichtet:

„… Im Oktober 1912 schließlich gründete Jacobsohn zusammen mit dem Chemnitzer Kaufmann Christian Paul Johannes Siemens erneut ei­nen eigenen Verlag unter dem Namen „Verlag der Schaubühne“, in dem die Schau- und später die Weltbühne bis zum Verbot der Zeit­schrift durch die Nationalsozialisten erschien.“

Von 1913 an öffnete Siegfried Jacobsohn sein „Blättchen“ – wenn auch nur ganz allmählich – politische Themen. „Ganz allmählich heißt dann, schreibt Stefanie Oswalt:

„… Für eine entschiedene Öffnung zu politischen Themen war Jacobsohn allerdings noch nicht bereit. Im Gegenteil, wie eine Episode aus dem Jahr 1910 zeigt: Zusammen mit Artur Landsberger hatte er im Som­mer das Konzept für eine Wochenzeitung erarbeitet, die sich aktuel­len und politischen Themen zuwenden sollte. Jacobsohn selbst plan­te, Mitherausgeber dieser „Deutschen Montagszeitung“ zu sein – und somit Einfluss auf den Inhalt des Blattes zu haben. Doch noch vor der dritten Ausgabe trat er in dieser Funktion zurück, „weil mich die Politik anekelt, die nicht bloß unmöglich ist, sondern auch mit ungewöhnlicher Unfähigkeit, Planlosigkeit und Charakterlosigkeit ge­macht wird.“

Siegfried Jacobsohn 1926 Quelle: Stefanie Oswalt, die Weltbühne

Ganz allmählich heißt dann aber auch: Angeregt durch Intellektuelle Kreise wehrte er sich gegen die spießige, militaristische, selbstherrliche und geistige Enge des Kaiserreiches und bezog er immerhin Stellung in der Schaubühne:

„… Man sehe im „Weltspiegel“ den Dom von 1888 neben dem Dom von 1913 – und man weiß, was die Kunst diesem Kaiser verdankt. Nichts. Heer und Marine haben sich durch ihn entwickelt; Sport und Ver­kehrswesen mit ihm; Handel, Technik und Wissenschaft ohne ihn; die Künste gegen ihn. War es anders möglich? Des Kaisers eigene Kunstschöpfungen sind so belanglos, daß sie kaum zeigen, was er ausdrücken will. (…) Wer vor die Kunst tritt wie Wilhelm der Zweite, in voller Waffenzier, helmbuschumflattert, sporenklirrend, den Marschallstab in der Faust: der muss die Kunstwerke schätzen, die prunk­haft, schön, leichtverständlich, repräsentativ und wundervoll unbekümmert darum sind, daß vaterlandslose Gesellen ihnen Ekelnamen wie Stuck, Gschnas und Kitsch nachrufen werden. (…) Die wilhelmi­nische Epoche hat sich in einer Kunst ausgeprägt, die gar keinen an­dern als einen durchaus dekorativen, ornamentalen, pathosfreudigen attrappenhaften Charakter haben konnte. Es ist die Kunst eines Man­nes, der seine Widersacher „zerschmettert“, wenn auch nur mit dem Munde; der eine Verfassung „in Scherben zu schlagen“ droht, aber das Recht dazu niemals erwerben wird; der sein Volk „herrlichen Zeiten“ entgegengeführt hat, ohne daß das Volk es je gemerkt hätte.“

In der Zeitschrift „Zeit im Bild“ kritisiert daher Kurt Tucholsky 1913: Jacobsohns einziger Fehler besteht darin, dass er das Theater überschätze und sich selbst unterschätze: „Denn wenn der erst einmal (wie Harden) vom Theater los und zur Politik und Kultur kommt – dann gnade Euch Gott!“

Auch als der I. Weltkrieg ausbrach, kommen ihm Zweifel ob seiner Haltung, er schreibt im Sommer 1915:

„… als der Krieg losbrach, (habe ich) einen furchtbaren Schreck ge­kriegt und mich noch heute nicht davon erholt. Ich habe mir täglich vorgeworfen, daß ich die vierundzwanzig oder dreißig Seiten, die mir seit zehn Jahren jede Woche zur Verfügung stehen, nicht längst richtig genutzt habe – trotzdem ich schon früher manchmal schwankend geworden war. Es hatte seinen Reiz und seine Notwendigkeit für das Theater zu sorgen; aber es war falsch, für das Theater allein zu sor­gen, das kaum gelitten hätte, wenn die Hälfte jedes Heftes den übri­gen Dingen, die unser Leben ausmachen zu gute gekommen wäre. Grade von der unbegrenzten Unabhängigkeit meines Blattes hätten Gebiete profitieren müssen, die ärgern Nachteil als das Theater da­von haben, daß an so vielen Stellen die Rücksicht auf Abonnenten und Inserenten regiert.“

Über den Wandel seiner eigenen Einstellung und den Wandel von der „Schaubühne“ zur „Weltbühne“ schreibt Stefanie Oswalt dann:

„… Schon während des Krieges hatte Jacobsohn in einer „Antwort“ aus­führlich zu dem verwandelten inhaltlichen Charakter der Zeitschrift Stellung bezogen, ohne allerdings den Namenswechsel anzudeuten. Zwar hing er nach wie vor am Theater und bedauerte es, keine Theater­fachzeitschrift mehr zu publizieren, aber er hielt andere Themen nun für wichtiger: Zwar schmeichele ihm, wie sehr die alte „Schaubühne“ vermisst werde, aber „mir ist Mazedonien zu klein geworden. Es ist auf allen Gebieten so viel meinem Grimme reif, daß ichs nicht mehr aushalte, mit zwei Scheuklappen vor den Rampenlichtern zu sitzen. Kurz: Ich forme das Blatt, das mir vorschwebt und nicht, das ihr ha­ben wollt. Neben meinem Blatt die alte „Schaubühne“ wieder erstehen zu lassen, bin ich gar nicht abgeneigt. Ich sehe die Lücke, die ich verschuldet habe.

Die Umbenennung des Blattes fiel in eine Zeit, die erneut von einer Zuspitzung der Krise in der deutschen Innenpolitik geprägt war. Nach der russischen Oktoberrevolution von 1917 stellte sich konkreter als je zuvor die Frage nach einer Weiterführung des Krieges und der Ein­führung des parlamentarischens Systems in Deutschland. Im Januar 1918 begannen in Brest-Litowsk die Verhandlungen über einen Sepa­ratfrieden – eine Entwicklung, die auf die innenpolitische Lage in Deutschland rekurrierte: in Berlin kam es zu Massenstreiks, die aller­dings niedergeschlagen wurden. (…) Immer deutlicher drängten nun auch im Blatt die politischen Stellungnahmen auf eine Beendigung des Krieges und auf die Umsetzung innenpolitischer Reformen, ohne dass allerdings radikale Maßnahmen wie Streik oder Revolution pro­pagiert wurden. (…)

Am 4. April 1918 schließlich trug der Herausgeber der inhaltlichen Änderung seines Blattes mit einer Namensänderung Rechnung. Fort­an erschienen die roten Hefte unter dem Titel „Die Weltbühne. Wo­chenschrift für Politik, Kunst, Wirtschaft“. Kein Kommentar begleitete diese Umbenennung.“

Wikipedia schreibt zu seinem „Gesinnungswandel“:

„… Politisch näherte er sich schon gegen Ende des Ersten Weltkriegs mehr und mehr den Positionen der USPD. Im Jahr 1918 engagierte er sich für kurze Zeit in Hillers „Rat geistiger Arbeiter“, verließ ihn aber bald, weil ihm die Redaktionsarbeit für die „Weltbühne“ wichtiger erschien, er auch von Parteien nicht vereinnahmt werden wollte und ihm doktrinäre Positionen grundsätzlich zuwider waren. Er zeigte keine Berührungsängste vor gesellschaftlichen Kontakten etwa mit Oskar von Hindenburg, worüber er Tucholsky ironisch nach Paris berichtete.

