MIT 5 PS

1928
Universum-Bücherei für Alle

Der siebenundzwanzigste Band der Universum-Bücherei

10. – 14. Tausend
Copyright 1927 by Ernst Rowohlt Verlag, K.G.a.A., Berlin W35
Printed in Germany
Gedruckt bei Herrosé & Ziemsen GmbH., Wittenberg (Bez. Halle)

JAKOB WASSERMANN
in Verehrung

Alors le docteur Obnubile se prit la tête dans les mains et songea amèrement:

– «Puisque la richesse et la civilisation comportent autant de causes de guerres que la pauvreté et la barbarie, puisque la folie et la méchanceté des hommes sont inguérissables, il reste une bonne action à accomplir. Le sage amassera assez de dynamite pour faire sauter cette planète. Quand elle roulera par morceaux à travers l’espace une amélioration imperceptible sera accomplie dans l’univers et une satisfaction sera donnée à la conscience universelle, qui d’ailleurs n’existe pas.»

Anatole France

Dem Andenken
     Siegfried Jacobsohns
Gestorben am 3.Dezember 1926

Die Welt sieht anders aus. Noch glaub ichs nicht.
Es kann nicht sein.
Und eine leise, tiefe Stimme spricht:
„Wir sind allein.“

Tag ohne Kampf – das war kein guter Tag.
Du hasts gewagt.
Was jeder fühlt, was keiner sagen mag:
du hasts gesagt.

Ein jeder von uns war dein lieber Gast,
der Freude macht.
Wir trugen alles zu dir hin. Du hast
so gern gelacht.

Und nie pathetisch. Davon stand nichts drin
in all der Zeit.
Du warst Berliner, und du hattest wenig Sinn
für Feierlichkeit.

Wir gehen, weil wir müssen, deine Bahn.
Du ruhst im Schlaf.
Nun hast du mir den ersten Schmerz getan.
Der aber traf.

Du hast ermutigt. Still gepflegt. Gelacht.
Wenn ich was kann:
Es ist ja alles nur für dich gemacht.
So nimm es an.

START

Wir sind fünf Finger an einer Hand.
Der auf dem Titelblatt und:

Ignaz Wrobel. Peter Panter. Theobald Tiger. Kaspar Hauser.

Aus dem Dunkel sind diese Pseudonyme aufgetaucht, als Spiel gedacht, als Spiel erfunden – das war damals, als meine ersten Arbeiten in der „Weltbühne“ standen. Eine kleine Wochenschrift mag nicht viermal denselben Mann in einer Nummer haben, und so erstanden, zum Spaß, diese homunculi. Sie sahen sich gedruckt, noch purzelten sie alle durcheinander; schon setzen sie sich zurecht, wurden sicherer, sehr sicher, kühn – da führten sie ihr eigenes Dasein. Pseudonyme sind wie kleine Menschen; es ist gefährlich, Namen zu erfinden, sich für jemand anders auszugeben, Namen anzulegen – ein Name lebt. Und was als Spielerei begonnen, endete als heitere Schizophrenie.

Ich mag uns gern. Es war schön, sich hinter den Namen zu verkriechen und dann von Siegfried Jacobsohn solche Briefe gezeigt zu bekommen:

„Sehr geehrter Herr! Ich muß Ihnen mitteilen, daß ich Ihr geschätztes Blatt nur wegen der Arbeiten Ignaz Wrobels lese. Das ist ein Mann nach meinem Herzen. Dagegen haben Sie da in Ihrem Redaktionsstab einen offenbar alten Herrn, Peter Panter, der wohl das Gnadenbrot von Ihnen bekommt. Den würde ich an Ihrer Stelle …“

Und es war auch nützlich, fünfmal vorhanden zu sein – denn wer glaubt in Deutschland einem politischen Schriftsteller Humor? dem Satiriker Ernst? dem Verspielten Kenntnis des Strafgesetzbuches, dem Städteschilderer lustige Verse? Humor diskreditiert.

Wir wollten uns nicht diskreditieren lassen und taten jeder seins. Ich sah mit ihren Augen, und ich sah sie alle fünf: Wrobel, einen essigsauern, bebrillten, blaurasierten Kerl, in der Nähe eines Buckels und roter Haare; Panter, einen beweglichen, kugelrunden, kleinen Mann; Tiger sang nur Verse, waren keine da, schlief er – und nach dem Kriege schlug noch Kaspar Hauser die Augen auf, sah in die Welt und verstand sie nicht. Eine Fehde zwischen ihnen wäre durchaus möglich. Sie dauert schon siebenunddreißig Jahre.

Woher die Namen stammen –?

Die alliterierenden Geschwister sind Kinder eines juristischen Repetitors aus Berlin. Der amtierte stets vor gesteckt vollen Tischen, und wenn der pinselblonde Mann mit den kurzsichtig blinzelnden Augen und dem schweren Birnenbauch dozierte, dann erfand er für die Kasperlebühne seiner „Fälle“ Namen der Paradigmata.

Die Personen, an denen er das Bürgerliche Gesetzbuch und die Pfändungsbeschlüsse und die Strafprozeßordnung demonstrierte, hießen nicht A und B, nicht: Erbe und nicht Erblasser. Sie hießen Benno Büffel und Theobald Tiger; Peter Panter und Isidor Iltis und Leopold Löwe und so durchs ganze Alphabet. Seine Alliterationstiere mordeten und stahlen; sie leisteten Bürgschaft und wurden gepfändet; begingen öffentliche Ruhestörung in Idealkonkurrenz mit Abtreibung und benahmen sich überhaupt recht ungebührlich. Zwei dieser Vorbestraften nahm ich mit nach Hause – und, statt Amtsrichter zu werden, zog ich sie auf.

Wrobel – so hieß unser Rechenbuch; und weil mir der Name Ignaz besonders häßlich erschien, kratzbürstig und ganz und gar abscheulich, beging ich diesen kleinen Akt der Selbstzerstörung und taufte so einen Bezirk meines Wesens.

Kaspar Hauser braucht nicht vorgestellt zu werden.

Das sind sie alle fünf.

Und diese fünf haben nun im Lauf der Jahre in der „Weltbühne“ gewohnt und anderswo auch. Es mögen etwa tausend Arbeiten gewesen sein, die ich durchgesehen habe, um diese daraus auszuwählen – und alles ist noch einmal vorbeigezogen … Vor allem der Vater dieser Arbeit: Siegfried Jacobsohn.

*

Fruchtbar kann nur sein, wer befruchtet wird. Liebe trägt Früchte, Frauen befruchten, Reisen, Bücher … in diesem Fall tat es ein kleiner Mann, den ich im Januar 1913 in seinem runden Bücherkäfig aufgesucht habe und der mich seitdem nicht mehr losgelassen hat, bis zu seinem Tode nicht. Vor mir liegen die Mappen seiner Briefe: diese Postkarten, eng bekritzelt vom obern bis zum untern Rand, mit einer winzigen, fetten Schrift, die aussah wie ein persisches Teppichmuster. Ich höre das „Ja –?“, mit dem er sich am Telephon zu melden pflegte; mir ist, als klänge die Muschel noch an meinem Ohr … Was war es –?

Es war der fast einzig dastehende Fall, daß dem Gebenden ein Nehmender gegenüberstand, nicht nur ein Druckender. Wir senden unsere Wellen aus – was ankommt, wissen wir nicht, nur selten. Hier kam alles an. Der feinste Aufnahmeapparat, den dieser Mann darstellte, feuerte zu höchster Leistung an – vormachen konnte man ihm nichts. Er merkte alles. Tadelte unerbittlich, aber man lernte etwas dabei. Ganze Sprachlehren wiegt mir das auf, was er „ins Deutsche übersetzen“ nannte. Einmal fand er eine Stelle, die er nicht verstand. „Was heißt das? Das ist wolkig!“ sagte er. Ich begehrte auf und wußte es viel besser. „Ich wollte sagen …“ erwiderte ich – und nun setzte ich ihm genau auseinander, wie es gemeint war. „Das wollte ich sagen“, schloß ich. Und er: „Dann sags.“ Daran habe ich mich seitdem gehalten. Die fast automatisch arbeitende Kontrolluhr seines Stilgefühls ließ nichts durchgehen – kein zu starkes Interpunktionszeichen, keine wilde Stilistik, keinen Gedankenstrich nach einem Punkt (Todsünde!) – er war immer wach.

Und so waren unsere Beiträge eigentlich alle nur Briefe an ihn, für ihn geschrieben, im Hinblick auf ihn: auf sein Lachen, auf seine Billigung – ihm zur Freude. Er war der Empfänger, für den wir funkten.

Ein Lehrer, kein Vorgesetzter; ein Freund, kein Verlagsangestellter; ein freier Mann, kein Publikumshase. „Sie haben nur ein Recht“, pflegte er zu sagen; „mein Blatt nicht zu lesen.“ Und so stand er zu uns, so hat er uns geholfen, zu uns selbst verholfen, und wir haben ihn alle lieb gehabt.

Wir beide nannten uns, nach einem revolutionären Stadtkommandanten Berlins, gegenseitig: Kalwunde.

„Kalwunde!“ sagtest du, wenn du dreiunddreißig Artikel in der Schublade hattest, „Kalwunde, warum arbeitest du gar nicht mehr –?“ Und dann fing ich wieder von vorne an. Und wenn das dicke Couvert mit einem satten Plumps in den Briefkasten fiel, dann hatte der Tag einen Sinn gehabt, und ich stellte mir, in Berlin und in Paris, gleichmäßig stark vor, was du wohl für ein Gesicht machen würdest, wenn die Sendung da wäre. Siehst du, nun habe ich das alles gesammelt … Und du kannst es nicht mehr lesen … „Mensch!“ hättest du gesagt, „ick wer’ doch det nich lesen! Ich habe es ja alles ins Deutsche übersetzt –!“

Das hast du.

Und so will ich mich denn mit einem Gruß an dich auf den Weg machen.

Dorf Berlin

Affenkäfig

Der Affe (von den Besuchern): „Wie gut, daß die alle hinter Gittern sind –!“
Alter Simplicissimus

In Berlins Zoologischem Garten ist eine Affenhorde aus Abessinien eingesperrt, und vor ihr blamiert sich das Publikum täglich von neun bis sechs Uhr. Hamadryas Hamadryas L. sitzt still im Käfig und muß glauben, daß die Menschen eine kindische und etwas schwachsinnige Gesellschaft sind. Weil es Affen der alten Welt sind, haben sie Gesäßschwielen und Backentaschen. Die Backentaschen kann man nicht sehen. Die Gesäßschwielen äußern sich in flammender Röte – es ist, als ob jeder Affe auf einem Edamer Käse säße. Die Horde wohnt in einem Riesenkäfig, von drei Seiten gut zu besichtigen; wenn man auf der einen Seite steht, kann man zur andern hindurchsehen und sieht: Gitterstangen, die Affen, wieder Gitterstangen und dahinter das Publikum. Da stehen sie.

Da stehen Papa, Mama, das Kleinchen; ausgeschlafen, fein sonntagvormittaglich gebadet und mit offenen Nasenlöchern. Sie sind leicht amüsiert, mit einer Mischung von Neugier, vernünftiger Überlegenheit und einem Schuß gutmütigen Spottes. Theater am Vormittag – die Affen sollen ihnen etwas vorspielen. Vor allem einen ganz bestimmten Akt.

Zunächst ist alles still im Affenkäfig. Auf den hohen Brettern sitzen die Tiere umher, allein, zu zweit, zu dritt. Da oben sitzt eine Ehe – zwei in sich versunkene Tiere; umschlungen, lauscht jedes auf den Herzschlag des andern. Einige lausen sich. Die Gelausten haben im zufriedenen Gesichtsausdruck eine überraschende Ähnlichkeit mit eingeseiften Herren im Friseurladen, sie sehen würdig aus und sind durchaus im Einverständnis mit dem guten Werk, das da getan wird. Die Lauser suchen, still und sicher, kämmen sorgsam die Haare zurück, tasten und stecken manchmal das Gejagte in den Mund … Einer hockt am Boden, Urmensch am Feuer, und schaufelt mit langen Armen Nußreste in sich hinein. Einer rutscht vorn an das Gitter, läßt sich mit zufriedenem Gesichtsausdruck vor dem Publikum nieder, seinerseits im Theater, setzt sich behaglich zurecht … So … es kann anfangen.

Es fängt an. Es erscheint Frau Dembitzer, fest überzeugt, daß der Affe seit frühmorgens um sieben darauf gewartet habe, daß sie „Zi–zi–zi!“ zu ihm mache. Der Affe sieht sie an … mit einem himmlischen Blick. Frau Dembitzer ist unendlich überlegen. Der Affe auch. Herr Dembitzer wirft dem Affen einen Brocken auf die Nase. Der Affe hebt den Brocken auf, beriecht ihn, steckt ihn langsam in den Mund. Sein hart gefalteter Bauernmund bewegt sich. Dann sieht er gelassen um sich. Kind Dembitzer versucht, den Affen mit einem Stock zu necken. Der Affe ist plötzlich sechstausend Jahre alt.

Drüben muß etwas vorgehen. In den Blicken der Beschauer liegt ein lüsterner, lauernder Ausdruck. Die Augen werden klein und zwinkern. Die Frauen schwanken zwischen Abscheu, Grauen und einem Gefühl: nostra res agitur. Was ist es? Die Affen der andern Seite sind dazu übergegangen, sich einer anregenden Okularinspektion zu unterziehen. Sie spielen etwas, das nicht Mahjong heißt. Das Publikum ist indigniert, amüsiert, aufgeregt und angenehm unterhalten. Ein leiser Schauer von bösem Gewissen geht durch die Leute – jeder fühlt sich getroffen. „Mama!“ sagt ganz laut ein Kind, „was ist das für ein roter Faden, den der Affe da hat –?“ Mama sagt es nicht. Mein liebes Kind, es ist der rote Faden, der sich durch die ganze Weltgeschichte zieht.

In die Affen ist Bewegung gekommen. Die Szene gleicht etwa einem Familienbad in Zinnowitz. Man geht umher, berührt sich, stößt einander, betastet fremde und eigne Glieder … Zwei Kleine fliehen unter Gekreisch im Kreise. Ein bebarteter Konsistorialrat bespricht ernst mit einem Studienrat die Schwere der Zeiten. Eine verlassene Äffin verfolgt aufmerksam das Treiben des Ehemaligen. Ein junger Affe spricht mit seinem Verleger – der Verleger zieht ihm unter heftigen Arm- und Beinbewegungen fünfzig Prozent ab. Zwei vereinigte Sozialdemokraten sind vernünftig und realpolitisch geworden; mißbilligend sehen sie auf die Jungen – gleich werden sie ein Kompromiß schließen. Zwei Affen bereden ein Geheimnis, das nur sie kennen.

Das Publikum ist leicht enttäuscht, weil wenig Unanständiges vorgeht. Die Affen scheinen vom Publikum gar nicht enttäuscht – sie erwarten wohl nicht mehr. Hätten wir Revue-Theater und nicht langweilige Sportpaläste voll geklauter Tricks – welch eine Revue-Szene!

In dem Riesenkäfig wohnten früher die Menschenaffen aus Gibraltar. Große, dunkle und haarige Burschen, größer als Menschen – mit riesigen alten Negergesichtern. Eine Mutter hatte ein Kleines – sie barg es immer an ihrer Brust, eine schwarze Madonna. Sie sind alle eingegangen. Das Klima hat ihnen wohl nicht zugesagt. Sie sind nicht die einzigen, die dieses Klima nicht vertragen können.

Ob die Affen einen Präsidenten haben? Und eine Reichswehr? Und Oberlandesgerichtsräte? Vielleicht hatten sie das alles, im fernen Gibraltar. Und nun sind sie eingegangen, weil man es ihnen weggenommen hat. Denn was ein richtiger Affe ist, der kann ohne so etwas nicht leben.

Plötzensee

Ach, nicht das von heute. Das ist genau so traurig, wie alles andre auf dieser gottverflucht preußischen Welt. Nein, „Plötzensee“ ist der Titel eines kleinen, anonym erschienenen Bändchens, das heute vergriffen ist und das die Verbrecherwelt aus dem vorigen Frieden gemütlich-bürgerlich schildert. Natürlich nicht richtig – Gott bewahre. Alles, was in dem Buch ernst sein soll, ist rettungslos verkitscht, die sozialen Zusammenhänge zwischen Wirtschaft und Gefängnis sind dem Verfasser unbekannt, und so nett und freundlich, wie in dem kleinen Buche, wird es ja auch wahrscheinlich im vorigen Frieden da nicht zugegangen sein. Aber, aber…

Aber Berlin ist in dem Buche. Es muß einer geschrieben haben, der sonst überhaupt nicht schreibt, und diese Leute treffen manchmal den Lokalton am besten, viel besser als irgendeiner von uns. (Ich habe später von dem Verfasser des Bändchens andre Geschichten gelesen, bei denen er sich als „Verfasser von Plötzensee“ angab – die waren scheußlich, weil erfunden.) Dieses hier aber hat er alles gesehen – der Mann hat offenbar wegen irgendeiner Kleinigkeit gesessen, was bei der lotterieartigen Austeilung von Strafen hierzulande leicht vor sich gehen kann – und nun hat er notiert.

Das Ernste also gestatte man mir zu übergehen – aber wie das Lustige wiedergegeben ist, das wirft einen um. Wundervoll die berlinische Diktion in den Reden – der Berliner redet gern und viel –; das hat nur noch Hyan in seinen besten Zeiten so gehört. Am schönsten sind die Passagen, in denen die Herrschaften philosophisch werden und das Fazit eines Krachs, des Gefängnisses oder des Lebens überhaupt ziehen. „Ja,“ sagte dieser, „so sind nu die Leite. Draußen, da sind sie froh, wenn sie ’ne Bleibe haben und können ’n Kaffeestamm machen bei Knitschken, und hier drin haben sie zu ‚beanspruchen‘!“ Oder die historischen Geschichten. „Als einmal ein vollkommener Neuling einen Zellengenossen und alten Ehrenbürger nach der Qualität des Essens fragte, führte dieser ihn schweigend in eine Ecke der Zelle, wo ein kleines Loch im Fußboden war und sagte: ‚Das sind die Erbsen.’ Und als der andre ihn erstaunt ansah, fügte er hinzu: ‚Da hat mal einer ’ne Erbse vons Mittagessen ausgespuckt, und davon is das Loch in die Diele.’ Dann zeigte er ihm einen großen Schmutzfleck an der Wand und sagte wieder: ‚Das ist der Käse.’ Diesen geheimnisvollen Ausspruch erklärte er also: ‚Jede Woche gibt es einmal abends ’n Sechserkäse, und damit wird immer Zentrum an die Wand jeschmissen. Meistens bleibt er kleben.’“

Jedes Wort ist eine Erbauung. Denn namentlich der Berliner ältern Stils setzt seine Worte mit einem gewissen Bedacht, und das wirkt am komischsten, wenn er jemand beschimpft, wobei sich das gebildete Dativ-E besonders hübsch ausnimmt. Am schönsten aber ist die Geschichte von dem Käse-Karl, der alles „immer mit die Ruhe“ macht. „Immer mit die Ruhe…“ „Wissen Sie,“ sagt er zu einem Neuling, einem „Zugang“, „det muß man erst lernen, mit die Leite hier umzujehn. Die meisten haben son mächtigen Vogel, daß es wirklich unverantwortlich von die Polizei wäre, wenn man sie draußen frei rumloofen ließe. Die rejen sich über alles uff: wat et morjen zu essen jibt, wat eener für ’ne Jacke anhat und lauter son Quatsch. Det darf ’n vernünftiger Mensch jarnich. Hier muß eener ’ne Ruhe haben. Sehn Se, da war mein Freund Orje Bergmann, mit die acht Jahre. Wie der ankam – da war ick ooch zufällig hier – da sage ick: ‚Na, Orje,‘ sage ick, ‚wie lange bringste denn mit?‘ ‚Et jeht, Karl,‘ sagte er, ‚acht Jahre sind et.‘ ‚Na,‘ sage ick mit meine Ruhe, ‚denn jehst du ja bald!‘“ Immer mit die Ruhe.

Das ist der Verbrecher aus der Bürgerperspektive. Es ist der Schlumps, der von dem Schutzmann, dem Vertreter der guten Ordnung, in das Loch gestoßen wird, und der immer ein bißchen besoffen ist und immer was verbricht. Aber schließlich ist viel Echtes drin. Und wie fehlen uns solche Bücher –! Im Englischen und auch bei den Amerikanern gibts das viel mehr: Bücher, die ganz unliterarisch schildern, wie die Fischer leben oder die Heizer auf den großen Dampfern, ihren Humor und ihr Tagewerk, ihre Keilereien und ihre Frauen. Aber das hat mit Kunst nichts zu tun. Bei uns bemächtigen sich dieser Dinge die Feuilletonisten, und dann ist es aus. Lest mal dies kleine Büchlein „Plötzensee“, und ihr werdet starken Hunger nach mehr der Art bekommen. Aber es ist ja vergriffen. Und weil es vergriffen ist, habe ich es hier erzählt.

Erotische Filme

Die Wand wurde weiß. Ein an vielen Stellen brüchiges, fahriges Silberweiß leuchtete zittrig auf. Es begann.

Aber alle lachten. Auch ich lachte. Hatten wir etwas Unerhörtes, Maßloses erhofft, so balgten sich jetzt auf der Leinewand spielend ein Miau-Kätzchen und ein Wauwau-Hundchen. Vielleicht hatte der Exporteur das vorgeklebt, um die Polizei zu täuschen – wer weiß. Der Film lief eintönig klappernd, ohne Musik; das war unheimlich und nicht sehr angenehm.

Aber ganz unvermittelt erschien ein Satyr auf der Bildfläche und erschreckte in einem Waldgewässer kreischende und plantschende Mädchen. Nun, ich war enttäuscht, immerhin… Ich war hierher gekommen, um etwas recht Unanständiges zu sehen, ein dicker Freund hatte mich mitgenommen; Gott mochte wissen, woher er es hatte. Sah ich ihn, so senkte sich bewundernder Neid auf mich herab; er hatte die Fähigkeit, auch diese Dinge – neben verschiedenen andern – bis auf den Grund auszukosten.

Hoh, aber jetzt gab es: Szene im Harem. Man hatte sich den Schauplatz der Handlung etwa am Schlesischen Tor vorzustellen, denn das Tapetenmuster des ausgeräumten kleinen Zimmers war ganz so, und auch die Gardinen und der Teppich. Fatinga tanzt. Das lasterhafte Mädchen entkleidete sich aus pompöser Wäsche und tanzte; das heißt: sie drehte sich bequem um sich selbst, und jeder konnte sie bewundern – und sie tanzte vor ihrem Sultan, der sich faul und lässig in den Schößen der andern Haremsmitglieder lümmelte. Er war ein Genießer. Sie bewedelten ihn mit großen japanischen Papierschirmen, und vorn auf einem Tisch stand ein Weißbierglas. Die Szene fand nicht den Beifall des Auditoriums. Ermunternde Zurufe wurden laut. Man hätte sich den Herrscher wohl etwas agiler gewünscht, aber er blieb ruhig liegen – wozu war er auch Sultan!

Und dann kam „Klostergeheimnisse“ und „Annas Nebenberuf“, und zwei „perverse Schönheiten“ wälzten sich auf einem Läufer herum. Die eine von ihnen war eine gewisse Emmi Raschke, die fortwährend lachte, weil es ihr wohl selbst ein bißchen komisch vorkam. Nun, sie waren alle engagiert, um eiskalt, mit einem Unmaß von Geschäftlichkeit, unter den scheltenden Zurufen des Photographen, Dinge darzustellen, die, wenn man den Beschauern glauben wollte, doch wohl an das Himmlischste grenzten. Sie glaubten alle, daß Emmi Raschke für sie und ganz speziell für sie erschaffen war – vorgebildet allerdings durch eine Reihe von nunmehr vergangenen Handlungen ähnlicher Art. Es war nicht ganz klar, was sie eigentlich von den Frauen wollten, wenn diese mit ihnen geschlafen hatten – sicher war, daß sie allesamt nicht zögerten, sich als die Gnadenspender des weiblichen Geschlechts anzusehen.

Es folgten nunmehr zwei längere Stücke, und es war nicht zu sagen, wie lasterhaft sie waren. Eine schwüle Sinnlichkeit wehte von den verdorbenen, also üppigen Gestalten herüber, sie gaben sich den unerhörtesten Genüssen hin – und währenddessen bot eine Kellnerstimme gefällig Bier an. Worauf mit Recht aus dem Dunkel ein tiefer Raucherbaß ertönte: „Ach, wer braucht denn hier jetzt Bier –!“ Das wurde lebhaft applaudiert, und von nun an beteiligte sich das Publikum intensiver an den Darbietungen: Rufe, ratende Stimmen, Grunzen, Beifall und anfeuernde Aufschreie wurden laut, einer gab Privatfreuden vergleichend zum Besten, viele lärmten und schrien.

Oben spielten sie: „Die Frau des Hauptmanns.“ Während der würdige Militär seine Gemahlin mit der Leutnantsfrau betrog, nutzte jene – die Gemahlin – die Zeit nicht schlecht aus, denn der Hauptmann hatte einen Burschen. Sie wurden überrascht, und es setzte Ohrfeigen. Mochte man übrigens sagen, was man wollte: ehrlich war der Film. Ein bißchen merkwürdig schien es allerdings im französischen Soldatenleben zuzugehen: es gab da Situationen, die sich so unheimlich rasch abwickelten, daß man nur wünschen konnte, ein piou-piou zu sein. Immerhin gab es doch einige Augenblicke, in denen sich die Spielenden ihrer Rollen mit hingebendem Eifer annahmen. Und selbst der war gespielt.

Im Parkett blieb es gemütlich. Man faßte da die Dinge nicht so gefährlich auf, sah nicht, daß auch Tristan und Isolde hier einen lächerlichen Aspekt darbieten würden, und daß Romeo und Julia, von einem andern Stern, objektiv und nüchtern, also unabhängig betrachtet, ein ulkiges und verkrampftes Paar darstellten.

Nein, davon war im Parkett keine Rede. Wenn sie nicht Skat spielten, so lag das nur daran, daß es zu dunkel war, und im übrigen herrschte eine recht feiste und massive Freude. Das mußte man selbst sagen: immer diese verlogenen Sachen – hier wußte man doch …

Als es dann aus war – so ein trüber Schluß, wo jeder denkt, daß noch was kommt –, da zeigte sich, daß es mit der Sexualität so eine Sache ist. Die Männer standen herum und genierten sich voreinander, wobei sie den Mangel an Höherem betonten … Und dann schoben wir uns durch schmale Gänge in das benachbarte Lokal, und die Musik spielte laut und grell, und da waren alle so merkwürdig still und erregt. Ich hörte später, der Wirt habe zwanzig Mädchen dorthin bestellt.

Ich weiß es nicht, denn ich bin fortgegangen und habe mir so gedacht, wie doch die Worte „Laster“ und „Unzucht“ hohle Bezeichnungen für Dinge sind, die jeder mit sich selbst abzumachen hat.

„Der Lasterpfuhl“ – du lieber Gott! Auch dort wird man zu Neujahr Pfannkuchen essen und die Gebräuche halten, wie es der kleine Bürger liebt. Denn das Laster ist kein Gewerbe – und ein Augenzwinkern und ein tiefes Frauenlachen können lasterhafter sein als das ganze Hafenviertel Port Saids.

Der Portier vom Reichskanzlerpalais spricht

Ja, man hat ja so allerhand erlebt in der letzten Zeit. Früher – Gott! war diß jemietlich! Da kam wirklich mal hier und da Majestät zu Bethmann zum Frühstück, aber sonst war alles still, janz still. Und wenn ick noch an den Pudel von ollen Bülow zurückdenke, denn wird mit janz schwummrig, und ick muß jleich ’n Schnaps trinken… Ja, früher… Also diß is nu vorbei. Schon in’n Krieg jing die Aufrejung los. Da kam eines Tages ein Mann her, das war der neue Reichskanzler Michaelis, der bekam so’n mächtigen Schreck bei seine Ernennung, daß er sich die janze Zeit nich davon erholen konnte… Und denn kam so’n alter Herr, der wackelte immer mit’n Kopp, und denn dachten die Leute, er sacht: Ja – und da machte Jeder, wat er wollte. Na, und denn kam Prinz Max von Baden – und denn jing der Klamauk los… Sehn Se ma, früher, da stand ick morjens um neune auf, und denn fegten die Frauen det Jächtchen und den Flur, und ick sah mir das alles mit an, und wenn nicht jrade een Besucher kam, den ick anschnauzen mußte – denn jing es mir soweit janz gut. Aber nu? Also am neunten November – det weeß ick noch wie heute – da kamen auf einem Male Autos anjesaust, und denn kamen solche Kerls hier rin, die guckten an die Decke, fühlten sich mächtig unbehaglich, und ick sachte: „Zu wen wünschen Sie?“ sachte ick. Aber die sachten: „Nu regieren wir!“ Und ick jing denn janz ruhig in meine Portierklause und dachte: Immer regiert ihr man! Ihr werdet det schonst über kriejen! Und denn regierten die. Und einmal, einmal, da stand Liebknecht vor die Türe und hielt eine große Rede – und ick dachte schon, nu kommt der mir hier ooch noch rin – aber dann schrien se alle „Hoch!“ und „Nieder!“, und denn war es ja wieder jut. Na – und eines Morgens – ick sahre noch zu meine Olle: „Du,“ sahre ick, „mir is heute so merkwürdig“ – da kam denn so’n Herr an, so einer mit’n Bart und ’n Jesicht wie’n Bureauvorsteher – der sachte: „Morgen! Ich bin hier nu Reichskanzler!“ Na, ick jing denn janz ruhig in meine Klause und dachte: Mach man! Diß wird dir bald über werden! – und denn jing det so ’ne janze Weile. So fein wie früher war es ja nu nich. Die feinen Leute, die noch so manchmal so von früher herkamen, die lachten mir denn immer so vertraut an, so, als wollten sie sahren: Was? Wir zwei Beede haben doch schon bessere Tage gesehn! Aber ick sachte janischt und stand mit meine Olle auf den Boden der gegebenen Tatsachen. Na – und neulich, am dreizehnten März – ick sahre noch zu meine Olle: „Du,“ sahre ick, „jib mir mal ’n Kümmel – mir is heute so komisch“ – da kloppt et janz frühmorgens zu nachtschlafende Zeit an mein Guckfenster, und draußen steht ’n Herr – und lacht und sagt: „Nu regieren wir hier!“ Na, ick jing denn janz still in meine Klause und dachte: Macht man! Diß wird euch bald über werden! Und richtig: das wurde sie auch. Erst liefen ja hier mächtig ville Offiziere rum, mit Monokel, und Ludendorff kam auch, und ick riß die Knochen zusammen und jrüßte ihm, und er winkte jnädig ab – und denn rejierten sie da. Aber wie das so is: eines Morgens – da waren sie weg – und zwei Stunden später – da kloppt et an meine Türe, und da stand der Herr von früher und sachte: „Morgen! Morgen!“ sacht er. „Ja – nu rejieren wir hier!“ Und ick jing janz still in meine Klause… Und jeden Morgen, wenn ick uffstehe un meine Olle sich die Zeppe uffstecken tut, denn die hat se, denn steh ick ans Fenster und gucke so uff die leere Wilhelmstraße, wo die Spatzen in die Pferdeäppel picken, und denn denk ick mir so: Wer kommt nu –?

Dorf Berlin

„Eine Großstadt?“ sagte meine greise Freundin Lisa, als sie aus Paris zurückkam, „eine Großstadt? Kinder, auf dem Potsdamer Platz gackern ja die Hühner –!“ Das könnte wohl sein.

*

Frühmorgens, beim ersten Hahnenschrei, erhebt sich der Großbauer Wresczynski von seinem kargen Strohlager. Die Mistforke in der nervigten Faust, ruft er Weib und Kind zu: „Auf! Auf! Die Sonne vergoldet schon den Synagogenknopf!“ und geräuschvoll poltert er durchs einfache Bauernhäusel, das sich, mit Stroh gedeckt, an der Leibnizstraße erhebt. Draußen gluckert der freundliche Bach, umwogen die Bananenfelder und jungen Gemüsebeete den stolzen Besitz, die mächtigen Bologneser Wachthunde bellen, nationale Ochsen brüllen, und demokratische Schafe wandeln gesenkten Hauptes auf die magere Geschäftsweide. Die Bäuerin tritt auf die Schwelle und sieht frohgemut in die weite Landschaft: vom Lunapark bis zum Nelsonberg eine einzige üppige und fruchtbare Gegend. Der Hafer blüht 354 fob, die milde Kuh blickt verächtlich in ein Faß mit Margarine, und die Schweine wühlen behaglich in der weichen Streu, die man ihnen aus den Blättern der Deutschen Tageszeitung bereitet hat. Wo sind die Hühner? War der Fuchs im Hühnerstall? Aber Fuchs ist doch in Marienbad – nein, die Hühner sind schon frühmorgens auf den Geflügelmarkt gegangen, die guten Tiere, und haben sich da im Preis etwas heraufsetzen lassen. Erleichtert atmet die Großbäuerin auf.

Die Dorfkinder eilen in die Schule, und bald hört man die kleinen Stimmchen aus dem Schulfenster singen:

Siegreich wolln wir Frankreich schlagen
als ein tapfrer Heheheld …!

 „Herr Lehrer,“ sagt der kleine Gothein, „ich muß mal rausgehn – mir ist mein Kompromiß geplatzt!“ Und dann singen sie wieder.

Das Leben im Dorf hat sich unterdessen mächtig entwickelt. Die wackern Knechte verladen die Saisonarbeiter auf große ratternde Wagen, die tragen vorn eine Nummer, oben eine Stange und hinten einen Mann, der schimpft. Manchmal fahren sie. Die Frömmern werden in den Aboackerwagen geladen, und bald ist das ganze Volk rüstig bei der Arbeit. Emil Jannings geht hinter dem Pfluge einher und singt ein gar fröhlich Liedlein. In den Zeitungsredaktionen dreschen sie leeres Stroh. Die Großkopfeten lassen ein goldenes Haus am Brandenburger Tor schwarzweißrot anstreichen, von oben bis unten, und daß die Farbe auch regenfest ist, dafür sorgt schon der Obermeister aus Ludendorf; er trägt eine blaue Brille gegen die Sonne und hinkt etwas: er hat sich einmal vor Jahren das Ehrenwort gebrochen, aber es ist schon beinahe wieder zugeheilt. In einer Ecke hat Schlächtermeister Wulle eine kleine Judenschlächterei aufgetan und steht, mit aufgekrempelten Hemdsärmeln, vor der Tür. Dampfend raucht er aus einer ungeheuren Pfeife und liest die Memoiren des Herrn Tirpitz. Das ist ein starker Toback.

Zwei Büttel mit dem feierlichen Dreispitz und langen Obrigkeitsstock mit goldenem Knopf führen einen Mann einher, der lacht und wirft mit vollen Händen Geld unter die bettelnden Bankiers, die am Wege kauern. Neidisch zischelts hinter ihm: „Ja, der Müller! Der kann sich das leisten! Der steht unter Geschäftsaufsicht –!“ Zwei dralle Mägde kommen mit weiten Netzen aus der Au – man sieht ihnen die fünfundvierzig gar nicht an, wie sie so elastisch einherschreiten in dem putzigen Bubenkopf und dem guten Büstenformer! Sie kommen vom Tauentzien-Fluß, da haben sie nachts dem Fischfang obgelegen, und sie müssen gute Beute gemacht haben, denn die eine sagt zur andern, in ihrem bäuerischen Dialekt: „Det kann ich da sahrn, Else, ich hab den ollen Seeje die ganze Marie aus de Brusttasche jeklaut –! Wat heißt hier!“ Muntere Dirnen.

Schwerbeladene Wagen mit Dung schwanken unter den Torbogen, sie karren den Mist fort, kommen sie doch von einem sozialdemokratischen Parteitag. Halt! geht da nicht der schöne Rudi? Ja, er ist’s; das grüne Hütl keck auf einem Ohr, ein breites Scheit an der Seite, die Flinte auf der Schulter, so kommt Deutschlands beliebtester Sozialist durch die schmalen Dorfgassen, und strahlt, der Jägersmann: er hat wieder einmal einen fetten Bock geschossen. Im Dorfwirtshaus nehmen sie das Mittagsmahl; nach dem guten Essen sitzen sie an einem großen runden Tisch: Erich Koch, der Zentrumsschreiber Schreiber und Hugenberg, und spielen Skat. Man hört ein mächtiges Geschrei, sie scheinen also ganz gut miteinander auszukommen. Hugenberg, wie immer, mogelt.

Gewichtige Amtspersonen gehen durch die Wilhelmstraße: der Dorfschulze und die Mitglieder der Gemeindeversammlung. Viele haben ein blaues Auge, mit dem sind sie gerade davongekommen, und sie haben soeben beschlossen, mit dem Nachbardorf nur bei schönem Wetter Krieg anzufangen. Und eine neue Fahne wollen sie auch. Sonst haben sie keine Sorgen. Der Dorfschneider Haferl hütet seinen Laden, der alte Ladenhüter; er setzt den Mädchen alte Obstkörbe auf den Kopf und redet ihnen ein, das seien die neuen Modelle aus Paris. Mitten in der Gesellschaft sitzt ein armes Bäuerlein, das hat schon manches Anwesen ruiniert; während andre ackern, rechnet er und malt große Tabellen, da steht es alles drin. Aber obgleich er noch nie auf einen grünen Zweig gekommen ist, so wartet er doch und ist fein geduldig. Gut Hilferding will Weile haben.

Jetzt leuchtet die goldene Abendsonne über das Panketal, die Bäuerinnen treiben müd die Gänse heim, ihr Brusttuch steht, Gott behüte, offen, man hört das tiefe Muh der Rinder und: „Achtuhrabendblattachtuhrabendblatt!“ schnattern die Enten. Die Stalltüren öffnen sich langsam und weit.

Alt und Jung hat sich auf dem Dorfplatz unter der grünen Linde versammelt. Da steht herumfahrendes Gauklervolk und zeigt seine Künste. Einer kann eine ganze deutsche Grammatik verschlucken und gibt sie nur stückweise wieder von sich, der heißt Sternheim. Ein Alter ist da in würdevollem weißem Bahr, der ist katholisch und dreht sich herum und – husch! – ist er ein Freigeist, und wieder herum und – husch! – ist er ein Hitlermann. Keine Verpackung, nur Ausstattung! Und einer dreht auf der Laterna magica schöne Bilder; da kann man einen Berliner Schauspieler sehen, tiefe Schmink- und Sorgenfalten durchfurchen sein Gesicht, und alles Volk schreit: Hurra! Denn die dummen Bauern glauben, das sei Fridericus Rex mit der Königin Luise, und nur der Gaukler an der Laterne weiß es besser. Aber er sagt nichts und schmunzelt und streicht das Eintrittsgeld ein. Und in einer Ecke haben sie ein Theater aufgeschlagen, aber das ist ganz leer, nur ein Mann sitzt darin, der hat sein Billett bezahlt. Es ist der Dorftrottel.

Nun ruhen alle Wälder, und der gute Mond scheint seins durch die silberblassen Wolken. Alt und Jung … ach, das hatten wir schon. Normal und Andersrum ist zur Ruh gegangen, allein, zu zweit und assortiert. Vor dem Haus eines Weingroßhändlers rauscht zauberhaft und familiär ein Brunnen. Die Schenken haben geschlossen. Der letzte Fiedelton erstarb.