Als dieser seine publizistische Polemik gegen Reichspräsident Ebert, den angeblichen „Verräter seiner Klasse“, ins Maßlose steigerte, ermahnte ihn Jacobsohn mit prophetischen Worten im November 1924:

Laß endlich den Ebert in Ruhe! Erstens wirst Du Dich von seinem Nachfolger bitter nach ihm zurücksehnen. Zweitens ist Körperumfang kein Argument. Drittens möchte ich mal erleben, was Du sagen würdest, wenn ein deutschnationaler Abgeordneter ein deutschnationaler Reichspräsident wäre (…) Viertens hat er in zähem Kampf die Auflösung des Reichstags erreicht, und das bedeutet, daß ich Dir weiter erhalten bleibe und Gehalt zahle, während Du bei einer neuen Rechtsregierung mich und Dein Geld hättest im Massengrab suchen können.“

„Ich bin, als hätte ich mich zwanzig Jahre für Sie aufgespart“, schrieb 1915 Siegfried Jacobsohn in einem seiner ersten Briefe an Edith Schiffer, die er wenige Wochen später heiratete.

Edith Jacobsohn Quelle: Stefanie Oswalt, die Weltbühne

Stefanie Oswalt:

„… Das wird kaum wörtlich gemeint sein – Peter Jacobsohn erinnert sich, sein Vater sei ein „homme ä femmes“ gewesen, ein charmanter Herzensbrecher, der trotz seines kleinen Körperwuchses von den Frauen umschwärmt wurde. Doch wer im Leben Siegfried Jacobsohns vor 1915 nach privaten Bezie­hungen, Freundschaften, gar Liebesbeziehungen oder bloßen Äuße­rungen über bekannte oder befreundete Frauen sucht, wird enttäuscht. Zwar gibt es zahlreiche Bemerkungen über Schauspielerinnen, aber nichts deutet auf einen privaten Umgang Jacobsohns mit Frauen – sieht man von einigen sehr allgemeinen, beiläufigen Bemerkungen in den frühen Briefen ab, in denen er von den netten Ferienbekannt­schaften schwärmte. (…)

Erst sechs Jahre später aber konnte der eingefleischte Junggeselle SJ. Julius Bab, immerhin seit seiner Jugend einer der eng­sten Vertrauten, seine bevorstehende Hochzeit mitteilen: „Sie erfah­ren wahrscheinlich nicht von mir zum ersten Mal, daß ich morgen Edith Schiffer in matrimonium duco.“ (…)

Edith Schiffer und Siegfried Jacobsohn waren ein besonderes Paar – schon allein im optischen Sinn, wie Fotos der beiden dokumentieren: Siegfried Jacobsohn ein kleiner, dunkler, aufrechter, schlanker Mann, mit einer dichten schwarzen Lockenmähne. Seine Frau Edith fast ei­nen Kopf größer und deutlich kräftiger, nicht unbedingt eine Schön­heit, aber eine ungewöhnliche Erscheinung mit blondem Haar und ausgeprägten Gesichtszügen. Bilder aus späteren Jahren zeigen sie mit Kurzhaarschnitt und Monokel. Auf anderen Fotos kleidet sie sich sehr maskulin und raucht Zigarren. Edith Schiffer war eine passio­nierte Reiterin und besaß selbst sogar Reitpferde; sie spielte Tennis und – skandalös in der damaligen Zeit – sie fuhr leidenschaftlich ger­ne Auto.

Die Ehe bedeutete endlich auch eine eigene Familie, Am 3. September 1916 wurde Sohn Peter Max Wilhelm gebo­ren – der Kindernarr Jacobsohn schreibt an Fritz Mauthner:

„… ihre willkommene Entgegnung traf zusammen mit einem sieben-pfündigen Sonntagsjungen. Sie werden also vergeben, daß ich die fer­tige Sonntagsnummer nicht umschmiß, um Sie noch hineinzunehmen. Technisch wäre es möglich gewesen, aber ich brauchte das trockene Auge für meinen fälligen Theaterartikel, das nasse für Peter Wilhelm Jacobsohn und seine Mutter. Ich, vor fast sechsunddreißig Jahren, wog dreieinhalb Pfund, so daß ich mir schmeichele, die Rasse empor­gepflanzt zu haben. Ein Prachtbengel, mit roten Backen, lebendigen schwarzen Augen, einer verblüffenden Stirn und Händen, die jetzt schon größer sind als meine.“

Zur Hausfrau war die frisch gebackene Ehefrau nicht geeignet und auch der Ehemann sah in ihr nicht eine solche sondern eine Partnerin, die einem eigen­ständigen Beruf nachging. Nahe lag, dass auch sie eigene schriftstellerische, journalistische und verlegerische Talente entwickelte.

Stefanie Oswalt zählt diese auf:

„… Für das Satiremagazin „Ulk“ und das Monats­magazin „UHU“ verfasste Edith Jacobsohn kleinere Beiträge, später pu­blizierte sie auch in der „Weltbühne“

Mit ihrer Freundin Edith Williams, die nach dem ersten Weltkrieg für die britische Verwaltung im Ruhrgebiet arbeitete, gründete Edith Jacobsohn zunächst eine Übersetzungsagentur und im April 1924 den Williams-Verlag, den sie in den kommenden Jahren zu einem erfolgreichen Kinder- und Jugendbuchverlag aufbaute.

Hugh Lofting Quelle: Wikipedia

Viele der Titel, die Edith Jacobsohn da­mals in England entdeckte und für den deutschen Kinderbuchmarkt übersetzte und verlegte, sind noch heute bekannt und beliebt, so u.a. die Serie der „Doktor Doolittle“-Bücher von Hugh Lofting und Alan A. Milnes Bildergeschichte „Pu der Bär“.

Auch am Erfolg des spä­teren Bestseller-Autors Erich Kästner war Edith Jacobsohn maßgeb­lich beteiligt: 1930 erschien Kästners Kinder-Krimi „Emil und die Detektive“ mit Illustrationen von Walter Trier und von „Pünktchen und Anton“ wurden im Erscheinungsjahr 1931 sechs Auflagen ver­kauft.“

Erich Kästner 1961 Quelle: Wikipedia

Mit der Namensänderung ändert sich dann auch endlich die Ausrichtung des „Blättchens“, Wikipedia schreibt:

„… Im April 1918 benannte er sie in „Die Weltbühne“ um und entwickelte sie zu einem über Deutschland hinaus bekannten pazifistischen Forum der politischen Linken. Mit der Neuausrichtung änderte sich allmählich auch das Mitarbeiterprofil. Polgar und Tucholsky gehörten weiterhin zum engen Kreis der Autoren. Hinzu kamen u. a. der politische Publizist Kurt Hiller (ab 1915), der Nationalökonom Alfons Goldschmidt (ab 1917), der satirische Schriftsteller Hans Reimann (ab 1917), der Mitgründer der Deutschen Friedensgesellschaft Otto Lehmann-Rußbüldt (ab 1918), der sozialdemokratische Politiker Heinrich Ströbel (1919/20), der Kunstkritiker Adolf Behne (ab 1920), der Schriftsteller Walter Mehring (ab 1920), der Wirtschaftsjournalist Richard Lewinsohn (ab 1921), der Publizist Friedrich Sieburg (ab 1921) und der politische Redakteur Carl von Ossietzky (ab 1926).

Friedrich Sieburg

Das Ende des Krieges erlebt Jakobsohn diesmal in der Hauptstadt und sehr bewusst, „Meine Lieben: Jetzt muss man wirklich Politik machen!“

In der Weltbühne schreibt er in seinem Beitrag „Kaiser und Kunst“ in der Nummer vom 14. November aus Anlass der Abdankung des Kaisers:

„… Dem verblichenen Deutschland nicht eine Träne. Sein Geruch war Mord; und größer als seine Brutalität war nur seine Dummheit.“

Und weiter:

„… Zu glauben, daß die Welt sich drei solche Verbrechen wie den Ein­bruch in Belgien, den U-Boot-Krieg und den Brester Frieden gefallen lassen dürfte und würde – Das zu glauben, war eine Sache von verpe­steten Kleingehirnen, deren vollständige Vernichtung jedem Versuch zum Wiederaufbau voranzugehen hatte. Daß diese Vernichtung so jäh erfolgen konnte, ist nicht überraschend: Die Selbstvernichtung hatte sich erfreulich weit vorgearbeitet. Das System Hohenzollern war überreif.“

Und im gleichen Heft:

„… Welches Unheil die Re­volution bringen wird, ist vorderhand nicht abzuschätzen. Erkennbarer ist das Heil, das sie bringt.“

Dem Umbruch kann sich Jacobsohn nicht entziehen. Der jahrelang gemäßigte und die Ruhe bewahrende, der selten kritische Töne geäußert hatte, war voller Tatendrang. „Jetzt saß er nicht mehr nur in seiner Redaktion, sondern beob­achtete das revolutionäre Treiben auf der Straße. Vier Wochen lang fand er nicht die Zeit, Theaterkritiken zu verfassen. Überwältigt von den Veränderungen versuchte er in dieser Zeit zum ersten und letzten Mal, sich aktiv an der Neugestaltung der Politik beteiligen“, schreibt Stefanie Oswalt.