Klappt da ein Fenster –? Auf schwanker Leiter steht ein junger Bauer mit nackten Knien in der krachledernen Hos auf der obersten Sprosse und busselt sein Mädel ab, die da vollbusig zum Fenster heraushängt. Es ist der Graf Keyserling, der voll Weisheit, wie er es in der Schule gelernt hat, einer drallen Bauerndirn den Hof macht. „O Katharina –!“ flüstert er heiß. Der Mond versinkt hinter dem Pallenberg, der Graf rutscht von der Leiter, ein leiser Abendlandwind gespenstert durchs Gras … Das Dorf schläft.

An dieser Stelle veröffentlicht Tucholsky die Geschichten des Herrn Wendriner. Diese sind hier zu finden, denn ich wollte sie eigenständig vorstellen. – Hartmut Deckert

Ein Mann am Wege: Herr Wendriner

Über Land

Breslau

Der richtige Berliner stammt entweder aus Posen oder aus Breslau. Man muß also wohl unterscheiden zwischen dem Breslauer Breslauer und dem Berliner Breslauer. Der Breslauer Breslauer ist ein ganz eignes Lebewesen. Wenn man so harmlos die Schweidnitzer Straße in Breslau herauf- und heruntergeht, merkt man erst gar nicht, daß man unter einem sonderbaren Volksstamm weilt. Roda Roda hat einmal gesagt, er habe in seinem sündevollen Leben nur einen Wunsch: er möchte noch einmal in Breslau als Dichter anerkannt werden. Das ist in der Tat noch keinem beschieden gewesen. Der breslauer Breslauer ist von seiner eignen Liliputanerhaftigkeit viel zu überzeugt, als daß er seinesgleichen anerkennt. „Wie kann der Kerl ein Dichter sein, wenn er noch gestern neben mir über den Tauentzien-Platz gelaufen ist –!“ Der Breslauer weiß alles besser und kann es auch schöner. Die Eigenliebe der Bewohner dieser Stadt steht im graden Verhältnis zur Schwingenweite des Nebbichvogels, der über ihr rauscht. Das hat mir ein berliner Breslauer selbst gesagt, und der muß es doch wissen.

Der breslauer Breslauer hat einen durch Frechheit gemilderten Respekt vor den Berlinern, schimpft auf sie und bewundert sie maßlos. Das hindert ihn aber nicht, ein stolzes Selbstbewußtsein zur Schau zu tragen – nie habe ich eine solche Ansammlung von Fürstensöhnen und spanischen Hidalgos in Zivil gesehen wie bei Liebich, Breslaus feinstem Tanzlokal. Da geht es hoch her, man ist ganz unter sich, liebt sich, kennt sich, und jeder junge Mann tanzt wie der kleine Giampietro, der das Pech hatte, nicht aus Breslau zu sein.

Nun leidet es aber sehr viele Breslauer nicht zu Hause, sie wandern aus – und da wird die Sache finster. Ein gut Teil des berliner Debetkontos in der Welt geht auf die Breslauer, die viel forschere Berliner sind als die richtigen. Aus Breslau zu stammen, das ist keine ethnographische Bestimmung: das ist eine Weltanschauung. Ich kann Ihnen im Dunkeln alle Breslauer aus einer Gesellschaft heraussuchen. Der berliner Breslauer ist eine gradlinige Natur – er fragt dich einfach, wieviel du verdienst, ob du deine Frau liebst, wie oft und warum – er schätzt das Geld, besonders das der andern – und ist überhaupt mächtig geschäftstüchtig. Er paßt, wie man so sagt, in seine Zeit. Er hat in die große gepaßt, und er hat sich auch in die jetzige ganz hübsch hineingefunden.

Der berliner Breslauer hat eine Eigentümlichkeit: unter aller weltmännischen Größe sitzt eine ganz provinzielle Kleinheit. Es kann sein, daß ein solcher Aktienbeherrscher plötzlich beginnt, seinem Portier vorzurechnen, daß er für jedes Türschließen drei Mark achtzig bekommt. Das ist dann wieder die Schweidnitzer Straße.

Aber nun habe ich es wohl mit der Berliner Haute Finance, mit dem größern Teil der Literatur, dem Berliner Film und dem Theater auf Jahre hinaus verdorben. Man könnte das reparieren, indem man die Breslauer Messe lobte. Sie sind so stolz darauf …

Aber das werde ich wahrscheinlich auch nicht tun, und jetzt werden sie alle die „Weltbühne“ abbestellen, S. J. wird verfemt, ich bekomme keine Kritiken mehr, und wenn alles nichts hilft, verknacken sie mich. Zu zwei Jahren schwerem Breslau.

Kleine Reise 1923

Das Rathaus zu Goslar ist eine weißangestrichene Wachtstube. Das danebenstehende Gildenhaus hat schon ein besseres Ansehen. Ungefähr von der Erde und vom Dach gleich weit entfernt stehen da die Standbilder deutscher Kaiser, räucherig schwarz und zum Teil vergoldet, in der einen Hand das Zepter, in der andern die Weltkugel; sehen aus wie gebratene Universitätspedelle.

Heinrich Heine: Die Harzreise

Graf Koks lehnte sich behaglich in die weiche Ecke des warmen Coupés Zweiter Klasse, das zu benutzen ihm seine Mittel gestatteten. Draußen der Gang des D-Zugwagens war gerammelt voll, er streckte sich wohlig auf seinem Sitz. Die Brotkartengesichter um ihn herum schliefen oder dösten. Er bat Aphrodisiaka, die ihm gegenüber saß, ein glückliches Gesicht aufzuziehen, was sie freundlich lächelnd tat, genoß die Vorstellung: fünf freie Tage, fern von Berlin – und schlug sein Lieblingsbuch auf, bei dessen Titel man schon das Schmunzeln bekam: „Collin ist ruiniert“ von Frank Heller.

Wie da Geschichte und – erdichtete – Realität durcheinanderwirbelten und ineinander verwebt waren! Wie man bald nicht mehr aus noch ein wußte, kaum noch unterschied, ob Professor Pelotard eine Romanfigur oder ein wirklich existierender Mensch war, ob Ereignisse als gedruckt oder als gelebt zu gelten hatten, und von Gnaden welcher Phantasie eigentlich Lavertisse lebte und durch die Seiten wandelte! Der Weihnachtszug fuhr knackend über die Weichen, stieß polternd bei den Kurven an und nahm alle süßen Ecken mit … Wieviel gute Laune sang aus diesem Buch! Mit welchem Behagen war daran gearbeitet worden! Graf Koks hatte vergessen, wie der bürgerliche Name dieses Schriftstellers eigentlich lautete – auf alle Fälle war er schwer zu beneiden! Wieviel sanfte Nachmittage, leuchtende Morgen, braun hindämmernde Abende waren in dies Buch hineingenommen worden! Wie glatt mußte alles funktioniert haben, als der Autor sein Kind austrug: Wetter, Bankauszüge, Verdauung und die Dame seines Herzens! Eine unbändig gute Laune sprach aus allem: tausendmal machte der Fabulierer in der Fabel Halt, verlustierte sich an bunten kleinen Einzelheiten und beschrieb mit ebensoviel Sorgfalt wie himmlischem Humor italienische Straßenszenen und spaßige Einzelheiten aus sicherlich erlebten, sehr sorglosen Tagen … Ja, das war ein amüsantes Buch.

Aufatmend legte er beiseite, was er glückselig lächelnd durchgekostet hatte … Goslar.

Wenn man ausstieg, war noch gar nichts. Goslar fing nicht am Bahnhof an; es war, wie wenn sich jemand auf einem Maskenfest in einem nüchternen Vorraum erst die Gummischuhe auszieht … Bahnübergang, graue preußische Backsteinbauten – aber dann, nach fünfzig Schritten: Lebkuchen, kleine Giebel, angeklebte Fenster, weicher Watteschnee aus den Spitzwegdächern – Regie: der Winter, und es war sehr hübsch inszeniert. Graf Koks und die Gräfin Koks wandelten leise erfreut durch die krummen Straßen, nahmen im Hotel Zur goldenen Guirlande Wohnung und zogen sich in ihre Appartements zurück.

*

Das gräfliche Paar strich unproduktiv und in keiner Weise zum Wiederaufbau Deutschlands beitragend die Straßen entlang. Dunkelblaugrau war der Weihnachtsnachmittag, sacht nahm der Beleuchter das Licht aus den Soffitten und verdunkelte langsam die Rampe … Die ersten Lichter in den Stuben zwinkerten.

Die Ausgestoßenen wandelten durch die Straßchen, keiner familienhaften Weihnachtsfeier teilhaftig. Der kalt glitzernde Schnee knirschte unter ihren Schritten, nur wenige Goslarer gingen hastig, bepaketet und festlich zur Eile getrieben, dahin. Durch die Fensterchen funkelten die Lichter der ersten Weihnachtsbäume, man ahnte die Freude, und wenn man genau hinhörte, roch es gebraten und warm.

Da feierten sie. Es feierte der sächsische Industrielle, der sich seine Tarifverhandlungen durch die Reichswehr führen ließ; es feierte der Offizier, der mit der einen Hand für die gefangenen Brüder an der Ruhr focht und mit der andern die Brüder aus Thüringen in die Schutzhaft sperrte, daß es nur so knackte. „Ihnen gilt in erster Linie unser Weihnachtswunsch nach Frieden und Freiheit“, hatte unser Reichskanzler durch Rundfunk weitergegeben. „Ihnen“ – damit meinte er natürlich die in Thüringen und Sachsen. Oder war er auf eine andre Wellenlänge eingestellt? Da umstand den Weihnachtsbaum der Landgerichtsrat, der in Hannover einen kleinen ostgalizischen Devisenschieber zu acht Monaten Gefängnis verurteilt hatte; es zündete an die christlichen Lichter jener Richter, der Kaufleute freigesprochen hatte, weil sie einer Frauensperson aus Köln ob ihres Umgangs mit Franzosen die Zöpfe abgeschnitten hatten: sie alle feierten warm und wohlbehalten Weihnachten. Manche Fenster waren dunkel: vielleicht heulte hinter ihnen in der Kälte eine Frau, deren Mann in einem Gefängnisloch hockte, stumpfsinnig, und von Gott und dem Ausnahmezustand geschlagen, den sein Präsident über ihn verhängt hatte. Hatte sich Christus der Sünder erbarmt – der Wehrkreiskommandeur dachte über diesen Fall anders.

Das gräfliche Paar hob die Köpfe. Gesang? Gesang quoll über die Häuser, zog linde durch die schneidend kalte Luft. Und Orgelklang … Sie gingen ihm nach und kamen an eine Kirche.

Graf und Gräfin Koks traten ein. Weihnachten! Das hohe Fest der christlichen Kirche – wie wurde das gefeiert?

In einem steinkalten Raum standen lieblos geputzte Tannenbäume. Man sang recht und schlecht und falsch. Ein fahles Dutzendpublikum füllte die Bänke und machte hoffnungslos stumpfe Gesichter. Auf diesen Gesichtern stand: Brotkarte, Tarif, Wohnungsamt, Abbau, Tarif, schematischer Abbau, Tarifabkommen.

Ein Gehaltsempfänger in schwarzem Behang schritt auf die Kanzel und sagte auf, wozu er verpflichtet war. Aber getragen vorgebrachte Papiersätze sind noch kein Pathos, und so wurde auch dies keines. Nicht ein Wort, das einen anging, nicht ein Wort, aus dem die geistige Not dieser Zeit sprach – nicht ein Wort davon, daß so vieles zerbrochen, so vieles neu, aber unvollkommen geboren ward … Zitate aus der (inzwischen verfilmten) Bibel zierten die Ansprache, und was darüber war, bewegte sich auf dem Niveau einer Weihnachtsbetrachtung des Berliner Lokal-Anzeigers. Die Masse saß starr und stumpf; der einzige natürliche Laut in diesem Raum war das selbstvergessene Lallen eines Kindes, das, mit dem Finger im Mund, selig in die flimmernden Kerzen guckte und von Gott und diesen seinen Vertretern noch nichts wußte. Der sorgsame Küster hatte die Tür abgeschlossen, die gräflichen Besucher konnten nicht herausgelangen und hingen nun mit gekreuzten Beinen an den Lippen des verehrten Redners. Er sprach die angenehme und klare Mundart der niedersächsischen Gegend, die einen der saubersten Dialekte Deutschlands hat. Aber was er sagte, mußte selbst den jammern, in dessen Namen er zu sprechen vorgab … Es war zum Gotterbarmen.

Das gräfliche Paar begab sich elastischen Schrittes auf den Heimweg. Oben, auf dem Turm der … kirche stand ein Bläserchor und tat das seine. Die kuppelüberdachte Plattform, die aussah wie die Spitze eines Baumkuchens, war schwach erhellt, weihevoll und erschröcklich schief drangen die Töne von „O du fröhlicheee“ herunter in das Weltgewühl von mindestens zweiundvierzig Passanten. Das war hübsch. Welch ein Anachronismus, dieses Weihnachten! Man denke sich in den irren Lärm der drei Berliner Börsensäle ein Weihnachtslied gespielt – es paßte nicht ganz dorthin. Aber man denke sich dort: „Yes, we have no bananas!“ – Rhythmus, Melodie und Text würden nur noch aufreizender, noch aufregender, noch bejahender wirken. Fatal, daß so viele Leute nur Weihnachten feiern, weil so viele Leute Weihnachten feiern.

Das Paar ging zur Ruhe. Gute Nacht.

*

Für den nächsten Tag war Schlittenfahrt angesagt. Wie gut, daß an der Wirtshaustür: „Denkt an die Schande von Versailles!“ angeschlagen stand! Denn so war der schlechte, aber teure französische Rotwein, den es zum Frühstück gegeben hatte, erklärlich und bekömmlich gemacht. Draußen blus die Platzmusik aus leicht angefrorenen Posaunen, die Schellen auf den Pferdekopfbüschen vorm Schlitten klingelten – los gings.

Der Schnee „stand rieselnd“, wie Alexander von Villiers sagt, der Schlitten klingelte sich zu Tal, und die ernsten, schweigsamen Tannen …

(Folgen zwei Seiten Landschaftsschilderung.)

Durch den weißen Schnee kamen einem Leute entgegen. Tarifgesichter; grau und gelb von Zimmerluft, verkniffen und gefaltet von vielerlei rechthaberischen Verhandlungen, paßten sie nicht einmal in diese Natur. In die Ecke, Stubenwesen – seid’s gewesen, seid’s gewesen …!

Nun ist der Harz allerdings nur noch ganz schwach mit Natur gefüllt. Da gibt es nichts mehr zu entdecken, da ist kein Neuschnee, da blüht nichts mehr unverborgen: kein Fußbreit Boden, auf dem nicht ein Sachsenschuh entlanggelatscht wäre, alles ist eingezäunt, mit Tafeln versehen, tausendmal erklärt und gänzlich ausgelaugt. Eine Stadtanlage.

Im Achtermann zu Goslar ist eine Bismarck-Nische. Von Historie geschwängert liegt die niedrige Decke bedeutungsvoll über den dicht mit Bildern besäten Wänden. Bismarck zu Pferde und Bismarck zu Friedrichsruh, Kitschonia, die Göttin der achtziger Jahre, beut gewänderumwallt dem reifigen Helden irgendeine symbolische Klystierspritze, und was der Kladderadatsch da an ranzigem Fett unter Glas und Rahmen zu hängen hat, das ist gar nicht zum Blasen. Immerhin fehlt auch eine handschriftliche Probe des Gewaltigen nicht: „Wenn der Deutsche sich auf sich selbst besinnen soll, muß er erst eine Flasche Wein im Leibe haben …“ Heil!

Es wird überhaupt ein bißchen viel geheilt in Goslar. Die Zeitungen sind voll von Versammlungsberichten der Jungmannen verschiedenster Observanz. „Stahlhelm“, „Jungdeutscher Orden“, „Bismarckbund“ und was sonst noch so in Preußen gut und verboten ist, tagt dort ununterbrochen. „Ein flottes Tänzchen beschloß die von echt deutschem Geist durchwehte Weihnachtsfeier.“ Geleitet von Studienräten, Geistlichen und andern Jugenderziehern, die einer neudeutschen Jugend das ganze von den Romantikerepigonen entlehnte Vokabularium an den Kopf werfen, womit sie schon einen Weltkrieg verloren haben: noch mal! noch mal! Man denke sich ein dünnes Abziehbild der Original-Imitation eines Fichte-Kopisten, und man hat ungefähr einen Begriff von dieser Diktion. Nicht eine Spur von Selbsteinkehr, nicht ein Lichtlein Demut, Selbstkritik, Blick nach innen – vielmehr ein dummdreistes Geschrei gegen den Erbfeind, ein Gassenantisemitismus, der einen zum innigsten Verehrer des Berliner Konfektionsviertels machen könnte, und ein rohes Gebrüll gegen die Arbeiter und für den Zwölfstundentag der andern. Die Herren selbst sind mit seiner lukrativen Organisation beschäftigt. Masochisten im Stahlhelm, umbrodelt von einer heidnisch-germanisch-christlichen Bieranschauung.

Krumme Gassen, gaßauf, gaßab. Sie gingen hintereinander, weil das Trottoir so schmal war. Wie, wenn sich nun plötzlich eine Hand aus einer pfefferkuchenbraunen Tür streckte und die Gräfin wegschnappte, Koks merkt es erst an der nächsten Ecke, ruft angstvoll: „Aphrodisiaka!“ – aber sie ist und bleibt verschwunden … Nein, hier ist Preußen. Märchenhaft sind nur unsre Richter. Sonst nichts.

Letzte Promenade durch die verwinkelten Gassen. Begreiflicher Hang der Bewohner, bei solchen Kulissen auch immer wieder die alten Stücke aufgeführt zu sehen. In einem Laden eine Uhr, nur aus Stroh, wie so vieles in diesem Lande. Eine Zeitung hatte die Nachricht gebracht: „Eine Violine aus Streichhölzern erbaut. Wiederum ein Beweis deutschen Fleißes …“ Wobei zu bemerken, daß dort kein Satz mehr ohne dieses nicht geographische, sondern wertbejahende Adjektiv gedruckt werden kann. Eine echt deutsche Schmockerei!

Letzte Promenade, Winke-Winke, Abschied und Räderrollen. Durch vereiste Scheiben flimmern die Lichter Goslars.

Der Graf setzte sich wiederum in die Ecke, zog den Schelmenroman Frank Hellers aus der Tasche und sprach in seine kleine, aber wohlgepflegte Zigarre:

„Frau Gräfin, wir fahren jetzt in den zwanzigsten Jahrgang der ,Weltbühne’ hinein! Zehn Jahre davon bin ich auch dabei gewesen, und es waren nicht meine schlechtesten! Das ist die einzige Stelle in Deutschland, wo man sagen kann, wie einem ums Herz ist, und wo ich immer die Wahrheit sagen durfte: ohne taktische Rücksichten auf Verleger, Inserenten und Leser und ohne jene maßlos törichte Feigheit der großen Presse vor ihrer eigenen ‚Kulturmission‘. Komm, schreib an S. J. eine Ansichtskarte und gratuliere ihm: ahnungslos, aber herzlichst!“ „Und warum“, fragte die Gräfin, „sind Sie zur Zeit nicht mehr dabei, Herr Graf?“ Da sah der Graf noch einmal von seinem Buch auf und sagte: „Weil die Zeit mir dagegen zu sein scheint. In einem schlecht geheizten Warteraum voll bösartiger Irrer liest man keine lyrischen Gedichte vor. Wenn irgendeiner uns in das Ausland unter richtige Menschen holt, damit wir erst einmal wieder einen klaren Kopf bekommen, Übersicht und Festigkeit, dann will ichs wieder versuchen. Bis dahin bleibt – über diese Sozialdemokratie, über Industriewegelagerer, Städteaushungerer und Schutzhaftgenerale, über den Bürgerpräsidenten Louis Philippe Ebert, über Radeks sitzengebliebene Zöglinge und Bayerns Ehrenwortfabrikanten – bis dahin bleibt nur eines:

Schweigen. Schweigen. Schweigen.“

Die einseitigen Patriarchen

Ein in Deutschland weitverbreiteter Arbeitgebertrick ist folgender:

Der Leiter eines Unternehmens schließt mit Ihnen einen Vertrag. Dabei sagt er: „Wissen Sie, das ist ja eigentlich ganz überflüssig, daß wir alle diese Punkte fixieren – so, wie wir miteinander stehen! Es ist nur der Ordnung halber. Sie verstehen: ich kann nur mit Leuten zusammenarbeiten, mit denen ich auch menschlich“ – dies Wort darf nicht fehlen! – „übereinstimme. Seien Sie mir nicht ein Angestellter – seien Sie mir ein Freund!“ Gut. Und das faßt er so auf:

Sie sind sein Freund. Sie liefern mehr, als Sie zu liefern haben. Sie arbeiten mehr als sein Portier, länger, ausdauernder, intensiver, vertrauensvoller. Sie wahren seine Geheimnisse, Sie geben sich Mühe, Sie fördern das Unternehmen, als ob es Ihr eignes oder das Ihres Vaters wäre – kurz: Sie gerieren sich ihm gegenüber, als wären Sie ein Geselle aus einer Zunft des Mittelalters, ihr seid innig vertraut, eng aneinandergekettet … Das heißt: Sie sind es.