Und nochmal Oswalt:

„… Am deutlichsten dokumentiert ist seine Mitarbeit beim sogenannten „Rat geistiger Arbeiter.“ Auf Betreiben von Kurt Hiller ging dieser Bund aus Mitarbeitern und Sympathisanten der Redaktion „Das Ziel. Jahrbücher für geistige Politik“ hervor, die Hiller seit 1917 herausgab. In seinen Erinnerungen schildert er den Rat als „die völlig private Gründung linker Intellektueller, (…) die der etwas hilflosen Revolu­tion, der zumal auf kulturellem Gebiet völlig hilflosen Revolution einige Ideen beibiegen wollten. (…)

Jacobsohn hatte sich nach einigem Zögern zur Mitarbeit entschlos­sen. Am 7. und 8. November tagten die Sympathisanten im Berliner Nollendorf-Kasino, unter ihnen auch S.J.: „Ich ging also zu euch (…) und hörte und sah mir euch an. Lauter glühende, reine junge Men­schen, einer immer noch radikaler als der andre, die typischen Fanati­ker der Idee. Ob auch der Tat? Das musste sich erweisen.“ Jedenfalls stellte Jacobsohn die „Weltbühne“ zur Veröffentlichung des Programms zur Verfügung.“

Jacobsohn als Soldat mit Ehefrau Edith Quelle: Stefanie Oswalt, die Weltbühne

Und so erscheinen im Heft vom 21. November 1918 7 Punkte des Programms. Sehr spartakistisch und pazifistisch ausgeprägt verlangte der Rat den Kampf gegen die Knechtung der Gesamtheit des Volkes durch den Kriegsdienst und gegen die Unterdrückung der Arbeiter durch das kapitalistische System, umfangreiche Veränderungen in allen Spar­ten des gesellschaftlichen und politischen Lebens: u.a. die „Abschaffung der Wehrpflicht in allen Ländern und das Verbot aller militäri­scher Einrichtungen. Verkürzung der Arbeitszeit, Abschaffung der Todesstrafe und die öffentliche Erziehung müsse „radikal reformiert“ werden.

Welch eine Freude über diese Voraussicht, der Rat verlangt einen Paragraphen, der zur Lockerung der prüden Moral des Kaiserreiches beitragen sollte: So gebühre dem einzelnen die „Freiheit des Geschlechtslebens in den Grenzen der Verpflich­tung, den Willen Widerstrebender zu achten und die Unerfahrenheit Jugendlicher zu schützen.“

Und noch einen drauf gesetzt: Gleichzeitig wurde die „rechtliche und gesellschaftliche Gleichstellung“ der unehelichen Kinder und Mütter mit den ehelichen gefordert.

Siegfried Jakobsohn war „Zeitungsmann“, diese Form des Rates kannte er nicht und diese Diskussionen, kleinlich und beamtenmäßig uferten in einen „Debattierklub“ aus. „Der Unterschied zwischen mir und den meisten dieser sympathischen Menschen von löblichstem Willen war keineswegs unerheblich: ich hatte eine Nebenbeschäftigung“ und zieht sich aus dem Rat zurück.

Die restlichen Tage des Jahres 1918 nach dem Waffenstillstand im Wald von Compiègne am 11. November 1918 und die Wintermonate 1919 „schreien“ geradezu nach politischer Betätigung. Demonstrationen, Massenaufläufe und bürgerkriegsähnliche Zustände, von der Front zurückkehrenden Truppen, täglich Ansprachen aus allen politischen Lagern, wobei das rechte Lager bereits begann, die junge Republik zu bekämpfen, sie brauchen Berichterstattung.

Die Reaktion der „Linken“, „am 1. Januar 1919 gründeten die Spartakisten und andere linkssozialistische Gruppen aus dem ganzen Reich die KPD. Diese nahm Rosa Luxemburgs Spartakusprogramm kaum verändert als Parteiprogramm an“, schreibt Wikipedia. Und der Höhepunkt diese Wochen, am 15. Januar 1919 werden Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht festgenommen, stundenlang verhört und auf Geheiß des Hauptmanns Waldemar Pabst ermordet.

Waldemar Pabst Quelle: http://www.die-linke-weissenburg.de/politik/presse/detail/zurueck/geschichte/artikel/pabst-lacht-schallend/

In der „Weltbühne“ erschienen Nachrufe von Ar­nold Zweig und Kurt Tucholsky auf diese Morde und Stefanie Oswalt schreibt über die Reaktionen des Blattes, bzw. von Jakobssohn:

„… machte Jacobsohn immer wieder deutlich, dass er zwar auch im Kapitalismus große gesellschaftliche und soziale Ge­fahren erkannte; gleichzeitig sprach er sich aber gegen die Ausrufung einer Räterepublik aus. Außerdem formulierte Jacobsohn in den kommenden Monaten seine neuen Zielsetzungen. Für den Menschen gebe es überhaupt nur einen Daseinszweck, nämlich den Krieg aus der Welt zu schaffen. Die Verhinderung von Krieg und Gewalt be­zog er dabei allerdings auch auf die Revolutionäre – wenngleich er das größere Übel deutlich den konservativen Kräften zuordnete. An­gesichts von plündernden Gruppen in Lichtenberg kam er zu dem Schluss: „Wie dem auch sei: wir lehnen mit Rowdys jeden Zusammenhang ab und widerraten durchaus der Gewalt. Sie war zu vermei­den, indem man die berechtigten Forderungen der Aufrührer (…) rechtzeitig prüfte und nach Möglichkeit zu erfüllen suchte. Macht Ernst mit der verheißenen Erneuerung und werft das Gerumpel zum Tempel hinaus! Das allein ist Revolution.“

An anderer Stelle schreibt er, man müsse verhindern, dass die Todfeinde der Republik wieder ans Ruder kommen und er fügt an, wie er dabei seine eigene Arbeit sieht: „so glaube ich, daß wir umlernen müssen. „Politisch wie national höchst gefährlich“ ist nur eins: Die Unwahrheit zu sagen oder die Wahrheit zu verschweigen. Soweit nun Deutschland am Kriege schuld hat, ist es geboten, das einzugestehen, ganz gleich, ob es uns schadet oder nicht. In einem höhern Sinne und auf längere geschichtliche Zeit­räume gesehen, wird es uns nützen.“

„Zentrum“ von Jacobsohns Bemühen wird die Auseinander­setzung mit dem Militarismus: „Häufig brachte er Beiträge, die sich mit dem deutschen Militär und seinen geistigen Grundlagen in Vergangenheit und Gegenwart, individuell und als Gruppenphänomen, beschäftigten. Bis zu zehn Seiten räumte er Autoren wie Tucholsky in einer Nummer ein, um minutiös die Geschichte des Krieges aufzu­arbeiten“, schreibt Stefanie Oswalt.

Else Lasker-Schüler als Prince Yussuf Quelle: Wikipedia

Zum „Repertoire der „Weltbühne“ gehörte aber nach wie vor seine Theaterkritik, auf die er nicht verzichten wollte. Und in diesen Monaten erwächst ihm nach eigenem Bekunden die Aufgabe, auf individuelle Schicksa­le hinzuweisen und Hilfsmaßnahmen einzuleiten. Die „Weltbühne“ veröffentlicht Spendenaufrufe für die Witwe Kurt Eisners, die Dich­terin Else Lasker-Schüler und die blinde Tänzerin Betty Wassermann, um nur einige zu nennen.