Er weniger. Er erfüllt genau seine Pflichten wie jedem seiner Angestellten gegenüber. Sie bekommen nicht einen Pfennig mehr – nicht einen Tag Urlaub länger. Denn der Menschliche hat ganz vergessen, daß der Arbeitsherr im Mittelalter zwar den Lehrling und den Gesellen bis spät in die Nacht hinein ausnutzte, dafür aber auch für sie sorgte, wenn sie krank waren, sie ausstattete, wenn sie sich verheirateten, sie bevaterte, wenn sie keine Eltern hatten. Ah – nichts von alledem!

Der moderne Patriarch nimmt die Rechte eines Zunftherrn in Anspruch, ohne dessen Pflichten zu erfüllen. Sie sind krank? Aber Sie sind in einer Krankenkasse. Sie wollen heiraten? Heiraten Sie kein armes Mädchen. Sie wollen unvermutet, aus drängendem Anlaß, Urlaub? Sie sind leider im Augenblick unentbehrlich. Ein Zeichen, wie man sie schätzt.

*

Thomas Mann hat einmal erzählt, wie er als Kind vor Ärger weinte, wenn er kleine Männerchen auf Papier gekritzelt hatte, und die Leute fragten gleich: „Wer soll das sein?“ Es sollte niemand sein.

Der einseitige Patriarch ist kein Porträt. Er ist ein Typus.

Kleine Station

„-’menau!“ rufen die Schaffner. „-’menau!“ Mit dem Ton auf der letzten Silbe. Wir sehen hinaus.

Da rauschen ein paar Bäume, der Stationsvorsteher hat sich Sonnenblumen gezogen, die aus der Zeit herrühren, wo er noch nicht Fahrdienstleiter hieß, da steht „Männer“ dran und da „Frauen“, und für die Zwitter ist auch noch ein Güterschuppen da. Die Lokomotive atmet. Niemand steigt aus. Niemand steigt ein. Aber hier ist: Aufenthalt.

Von „-’menau“ ist nichts zu sehen, das liegt wohl hinter den Bäumen. Doch, hier ist ein kleines Stückchen Straße, wenn nicht alles täuscht: die Bahnhofsstraße, maßlos häßlich, hoffen wir, daß es da hinten hübscher aussieht. Sicherlich tut es das.

Da steht ein Schillerdenkmal (1887) und ein Kriegerdenkmal – nein, zwei: eins von dunnemals und eins von heute, eins mit einer Zuckerjungfrau und eins mit einem Stahlhelmmann. Eine Kaiser-Wilhelm-Straße ist da, und die lange Chaussee trägt den Namen der nächsten großen Stadt. Die Kirche ist aus romanischem Stil und das Postamt aus Backsteinen.

Einer ist der reichste Mann von „-’menau“ – einer muß doch der Reichste sein. Er ist viel in der Stadt und weilt nicht oft im Orte, wie das Blättchen schreibt. Am Stammtisch sorgen der Amtsrichter, der, ach Gottchen, Referendar, der Apotheker und der Postinspektor für die Aufrechterhaltung der Republik, wie sie sie auffassen. Manchmal darf da auch der Redakteur sein Bier trinken.

Wenn Markt ist, schwitzen dicke Bauerngesäße in der Kneipe, alles ist voll Dunst und Rauch und Geschrei. Der Lehrer hat ein bißchen die Tuberkulose, aber das macht nichts: im Sommer fällt ohnehin der Unterricht so oft aus, wie der Gutsbesitzer die Kinder zur Feldarbeit braucht. Es ist ein Arzt da, der viele Kinder hat, merkwürdig. Am Marktplatz wohnt Fräulein Grippenberg, sie spielt Klavier; wenn nachts der Mond geschienen hat, singt sie am nächsten Tage, die Hunde haben das nicht gern. Ein Polizeibureau ist da, worin es grob und säuerlich riecht; der amtierende Polizist hat hervorstehende Augenbrauen, fast kleine Buschen; er war aktiver Wachtmeister, seine Einjährigen hatten nichts zu lachen, aber er hatte was.

Wo die Liebespaare wohl hingehen? Wahrscheinlich in die Felder. Die Gemeinde zählt 1245 Seelen, da heißt es fleißig sein; der Kaiser braucht Soldaten … ach nein! Ja doch. Telephonieren kann man beim Doktor, sonst im Gasthaus, aber da ist das Telephon kaputt. Auf einem brachliegenden Felde in der Gemarkung VIII des Kätners Römmelhagen steht ein Runenstein. Schadt nichts, laß ihn stehen.

Möchte man hier leben –? Auf dich haben sie nicht gewartet; sie haben ihre Schicksale, sterben, saufen, handeln, lassen Grundstückseintragungen vornehmen, prügeln ihre Kinder, stecken der Großmama Kuchenkrümel in den Mund und verzweifeln – höchst selten – an der Welt. „-’menau!“

Ja, und dann fahren wir wieder.

Straße gesperrt: Militär!

Jemand besucht etwas mit seinem Kind

„Der Bauer hat gesagt: Erst rechts und dann links bis zu dem halbhohen Haus und dann immer gradeaus … Warte mal … Hier ist die Bürgermeisterei … da ist … das war früher nicht … das hat hier nie gestanden … Ah, hier ist die Chaussee. Jetzt weiß ich weiter.

Also, paß auf, mein Junge, da drüben lagen wir: von dem kleinen Berg an bis ungefähr hierher. Nein, es hat sich mächtig verändert – das war hier alles nicht. Na, gar nichts war – gar nichts. Hier lagen wir, dann kam eine ganze Weile nichts, das war das Niemandsland – das gehörte keinem … und dann kamen die Deutschen. Da drüben lagen sie – der Horchposten lag hier, nein, warte mal, da – ja, grade da, wo jetzt der Teich ist. Ihr Graben fing da an. Jetzt erkenne ich alles wieder. Immer vier Tage hier vorn, dann drei Tage Ruhe hinten. Na, Ruhe … Und dann der Urlaub, da wurdest du geboren – und dann wieder her. Nein, die Bauern waren alle fort – es waren nur die Soldaten hier. Wir hatten aneinander vollkommen genug. Komm mal ein Stück weiter nach vorn, vielleicht kann ich dir da etwas zeigen. Bist du müde? Wir waren auch müde, manchmal. Ja, nachts auch, du Dummerchen. Grade nachts. Meinst du, da hats aufgehört? Na – man konnte schon sehen: sie haben Raketen angezündet. Ja – viele. Viele sind totgeschossen. Siehst du, da oben, die schwarzen Kreuze? Das ist der Soldatenfriedhof, da liegen sie, da liegen sie alle … Siehst du, über dieses Feld hier muß der Graben gelaufen sein, grade hier. Und da! da, wo der Baum steht, da lagen die andern. Dazwischen? Dazwischen war das leere Feld. Fünfmal sind wir da gelaufen, fünf Angriffe haben wir gemacht … und sie sind auch darüber hin gelaufen, die Deutschen … immer ist alles so geblieben, wie es war. Da drüben, aber natürlich – genau an der Stelle – da war der Offiziersunterstand, von da kamen immer nachts die Krankenträger, und hier waren die größten Einschläge. Und da, gerade da, wo ich jetzt den kleinen Stein hinwerfe, da war die Sache mit Blanchard.

Besinnst du dich auf sein Bild? Es steht bei Vater auf dem Schreibtisch. Ja, der Mann mit dem großen Bart und dem ulkigen Stock. Das war Blanchard. Junge, wenn du den gekannt hättest – so einen gab es nicht mehr. Klug und anständig und so ein Freund! So ein guter Freund wie dein Freund René. Der Blanchard – Guten Tag, Madamchen, na, immer noch so rüstig auf den Beinen? Ja, sehr heiß! – der Blanchard, der lag da auf Horchposten. Das ist ein Posten, der muß horchen, wann die Feinde kommen. Und da kam ein Schrapnell geflogen, und ein Eisenstück muß ihn grade in den Bauch getroffen haben. Das war nachts um zwölf. Junge, halt doch meinen Finger nicht so fest, es tut dir ja hier keiner was! Und da hat er geschrien, drei Nächte und zwei Tage hat er noch gelebt. Nach mir hat er immer gerufen, nach mir und nach seiner Mutter. Die Stimme wurde immer leiser. Zuletzt hat er nur noch ganz leise mit seinem Verbandsfetzen gewinkt – ganz wenig. Wir konnten ihn nicht holen. Niemand durfte heraus – es wäre der sichere Tod gewesen. Damals waren die Deutschen grade furchtbar erbittert, ich glaube, sie hatten eine Schlacht verloren. Und da mußten wir ihn liegen lassen, den Blanchard, die ganze Zeit über. Ich wollte auf ihn schießen – damit er nicht so zu leiden brauchte. Aber es ging nicht, er lag in einer Mulde, und ich konnte auch nicht. Er hat so geschrien, daß sie aus dem Nebengraben zu uns gekommen sind, weil sie wissen wollten, was es da gäbe. Hier war das. Da hinten ist unser Feldwebel gefallen, da war der große Einschlag, bei dem zwei Korporalschaften draufgegangen sind … da ungefähr muß ich gestanden haben. Nein, nein! Das ist nur in deinen Lesebüchern so. Du mußt nicht glauben, was in deinen Geschichtsbüchern steht – es ist alles nicht wahr. Dies hier – das ist wahr, Junge …“

„Was hast du, Papa? Warum sagst du nichts mehr? Nimm doch die Hand von den Augen –! Papa –!“

Wo waren Sie im Kriege, Herr –?

Que faisiez-vous en 1870? Cette interrogation, si fréquente aujourd’hui encore, n’aura plus de sens pour la prochaine génération.
Léon Bloy

Als die Druckerschwärze um den Tod Paul Cassirers haushoch aufspritzte, gewann eine nationale Zeitung über sich, dem Toten einen schwarzweißroten Lappen ins Grab nachzufeuern: der schwärzeste Tag in seinem Leben sei der gewesen, wo man ihn in den feldgrauen Rock habe stecken wollen; da habe er den Tod gefürchtet, der ihm jetzt so willkommen gewesen sei. In goldenen Lettern leuchte auf diesem Grabstein: Drückeberger.

Ich weiß nicht, was Paul Cassirer im Kriege getan hat, und es ist mir auch ganz und gar gleichgültig. Weil ich aber weiß, was die meisten Deutschen – auch Pazifisten – antworten, wenn man ihnen die Frage stellt, wo sie denn im Kriege gewesen seien, so scheinen mir einige Bemerkungen angebracht.

Für einen anständigen Menschen gibt es in bezug auf seine Kriegshaltung überhaupt nur einen Vorwurf: daß er nicht den Mut aufgebracht hat, nein zu sagen. Einem Pazifisten zu erzählen, er sei kein begeisterter Soldat gewesen, ist ungefähr so, wie einem Vegetarier vorzuwerfen, daß er auf einem Schlachtfest gekniffen habe. Aber im Pazifismus, in der Demokratie, unter der Opposition gibt es leider so viel Halbseidene, die dem Gegner den Gefallen tun, auf etwas, was ein Lob ist, als auf einen Vorwurf hereinzufallen. Sie verteidigen sich, anstatt anzugreifen.

Neben der großen Masse der Indifferenten hat es, besonders zu Anfang des Krieges, viele junge Leute gegeben, denen schlechte Schulbildung, mangelnde Erziehung, die Hetzarbeit von Universität, Presse und Kino eine Erkenntnis des modernen Krieges nicht ermöglicht haben. Sie glaubten ganz ehrlich, einer guten Sache zu dienen; sie glaubten fest daran, daß Deutschland überfallen worden sei, so, wie die Franzosen und die Russen dasselbe von ihren Ländern glaubten – diese jungen Leute meldeten sich freiwillig und gingen in den sinnlosesten Tod. Für sie hatte er Sinn. Ihre umnebelten Gehirne, ihre niedergehaltenen Instinkte sahen hier das Abenteuer, Buntheit, Sport, Gefahr – und die niedrigste Menschensorte, die Feldpfaffen der drei großen Konfessionen, versicherten ihnen, daß ihr Tun nun auch noch, zu allem Überfluß, moralisch sei. Die Opfer dieser Massenbesoffenheit sind nicht zu tadeln, sondern zu bedauern. Wer im Kriege gefallen ist, ist für einen Dreck gefallen.

Wie verhalten sich nun bei einer solchen Sachlage viele Pazifisten, wenn man sie fragt: „Wo waren Sie im Kriege –?“

Sie drehen sich. Sie winden sich: Sie reden sich aus. Sie wollen ihren ethischen Standpunkt nicht verlassen, wollen aber auch nicht zugeben, feige gewesen zu sein. Im Gegenteil: es gibt sogar manche, die noch stolz auf ihre Mordtaten sind und erklären: Durch diese Morde habe ich erst das Recht erworben, Pazifist zu sein. Ich war ein tapferer Soldat – hier meine Orden, meine Kriegsandenken, meine Papiere –: ich war kein Drückeberger.

Es gibt Ausnahmen. So hat der tapfere Sekretär der Republikanischen Beschwerdestelle einer Provinzzeitung in Braunschweig die richtige Antwort erteilt, als die aufschäumte: crimen laesae rei militaris! Der Sekretär schrieb ihnen, er tue der Uniform noch viel zu viel Ehre an, wenn er sie „Militärkostüm“ nenne, und das Blättchen fiel vor Schreck aus der deutschen Grammatik. Aber dieser Republikaner ist ein bißchen allein. Andre paktieren.

Ich halte diese Taktik und diese Halbheit für falsch. Man kann, wie die Schoenaich und Schützinger, sagen: Wir haben damals nicht gewußt – heute wissen wir. Wir waren im patriotischen Dämmer – heute sehen wir klar. Verzeiht uns, daß wir getötet haben! Daß aber erst Grabenkampf und vertiertes Soldatensein zum Antimilitarismus legitimieren, will mir nicht einleuchten. Was hier fehlt, ist Zivilcourage.

Ich habe mich dreieinhalb Jahre im Kriege gedrückt, wo ich nur konnte – und ich bedaure, daß ich nicht, wie der große Karl Liebknecht, den Mut aufgebracht habe, nein zu sagen und den Heeresdienst zu verweigern. Dessen schäme ich mich. So tat ich, was ziemlich allgemein getan wurde: ich wandte viele Mittel an, um nicht erschossen zu werden und um nicht zu schießen – nicht einmal die schlimmsten Mittel. Aber ich hätte alle, ohne jede Ausnahme alle, angewandt, wenn man mich gezwungen hätte; keine Bestechung, keine andre strafbare Handlung hätte ich verschmäht. Viele taten ebenso.

Und das nicht, weil wir etwa, im Gegensatz zu den Feldpredigern, Feldpastoren, Feldrabbinern, die Lehren der Bibel besser verstehen als sie, die sie fälschten – nicht, weil wir den Kollektivmord in jeder Form verwerfen, sondern weil Zweck und Ziel dieses Krieges uns nichts angehen. Wir haben diesen Staat nicht gewollt, der seine Arbeiter verkommen läßt, wenn sie alt sind, und der sie peinigt, solange sie arbeiten können; wir haben diesen Krieg nicht gewollt, der eine lächerliche Mischung von Wirtschaftsinteressen und Beamtenstank war, im wahren Sinne des Wortes deckte die Flagge die Warenladung. Wir hatten auch nicht den kümmerlichsten Einfluß auf die Gestaltung der Politik, und Sieg und Niederlage berührten uns nicht. Was hätten wir davon gehabt, wenn Nancy, Antwerpen und Warschau deutsch geworden wären? Wir hätten uns unser Brot genau so verdienen müssen wie vorher – genau so leicht und genau so schwer, denn Beamte im neueroberten Gebiet haben wir nicht werden wollen. So, wie einem Calvinisten wohl verständlich gewesen ist, daß man gegen ihn war, aber nicht, daß man sich um den Streit der Sekten überhaupt nicht kümmerte, so kümmert uns der Nationalismus, dieser Nachfolger der Religion, nur insofern, als es gilt, ihn zu bekämpfen. Er läßt uns kalt.

Und das ist die einzige Antwort, die an die Sachwalter des falschen Kollektivwahns zu erteilen ist:

Ihr interessiert uns nicht. Wir erkennen die Pflichten nicht an, die ihr uns auflegt – möglich, daß es Gebote gibt, die unser Blut und das unsrer Kinder fordern: der Patriotismus, der Kampf für diesen Staat gehören nicht dazu. Wenn sich der Russe in die Rote Armee einreihen läßt, so kämpft er für seine Idee – ihr wirtschaftet für die Ideenlosigkeit und für ein Vaterland, das es nicht mehr gibt. Nicht das ist ein Einwand gegen die Telephon-Generäle, daß viele unter ihnen feige gewesen sind und roh, nicht nur das, daß Ungerechtigkeiten vorgekommen sind und die empörende Praxis der Militärgerichte, nicht, daß ein höherer Grad den Offizier aus der Sphäre der Soldaten heraushob und einen Verwaltungsbeamten aus ihm machte: der Sinn des staatlichen Krieges selbst wird von uns verneint. Und käme der edelste, der reinste, der tapferste Mann und forderte uns auf, für die Rohstoffabteilung seines Ministeriums in den Tod zu gehen: wir schüttelten das Haupt und ließen ihn seinen Krieg allein machen.

Solche Sätze müssen gesprochen werden, dreimal am Tage. Ich kenne alle diese vorsichtigen Pazifisten, den Führer des Reichsbanners, diesen unsäglichen „Reichsbund jüdischer Frontsoldaten“ oder wie das Monstrum heißt, wo sich geprügelte Deutsche an prügelnde Deutsche anmeiern: Seht uns an! auch wir sind imstande, die Peitsche zu führen! auch wir wollen Reklamedenkmäler für den nächsten Krieg, Weihegesang und Lüge um die Toten. Und es nützt ihnen nicht einmal. Mit Recht dreht sich der Monokelträger um, läßt das Monokel fallen und feixt. Verachtet und die Aufrechten verachtend, zieht so etwas vom Empfang beim Reichspräsidenten wieder nach Hause: Auch wir sind eine nationale Organisation …! Arme Luder.

Unser Leben gehört uns. Ob wir feige sind oder nicht, ob wir es hingeben wollen oder nicht –: das ist unsre Sache und nur unsre. Kein Staat, keine nationale Telegraphenagentur hat das Recht, über das Leben derer zu verfügen, die sich nicht freiwillig darbieten. Und so gewiß der nächste Nationalkrieg unter den Farben Schwarz-Rot-Gold geführt werden wird, so gewiß diese mannhaften Republikaner aufstehen werden wie ein Waschweib, die Belange des Staats der andern zu schützen: so nötig ist es, den Antimilitarismus rein zu halten von Kompromißlern. Deine Rede sei Ja – Ja oder Nein – Nein; was darüber ist, gehört in den Verlag Eugen Diederichs.

Da gehen sie umher und schnüffeln die alten Militärpapiere durch, und die Inhaber stehen gehorsam stramm und geben Auskunft. Hat der Abgeordnete Dittmann auch seinen Stubendienst gut gemacht? Hat der Kommunist Obuch beim Griffekloppen nicht nachgeklappt? Mögen sich andre dagegen verteidigen. Wir, wir greifen an.