Mit dem Titel „Erfolg und Wirkung: Die Aufdeckung der Fememorde“ beginnt Stefanie Oswalt ein Kapitel, dass auch mir sehr wichtig ist. Jakobsohn schreibt dazu;

„… Ich glaube fest, daß in den Sternen steht, wann ich krepiere und auf welche Art, und ich habe seit Jahren das Gefühl, daß ich nicht älter als vierzig werde. Wenn‘s anfinge, würde ich, wie im März 1920, in ein Nachbarhaus gehen. Kriegen sie mich da, so soll es wohl sein“.

Diese Worte zeigen, er ist sich der persönlichen Gefahren, die ihm drohen, durchaus bewusst, wenn er ab 1919 „die militaristischen und nationalis­tischen Eliten“ in seinem „Blättchen“ attackiert. Die Antwort darauf, die konservative Presse bezeichnet ihn als „Wetterfahne“, „Konjunkturfritze“ und „Strichjunge“.

Umschlag von Hans Paasches bekanntestem Buch mit einem Foto des Autors

Die Morde der 20er Jahre zählt Stefanie Oswalt auf – am 13. März 1920 der „Kapp-Putsch“. Zuvor, im Frühjahr 1920 wurde der Pazifist Hans Paasche von Reichswehrangehörigen erschossen, am 10. Juni 1921 der bayerische USPD-Abgeordnete Karl Gareis, am 26. August 1921 wurde Matthias Erzberger in Bad Gries­bach ermordet. Im Sommer 1922 scheiterte ein Blausäure-Anschlag auf Philipp Scheidemann. Außenminister Walther Rathenau wurde von Angehörigen der „Organisation Consul“ am 24. Juni 1922 ermordet und am 3. Juli unternahmen zwei aus dem Umfeld der gleichen Organisation stammende Männer einen antisemitisch motivierten Attentatsversuch auf Maximilian Harden. Harden wur­de schwer am Kopf verletzt.

Einer liberaleren und demokratischeren Entwicklung der Weimarer Republik stand 1925 ein weiterer innenpolitischer Rechtsruck gegenüber. Im entscheidenden zweiten Wahlgang wurde am 26. April 1925 Paul von Hindenburg – für den antirepublikanischen „Reichsblock“ kandidierend – zum Reichspräsidenten gewählt und er übte dieses Amt bis zu seinem Tod am 2. August 1934 aus. „Idol preußischer Mannheit“ nennt Stefanie Oswalt den betagten Generalfeldmarschall. Für den auch die Anhänger Hitlers gestimmt hatten.

Die konservative Kreuzzeitung – ein richtungsweisendes Organ der konservativen Oberschicht notierte:

„Wir haben zwar keinen Kaiser mehr, der Repräsentant des deutschen Volkes ist aber nicht mehr identisch mit dem Repräsentanten der Revolution im November 1918. Es steht vielmehr ein Führer an der Spitze des Reiches, der, hervorgewachsen aus preußisch-deutscher Geschichte, sie verkörpernd und bewahrend, in eine bessere Zukunft weist.“

Theodor Wolff (1913) Quelle: Wikipedia

Und Theodor Wolff titelte im „Berliner Tageblatt“ vom 27. April 1925: „Landbündler und Offiziersbündler lassen heute Sektpfropfen knallen wie nach der Ermordung Rathenaus. Was soll man mit einem Volke anfangen, das aus seinem Unglück nichts gelernt hat und sich immer wieder, auch zum zehnten oder zwölften Male, von den gleichen Leuten am Halfterbande führen lässt?“

Jacobsohn’s Reaktion – sarkastisch und er meint – im Gegensatz zu Tu­cholsky – dass die Wahl Hindenburgs „nicht der Anfang vom Ende“ sei, sondern dass wohl alles beim Alten bleibe. „Wie sollte denn ei­gentlich auch die deutsche Justiz-, Verwaltungs-, Schul- und Militär-Schande der letzten Jahre zu überbieten sein?“

Stefanie Oswalt:

„… Aus mehreren Äu­ßerungen dieser Wochen und Monate spricht aber seine Beunruhigung und auch eine gewisse Müdigkeit. Da war vom „fehlenden Mumm“ die Rede (…) da erwähnte er, dass die Wahl Hindenburgs zwar den Absatz der „Weltbühne“ deut­lich erhöht habe und deutete das gleich als negatives Zeichen (…) Weiter klagte er über mangelnde Kampfeslust und „immer neue Enttäuschungen“ und sprach sogar mehrmals davon, Deutschland zu verlassen.“

Große Vorbereitungen hat er dazu allerdings nicht getroffen, sondern entschied sich wieder einmal für die „Flucht nach vorn“ und gemeint war damit der Abdruck über die Hin­tergründe und Drahtzieher der Fememorde. Über den „Artikel von ungeheurer Wichtigkeit“ erfuhr vorab niemand und gemeint war mit diesem der am 18. Au­gust in der „Weltbühne“ anonym veröffentlichte zwanzigseitige Bericht Carl Mertens über „Die Vaterländischen Verbände.“

Truppenausweis von Carl Mertens

Das besondere an ihm war, dass Carl Mertens, deutscher Offizier, Journalist und radikaler Pazifist die „vaterländische Sze­ne“ von innen kannte, da er selbst einem Vaterländischen Verband angehört hatte.

In wöchentlichen Beiträgen beschrieb Mertens diese Gruppen, warnte vor ihrer rechtsradikalen Gesinnung, nannte ihre Geld­geber und die Verbindungen zur „Reichswehr“ und zur so genannten „Schwarzen Reichswehr“, also Truppenstärke, genauen Ausrüstung und Lokalisierung bei den einzelnen Reichswehr-Verbän­den.

Im November 1925 bezeichnete er die beteiligten Offiziere als „Spit­zel“ oder „Fememörder“. Eine Woche griff Mertens die beteiligten Regierungsbehörden an: „Die Fememorde, die unbedingt in einem tatsächlichen Zusammen­hang mit dem Hochverrat der Schwarzen Reichswehr gestanden ha­ben, müssen endlich gesühnt werden, und das ist schnell und zuver­lässig nur von dem Staatsgerichtshof möglich. Oder fürchtet unsre republikanische Regierung, bei einer solchen Verhandlung feststellen zu müssen, daß maßgebende Persönlichkeiten und ganze Behörden mit strafbar sind? Fürchtet sie, daß der Hochverrat von 1923 im Wehrkreis III neu aufgerollt werden muss? Fürchtet sie sich vor der Ver­antwortung?“

Siegfried Jacobsohn + Richard Leopold 1901 Quelle: Stefanie Oswalt, die Weltbühne

Für Jacobsohn noch nicht genug und so veröffentlicht er in der folgenden Woche die einzelnen Morde.

Stefanie Oswalt:

„… Aus der beigefügten Übersicht wurde deutlich, dass bis auf geringe Ausnahmen alle Verfahren noch immer in der Schwebe wa­ren, zahlreiche des Mordes oder der Anstiftung zum Mord Verurteil­ten sich aber noch immer in Freiheit befanden, obwohl ihre Namen längst bekannt waren. Die Publikation dieser Information war ein mutiger Vorstoß, mit der Mertens und Jacobsohn die Öffentlichkeit herausforderten: Denn auf die Beschuldigungen musste eine Reakti­on erfolgen. Reagierten die Angeklagten nicht, gestanden sie damit die Richtigkeit der Aussage ein. Reagierten sie mit Verleumdungs­klagen, musste die Angelegenheit gerichtlich untersucht werden. Und in jedem Fall sahen sich Justiz und Polizei gezwungen, der öffentlichen Forderung nach Aufklärung der Fälle nachzugeben.“

Und weiter:

„… Tatsächlich waren die Reaktionen auf Mertens Enthüllungen enorm: Nicht nur die kommunistische Presse interessierte sich dafür – auch die bürgerlich-demokratische Presse, das „Berliner Tageblatt“, die „Vossische Zeitung“, die „Frankfurter Zeitung“ knüpften an das Thema an, was wiederum Mitwisser und Informanten zu weiteren Enthüllungen inspirierte. Die Berliner Polizei richtete am 1. Oktober 1925 ein besonders Femedezernat ein, und seit Anfang 1926 fahndete die Polizei mit Zeitungsartikeln und Plakataushängen an Litfaßsäulen nach den flüchtigen Tätern. Dank der öffentlichen Anteilnahme kam es nun zu Verhaftungen, Reichstag und preußischer Landtag setzten Untersuchungsausschüsse ein und zahlreiche Fälle konnten aufgeklärt werden, Gesamtzusammenhänge und Teilaspekte der Fememorde wurden diskutiert. Gesellschaftlich, politisch und publizistisch stand Jacobsohn auf dem Höhepunkt seiner Karriere. (…) Stolz bekannte sich Jacobsohn zu seinem Erfolg: Er hatte mit seiner Zeitschrift nachweislich Wichtiges bewirkt: „Und wenn ich nichts getan hätte als die Aufdeckung der Fememorde, so wäre mir das genug…“