Wir fragen den Bankprokuristen: „Wo waren Sie im Kriege, Herr –?“ und sehen auf ihn herab, wenn er sich rühmt, einen Schwarzen erwürgt zu haben, um eines Geschäftes willen, von dem er nichts nach Hause trug als ein Stückchen Blech. Wir bedauern den Einbein, dem sie für seinen Fuß ein eisernes Kreuz gegeben haben, und es gibt wohl nur einen Menschen, dem man diese Frage mit vollem Recht stellen darf: das ist der, auf dessen Namen vierzehn Millionen Mann vereidigt worden sind. Der Kaiser. Dieser Feigling, erzogen im militärischen Geist, entband sich von einem Schwur und kniff aus, als zum erstenmal in seinem Leben die Lage gefährlich wurde. Dafür bezahlt ihn heute noch die Republik.

Wir andern aber geben keine Rechenschaft und stehen nicht artigwartend da, wenn man uns fragt, und erröten nicht, wenn wir gleichgültig davon sprechen, wie wir es gemacht haben, um einen Tropf von Regimentsarzt zu täuschen, einem Bataillonskommandeur ein Schnippchen zu schlagen, ein Bezirkskommando zu hintergehn. Wir haben eine Antwort auf diese Frage: „Wo waren Sie im Kriege, Herr –?“

In einer Affenjacke.

Wir im Museum

Wenn einem Lebenden ein Denkmal gesetzt wird, so pflegt man beide etwas spöttisch zu betrachten.

Aber nun ist einmal die Gelegenheit geboten, uns selbst im Glaskasten der Unsterblichkeit zu sehen, unsre Zeit, unsre Nöte, unser Elend. Da stehen wir: noch vom Alltäglichsten ist das Alltägliche abgestreift, wir sind parat für die Ewigkeit – fertig präpariert für die Urenkel, die gleichgültig-interessiert an dem vorbeigehen werden, was einmal unsre Epoche gewesen ist. Diese seltene Gelegenheit ist das französische Kriegsmuseum in Vincennes.

Das Museum ist vom Unterrichtsministerium eingerichtet worden und verrät an keiner Stelle eine nationalistische Stellungnahme. Daß es in seiner Gesamtheit nationalen Charakter hat, ist selbstverständlich. Da, wo es Deutschland betrifft, ist nirgends eine niedrige Beschimpfung des Gegners zu sehen.

Ungefähr die Hälfte aller ausgestellten Gegenstände sind Bilder. Ölgemälde, Aquarelle, Tuschzeichnungen, Bleistiftskizzen – es sind ein bißchen viel Bilder da. Photographien wären angebrachter – um so mehr, als die Mehrzahl der Werke nicht grade Meisterwerke sind, aber auch keine authentischen Dokumentationen. Einmal läßt mich ein Bild aufmerken: ein Militärfriedhof, Kreuz an Kreuz, die namenlose Quantität ist gut gesehen. Ich trete näher und suche die Signatur. Und finde sie: Felix Valloton. Das schreckliche ossuaire, die Knochenhalle des Forts Douaumont ist da – aber es ist in Wahrheit viel entsetzlicher anzusehen, dieses Warenhaus des Mordens. „Heldengebeine aus dem sechsten Sektor? Hier, bitte, gleich links!“

In großen beweglichen Wandständern die Anleiheplakate aller Länder. Grotesk die gleichen Aufrufe, die gleichen Schlagworte, die gleichen Versprechungen! Da sind die Anreißereien zu allen deutschen Kriegsanleihen – mit welchen Gefühlen mag das heute der betrogene, getäuschte, „aufgewertete“ Zeichner ansehen, der damals seinem Staat vertraut hat …! Die deutschen Plakate sind künstlerisch höherstehend als die französischen, als Propaganda scheinen sie mir nicht so wirksam. Einen Schlager wie „On les aura!“ von Abel Favre, jenes famose Plakat der Franzosen, auf dem der poilu die eine Hand hochgestreckt hält, ist in seiner mitreißenden Wucht unter den deutschen nicht zu finden. Forains hängen da herum, jene Schwarz-Weiß-Zeichnungen, die seinerzeit in der französischen Presse erschienen sind: gut hingehauen, von sehr unangenehmer Gesinnung … Die Kunst im Dienst des Kaufmanns.

Die meisten Zeichner haben sich vom Stoff überwältigen lassen, weil sie ihn nicht meistern; nur wenige Bilder ragen heraus. Da ist der bayrische Kriegsgefangene Linderer, gezeichnet am 6. Februar 1917 im Lager Souilly: ein graues, ausgehungertes Stück Elend, mit tiefliegenden Augen, der „Blutblase“ auf dem Kopf, ein Kleiderlumpen. Daneben, weitaus phantastischer und fast gespensterhaft: „Das Verhör.“ In einem blaugrauen Raum steht vor dem bläulichen Eisenofen, mit dem langen Rohr ein Ding, ehemals wahrscheinlich ein Mensch. Es ist lehmbraun, hat etwas um, was ein Brotbeutel sein kann, den Verhörenden sieht man nicht. An der Wand stehen in lässiger Haltung zwei Franzosen, bleu horizont mit den weichen, blauen, runden Mützen. Und das allerschrecklichste ist: das Menschending, das da verhört wird, hat die Hände artig an die Hosennaht gelegt – eine teuflische Ironie auf seine ganze sinnlose Epoche. Verreck – aber verreck stramm. Und so sind sie ja auch verreckt.

Bilder aus den deutschen Kriegsgefangenenlagern fehlen nicht. In Würzburg haben sie Theater gespielt, Soldaten in Frauenrollen, in Frauenkleidern; ein Szenenbild aus dem „Schlafwagenkontrolleur“ ist da, in seiner szenischen Starre genau an die Boulevardtheater erinnernd, alle Mann vorn in einer Reihe am Souffleurkasten, wie es sich gehört. Die männlich-weiblichen Stars noch einmal als Großaufnahme … Kein Bild sagt, was hier an sexueller Not, an Verirrung steckt … Bilder aus dem Lager zu Wetzlar – Bilder aus andern Lagern: angebundene Franzosen, an Pfähle gebundene Menschen – sehr gut einmal davor die jämmerliche Gestalt eines deutschen Soldatenersatzes, verhungert, kläglich, mit jener Brille, bei der sogar die stählernen Bügel durch ein Tuchband ersetzt waren … der Sieger. Und wieder Franzosen am Pfahl, zu zweien, Rücken an Rücken; zwei deutsche Offiziere, Blüten der Nation, gehen vorüber und gucken gar nicht hin, die Ritter. Und wieder Bilder und Bilder; nur einmal sehe ich eine böse Roheit: ein deutscher Graben wird in die Luft gesprengt, man sieht Menschen und Glieder und Steine umherwirbeln, und darunter: „On fait danser des Boches.“ Aber da besinne ich mich, daß Gustav Noske, der Sozialdemokrat, als Kriegsberichterstatter eine herzerhebende Schilderung des gleichen Vorgangs gegeben hat, durchaus bejahend, fein heraus und begeistert – und da freue ich mich, daß es ihm gut geht, und daß ihm niemand etwas tut und seine Partei schon gar nicht. Englische Plakate: malerisch nicht sehr gut, textlich ganz ersten Ranges. Auf einem der berühmt gewordene Kitchener-Offizier, der dem Betrachter winkt: Komm! Komm! Man hat ihn ganz groß photographiert, halb mannsgroß, er ist wundervoll ausgestattet, hat die Reitgerte unterm Arm, alles an dem Kerl ist aus feinstem Tuch und Leder … Er grinst. So lächelt der Tod. Komm! Komm! Und Bilder von dem sinnlosen Bombardement der Stadt Paris – zerstörte Friedhöfe, Kirchen, Straßenzüge … Tiefe Scham steigt auf.

Photographien aus französischen Gefangenenlagern fehlen. Namentlich solche aus den Kolonien und aus den ersten Tagen, der deutschen Gefangenen im Viehwagen wären sicherlich fesselnd gewesen.

Und nun kommen Ehrenmünzen, ganze Glaskästen voll – und nun: Zuckerkarten, und da wird die Geschichte schon ähnlicher. Da liegen die abgegriffenen grauen Dinger, das ist doch ein echtes Stück Geschichte, wie –? Ja, das ist es schon – aber irgend etwas fehlt daran. Es ist nicht das Richtige. So war es – und so war es doch nicht. Gehen wir so in die Nachwelt ein –? Dann gehen wir falsch ein. Es fehlt etwas. Es fehlt: das Grauen, der Jammer, die Niedergedrücktheit, die Hoffnungslosigkeit, die Sinnlosigkeit, der Stumpfsinn, die Atmosphäre von Kollektivwahnsinn … Nein, die Nachwelt wird uns nicht verstehn. Wie wir ja auch unsre Vorfahren niemals verstanden haben.

Folgen die Niederschläge des Krieges im Kunstgewerbe. Militärteller, Siegestöpfe, Begeisterungsschüsseln, Durchhaltekaffeekannen – auf einer voll Gold und Gemüt: Gott strafe England! Nehmen Sie auch noch ’n Täßchen …? Die Begeisterung und der Kaffee: echter Rübenersatz.

Ein ganzer Kasten ist diesem „ersatz allemand“ gewidmet, jenem tapfern und sinnlosen Versuch, das Letzte aus den Letzten zu pressen und den Ersten alles zu lassen. Da stehen Stiefel und Sohlen und Kinderkleidchen und Mützen – und alles aus Papier, alles aus Zeitungspapier.

Und wieder die fremden Nationen: die Engländer haben für ihre Propaganda sogar die ehrwürdige Mutter Whistlers bemüht; die feine alte Dame hat irgendeinen feurigen Text daruntergedonnert bekommen, aber sie sitzt noch genau so still und gütig da wie ehedem und ist wohl für diese Schande nicht verantwortlich zu machen.

Und die armselige deutsche Propaganda ist vertreten: die Ultraschlauen haben hohle Schwimmer aus Blech von der Schweiz aus den Rhein herunter geschickt, in denen steckten Flugschriften, wohl aus demselben Material, und einer der lächerlichen Zettel – „Siegfried Balder“ gezeichnet –, zum Frieden ermahnend, ist in einer Sardinenbüchse untergebracht. Friede in Aspik.

Und da hängt er: Willy, der Ausgerissene, mit emporgezwirbeltem Schnurrbart, in scheußlichem Postkartenbuntdruck, ihm durchaus angemessen, ein Histrione aus der Provinz. „Durch Not und Tod zum Sieg!“ So siehst du aus. Wilhelm Pape hat ihn gemalt. Pape ist mir piepe – ich pfeife auf Pape. Die Desertion ist dem Friedensfürsten teuer zu stehen gekommen: fünfzigtausend Mark monatlich. Das arme Geschöpf.

Und nachdem ich nun alles gesehen habe, Stück für Stück ganz langsam und sorgfältig, schüttle ich den Kopf und vermisse etwas. Was?

Uns.

Das sind wir nicht. Da stehen wir lebensgroß im Museum und sind es nicht. Ich kann die Noten lesen, weil ich das Stück mitgespielt habe – wie soll das einer entziffern, der dem Konzert nicht beigewohnt hat? Hier fehlt etwas. Hier fehlen – unvorstellbar, unausstellbar – die Imponderabilien. Die Zwischentöne.

Und weil Kriege so auf die Nachwelt kommen: so unvollständig, so falsch, so skeletthaft, deshalb vererbt sich Erfahrung nicht. Eine alte, zu Staub zerfallene Patronentasche, ein Fetzen Papier, ein rotes Plakat … das war es? Nein, das war es nicht.

Es war: Bereicherung der Fixen; Abschlachtung der Wehr- und Beziehungslosen; Dreck; Hunger; menschliche Niedertracht; der verkleidete Zigarrenhändler und Baurat als Napoleon der Zweite und Friedrich der Große, je nach Veranlagung; nationale Spezialitäten der Grausamkeit, selbstverständlich auf allen Seiten: mit der ethischen Idee der Repressalien, die nur vorgetäuscht war, durften sich der kaltschnäuzige Feldwebel, der tropenkollrige sous-off’, der Italiener und der österreichische Feschak ihren Herrschgelüsten überliefern, straflos, verantwortungslos, frei. Die Lagerkommandanten, die ihre Hunde auf die Geschlechtsteile der Gefangenen hetzten, waren Neros, aber kleine; eine ekelhaftes Spielart. Größenwahnsinnig gewordene Postsekretäre entschieden über das Schicksal von Menschen. Ärzte deckten die Verbrechen. So war es.

Und als es vorbei war, ale die Kaufleute und die dumm-schlauen Diplomaten Halali bliesen („Hirsch tot!“): da liefen sie alle auseinander, zwängten sich in den Zivilkragen – und nun ist es keiner gewesen. Jeder hat die Verantwortung getragen, jeder hat nur die Reglements befolgt, jeder hat nur die Reglements ausgearbeitet, die nötig waren – „Sie glauben nicht, wie nötig!“ –: keiner konnte dafür. „Es mögen Fehler vorgekommen sein …“

Aber muß man den ordensgeschmückten Rechnungsräten, die sich heute noch Generäle nennen, sagen, daß sie unumschränkter geherrscht haben, ale Gott es jemals getan. Der ist vor sich selbst verantwortlich – sie nicht einmal jenen kindlichen Untersuchungsausschüssen, die es in die Akten schreiben und es dabei bewenden lassen. Und jeder kleine Geometer, Rechtsanwalt, Kaufmann, Ingenieur: sie sind alle nur mitgelaufen, sie haben in der Notwehr gehandelt, sie konnten nicht anders – und sie bereuen nicht.

Wir kommen falsch auf die Nachwelt.

Man stopfe ein paar dieser Generalfeldmarschälle aus, ein paar Journalisten, ein paar Staatssekretäre, ein paar Feldprediger, vielleicht als freundliche Attrappen, etwa als Schirmständer oder mit einer Visitenkartenschale im Maul, damit sie doch einmal zu etwas gut sind im Leben – man stelle diese Puppen in die Vitrinen und schreibe darunter:

AUS GROSSER ZEIT

Dann wird die Nachwelt staunend davorstehen, schaudernd betrachten und mitleidsvoll begreifen.

Der General im Salon

Der alte Herr da im Bratenrock, das ist der berühmte General Soundso. Er steht am Kamin, direkt vor dem Spiegel, nein, der nicht, der neben ihm – ja. Er rührt jetzt grade mit einem kleinen Löffelchen in der Mokkatasse und unterhält sich angeregt mit den Gästen des Hauses. Es ist ein sehr feines Haus, man hat lauter gute Namen eingeladen. Die Menschen sind in der Garderobe abzugeben. Die Namen haben diniert, jetzt nehmen sie den Kaffee, auch der General.

Es ist derselbe, der damals die große Offensive bei V. eingeleitet hat. „Die Truppen des Generals“, stand damals im Heeresbericht, „wurden in der Nacht von gestern auf heute zum Sturm auf die Höhen des Dorfes angesetzt.“ Er ist es, der sie angesetzt hat. Seine hellblauen, etwas wässerigen Augen, die ich da sehe, lassen nichts mehr davon ahnen, daß dieser Mann einmal am Telephon gestanden, vor ihm die Karten, die Krokis, die Bleistifte, die Adjutanten, und mit erregter Stimme einen Befehl in die Muschel gebrüllt hat. „Wollen Sie dafür sorgen …!“ sagte die Stimme. Dann hängte er den Hörer ab. Am darauffolgenden Morgen fielen auf unserer Seite 8472 Mann. Sie bekamen ihr Massengrab. Der General einen Orden.

Einmal stand ich auf dem Berliner Börsenstand neben einem großen Bankier, der leitete die Operationen seiner Angestellten, die hilfeflehend zu ihm kamen, wenn sie nicht weiter wußten. Er sagte ihnen rasch etwas, fast ohne nachzudenken; eilfertig liefen sie mit ihrem kleinen Zettelchen wieder davon. Siegreich stand er da, ganz ruhig, durch seinen Kopf rannen die Zahlen. Einen Fuß auf die kleine Empore gestützt, wartete er wachsam ab, was die nächste Minute bringen würde. „Huuuuu –!“ brüllte eine Gruppe. Der Saal begann zu brodeln, ein unermeßlicher Schrei stieg zu den ewigen Sternen. Der Bankier lächelte unmerklich. Er war es, der dieses „Hu!“ entfesselt hatte.

So ungefähr denke ich mir im Kriege die Tätigkeit eines Generals, dieses Kommerzienrats der Schlachten. Gespannt am Telephon lauschend, über die Karten gebeugt, zur Seite den geschäftigen Adjutanten, so wartet er, was sich da vorn begeben wird. Nur die Heeresberichte sind falsch formuliert. Sie tragen der seit Ajaxens Zeiten etwas veränderten Situation keine Rechnung. Sie müßten anders lauten. Etwa so:

„An der Spitze seines Generals stürzte sich das heldenmütige Korps in die brausende Schlacht. Mit geschwungenem Telephonhörer setzte der unerschrockene Führer seinen Truppen nach, die er zu Paaren vor sich her trieb. Als im Stabsgebäude das Essen serviert wurde, rief er: „Mir nach!“, und alles folgte seinem heldenmütigen Beispiel. Während der Kampf tobte, wankte und wich er nicht aus seinem Telephonunterstand, und erst, als der Rückzug einsetzte, war er in seinem Automobil wieder auf dem laufenden. Er war sehr beliebt – jeder Mann der Truppe kannte ihn flüchtig. Immer neue und neue Bataillone warf der Tapfere in die Einbruchsstelle, sich selber vergaß er leider mit hineinzuwerfen. Und wenn er sich nicht den Magen an heißem Kaffee verbrüht hat, dann lebt er heute noch.“

Que voulez-vous? Ce sont les risques du métier.

Vor Verdun

Längs der Bahn tauchen die ersten Haustrümmer auf – ungefähr bei Vitry fängt das an. Ruinen, dachlose Gebäude, herunterhängender Mörtel, Balken, die in die Luft ragen. Nur eine kleine Partie – dann präsentiert sich die Gegend wieder ordentlich und honett, sauber und schön aufgebaut. Viele Häuser scheinen neu. Der Zug hält. Auf dem Nebengleis steht ein Waggon. „FUMEURS“ steht an einer Tür. Ein Pfosten verdeckt die ersten beiden Buchstaben, man kann nur den Rest des Wortes lesen.

Verdun, eine kleine Stadt der Provinz. Hat in der neuen Zeit schon einmal daran glauben müssen: im Jahre 1870. Die Besatzung, die damals mit allen militärischen Ehren kapitulierte, zog ab, und die Stadt kam unter deutsche Verwaltung. Der deutsche Beamte, der ihr und dem Departement der Meuse vorgesetzt war, trug den Namen: von Bethmann-Hollweg.

Man kann ein kleines Heft kaufen: „Verdun vorher und nachher.“ Es muß eine hübsche, nette und freundliche Stadt gewesen sein, mit kleinen Häuserchen am Fluß, einer Kathedrale, dem Auf und Ab der Wege auf dem welligen Terrain. Und nach jedem Bild von damals ist ein andres eingefügt. So schlimm sieht es jetzt nicht mehr aus: vieles ist aufgebaut, manche Teile haben gar nicht gelitten, das Rathaus ist fast unversehrt geblieben. Aber es handelt sich ja nicht um Verdun, nicht um die kleine Stadt. Um Verdun herum lagen vierunddreißig Forts.