„Seiner Arbeit ging Jacobsohn mit der ihm eigenen Lebensfreude nach“, schreibt Stefanie Oswalt“. Nirgends wird das deutlicher als in der Theaternummer der Zeitschrift „Querschnitt“, für die S.J. 1926 einen heiteren Beitrag lieferte, in dem er selbstironisch seinen atemlosen Tageslauf schilderte:

„Draußen höre ich furchtbaren Krach schlagen: ein Abonnent schreit, er bekäme das Blatt nicht pünktlich und fände außerdem, daß es in der letzten Zeit ungeheuer nachgelassen habe. Als er weg ist, stellt sich heraus, daß es ein Freiabonnent ist. Eil- und Drohbrief eines völ­kischen Verbandes; zwei orthographische und drei grammatikalische Fehler, aber untadelige Gesinnung. (…) Das Telephon. Das Personal. Der Postbote. Ein Beamter vom Wohnungsamt: ob hier Herr Dr. Tucholsky wohne. Ich sage, diesen Namen hätte ich nie gehört. Das Telephon. Die Steuer. Der Hauswirt, „wejen die Kohlen“. Das Perso­nal. Die Druckerei fragt an, ob es im Manuskript wörtlich heißen sol­le: „Die unabhängigen deutschen Richten, oder ob das ein Schreib­fehler sei. Dann erscheint ein Abgesandter der Sowjetregierung und zahlt mir mein Monatliches, das nie ausbleibt. Dann die französische Regierung. Dann die englische. Jedesmal schließe ich sorgfältig die Tür, damit wir ganz unter uns sind. Schließlich – es ist Sieben gewor­den – klebe ich meine Briefe zu, frankiere sie, zahle der Angestellten, die das tun müßte, ihr Salär, sezte mir den Hut auf und gehe zu „Figaros Hochzeit“

Der enge, persönliche Kontakt zu seinen Mitarbeitern und Autoren, den Jacobsohn in „Mein Tageslauf“ darstellt, ist auch von diesen viel­fach gerühmt worden, so wenigstens Stefanie Oswalt. Aber einen Eindruck kann man schon bekommen. Marcel Reich-Ranicki hat bei Jacobsohn einen einzigarti­gen pädagogischen Eros konstatiert, er schreibt: „Er konnte als Lehrmeister möglicherweise deshalb so viel erreichen, weil er wie kaum ein ande­rer Verständnis hatte für die Egozentrik, die Selbstsucht des Schrei­benden.“

Rudolf Olden Pressekarte

Jacobsohn’s „Entdeckerleidenschaft“ würdigte Rudolf Olden in seinem Nachruf: „Wenn man Siegfried Jacobsohn vorwurfsvoll fragte, warum denn von ihm selbst so wenig in seiner Wochenschrift zu lesen sei, dann sagte er lachend – mit diesem hellen, jungenhaften Lachen, das wie eine Fan­fare klang – es sei ihm viel wichtiger, zu redigieren. Die vorbildliche Beherrschung des deutschen Ausdrucks diente also, von Jahr zu Jahr mehr, dazu, die Artikel der Mitarbeiter zu korrigieren. Ein langer Arbeitstag, und deren gab es 365 im Jahr, wurde darauf verwendet, Manuskripte von Mitarbeitern zu lesen und zu verbessern, restlos alle Zeitungen, die erschienen, zu lesen und in ihnen neue Mitarbeiter zu finden, die neu gefundenen anzuregen, und wieder ihre Manuskripte zu überarbeiten.“

 Durch Jacobsohn fanden zahlreiche Schriftsteller erst zu ihrer Ausdruckskraft – sofern er in ihnen ein Talent erkannt hatte, das er für förderungswürdig hielt. Wenn nicht, drohte den Autoren auch eisige Ablehnung:

„Niemand zwingt mich, die Einsendungen aller Art, die ich seit Be­gründung meines Blattes (…) in ungeheurer Fülle überall her erhalte, auch nur zu lesen, geschweige denn mit Antwort zurückzuschicken. Trotzdem ists keine Übertreibung, wenn ich sage, daß ich seit zehn Jahren, in leichtsinnigster Verschwendung meiner Kräfte, täglich – selbst mitten in der Theatersaison, selbst in Zeiten der Krankheit, selbst in den Ferien – drei Stunden an die Siebung Eurer Makulatur setze. Vielleicht ist doch einmal ein Talent darunter, das die ganze Mühe lohnt. Wo ich die winzigsten Spuren sehe, ermutige ich, empfehle ich, helfe ich in jeder Weise. Aber daß ich mich da, wo ich keinen Hauch entdecke, ängstlich hüten soll, das zarte Seelchen des vernachlässig­ten Geschöpfs zu verletzen, daß ich den Ausdruck des gerechten Ta­dels peinlich wägen soll, daß ich also noch mehr Zeit vergeuden soll: das geht zu weit. Mir scheint im Gegenteil, nötig, einem hoffnungslo­sen Schmierfinken bei dem ersten Versuch eines Schritts an die Öf­fentlichkeit durch äußerste Grobheit einen Begriff von den Freuden der literarischen Laufbahn zu geben und ihn dadurch vielleicht für immer abzuschrecken.“

Alfred Polgar

Ein besonderes Verhältnis hat Jacobsohn zu zwei seiner „Mitarbeiter“, zu Kurt Tucholsky und zu Alfred Polgar. Letzteren „entdeckte“ er schon sehr früh, nämlich 1904 und warb ihn für die Mitarbeit an der „Schau­bühne“.

„Das ist ein wunderbarer Kerl, als Mensch wie als Schriftstel­ler. Ein zersplissener, hypersensitiver Kunstempfinder, von einer Morbidezza des Wesens, das mich bestrickt, und einer dichtergleichen Kraft, die verschwebendsten Nuancen einzufangen. Wenn ein Stilist dieses Ranges ein Jahr in Berlin sitzt, ist er eine deutsche Berühmt­heit. Hier kennen ihn zehn Literaten, so wenig wie Willi Handl werd‘ ich diesen Polgar jemals aus den Augen verlieren.“

„Mehr als 600 Beiträge hat Polgar für Jacobsohn verfasst, meistens Theaterberichte aus Wien, wo er bis 1918 auch lebte. Jacobsohn schätzte Polgars Feuille­tons, seinen leichten Stil. Auch Kurt Tucholsky gegenüber machte er aus seiner Verehrung für den Feuilletonisten keinen Hehl. Polgar hat die Bedeutung Jacobsohns für seine schriftstellerische Tätigkeit offenherzig zugegeben und er hat die feinen Mechanismen beschrie­ben, mit denen Jacobsohn vor allem in seinen Briefen – und meistens verkehrte er mit seinen Autoren ja schriftlich – eine persönliche Bin­dung herstellte“, schreibt Stafanie Oswalt.