Gleich am Ausgang der Stadt die Zitadelle. Sie ist in den Fels gehauen, eine riesige Anlage mit Gängen, die in ihrer Gesamtlänge sechzehn Kilometer ausmachen. Dies und jenes darf man sich ansehen. Schlafräume der Soldaten und Offiziere, heizbar und mit elektrischem Licht. Hier, in diesem Verschlag, hat der General Pétain geschlafen. Ein kleiner Raum, mit Holzwänden, oben offen – Waschgeschirr, Eimer und das Bett stehen noch da. Daneben lagen in kleinen Kabinen zu vieren die Offiziere. In einem Saal steht ein langer Tisch. Auf dem standen in Särgen die Überreste von acht unbekannten Kadavern, und ein Militär legte einen Blumenstrauß auf den einen: das wurde der soldat inconnu, der heute unter dem Arc de Triomphe zu Paris begraben liegt. Die sieben andern ruhen in einem gemeinschaftlichen Grab auf dem Kirchhof Faubourg Pavé bei Verdun. Das Bombardement hat der Felszitadelle nichts anhaben können – außen haben sich wohl Mauersteine gelockert, innen ist alles intakt geblieben. Und dann fahren wir hinaus, ins Freie.

Es ist eine weite, hügelige Gegend, mit viel Buschwerk und gar keinem Wald. Immer, wenn man auf eine Anhöhe kommt, kann man weit ins Land hineinsehen. Hier ist eine Million Menschen gestorben.

Hier haben sie sich bewiesen, wer recht hat in einem Streit, dessen Ziel und Zweck schon nach Monaten keiner mehr erkannte. Hier haben die Konsumenten von Krupp und Schneider-Creuzot die heimischen Industrien gehoben. (Und wer wen dabei beliefert hatte, ist noch gar nicht einmal sicher.)

Auf französischer Seite sind vierhunderttausend Menschen gefallen; davon sind annähernd dreihunderttausend nicht mehr auffindbar, vermisst, verschüttet, verschwunden … Die Gegend sieht aus wie eine mit Gras bewachsene Mondlandschaft, die Felder sind fast gar nicht bebaut, überall liegen Gruben und Vertiefungen, das sind die Einschläge. An den Wegen verbogene Eisenteile, zertrümmerte Unterstände, Löcher, in denen einst Menschen gehaust haben. Menschen? Es waren wohl kaum noch welche.

Da drüben, bei Fleury, ist ein Friedhof, in Wahrheit ein Massengrab. Zehntausend sind dort untergebracht worden – zehntausendmal ein Lebensglück zerstört, eine Hoffnung vernichtet, eine kleine Gruppe Menschen unglücklich gemacht. Hier war das Niemandsland: drüben auf der Höhe lagen die Deutschen, hüben die Franzosen – dies war unbesetzt. Lerchen haben sich in die Luft hinaufgeschraubt und singen einen unendlichen Tonwirbel. Ein dünner Fadenregen fällt.

Der Wagen hält. Diese kleine Hügelgruppe: das ist das Fort Vaux. Ein französischer Soldat führt, er hat eine Karbidlampe in der Hand. Einer raucht einen beißenden Tabak, und man wittert die Soldatenatmosphäre, die überall gleich ist auf der ganzen Welt: den Brodem von Leder, Schweiß und Heu, Essensgeruch, Tabak und Menschenausdünstung. Es geht ein paar Stufen hinunter.

Hier. Um diesen Kohlenkeller haben sich zwei Nationen vier Jahre lang geschlagen. Da war der tote Punkt, wo es nicht weiter ging, auf der einen Seite nicht und auf der andern auch nicht. Hier hat es Halt gemacht. Ausgemauerte Galerien, mit Beton ausgelegt, die Wände sind feucht und nässen. In diesem Holzgang lagen einst die Deutschen; gegenüber, einen Meter von ihnen, die Franzosen. Hier mordeten sie, Mann gegen Mann, Handgranate gegen Handgranate. Im Dunkeln, bei Tag und bei Nacht. Da ist die Telephonkabine. Da ist ein kleiner Raum, in dem wurde wegen der Übergabe parlamentiert. Am 8. Juni 1916 fiel das Fort. Fiel? Die Leute mußten truppweise herausgehackt werden, mit den Bajonetten, mit Flammenwerfern, mit Handgranaten und mit Gas. Sie waren die letzten zwei Tage ohne Wasser. In einer Mauer ist noch eine deutsche Inschrift, mit schwarzer Farbe aufgemalt, schwach zu entziffern. Und dann gehen wir ins Verbandszimmer.

Es ist ein enges Loch, drei Tische mögen darin Platz gehabt haben. Einer steht noch. An den Wänden hängen kleine Schränke. Oben ist, durch eine Treppe erreichbar, der Alkoven des Arztes. Ich habe einmal die alte Synagoge in Prag besucht, halb unter der Erde, wohin sich die Juden verkrochen, wenn draußen die Steine hagelten. Die Wände haben die Gebete eingesogen, der Raum ist voll Herzensnot. Dieses hier ist viel furchtbarer. An den Wänden kleben die Schreie – hier wurde zusammengeflickt und umwickelt, hier verröchelte, erstickte, verbrüllte und krepierte, was oben zugrunde gerichtet war. Und die Helfer? Welcher doppelte Todesmut, in dieser Hölle zu arbeiten! Was konnten sie tun? Aus blutdurchnäßten Lumpen auswickeln, was noch am Leben in ihnen stak, das verbrannte und zerstampfte Fleisch der Kameraden mit irgendwelchen Salben und Tinkturen bepinseln und schneiden und trennen, losmeißeln und amputieren …

Linderung? Sie wußten ja nicht einmal, ob sie diese Stümpfe noch lebendig herausbekämen! Manchmal war alles abgeschnitten. Die Wasserholer, die Meldegänger – wohl eine der entsetzlichsten Aufgaben des Krieges, hier waren die wahren Helden, nicht im Stabsquartier! –, die Wasserholer, die sich, mit einem Blechnapf in der Hand, aufopferten, kamen in den seltensten Fällen zurück. Und der nächste trat an … Wir sehen uns in dem leeren, blankgescheuerten Raum um. Niemand spricht ein Wort. Oben an dem Blechschirm der elektrischen Lampe sind ein paar braunrote Flecke. Wahrscheinlich Rost …

Vor dem Tor hat man für einige der Gefallenen Gräber errichtet, das sind seltene Ausnahmen, sie liegen allein, und man weiß, wer sie sind. An einem hängt ein kleiner Blechkranz mit silbernen Buchstaben: Mon mari.

Und an einem Abhang stehen alte Knarren, die flachen, schiefgeschnittenen Feldflaschen der Franzosen, verrostet, zerbeult, löcherig. Das wurde einmal an die durstigen Lippen gehalten, Wasser floß in einen Organismus, damit er weiter morden konnte. Weiter, weiter –!

Drüben liegt das Fort Douaumont, das überraschend fiel; da die Höhe 304; da das Fort de Tavannes. Teure Namen, wie? Einem alten Soldaten, der hier gestanden hat und lebendig herausgekommen ist, muß merkwürdig zumute sein, wenn er jetzt diese Gegend wiedersieht, still, stumpf, kein Schuß. Weit da hinten am Horizont raucht das, was dem deutschen Idealismus 1914 so sehr gefehlt hat: das Erzlager von Briey. Und wir fahren weiter.

Die Sturmreihen sind in die Erde versunken, die armen Jungen, die man hier vorgetrieben hat, wenn sie hinten als Munitionsdreher ausgedient hatten. Hier vorn arbeiteten sie für die Fabrikherren viel besser und wirkungsvoller. Die Rüstungsindustrie war ihnen Vater und Mutter gewesen; Schule, Bücher, die Zeitung, die dreimal verfluchte Zeitung, die Kirche mit dem in den Landesfarben angestrichenen Herrgott – alles das war im Besitz der Industriekapitäne, verteilt und kontrolliert wie die Aktienpakete. Der Staat, das arme Luder, durfte die Nationalhymne singen und Krieg erklären. Gemacht, vorbereitet, geführt und beendet wurde er anderswo.

Und die Eltern? Dafür Söhne aufgezogen, Bettchen gedeckt, den Zeigefinger zum Lesen geführt, Erben eingesetzt? Man müßte glauben, sie sprächen: Weil ihr uns das einzige genommen habt, was wir hatten, den Sohn – dafür Vergeltung! Den Sohn, die Söhne haben sie ziemlich leicht hergegeben. Steuern zahlen sie weniger gern. Denn das Entartetste auf der Welt ist eine Mutter, die darauf noch stolz ist, das, was ihr Schoß einmal geboren, im Schlamm und Kot umsinken zu sehen. Bild und Orden unter Glas und Rahmen – „mein Arthur!“ Und wenns morgen wieder angeht –?

Der Führer nennt Namen und Zahlen. Er zeigt weit über das Land: da hinten, da ganz hinten lag das Quartier des Kronprinzen. Ein bißchen fern vom Schuß – aber ich weiß: das bringt das Geschäft so mit sich. Und das war früher auch so: die Söhne hatten schon damals die Zentrale für Heimatdienst. Bäume stecken ihre hölzernen Stümpfe in die Luft, die Verse von Karl Kraus klingen auf: „Ich war ein Wald. Ich war ein Wald.“ Das Buschwerk sprießt, überall zieht sich Stacheldraht zwischendurch. An einer Stelle steht ein Denkmal, ein verendeter Löwe. Das war der Punkt, bis zu dem die Deutschen vorgedrungen sind. (Übrigens findet sich nirgends auch nur die leiseste Beschimpfung des Gegners – immer und überall, in den Schilderungen, den Beschreibungen, den Aufschriften wird der Feind als ein kämpfender Soldat geachtet und niemals anders bezeichnet.) Bis hierher ging es also. Das Reich erstreckte sich damals von Berlin bis zu dieser Stelle. Abschiedsküsse auf dem Bahnhof, die Fahrt – 8 Pferde oder 40 Mann – und dann der Tod in diesen Feldern. Dies war der letzte Zipfel.

Und dahinter das Land. Da lag dieses ungeheure Heerlager, dieser Jahrmarkt der Eitelkeiten, diese Konzentration von Roheit, Stumpfsinn, Amtsverbrechen, falsch verstandener Heldenhaftigkeit; da fuhren, marschierten, rollten, telephonierten, schufteten und schossen die als Soldaten verkleideten Uhrmacher, Telegraphensekretäre, Gewerkschaftler, Oberlehrer, Bankbeamten, geführt und führend, betrügend und betrogen, mordend, ohne den Feind zu sehen, in der Kollektivität tötend, die Verantwortung immer auf den Nächsten abschiebend. Es war eine Fabrik der Schlacht, eine Mechanisierung der Schlacht, überpersönlich, unpersönlich. „Die Division“ wurde eingesetzt, hineingeworfen – die Werfer blieben draußen –, sie wurde wieder herausgezogen. Achilles und Hektor kämpften noch miteinander; dieser Krieg wurde von der Stange gekauft. Und archaistisch war nur noch die Terminologie, mit der man ihn umlog: das blitzende Schwert, die flatternden Fahnen, die gekreuzten Klingen. Landsknechte? Fabrikarbeiter des Todes.

Der Horizont ist grau, es ist, als sei kein Leben mehr in diesem Landstrich.

Da kämpften sie, Brust an Brust: Proletarier gegen Proletarier, Klassengenossen gegen Klassengenossen, Handwerker gegen Handwerker. Da zerfleischten sich einheitlich aufgebaute ökonomische Schichten, da wütete das Volk gegen sich selbst, ein Volk, ein einziges: das der Arbeit. Hinten rieben sich welche voller Angst die Hände.

Ein Mauerwerk taucht auf, das ist das Denkmal über der Tranchée des Baïonettes. Am 11. Juni 1916 wurde hier die Besatzung dieses Grabens – es war die zweite Linie – verschüttet. Keiner entrann. Man fand sie so, unter der Erde, nur die Bajonette ragten aus der Erde. Der Graben ist seit diesem Tag so erhalten; ein Amerikaner, Herr Georges F. Rand, hat einen großen grauen Steinbau darüber errichten lassen. Unten, auf dem zugeschütteten Graben, stehen ein paar Kreuze, liegen Kränze und ragen die Bajonette. Drei Mann müssen außerhalb des Grabens postiert gewesen sein; die Läufe ihrer Gewehre ragen ein paar Zentimeter hoch aus dem Boden, man stolpert über sie. Eine Mutter kann ihr Kind hierherfuhren und sagen: „Siehst du? Da unten steht Papa.“

In der Nähe ist ein ossuaire, eine kleine Holzhalle, wo man die Gebeine der Soldaten, die nicht mehr zu identifizieren waren, gesammelt hat. Sie ruhen da, bis eine große Grabkapelle für sie fertiggestellt ist. Die Überbleibsel sind nach Sektoren geordnet. (Was die Offiziere aller Länder anbetrifft, so scheinen sie sämtlich an ansteckenden Krankheiten zugrunde gegangen zu sein – denn warum hat man sie so oft von den Mannschaften abgesondert?) Stereoskope sind aufgestellt mit Bildern aus den Mordtagen. Auf einem ist unter Steintrümmern ein Bein zu sehen. Ein abgerissenes Bein, der Benagelung nach ein deutsches.

Auf einem andern Bild sieht man einen deutschen Gefangenen, einen bärtigen, schlecht genährt aussehenden Mann. Er steht bis zu den Hüften im Graben, er hat kein Koppel mehr, er wartet, was nun noch mit ihm geschehen kann. Im Vordergrund ragen ein paar Stiefel aus dem Schlamm und ein halber Körper. Den kann man nicht mehr gefangennehmen. Die Franzosen und der Deutsche stehen da zusammen, der Betrachter muß glauben, einen Haufen Wahnsinniger vor sich zu haben. Und das waren sie ja wohl auch.

Jetzt regnet es in dichten Strömen. Der Wagen rollt. Der Schlamm spritzt. Und immer wieder Stacheldraht, Steinbrocken, verrostetes Eisen, Wellblech.

Ist es vorbei –?

Sühne, Buße, Absolution? Gibt es eine Zeitung, die heute noch, immer wieder, ausruft: „Wir haben geirrt! Wir haben uns belügen lassen!“? Das wäre noch der mildeste Fall. Gibt es auch nur eine, die nun den Lesern jahrelang das wahre Gesicht des Krieges eingetrommelt hätte, so, wie sie ihnen jahrelang diese widerwärtige Mordbegeisterung eingebläut hat? „Wir konnten uns doch nicht beschlagnahmen lassen!“ Und nachher? Als es keinen Zensor mehr gab? Was konntet ihr da nicht? Habt ihr einmal, ein einziges Mal nur, wenigstens nachher die volle, nackte, verlaust-blutige Wahrheit gezeigt? Nachrichten wollen die Zeitungen, Nachrichten wollen sie alle. Die Wahrheit will keine.

Und aus dem Grau des Himmels taucht mir eine riesige Gestalt auf, ein schlanker und ranker Offizier, mit ungeheuer langen Beinen, Wickelgamaschen, einer schnittigen Figur, den Scherben im Auge. Er feixt. Und kräht mit einer Stimme, die leicht überschnappt, mit einer Stimme, die auf den Kasernenhöfen halb Deutschland angepfiffen hat, und vor der sich eine Welt schüttelt in Entsetzen:

„Nochmal! Nochmal! Nochmal –!“

Kleine Begebenheit

Der Strumpfwirker und der Bauerssohn waren in der Nacht von einem Ackergraben in den andern geklettert – warum sie es getan hatten, wußten sie nicht. Man hatte ihnen gesagt, sie sollten es tun. Herren, die lesen und schreiben konnten, hatten es ihnen gesagt. Im andern Ackergraben hatte man sie gleich angehalten, in derselben Nacht noch, und, weil sie fremd gefärbte Kleider anhatten, sie sehr geschlagen und in ein Haus gesperrt. Nachher saß ein Advokat hinter einem Tisch – er war so froh, hinter diesem Tisch sitzen zu dürfen! – und schrieb auf, was der Strumpfwirker und der junge Bauer zu sagen wußten. Da war noch ein Gastwirt, der schlug sie, wenn sie nicht genug sagten. Ein Besucher kam zu ihnen und sagte, man würde sie töten – und zwei Leute, ein Steinklopfer und ein junger Mensch, der noch keinen Beruf hatte und bei den Eltern lebte, bewachten sie von Stund an.

Vierundzwanzig Menschen wurden benötigt, um die beiden totzuschießen. Es meldeten sich, freiwillig, achtzig. Achtzig – darunter waren Verheiratete und Ledige, Stille und Freche, Kräftige und Schlappe – sonst brave Leute, die keinem etwas zuleide taten, und die nur so gern einmal dabei sein wollten, um zu sehen, wie das wäre, wenn einer totgeschossen würde. Mehr: die ihn selbst totschießen wollten. Denn es war erlaubt … Befehligt wurden sie von einem Kohlenhändler.

Am Morgen dieses Tages erschien der traurige Zug auf dem ungeheuern Schneefeld südlich des Dorfes. Voran der Bauer und der Strumpfwirker, zwischen zwei Leuten von denen, die man aus den achtzig ausgesucht hatte; ein Arzt aus einer großen Stadt, der dergleichen noch nicht gesehen hatte und gleichfalls begierig war, es zu sehen; und der Kohlenhändler mit seinen Leuten. Die beiden in dünnen Jacken zitterten vor Kälte und Todesfurcht. Der Zug machte hinter den Scheunen Halt. Der Advokat, der mitgegangen war, zeigte den beiden ein Papier; aber sie froren und konnten auch nicht lesen. Man stellte sie an kleine schwarze Pfähle. Der Kohlenhändler sagte zu seinen Leuten, sie sollten ihre Gewehre laden. Er sagte es sehr laut, obgleich er nahe bei ihnen stand. Er hätte gewünscht, daß ihn seine Frau so sähe, wie er, der sonst Kohlen verkaufte, hier zwei Leute totschießen durfte. Die Schüsse knallten. Die beiden fielen um wie leere Säcke. Der Arzt aus der großen Stadt ging hin und sah sich genau ihre Wunden an. Dann verscharrte man sie.

Ich habe vergessen zu erzählen, daß alle verkleidet waren: die Gerichteten als serbische, die Henker als deutsche Soldaten.

Kurve

Wiedersehen mit der Justiz

Amnestie –! Amnestie –!

Es ist noch alles da.

Wenn man das drei Jahre lang nicht genossen hat: die Moabiter Justizfabrik und die unhöflichen Gerichtsdiener und diese Richterköpfe und die kleinen verschreckten Schöffen, Mikrozephalen oder Kolonialwarenhändler, und die artigen Verteidiger, die immer ein bißchen etwas vom Komplizen an sich haben, und die Angeklagten, die nicht wissen, wie ihnen geschieht – wenn man das drei Jahre lang nicht genossen hat, so darf man erfreut feststellen, daß noch alles da ist. Justitia … Ein Vormittag, und die Binde sitzt hinten.

Das letztemal stand ich vor den Talaren neben Siegfried Jacobsohn und bewunderte seine kluge Zurückhaltung und überlegene Kälte einem Geschöpf gegenüber, das einundeinehalbe Stunde, ohne Atem zu holen, sprach: da hatte das Abonnement des „Berliner Lokalanzeigers“ treffliche Früchte getragen, und die Stunde patriotischen Anschauungsunterrichts, die wir bekamen, war gratis. Und umsonst.

Was ich in letzter Zeit in Moabit und am Alexanderplatz vor den Gerichten zu sehen bekommen habe, zeigt wieder das alte Bild: die Strafen sind gar nicht einmal so grauslich, so drakonisch, so ganz und gar unsinnig, und vom Standpunkt eines Verteidigers, dem es lediglich auf das Resultat anzukommen hat, kann sich im allgemeinen der deutsche Angeklagte nicht mehr beschweren als irgendeiner seiner ausländischen Schicksalsgenossen. Damit ist natürlich nicht gesagt, daß die deutschen Richter gut richten. Sie richten schlecht.

Da ist der redende Richter: jener Typus, der die Angeklagten, Zeugen und Verteidiger überhaupt nicht zu Worte kommen läßt, sondern der für sie alle spricht. Ganz abgesehen von den äußeren Ungehörigkeiten, die sich diese Richter dauernd zuschulden kommen lassen: (während der Aussagen und der Plädoyers nicht zuzuhören, Akten zu schmieren, ungeduldig mit den Fingern auf dem Tisch herumzutrommeln, wenn der Verteidiger etwas zu sagen wagt), ganz abgesehen von solchen kleinen Äußerungen, die trefflich auf das Innere schließen lassen, ist der ganze Wahnwitz von Überheblichkeit, Folgen einseitiger Auswahl und Kastengeist immer noch da.

Vor allem wirkt der deutsche Richter wie einer, der seinen Beruf als Berufsstörung auffaßt. Man hat von diesen zweifellos zu schlecht bezahlten Beamten den Eindruck, daß sie ihre Arbeit unlustig tun und daß sie nichts als das eine und einzige Bestreben haben: möglichst rasch fertig zu werden. Es kommt nicht so sehr darauf an, in welcher Weise eine solche Sache erledigt wird, wie darauf, daß sie erledigt wird. Auf dem Wege zur „Erledigung“ von Prozessen und Personen liegen die Steine des Anstoßes, die da stören: ausführlicher Zeugenbericht, Plädoyers, unvorhergesehene Anträge … kurz, alles, was über die angesetzte Zeit hinausgeht. Daher mürrisches, eiliges Wesen, hochfahrende Handbewegungen, Wegräumung aller Schwierigkeiten, die Zeit kosten können.

Zweiter Wahnwitz: confessio regina probatorum. Was das Mittelalter mit Hängegewichten und Daumenschrauben erzielte: das Geständnis, dieses Kronjuwel aller Beweismittel, das erzwingt der deutsche Richter mit dem weder materiell-rechtlich noch prozessual zu begründenden Satz: „Ich mache Sie darauf aufmerksam, Angeklagter, daß Sie durch ein Geständnis Ihre Lage verbessern!“ Hinter dieser Fibelpsychologie steckt in erster Linie Bequemlichkeit. Einem geständigen Angeklagten braucht nichts nachgewiesen zu werden, Zeugenaussagen fallen fort oder werden doch wesentlich vereinfacht, und die ganze Sache kann rasch zu Ende sein. Der rechtlich unzulässige Satz beruht ferner auf der kindlichen Annahme, daß Reue eine simple Empfindung sei, jederzeit herzustellen, jederzeit greifbar, und solche Annahme entspringt eben dem gottähnlichen Getue von Funktionären, die da glauben, sie hätten das Recht zu strafen, das heißt also: moralische Urteile zu fällen wie jenes imaginäre Wesen, das die Zeugen im Eid anrufen, weil sie – entgegen den Bestimmungen – meist niemand darauf aufmerksam macht, daß diese religiöse Formel durchaus vermeidbar ist. Der Richter hat aber lediglich die Aufgabe, die Gesellschaft, so wie sie heute ist, vor Menschen zu schützen, die die Sicherheit dieser Gesellschaft bedrohen. Davon ist in Moabit und am Alexanderplatz nichts zu merken. Dort wird gestraft. Wie wird gestraft –?

Aus einer einzigen Sitzung:

Ein Schupomann nimmt einen Betrunkenen auf die Wache mit; der Betrunkene fühlt sich, ob zu recht oder unrecht, zu hart angefaßt und bittet während der Sistierung die Umstehenden, ihm Zeugenadressen aufzuschreiben. Der Richter: „Das wäre ja noch schöner, wenn jeder Sistierte unterwegs auf dem Wege zur Wache Anträge stellen könnte!“ Falsch: Abgesehen von der Papierredensart, die einen Besoffenen im Rinnstein Anträge stellen läßt, hat natürlich jeder das Recht, sich Zeugenaussagen zu erbitten. Der Richter zum Angeklagten: „Erst betrinken Sie sich, und dann benehmen Sie sich dem Beamten gegenüber disziplinwidrig!“ Falsch: Der Mann ist dem Beamten überhaupt keine Disziplin schuldig. Wir leben nicht in einer Reichswehrkaserne, und das einzige, was ein Polizeibeamter bei einer Sistierung verlangen kann, ist etwas Negatives: nämlich das Fehlen von Widerstand gegen die Staatsgewalt. Hier wird nicht befohlen; hier wird nicht gehorcht. Der Richter zu dem Zeugen: „Haben Sie mit dem Angeklagten etwas getrunken?“ Der Zeuge: „Ich ja, er nicht.“ Der Richter: „Er hat überhaupt nicht getrunken?“ Der Zeuge besinnt sich: „Doch, der Angeklagte hat zwei Glas Bier getrunken.“ Der Richter zum Angeklagten: „Also Sie haben auch getrunken!“ Falsch: Der Konsum von zwei Glas Bier hat nichts mit Trinken zu tun; der betreffende Richter würde sich mit Recht beleidigt fühlen, wenn ihm jemand sagte, er „tränke“ vor der Sitzung, und diese Behauptung mit dem Konsum von zwei Glas Bier begründen wollte.

Aus einer einzigen Sitzung: „Das ist also dieselbe Geschichte, die wir eben gehabt haben – wieder Widerstand gegen die Staatsgewalt!“ Der Angeklagte kann für die Reihenfolge der angesetzten Termine nichts, und es ist eine Willkür, ihn die vorige Sache entgelten zu lassen.

„Nach den jüngsten Vorkommnissen auf den Berliner Straßen sind wir Richter zu der Überzeugung gekommen, daß es unsre Pflicht ist, die Beamten besonders zu schützen; das sind wir den Beamten schuldig.“ Grober Unfug: Der Richter sieht die letzten politischen Vorkommnisse, die mit der kleinen Polizeiübertretung eben dieses Angeklagten überhaupt nichts zu tun haben, so an, wie es eben ein Leser der Täglichen Rundschau tut, und läßt den Angeklagten einen politischen Meinungskampf entgelten.

Dritter Wahnwitz: Anrechnung der natürlichen Begleitumstände eines Delikts als strafverschärfend. Beispiel: Ein Straßenhändler stiehlt seinem Freunde eine Summe von 42 Mark. „Als strafverschärfend kommt hinzu, daß der Angeklagte einen Mann bestohlen hat, der selber nicht in günstigen Vermögensumständen lebt und sich sein Brot sauer verdienen muß.“ Wahrscheinlich glaubt der Richter, daß sich Straßenhändler bei Diebstählen an ein Vorstandsmitglied der Dresdner Bank zu halten haben oder doch zum mindesten an einen gut verdienenden Filmschauspieler. Steigt ein Einbrecher nachts heimlich in eine Wohnung, so donnert nicht nur der § 250 Ziffer 4 auf ihn herunter, sondern seine Heimtücke, seine Tätigkeit zur Nacht, seine Hinterlist werden ihm außerdem noch als strafverschärfend angekreidet. Er wird also bestraft, weil er sich zur Nachtzeit zur Begehung eines Raubes in ein bewohntes Gebäude eingeschlichen hat, und dann noch einmal besonders dafür, daß er sich zur Nachtzeit zur Begehung eines Raubes in ein bewohntes Gebäude eingeschlichen hat. Nichts dümmer als die Begründung dieser Urteile.

Was in Moabit an Moral gelehrt wird, gehört auf den Kehrichthaufen.

*

Es ist noch alles da. Eines sogar ist hinzugekommen, das habe ich noch nie gesehn und sah es zum erstenmal: den Schnellrichter. Der verfährt nach § 212 StPO.

Der Mann sitzt, um auch äußerlich darzutun, was er ist, gleich im Berliner Polizeipräsidium, in einem Zimmerchen, an dem die Stadtbahnzüge vorbeidonnern. Die Angeklagten werden ihm unmittelbar aus der Haft vorgeführt. Nachteile: Der Richter kennt die Aktenzeichen der Kommissare, weiß also, daß dieser Angeklagte von der Polizei als ein gewerbsmäßiger Ladendieb angesehn wird und jene Frau als eine gewohnheitsmäßige Kupplerin, und er richtet sich, hopp-hopp-hopp, darauf ein. Der Schnellrichter ist ein Herr Krönker, ein Mann von der Wasserkante, und es ist nicht unlehrreich, zu sehen, was dieser Landgerichtsrat treibt.

Seine Urteile sind, soweit ich das gesehn habe, nicht gar so schlimm wie etwa die des Herrn Siegert. Krönker steht in dem Ruf, „noch nicht einer der Schlimmsten“ zu sein. Aber wie der Mann Recht spricht: das als Opfer zu erleben, gönne ich keinem seiner Kinder, wenn er welche hat.

Erste Ungehörigkeit: Ton und Haltung des Richters. Ein solches Benehmen würde etwa einem Geschäftsmann alle Viertelstunde ein paar schallende Ohrfeigen eintragen. Der Mann hat eine Art, mit den Angeklagten, die er kaum ansieht, herrisch, hochfahrend und ungezogen zu sprechen, die jedem Menschen auch noch den letzten Rest von Ehrgefühl aus dem Leibe treibt. Es ist mir kein Paragraph der Strafprozeßordnung bekannt, wonach ein Angeklagter verurteilt ist, solche menschliche Erniedrigung zu erdulden.

Zweite Ungehörigkeit: Der Schnellrichter weist nicht jeden Angeklagten darauf hin, daß er nach § 26 GVG. das Verfahren ablehnen kann. Nun stelle man sich die Lage solcher Proletarier, immer ohne Verteidiger, vor: entweder macht der Richter den Angeklagten überhaupt nicht auf die immerhin eigenartige strafprozessuale Lage aufmerksam, oder er tuts in unzulänglicher Weise. „Wollen Sie lieber eine Schöffengerichtsverhandlung?“ Der Angeklagte, der in Haft ist, befürchtet nun, weiter in Haft zu bleiben, wenn er die Schöffen verlangt, er wird auch so und so oft weiter in Haft belassen und ist auf alle Fälle der Dumme.

Dritte Ungehörigkeit, und dies ist die schlimmste: Nach Verkündung des Urteils pflegt Herr Krönker die Leute im Ton eines gereizten Feldwebelleutnants zu fragen: „Nehmen Sie das Urteil an, ja oder nein?“ Der Justizminister Doktor Schmidt wird in seinem Leben eine Menge verwickelter juristischer Situationen gesehn haben, und es geht ihm der Ruf eines anständigen Menschen voraus. Ich frage ihn, ob er es für loyal hält, wenn ein Richter wie dieser die Angeklagten nicht darauf aufmerksam macht, daß sie das Recht auf Berufung haben, daß meist nach einer solchen Verhandlung Verdunkelungsgefahr nicht mehr besteht und daß mithin Haftentlassung zu erfolgen hat. Es ist vollständig gleichgültig, ob Herr Krönker durch Bestimmungen verpflichtet ist, die Angeklagten in dieser Weise zu belehren oder nicht: die einfachste richterliche Gewissenspflicht gebietet, Wehrlose über ihre Rechte aufzuklären.

Das Schöffengericht taugt schon nicht viel, weil die Siebung der Schöffen ganzen Volksschichten die bürgerlichen Ehrenrechte abspricht; du und ich, wir werden niemals Laienrichter werden. Was aber in diesem „Schnellgericht“ getrieben wird, geht denn doch noch über alles hinaus, was Moabit wagt. Es ist natürlich gleichgültig, ob ein von der kapitalistischen Gesellschaft zermürbter lungenkranker Mensch wegen Bettelns drei Wochen oder vier Wochen in Haft kommt: der Richter kann von sich aus die soziale Frage nicht lösen, auch er ist nur ein Vollstrecker. Aber es muß wohl verlangt werden, daß dieser Schnellrichter, daß die langsamen Richter in Moabit vor allem einmal die einfachsten Menschenrechte respektieren.

Auf keiner Tagung des Deutschen Richtervereins ist von den Schmerzen des Volkes etwas zu hören. Jedes Volk hat die Richter, die es verdient.

Was wäre, wenn …

W.T.B.

Wilhelm der Zweite ist heute abend 7.15 Uhr in Doorn an den Folgen einer Lungenentzündung gestorben.

*

Demokratischer Leitartikel

Der ehemalige Kaiser ist gestern in Doorn entschlafen, und wir drücken am Grabe eines Menschen selbstverständlich die anständige Trauer aus, die dem Menschen gebührt. „Et le combat cessa faute de combattants“, heißt es in Corneilles „Cid“. Es ist heute nicht der Tag, um zu schildern, was dieser Kaiser hat geben wollen, aber vielleicht nicht hat geben können. Mochte seine Impulsivität auch vieles verursacht haben, was besser unterblieben wäre, so ist doch sein reiner Wille und die Liebe zu seinem Volke …
„Deutsche Tageszeitung“, achtundvierzig Stunden später

Einzelheiten der Überführung stehen noch nicht fest. Doch kann heute schon soviel gesagt werden, daß der Trauerkondukt am Mittwoch, den 17., abends gegen 9 Uhr, in Berlin ankommen wird, wo die Leiche im Schloß aufgebahrt werden wird. Der Reichspräsident Hindenburg hat Armeetrauer befohlen. Daß die Schulen schließen werden, halten wir für selbstverständlich. Näheres über den Trauerzug, der sich durch die Hauptstraßen Berlins bewegen wird, sowie die Absperrungen geben wir morgen bekannt.

Paul Warncke im „Kladderadatsch“
… Dein harter Lebensfaden liegt zerschnitten.
Du stiller Dulder hast nun ausgelitten,
Du, der du stets die Völker überragt,
Der Zahn der Zeit nur hat dich hohlgenagt.
In schwarzen Schleifen Trauerreiser,
Dies bringt dein Volk dir! — Deutscher Kaiser!

Berliner Lokalanzeiger“, schwarzer Trauerrand, Schlagzeile
Sämtliche Minister nehmen am Trauerzuge teil!

Wie wir hören, haben sich auch die sozialdemokratischen Minister bereit erklärt, am Trauerzuge teilzunehmen. Nur die Kommunisten haben sich ausgeschlossen. Ihre Verhaftung steht unmittelbar bevor.

Tagesbefehl des „Stahlhelm“, Ortsgruppe Belgard in Pommern
Sämtliche Abteilungen stehen morgen früh acht Uhr an der Ecke der Stettiner Straße. Abmarsch zur Trauerfeier auf dem Exerzierplatz 8.05. Kleiner Anzug, große Hose, Stiefel in denselben; Stock, Totschläger, Handgranaten. Keine Waffen mitbringen!

Vorwärts
Die Massen Berlins, die gestern so ausgezeichnete Disziplin gehalten haben, konnten ein merkwürdiges Schauspiel beobachten. Während alle andern Regierungsstellen mit feinstem Takt die menschliche Rücksichtnahme mit der Achtung vor der Republik zu vereinigen wußten, hat das Reichswehrministerium, Dienststelle B, auf seinem Gebäude nur die Fahne in den preußischen Landesfarben gehißt. Hat man dort keine schwarzrotgoldenen Fahnen? Wir fragen den Reichswehrminister …

Deutsche Zeitung
Fortgesetzt laufen noch Beileidskundgebungen aus allen Teilen der Welt ein. Ein besonderes Zeichen für die Beliebtheit, deren sich Kaiser Wilhelm überall zu erfreuen hatte, ist der Gruß, den der Eskimo-Fußballklub „Nanuk“ aus Grönland an Seine Exzellenz den Generalfeldmarschall Hindenburg gesandt hat. Wahrlich, das deutsche Volk kann stolz auf seinen Kaiser sein.

Kreuzzeitung
Die Nachricht, daß Kaiser Wilhelm hunderttausend Mark testamentarisch den deutschen Kriegskrüppeln vermacht hat, bewahrheitet sich nicht.

Gerichtskorrespondenz
Die Arbeiter Wilhelm Lawrentz, Heinrich Katschke, Fritz Demmert standen gestern wegen Landfriedensbruch, Körperverletzung, Beamtenbeleidigung, Widerstand gegen die Staatsgewalt und Vergehen gegen die Gesetze zum Schutze der Republik vor der 12. Strafkammer des Landgerichts III. Sie waren beschuldigt, beim Vorbeiziehen des kaiserlichen Trauerkondukts die Hüte nicht abgenommen zu haben. Die unter Eid vernommenen Beamten gaben einstimmig an, von den Angeklagten mit schwerer Artillerie bedroht worden zu sein. Lawrentz wurde zu 8 Jahren, Katschke und Demmert nur zu 6 Jahren Zuchthaus verurteilt.

Bildunterschrift
Der Kronprinz im Trauerzug. Rechts oben: Der Kronprinz bei den Ruderregatten in Grünau.
Radio-Dienst
Die heutige Rundfunkstunde ist dem Andenken des verstorbenen Kaisers gewidmet. 7.15: Zeitangabe, Wirtschaftsnachrichten, Neueste Meldungen. 7.30: Vorspruch. Von Karl Rosner. Gesprochen von der Rundfunkprinzessin. 7.38: Was uns unser Kaiser war. Ansprache von Dr. Carl Diem, Generalsekretär der Hochschule für Leibesübungen. 8.05: Blasorchester …

Annonce
Der Kaiser ist tot. Da hat wohl mancher sein Leben an sich vorbeipassieren lassen, angesichts dieser großen und klassischen Tragödie sowie dieses Stücks Geschichte, das er hier miterleben durfte. Bei aller nationalen Verehrung aber sollte man auch sein leibliches Wohl nicht vergessen. Wenn Sie Hühneraugen haben …

Vermischtes
Generaldirektor Dembitzer von der Misti hat Herrn Otto Gebühr für den demnächst fertigzustellenden Kaiser-Film „Marsch-Marsch, Hurra!“ verpflichtet.

Lokales
Der Rentenempfänger Jakob Krewald hat sich gestern abend mit Leuchtgas vergiftet. Krewald war Schwerkriegsbeschädigter und erhielt 45% Rente. Er hat im Kriege das Augenlicht, die Beine, die Arme und den Unterkiefer verloren. Was den alten Mann in den Tod getrieben hat, ist noch nicht geklärt.

Zollschranke und Paßkontrolle

Das Recht des Fremden

Der Fremde in Europa ist rechtlos.

Die Staaten, verschuldet, ausgehalten, geduldet von der Hochfinanz und vom heimischen Unternehmertum, in ihrer Existenz nur möglich durch Zollbarrieren; die Staaten, deren Grenzen keine Rassen umschließen, ja, nicht einmal mehr feste Wirtschaftsgebiete – die Staaten spielen gern: mittelalterliche Burg, Vaterland, Heimat. Und weil die Autorität zu Hause nicht weit reicht, weil der Bauer keine Steuern bezahlt und der Grubenbesitzer nicht pariert, sondern parieren läßt, deshalb regiert sichs so schön auf wehrlosen Individuen herum, auf den einzigen, die nicht mit einem Fußtritt antworten, wenn die „höchste Gewalt“ regierend eingreift. Hier fühlt sich der Staat. Das arme Luder will auch einmal wissen, wie das tut: etwas durchsetzen. Und da hats der Fremde nicht leicht

Vergnügungsreisende werden im allgemeinen nur schikaniert, aber nicht ernsthaft bedroht, besonders nicht, wenn sie den besser gekleideten Ständen angehören. Abgesehen von den Flapsigkeiten der Polizeistuben, von den Rüpeleien der Zollbeamten läßt man sie von dieser Seite her ungeschoren, das übrige besorgen später die Hoteliers. Nur Amerika vergreift sich auch an harmlosen Besuchern, die nichts wollen als Geld ausgeben: die ganze Dummdreistigkeit geschäftetreibender Kleinbürger liegt in seinem System, zu moralischer Überwachung pappene Gesetzestafeln aufzurichten, hinter denen jemand geschobenen Whisky trinkt.

Bei Auswanderern liegt die Sache anders.

Das kapitalistische System handelt folgerichtig, wenn es neben den Waren auch den freien Verkehr menschlicher Arbeitskräfte verhindert, der ja alle Staatssysteme im Nu ins Wanken brächte. Durchbrochen wird dieser Grundsatz nur mit Genehmigung von herrschenden Klassen: so haben die deutschen Grundbesitzer das Recht, die Arbeitslöhne durch die Einfuhr polnischer Arbeiter zu drücken; in diesen Kreisen wird dann gern von „Landflucht des deutschen Arbeiters“ gesprochen. Was richtig ist: der Arbeiter flieht Schweinekoben, Schweinefraß und schweinische Behandlung.