Und Polgar beschreibt dieses Verhältnis mit den Sätzen:

„… Charakteristisch (…) war der Ton seiner Briefe, die Art des Fragens und Antwortens, die ganze äußre und innre Technik der Korrespon­denz, das ungewollt Persönliche. Auch aus den sachlichen, ge­schäftsmäßigen Briefen blinzelte, versteckt aus einer Wendung, in Ansprache oder Gruß, was Freundliches heraus, das andeutete: Un­ser Geschäft ist doch nicht nur Geschäft. Einen gleichgültigen Brief habe ich in all den zwanzig Jahren von Jacobsohn nicht bekom­men. Zumindest ein Scherzwort, ein absichtlich übertriebener Ausdruck, eine Spur Liebeserklärung durchwärmte den Text. Er verwöhn­te, wen er gern hatte, mit Anerkennung und Zuspruch, und empfand Unrecht, das dem Freund widerfuhr stärker (und auf Sühne erpich­ter) als jener selbst. Er injizierte seinen Helfern förmlich Selbst­vertrauen und Arbeitslust. Ich, dem die eigene Schreiberei manch­mal Vergnügen, hinterher aber immer Beschämung ist und Qual ob der Unzulänglichkeit des Produzierten, ich kann ein Liederbuch davon singen, was dieses unaufhörliche Bejahen und Rühmen Jacob­sohns für ein Antitoxin bedeutete gegen das Gift der Selbstver­neinung.“

Über das Verhältnis Jacobsohn/ Tucholsky Stefanie Oswalt:

„… Für die persönliche und literarische Entwicklung Kurt Tucholskys schließlich ist Siegfried Jacobsohn in seiner Bedeutung als Mentor, Kritiker und Freund wohl kaum zu überschätzen. Tucholsky hat die Wichtigkeit Jacobsohns für sein Leben immer wieder betont und auch alle Tucholsky-Biographen kommen zu einem ähnlichen Ergebnis.

 Zwischen Tucholsky und Jacobsohn bestand ein besonders enges Verhältnis, das Beate Schmeichel Falkenberg in Anlehnung an Klaus Theweleit als ein Beispiel für ein besonders kreatives „männliches Produktionspaar“ beschreibt, das in einer „künstlerischen, teils auch privaten Offenheit und rückhaltlosen gegenseitigen Korrektur die vielfältigsten und prächtigsten Formen journalistischer Möglichkei­ten erdachte und realisierte.“ Und ihr Resümee lautet: „So wie Jacob­sohns Schöpfung, die WB (Weltbübne) nicht von Tucholsky und sei­nen 5 PS zu trennen ist, so wenig ist Tucholsky und sein Lebenswerk ohne Jacobsohn denkbar.“

Übereinstimmend konstatieren Zeitzeu­gen und Biographen, dass der Tod Jacobsohns für Tucholsky auch einen Schock darstellte, von dem er sich nie wieder ganz erholte und der seine Depressionen wesentlich verstärkte. Durch Jacobsohns Tod habe Tucholsky den Adressaten all seiner Artikel, Gedichte, vieler Briefe verloren. Der Verlust sei Tucholsky geradezu physisch an­zumerken gewesen, erinnerte Pauline Nardi an die Totenfeier für S.J.: „Da trat ein Geschlagener stapfend über die Stufen zum Rednerpult, hilflos, verlegen lächelnd über sein Mißgeschick, der endgültig alleingelassene, einsame Kaspar Hauser.“

Kurt Tucholsky 1920 Quelle: Stefanie Oswalt, die Weltbühne

Es war wohl Anfang 1913, als sich die beiden kennen gelernt haben. als Tucholsky einen ersten Beitrag an die „Schaubühne“ schickte – die Kritik eines Theaterabends der Komiker Anton und Donat Herrnfeld und am 9. Januar 1913 erschien diese Kritik unter dem Titel: Die beiden Brüder H.“ in der Schaubühne.

Im ersten Jahr ihrer Zusammenarbeit schrieb Tucholsky mehr als 100 Artikel, meist Kritiken von Theater- und Kabarett-Auffüh­rungen und Buchrezensionen. Während seiner Zeit als Soldat ab 1915 stellte er seine „Schreiberei“ an Jacobsohn und die „Schaubühne“ ein. abgerissen aber ist der Kontakt zwischen den beiden nie und nach dem Krieg kehrte Tucholsky zurück und wurde zu wichtigsten Mitarbeiter.

Er schrieb derart viel für das „Blättchen“, dass sowohl Jacobsohn wie auch er selber Pseudonyme für angebracht hielten, denn die 1626 Artikel, die er bis 1933 schrieb immer unter dem gleichen Autorennamen? Nein, so hießen die Herren dann eben Theobald Tiger, Peter Panter, Kaspar Hauser und Ignaz Wrobel. Weniger bekannt, auch hinter Theobald Körner und Old Shatterhand verbarg sich Tucholsky.

„Zunehmend gewann er (Tucholsky) auch konzeptionellen Einfluss auf das Blatt, schlug neue Themen und Rubriken vor und warb neue Autoren. Tucholsky schließlich forcierte eine Öffnung des Blattes für politische Themen, und er trug nach dem Krieg wesentlich dazu bei, die radikale, pazifi­stische, unabhängige Position des Blattes zu artikulieren. So war klar, dass es Tucholsky war, der von Jacobsohn aufgefordert wurde, „ein­mal eine Erwiderung (zu) entwerfen auf die blöden Vorwürfe, dass wir zwischen Kommunismus und Sozialdemokratie hin und her „taumeln“, als ob wir uns nicht bewusst von der Zugehörigkeit zu einer dieser Parteien fern hielten und unser Heil in der völligen Unabhän­gigkeit von beiden suchten.“ Allerdings scheint es, dass Tucholsky dieser Kurs gelegentlich zu wenig radikal verlief, so dass er, depri­miert über die politische Situation, seiner Frau gegenüber 1924 auch über seine Tätigkeit bei der „Weltbühne“ klagte: „Kommt dazu, daß ich bei S.J. ja auch nur fest sitze, soweit mein anständiger Stil in Frage kommt (gesinnungsmäßig sind wir so weit auseinander… er hat keine, oder, wenn, dann eine ganz brav bürgerliche – von dem Neuen weiß er gar nichts.)“, schreibt Stefanie Oswalt.

Bliebe noch Carl von Ossitzky, dem unbewussten Erben des „Lebenswerkes Weltbühne“ und sicher hat Stefanie Oswalt recht mit den Sätzen:

„… Ohne mit dem eigenen Ableben zu rechnen, hatte Jacobsohn mit seinem sicheren Gespür für journalistische und politische Begabungen in Ossietzky einen Jour­nalisten gefunden, der den begonnenen politischen Kurs nach seinem Tod fortsetzen, selbstbewusst für Pazifismus und Demokratie strei­ten und die Zeitschrift in den kommenden Jahren in ihrer exponier­ten Sonderstellung festigen sollte.

Wie Jacobsohn glaubte auch Ossietzky an die politische Wirkung der Außenseiter, wie er im er­sten Leitartikel des Jahres 1927 in Anspielung auf den gerade verstor­benen Jacobsohn konstatierte: „Ohne ein paar beherzte Einzelgänger hätte es keine Aufdeckung der Femeschande gegeben. Keinen Sturz Seeckts. Keine hallende Kritik an Reichswehr und Justiz.“

Carl von Ossietzky Quelle: Ursula Madrasch-Groschopp, Weltbühne

Fast zwei Jahre hatte Jacobsohn um Ossietzkys Mitarbeit geworben. (…) Ossietzky hatte sich schon während des Krieges durch Vorträ­ge bei der „Deutschen Friedensgesellschaft“ engagiert. (…) Als Friedens-Aktivist und Autor trat Ossietzky zunehmend öffentlich in Erscheinung. (…) Es ist anzunehmen, dass Tucholsky Jacobsohn auf Ossietzky aufmerksam machte. Einige Monate beobachtete S.J. die Aktivitäten des potentiellen neuen Mitarbeiters – und äußerte durchaus scharfe Kritik an seinen politischen Aktivitäten. (…) Doch die journalistische Begabung Ossietzkys überzeugte Jacobsohn. Ossietzky interessierte sich für die gleichen Themen wie die „Welt­bühne“: Reichswehr, Justiz, Parteienkritik und den Zustand der De­mokratie, und er glänzte als brillanter Stilist. Seit Juli 1924 bemühte S.J. sich, Ossietzky (…) für die Weltbühne zu gewinnen, ein langwieriges, schwieriges Unterfangen. Tucholsky sollte Ossietzky anwerben, doch seine Versuche scheiterten. (…) Auch ein Gespräch im Januar 1925 (…) blieb folgenlos.

Erst ein Jahr später (…) kam es erneut zu Verhandlungen. Nach Zögern unterschrieb der neue Mitarbeiter schließlich einen Vertrag (…) Als Leitartikel erschien sein erster Beitrag am 20. April 1926. (…)Bis zu seinem Tod schrieb Ossietzky fortan die Leitartikel des Blattes. Noch Jahre später erinnerte sich Edith Jacobsohn an das Ver­hältnis ihres Mannes zu Ossietzky. Jacobsohn habe ihm „mehr als phantastisches Vertrauen“ entgegengebracht. Er sei der einzige ge­wesen, der ohne Kontrolle seine Beiträge direkt in die Setzerei geben durfte, weil an seinen „Artikeln der fanatischste aller Redakteure nichts zu ändern, nichts zu korrigieren hatte.“

Wenige Wochen vor seinem 46. Geburtstag, am 3. Dezember 1926, verstirbt Siegfried Jacobsohn völlig überraschend morgens um 4.00 Uhr an einem epileptischen Anfall.

Von links Siegfried Jacobsohn Sohn Peter Albert Bassermann Quelle: Ursula Madrasch-Groschopp, Weltbühne

Carl von Ossietzky erinnerte sich ein Jahr später:

„… Am 4. Dezember 1926 standen wir, ein paar eilig benachrichtigte Freunde, am späten Nachmittag in dem schmalen Gehäuse am Kö­nigsweg, das mit all seinen Büchern und Papierstößen plötzlich leer geworden war. Wir waren äußerlich ruhig und nüchtern, aber es war eine Stimmung unterdrückter Tränen, und wir vermieden, nach der kleinen, so bekannten Samtjacke zu blicken, die am Kleiderhaken hing. Es war so unwahrscheinlich, was geschehen war. Unwahrscheinlich war diese Gruppe von Menschen, die hier im Zwielicht um den Schreibtisch stand, über die nächste Fortführung der „Weltbühne“ beratend, scheu betastend, was S.J. gehörte, was sein Erarbeitetes, sein Geschaffenes war. Hier hatte das Fatum einen schrecklich ungerech­ten Spruch vollstreckt, ein Leben voller Struktur zerstört, etwas Ge­ordnetes, bis in den letzten Winkel Gegliedertes.“

Arthur Eloesser Quelle: https://arthureloesser.de/

Am 19. Dezember 1926 findet eine Gedenkfeier im Deutschen Theater statt, Trauerreden hielten der Literaturwissenschaftler und Journalist Arthur Eloesser, Ernst Toller, Fritz Kortner und Kurt Tucholsky, das Orchester der Staatsoper spielte unter Erich Kleiber und am 26. März 1927 wurde Jacobsohns Asche auf dem Stahnsdorfer Südwest-Friedhof beigesetzt.

Ernst Troller Quelle: Ursula Madrasch-Groschopp, Weltbühne

Stefanie Oswalt meint „Wer sich mit dieser Biographie intensiv auseinander­setzt, ist von diesem Tod nicht mehr so überrascht; vielmehr erscheint es fast erstaunlich, dass dieser gesundheitlich nicht eben bevorzugte Mann trotz des enormen Arbeitspensums und der ständigen Attentats­gefahr nicht mehr in Mitleidenschaft gezogen war. Im Jahr 1926 ka­men allerdings einige Faktoren zusammen, die Jacobsohn vor allem seelisch belasteten.“

Fritz-Kortner-1959 Quelle: Von Bundesarchiv, B 145 Bild-P047613 / CC-BY-SA, CC BY-SA 3.0 de, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=5556135

Und damit meint sie z.B. den Tod der Mutter, die im Januar gestorben war und deren Tod ihn sehr mitnahm, mit einer schweren Grippe liegt er wochenlang im Bett, andere Verpflichtungen als die „Weltbühne werden abgesagt und die finanzielle Situation der „Weltbühne“ belastete ihn schwer, obwohl die Auflage von März 1924 bis Dezember 1925 gestiegen war und nun mit 13 000 Exemplaren pro Woche erschien.

Sicher eine Rolle spielten auch die zahlreichen Auseinandersetzungen Jacobsohns, die er mit der Reichswehr und den Sicherheitsbehörden, sowie der Polizei führte. Genannt seien die Artikel „Reichswehr oder Stahlhelm“, „Kleinkaliberschießen“ von Carl Mertens und Friedrich Wil­helm Foersters Artikel „Deutschlands Entwaffnung“.

Sohn Peter erbt dreiviertel, Edith Jacobsohn ein Viertel des Verlags, aber zu einer Nachfolge Peters im Verlag und in der „Weltbühne“ kommt es nicht. Peter erinnert sich, für die Familie bedeutete es eine Katastrophe, Edith Jacobsohn erlitt einen Schock „von dem sie sich nicht mehr erholte, auch wenn sie beruflich bis Anfang der 30er Jahre großen Erfolg hatte und der Williams-Verlag bis 1933 stetig expandierte. Edith Jacobsohn übernahm für ihren Sohn Peter die Vormundschaft und es lag nahe, dass Tucholsky die Redaktionsgeschäfte übernehmen würde“, schreibt Stefanie Oswalt.

Siegfried Jacobsohn mit Sohn Peter 1917 Quelle: Stefanie Oswalt, die Weltbühne

Und weiter:

„… Über einen Monat verhandelte er mit Edith Jacobsohn alle Möglichkeiten, auch den Verkauf des Blattes, denn Tucholsky wollte nicht nach Berlin zurückkehren. Die Stadt widerte ihn an, die Leitung der Redaktion „langweilte“ ihn. Aus Pflichtge­fühl dem verstorbenen Freund gegenüber übernahm er schließlich widerwillig die Leitung des Blattes für einige Monate. Ab Januar 1927 erschien Ossietzky im Impressum als verantwortlicher Redak­teur. Schon im Mai 1927 reiste Tucholsky aus Berlin nach Kopenha­gen ab; die Leitung der Redaktion übernahm Carl von Ossietzky. Ab Oktober 1927 zeichnete dieser auch als Herausgeber auf der Ti­telseite des Blattes.“

Als 1932 die Nazis immer lauter ans Tor des Reichstages klopfen, gründet Edith Jacobsohn zusammen mit Tucholskys eine „Filiale“ der „Weltbühne“ in Osterreich, die dortige Leitung übernimmt William Sigmund Schlamm, eine sicher gute Idee, denn als Jüdin und Leiterin eines eigenen Unternehmens sowie des Verlages wird Edith immer mehr eine Zielscheibe der NSDAP.

William Sigmund Schlamm

In der Nacht vom 27. auf den 28. Februar 1933 brennt in Berlin der Reichstag und Edith und Peter Jacobsohn fliehen auf Anraten von Harry Graf Kessler aus Deutsch­land nach Wien.

Stefanie Oswalt schreibt:

„… Die Sorge über die politi­schen Entwicklungen in Deutschland und das Schicksal Carl von Ossietzkys wirkten sich auch auf ihre Gesundheit negativ aus. Mehrere Wochen verbrachte sie in einem Sanatorium bei Wien, später auch in der Schweiz. Ende 1933 erlitt sie einen ersten leichten Schlagan­fall, von dem sie sich erholte. Schon bald geriet sie finanziell so sehr in Bedrängnis, dass sie ihre beiden Verlage verkaufen musste.

Im Frühjahr 1934 siedelte Edith Jacobsohn nach London über. Hier ver­suchte sie, sich durch Übersetzungsarbeiten durchzuschlagen, aber ihre Hoffnungen, „durch ihre verlegerischen Beziehungen in einem Verlag oder einer literarischen Agentur eine Stellung zu finden, erfüllten sich nicht. Weil sie keine Arbeitserlaubnis bekommen konnte, heiratete sie schließlich pro forma einen Engländer und er­warb damit die englische Staatsangehörigkeit“.

Edith Jacobsohn (rechts) Quelle: Foto: Sammlung Flechtmann

Und Wikipedia:

„… 1933 wurde die Zeitschrift verboten und ihr Archiv konfisziert; es ist seitdem verschollen. Sie erschien nach dem Verbot 1933 als „Neue Weltbühne“ in Prag; Neugründung 1946 in Berlin (Ost), 1993 eingestellt.“

Am 31. Dezember 1935 starb Edith Jacobsohn als Edith Forster in London.

Stefanie Oswalt hat es getan und ich werde auch darauf eingehen – den Antisemitismus im Umfeld der „Weltbühne“ und im unmittelbaren Umfeld von Siegfried Jacobsohn. Schon allein deswegen, weil ich auch heute noch das Gefühl habe, dass der derzeitige Antisemitismus in der Bundesrepublik auch darum nicht so verurteil wird, wie es nötig wäre, weil man diesen getrost den Nazis in die Schuhe schieben kann. Tatsächlich ist er aber sehr „überschwellig“ bereits seit Jahrhunderten in Deutschland „gepflegt“ worden und darüber zu schreiben, übersteigt die Möglichkeiten dieses Artikels, Eine ausgeprägte Form aber gab es im Kaiserreich und selbstverständlich auch in der Weimarer Republik.

Stefanie Oswalt schreibt:

„… Wer Jacobsohn, der seine eigene jüdische Existenz und Herkunft wenig reflektierte, als Juden thematisiert, setzt sich leicht dem Vorwurf aus, Jacobsohn somit – vergleichbar den Nationalsozialisten – „zum Ju­den abzustempeln“ oder die Geschichte von „Hitler zu Bismarck“ zu interpretieren.‘ Andererseits führt das Wissen um Antisemitismus, nationalsozialistischen Terror und Genozid zu einer genauen Wahr­nehmung der Andeutungen, Zwischentöne und für die vielfältigen Distanzierungen. Und schließlich stellt sich die Frage, ob nicht die ständige Konfrontation mit einer Umwelt, die in Jacobsohn den Ju­den sah und häufig diffamierte, sein Menschenbild, sein Verständnis von Politik und Gesellschaft prägten. Eine Nicht-Erwähnung des An­tisemitismus steht nicht notwendigerweise für sein Nicht-Vorhanden­sein, sondern wirft die Frage auf, warum sich der Betroffene nicht dazu äußert. Im übrigen finden sich gerade bei Jacobsohn zahlreiche Beispiele für eine Reaktion auf den Antisemitismus, die zeigen, wie sehr ihn diese Angriffe in seinem Selbstverständnis als deutscher Staats­bürger verletzten.“

Und weil stets behauptet wurde, Jacobsohn habe sich taufen lassen, diese Behauptung ist falsch, denn es gibt keine Hinweise, dass er aus der jüdischen Gemeinde zu Berlin ausgetreten ist. Bekannt ist aber die Distanz der Witwe Edith Jacobsohn zum jüdischen Glauben. Laut seinem Sohn Peter war er nie in einer jüdischen Synagoge und im elterlichen Haushalt spielten jüdischer Ritus, oder gar die Reinheitsgebote keinerlei Rolle, jüdische Feste wurden nicht gefeiert, man feierte Weihnachten und Ostern und Peter erinnert sich an unterschiedli­che Ansichten seiner Eltern: So habe ihn sein Vater zum Einstehen für seine jüdische Herkunft ermutigt, in einem Brief an Tucholsky schreibt er: „Mein tapferer Peter wird von vier Jungens bis zu zehn Jahren „Jude“ gerufen. Er kehrt ihnen die Vorderfront zu und erwidert ruhig und langsam: „Ich weiß, daß ich Jude bin – aber ihr seid dumme Babies.“ Dreht sich um und geht seiner Wege.“

Im Exil in der Schweiz wird Peter ein englisches Internat besuchen und auf Wunsch seiner Mutter am Gottesdienst teilnehmen. Jude zu sein, definiert sich in der Familie durch die jüdische Geburt und das war‘s,

Ein „Vorfall“ aber erregt ihn schon besonders, der „Magdeburger Justizskandal“, ein spektakulärer Schwurgerichtsprozess 1925/26 im Raubmordfall „Helling-Haas“ in Magdeburg. Er schreibt:

„… Zeitungsschreiber. Man brauchte weder Witterung noch Fingerspit­zen zu haben – man brauchte nur eine Unze Verstand und das Min­destmaß menschlicher Anständigkeit, um vom ersten Augenblick an zu wissen, was da in Magdeburg gespielt wurde: daß der Abhub die­ses Landes die Zeit gekommen glaubte, einen deutschen Fall Dreyfus zu erfolgreicherem Ende zu führen, als der französische gehabt hatte. Dies Bubenstück, ersonnen, um einen Mann zu verderben aus kei­nem anderen Grunde, als weil er Jude, wurde am lautesten, frechsten und lügenhaftesten gefördert von dem Abhub der deutschen Presse: den Blättern des Hugenbergkonzerns. Von dem lassen folgende Ju­den sich beschäftigen: ein Behrens als Lokalrechercheur; ein Schön­feld als Redakteur des Berliner Lokal-Anzeigers: Alfred Holzbock als Reporter. (…) Bisher hat man nicht gehört, daß sich einer der Her­ren aus dieser Kloake des Antisemitismus – der immer dann abge­dreht werden muß, wenn er das Inseratengeschäft stören könnte – in reine Luft gerettet hätte. Und da soll man nicht Antisemit werden“!

Nach Jacobsohn’s Tod hörte die Hetze gegen ihn beileibe nicht auf. In „Sigilla Veri“, einem antisemitischen Nachschlagewerk, griff man erneut den „Fall Jacobsohn“, also den alten Plagiatsvorwurf wieder auf.

Stefanie Oswalt schreibt:

„… Sowohl sein Familienname wie auch seine klein­wüchsige Gestalt und seine Abstammung waren Angriffspunkte. Nach einer Einleitung, die Jacobsohn als Nachkommen einer orthodoxen Familie darstellt, der erst vor kurzem die deutsche Sprache erlernt habe, findet sich eine Zitate-Sammlung der antisemitischen Presse zum Plagiatsfall. Sie stellt eine Verbindung aus Gehässigkeit und Zote dar und versucht, Jacobsohns Kritikertätigkeit mit seiner physischen Unzulänglichkeit und der deshalb unbefriedigten Sexualität zu begründen.“

Das liest sich dann so:

„… Dieser Zwerg mit dem anormal entwickelten Schädel, den langen Armen und einem Gesicht, dem, trotz seiner Jugendlichkeit, charak­teristische Merkmale des Greisentums ausgeprägt sind, muss das Weib hassen, besonders das schöne Weib (…) – er kann es nur hassen, weil er weiß, daß ihm selbst nie ein begehrenswertes Weib aus freier Entschließung in Liebe angehören wird.“

Max Liebermann im Alter von 25 Jahren als Student der Kunstschule Weimar Quelle: Wikipedia

Anlässlich des Geburtstages von Max Liebermanns 1927 schwärmte Thomas Mann über Berlin:

„… Berlin, das ist Energie, Intelligenz, Straffheit, Unsentimentalität, Unromantik, das Fehlen jeder übertriebenen Ehrfurcht vor dem Ver­gangenen, Modernität als Zukünftigkeit, Kosmopolitismus als Ab­wesenheit germanischer Lebensfreude.“

Damit ist auch Siegfried Jacobsohn gemeint, obwohl in meinen Augen dieser noch etwas geschaffen hat, was Berlin damals nicht hatte: Ein „Blättchen“, dass in der Geschichte des Kaiserreiches, der Weimarer Republik und auch der Bundesrepublik ein Musterbeispiel war, wie Medien funktionieren sollen.

Jedes Jahr wird der Hanns-Joachim-Friedrichs-Preis für journalistische Arbeit verliehen. Sein Motto geht auf einen berühmten Satz von Friedrichs zurück:

„Einen guten Journalisten erkennt man daran, dass er sich nicht gemein macht mit einer Sache, auch nicht mit einer guten Sache; dass er überall dabei ist, aber nirgendwo dazugehört.“

War das auch ein Motto für Siegfried Jacobsohn?

Grab von Siegfried Jacobsohn auf dem Südwestkirchhof Stahnsdorf Quelle: Von Mutter Erde – Eigenes Werk, Attribution, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=2132497

Quellen:

„Siegfried Jacobsohn – Ein Leben für die Weltbühne – Autorin Stefanie Oswalt –

Erschienen im Bleicher Verlag ISBN 3-88350-665- 6

„Die Weltbühne“ – Portrait einer Zeitschrift – Autorin Ursula Madrasch-Groschopp – Erschienen im Bechtermünz Verlag – ISBN 3-8289-0337-1

Wer mehr über Siegfried Jacobsohn erfahren möchte, muss diese Bücher unbedingt lesen. Sehr viel wurde von mir nur angeschrieben, ausführlicher ist es dort zu lesen.