Die Komik moderner Staaten offenbart sich am klarsten in der Heidenangst vor reisenden Kommunisten. Die politische Situation ist einfach: Fährt Frau Zetkin nach Frankreich, um dort Propaganda gegen Kolonial-Politik zu betreiben, so ist sie ein Feind des französischen Staates, und der wehrt sich. Das ist sein gutes Recht. Der Fall liegt selbstverständlich in allen Ländern gleich. Und nicht gegen die Ausweisungen, Auslieferungen, Vertreibungen, Maßregelungen wende ich mich, sondern gegen zwei andere Dinge.

Zunächst gegen ihren Modus.

Der Fremde ist rechtlos, weil es in keinem „zivilisierten“ Staat ein kontradiktorisches Verfahren, ja überhaupt eine Rechtsordnung für Ausweisungen gibt. Wehrlos jeder Denunziation preisgegeben, vollständig in der Hand der Polizeiorgane von meistens höchst zweifelhaftem Wert, weiß der Fremde gewöhnlich nicht einmal, weshalb er denn ausgewiesen wird. Neben der großen Zahl begreiflicher Fälle, wo überführte Verbrecher, Mittellose, Landstreicher ausgewiesen werden, die sonst der fremden Armenpflege zur Last fielen, liegen jene Zehntausende von Fällen, die jede Schutzorganisation, jede Liga für Menschenrechte kennt.

Klatsch der Nachbarn; böswillige Mißverständnisse; anonyme Anzeige – kein Ding ist zu dumm, als daß die Polizei nicht freudig danach griffe. Sie wird selten von oben korrigiert. Sieht man von den Bestechungsfällen ab, so bleibt die völlige Verständnislosigkeit dieser obern Stellen, ihre sture Dumpfheit, ihr schlechter Wille, sich überhaupt in die Einzelheiten zu versenken. Nichts hilft: zehn Jahre Aufenthalt nicht, keine ehrliche Arbeit, kein neu begründeter Hausstand – es ist ein „Fremder“, und er muß hinaus.

In Deutschland, wie in manchen andern Staaten, greift dieses empörende System auch noch auf die Rechtsprechung über –: man muß erlebt haben, wie in Moabit Kleinbürger im Talar das „Ausland“ erziehen, das ihnen da vorgeführt wird. „Wir sind hier in Deutschland, und Sie haben sich …“ Wobei auch sieben Semester Jura und die Ausbildungszeit als Referendar noch nicht die Erkenntnis ermöglicht haben, daß im Hydepark die Leute nicht nackt herumlaufen, und daß selbst in Kowno, Bukarest und Konstantinopel wenig Kinder gefressen werden.

Denn stramm sind alle der Meinung: der „Fremde“ ist ein Fremder.

Waren werden ausgetauscht und haben die Welt so mechanisiert, daß einer, der vom Mond herunterfiele, zunächst nicht sagen könnte, wo er ist: Straßenbahnen, Kino, Presse, Giletteklingen und Whiskyplakate sind überall gleich, uniformiert von der für alle gültigen Produktion. Das hindert sie nicht, immer noch zu glauben, der Fremde bemale sich seinen Körper mit wilden Farben, säße nachts auf den Bäumen und fletsche grimmig die Zähne, man kann sich alles von ihm gewärtigen. Und so pauken sie denn munter auf ihm herum, mit dem Horizont von Talbewohnern, die nicht über die Berge zu blicken vermögen, und sind wer weiß wie stolz, wenn sie die Gnade haben, sein Geld zu nehmen.

Manchmal nehmen sie auch das nicht einmal.

Und zwar dann nicht, wenn, zweitens, der Kommunist zu Besuch kommt. Man darf ohne Übertreibung sagen, daß bekannte kommunistische Führer heute in Europa behandelt werden wie Sträflinge, selbst wenn sie im fremden Land nicht politisch tätig sind. Die Komödie der Paßverweigerungen, der Verhaftungen, der Ausweisungen läßt sich nicht beschreiben. In die wahnwitzige Angst schlechter Gewissen mischt sich ein Pomp, ein Pathos, eine gereckte Würde des Staats, die man diesem armseligen Popanz gar nicht zutraut, wenn man ihn nur kennt, wie er vor den Banken kuscht. Hier ist er Herr, hier darf ers sein! Und er ists.

Was dabei so besonders widerwärtig wirkt, ist die unaufhörliche Beteuerung aller dieser Länder, daß und wie demokratisch sie seien. Sie sind für Preßfreiheit – und sehen zu, wie sich die Presse in den Händen der Wirtschaftskonzerne befindet. Sie sind für politische Freiheit – und unterdrücken jede Betätigung, die ihnen auch nur gefährlich erscheint.

Und nicht, daß sies tun, ist das niedrige. Daß sie nicht den Mut haben, es einzugestehen, richtet sie.

Wie die Erde zu ändern ist, steht dahin. Ob wir eine Sowjet-Internationale haben werden, die auch in der Produktion jedes Land möglichst unabhängig vom andern erhalten will – das ist zu diskutieren. Was aber gar nicht zu diskutieren ist, das ist der augenblickliche Zustand eines halbinternationalen Kapitalismus, der de facto die Grenzen verwischt und sie lächerlich macht – und willkürlich, aber mit allen Kräften den kleinbürgerlichen Instinkt unterstützt, der ja seiner Zeit immer nachhinkt, als hätten wir noch ein „Vaterland“ mit dicken Mauern.

Keine Gemeinde ist mehr Herr auf ihren Wiesen. Verschuldet bei amerikanischen Bankiers, die Fabriken verpfändet und im Besitz von Menschen, die das Land und seine Produktion niemals gesehen haben und es auch nicht zu sehen brauchen, weil der Besitz durch die Aktien mobil geworden ist; geknechtet und verprügelt an allen Börsen, ein Spielball jeder Industrie –: so spielen sie Heimat. Das unfreieste aller Wesen veranstaltet einen Karneval, Saturnalien, wo sich auch der letzte Sklave noch für frei hält. Ein Bürgerspaß.

Aber ein trauriger für die Opfer.

Im Kriege haben sich die Staaten benommen wie die Räuber; die Enteignung von Privatvermögen, der Ruin Hunderttausender von Existenzen durch gemeinen Vertrauensbruch um des Passes willen ist heute noch nicht gutgemacht. England voran – die Prozesse hageln. Was die Deutsche Republik von den fremden Staaten zurückbekommen hat, wird in voller Höhe auf das Reparationsguthaben abgeschrieben; das Reich behält die Summen ein und zahlt den unschuldigsten Kriegsopfern ein paar Pfennige. Ein gutes und nationales Geschäft.

Im Frieden siehts ähnlich aus, solange man unterhalb einer gewissen Vermögens- und Einkommensgrenze bleibt. Darüber hinaus gilt plötzlich alles nicht mehr: Gesetze, Verfügungen, Sperren neigen sich, fallen matt zu Boden. Der Weg ist frei.

Es gibt kein Asylrecht, keine Freiheit, keine Sauberkeit für den Fremden. Er sitzt auf dem Pulverfaß und darf warten, bis etwas knistert. Fliegt er in die Luft, so werden die Erben eingesperrt: wegen Abhaltens einer öffentlichen Lustbarkeit ohne behördliche Genehmigung. Und diesen Taumeltanz tanzen sie alle mit: die großen Staaten und die kleinen, die Schweiz, die nordischen Staaten, Finnland – alle.

Da hats dann vielleicht eines Tages der Fremde satt. Angewidert von den Parlamentsphrasen, in denen geschäftige Minister über Grundsätze schwätzen, die sie im Ernst niemals anwenden, die Anarchie zwischen diesen künstlichen Gebilden, denen sie vorstehen, künstlich verhüllend; gelangweilt durch die trübe Phantasielosigkeit seiner Quäler kehrt der Fremde nach Hause zurück. In die Heimat, in die Heimat …

Und tritt hier in Dienst, verdient sich sein Brot, merkt, daß alles, alles genau dasselbe ist wie draußen, läßt die Arme sinken und sieht sich um.

Ein Fremder.

Polizei

Polizei sieht auf dem ganzen Kontinent ungefähr so aus:

In einem großen, grauen Gebäude mit unsaubern Korridoren sitzen Männer in Uniformen und unwahrscheinlich staubige Schreiber. Sämtliche Polizeibeamte der mitteleuropäischen Länder haben zuvor ein Examen in Unhöflichkeit abgelegt. Der Polizeibeamte sagt und tut mit unfehlbarem Instinkt das Umständliche, Unerwartete, Schwierigkeiten Bereitende, Pläne Durchkreuzende. Seine Sprache ist rauh und grob; daß er nicht sofort haut, liegt am Zeitmangel. Der Bürger, Steuerzahler und Familienvater tritt über die Schwelle mit dem Posten davor und merkt erstaunt, daß er draußen ein ungesetzliches, eigentlich gar nicht gestattetes, allzu freies Dasein geführt hat, Schüler in der Pause. Hier drinnen erst ist es richtig. Er schrumpft zu dem Nichts zusammen, das er ist, er hat keine Rechte mehr, bedeutet nichts, ist gar nicht mehr vorhanden. Ungeahnte Verbrechen liegen in der Luft, stets gewitterte; ein peinliches Gefühl, sie entgegen den Vermutungen der Behörde nicht begangen zu haben, überkommt ihn. Zunächst hat er zu warten.

Die Polizei hat den Zeitbegriff aufgehoben. Was in Europa auf allen Polizeiämtern für Arbeitsstunden verwartet werden, ist gar nicht zu sagen. Der arme Untertan braucht den Staat – oder vielmehr: der Staat braucht ihn zu kindlichem Spiel –, und dafür bekommt er zuvörderst einmal eine Arreststrafe: er sitzt seine Papiere auf den Korridoren ab. Tagtäglich warten in der ganzen zivilisierten Welt Hunderte und Tausende stumpfsinnig, erbittert, gelangweilt, gespannt auf einen Bureaumenschen der Polizei. Es scheint, als ob bei der Neueinrichtung einer Polizeistation alles in Betracht gezogen wird – nur nicht das sie frequentierende Publikum. Wie sich das durch Zimmer, Gänge, Paßstellen, Anmeldebureaus durchwindet, ist seine Sache. Ja, es steckt offenbar ein tiefer erzieherischer Wert hinter dieser Nichtachtung: der Zivilist soll fühlen, daß er eine Laus ist, ein elendes Wesen, ein Nichts. Daß er nicht sofort eingesperrt wird, ist das Beste, was ihm überhaupt passieren kann.

Zwei Arbeitsstunden verwartet – in dieser Spanne Zeit könnte man hundert Zeilen einer Odyssee gedichtet, an der Börse Geld verdient, ein Kind angefertigt haben, aufs Land gefahren sein. Nichts da. Warten. Dann – Herz, klopf schneller! – vor den Gewaltigen.

Der Gewaltige verbreitet eine Atmosphäre von Grobheit und schlechter Körperpflege um sich. Martialischer Trutz und ungewaschene Füße geben dem Mann ein eignes Aroma. Eine halbe, von aufmerksam spähenden Augen sofort aufgefangene Kopfbewegung heißt: „Was wollen Sie –?“ Es wird gesagt. Erstes Polizeigesetz: „Nein.“ Raus. Zweites Polizeigesetz: „Nein. Da müssen Sie erst …“ Raus. Neuer Gang. Neues Warten. Neue Papiere.

Denn ohne Papiere macht der Polizei die ganze Polizei keinen Spaß. Was dieser patriotische Erdteil in den letzten Jahren an Ausweisen, Pässen, Identitätskarten, Anmeldescheinen, Unbedenklichkeitsbescheinigungen, Visen, Erbscheinen, Toten- und Lebendigen-Papieren erfunden hat, zeigt den Selbstzweck des Unternehmens. Es ist töricht, in diesem Wust von Dummheit und Schikane noch nach irgendeinem andern Sinn zu suchen als dem, soundso viel tausend Menschen der Arbeitslosenunterstützung zu entziehen, und daher haben wir Polizeibeamte.

Aber gnade Gott, wenn der Einlaßheischende ein Fremder ist! Was sich dann abspielt, ist schwer zu schildern. Ein Fremder –? Dräuend richtet sich das Polizeiauge auf den Unglücklichen. Ein Fremder! Warum ein Fremder –? Was will der hier –? Ein Spion? Ein Spion. Ein Taschendieb? Alle Fremden sind Taschendiebe. Warum bleibt der Mann nicht zu Hause und nährt sich redlich? Aha! Das werden wir gleich haben – uns entgeht nichts! Und nun gehts los. Anmeldung, Abmeldung, Genehmigung, Erlaubnis, Verweigerung der Erlaubnis, Befristung der Genehmigung – kurz, das alte schöne Wort eines Wiener Bezirkskommissärs hat volle Gültigkeit: „Der Wiener hat im Ausland nichts zu suchen!“

Überschreite die Schwelle, und du bist verloren. Hier hören alle Gesetze der Vernunft, der Höflichkeit, der allgemein gültigen Formen völlig auf. Verzaubert bist du. Frage, und es antwortet dir keiner; sie haben eine besondere Krankheit: die Polizeitaubheit. Bitte um Formulare, sie haben keine. Zeige Papiere vor, sie sehen sie nicht. Du schüttelst den Kopf; du glaubtest, du seist ein Mensch. Es ist ein Irrtum. Dich gibt es gar nicht.

Die reichen Leute habens schon besser. Da stehen junge Angestellte mit betreßter Mütze, die warten für den Herrn Baron, werden für die Frau Kommerzienrätin angeschnauzt, bekommen einen roten Kopf für den Herrn Generaldirektor. Der Rest brät in Person im höllischen Feuer.

In der lieben Heimat kommt man noch halbwegs um die Menagerie herum. Braucht man die Polizeilöwen nicht, dann kann es sein, daß sie einen nicht verschlingen. Aber fassungslos steht der Fremde in der Fremde vor so viel Dummheit, Bosheit, Flegelhaftigkeit, vor einem solchen Ausmaß von Niedertracht und Pedanterie. Und fassungslos sucht er die ausländischen Freunde auf und fragt sie: „Aber … wie ist es möglich …?“ Und siehe, dieselben Leute, die sonst so nett zu ihm sind, die eben noch mit ihm offen und männlich über Geschäfte, Politik, Frauen und Bücher gesprochen haben, bekommen plötzlich etwas Geducktes im Blick, ein Schimmer von bösem Gewissen geht über sie hin, sie senken die Augen. „Tja …“ Achselzucken. Meist wissen sie gar nicht, was „ihre“ Polizei mit den Fremden macht. Helfen können sie nicht. Gute Schüler, die sich schön hüten werden, sich einzumischen, wenn der Lehrer einen aus der letzten Bank beim Wickel hat.

Daß mir jemand meine Uhr stiehlt, geht nicht an – das ist allgemein anerkannt. Daß er mir aber meine Zeit stiehlt, diese meine Zeit, in der ich arbeiten, Geld verdienen, mich meines Lebens freuen will – das geht sehr wohl an, wenn der Dieb nur einen Helm trägt, eine bunte Mütze, einen Säbel oder, mit aufgeknöpftem Uniformkragen oder im kümmerlichen Zivil, in der Polizeischreibstube sitzt. Gottes Wege sind erforschlich – die der Polizei sind es nicht.

Der Untertan schimpft auf den Obertan, den Polizeimann; es gibt eine ganze Literatur in den Zeitungen, wo in gewundenen Ausdrücken, voll der überlegensten Ironie auf die „hohe Obrigkeit“ gescholten wird – immer mit diesem verquetschten Ton in der Kehle: „Wenn er kommt, alle unter die Bänke!“ Polizeistaat? Aber das ist ein Pleonasmus.

Denn solange die Menschheit mit aller Gewalt, durch Kapitalismus und Familienglück hindurch, über Eingespunnte und Fliehende hinweg, mit Stacheldraht und Gefangenentransport der imaginären Vorstellung zur Realität verhelfen will, als gäbe es noch Schlagbäume, souveräne Staaten, alte Burgen des Mittelalters, die so tun könnten, als seien sie allein auf der Welt, die nach innen eine Wirtschaftsform nur mit Hilfe von schnappenden Wachthunden aufrechterhalten können, deren gute Laune durch Straflosigkeit legitimer Roheitsdelikte wachgehalten und deren Dienst mit wenig Geld und viel Überschätzung bezahlt wird – solange die Staaten so tun, als stehe nach außen immer noch ein Volk geschlossen hinter ihnen, während jedes doch ökonomisch längst zerfallen ist, aufgeteilt in Nehmende und Gebende, mühelos Arbeitende und mühevoll Arbeitende: so lange haben sie diese Polizei.

*

„Ja, lieber Kolleje, ich habe mir das anjesehn. Namen nennt er nich, er meint ja vielleicht die preußsche Polizei auch – aber Weißmann, oder sonst jemand kommt nich vor … ich glaube, da dringen wir nicht mit durch!“

„Sie meinen, mit dem dolus eventualis …?“

„Nee. Mir hat ja erst neulich der Vorsitzende von drüben gesagt: Den Wrobel möcht ich mal vor meine Kammer haben! Ich habe gesagt, ich will mal sehen. Wissen Se, das ist ein ganz objektiver Mann: da kann er sich gratulieren. Aber dieses Mal – da wirds wohl nischt werden. Ich will die Sache im Auge behalten.“

„Ja, sehn Se mal zu! ’n Morjen!“
„’n Morjen!“
Auf Wiedersehn.

Die Verteidigung des Vaterlandes

„Angora, 4. August (W.T.B.). Die große Nationalversammlung beschloß, daß alle Mitglieder der Versammlung an der Verteidigung des Vaterlandes teilnehmen sollten. Die militärischen und medizinischen Mitglieder reisen an die Front ab, während die andern mit Versorgungsangelegenheiten hinter der Front sich befassen werden.“

Das steht in zweihundert Provinzzeitungen, und der Prozentsatz der Leser, die von Angora nur wissen, das es solche Kater gibt, dürfte neunundneunzig sein. Der kluge Rest rät entweder auf Jugoslawien oder einen Balkanstaat … Und was denken alle hundert? Was sie denken sollen: „Die Verteidigung des Vaterlandes!“

Es ist durchaus nicht festgestellt, wer gegen wen den Katerstaat Angora zu verteidigen sich bemüßigt fühlt. Das ist dem Leser auch völlig gleichgültig. Wenn nur ein Vaterland verteidigt wird. Vaterländer lassen sich gern verteidigen, und die deutschen Zeitungsleser lieben das. Haben die Katermänner in Angora nun auch ihre große Zeit? Das ist recht. Und des Lesers Blick schweift in die Verlobungsanzeigen.

Wir aber, lieben Freunde, lasset uns ein wenig spintisieren.

*

„Die große Nationalversammlung beschloß …“ Die große Nationalversammlung, das große Lalula Angoras – wer mag das sein? Ich bin noch nie im Vaterland Angora gewesen – aber ich sehe sie alle vor mir: die würdigen Vollbärte, gewaschen in allen Wassern des Parlamentarismus, unentwegt treu irgendwelche Fahnen hochhaltend und nach guter alter Katersitte auf den jeweiligen Miezislaus den Ersten schwörend. Die Vollbärte zittern. Fette Hände senken sich wohlwollend auf junge Schultern, Beruhigung klopfend, alles im Leben endet mit einem Arrangement. Und ich sehe die andern, die jungen, sportgebräunten Schieber mit den schwarzen Lacktollen und den französischen Stiefelchen. Laßt sie Schlachten liefern –: wir liefern Brotbeutel. Und essen Kuchen.

„Die militärischen und medizinischen Mitglieder reisen an die Front ab …“ An die Front – ja. Noli me tangere – sagte die Schwangere.

Die Militärischen also werden nah an die Front reisen und dort von Villen und Schlössern aus den andern sagen, wie sie zu sterben haben. Das ist nicht einfach. Man muß Reden zu diesem Zweck halten. „Kater Angoras! Wahrt eure heiligsten Güter! Bis zum letzten Hauch von Mann und Roß …!“ Ich sehe die tausende zusammengeprügelter Bauernjungen, die, ein wenig ängstlich, ein wenig müde vom langen Warten und ein wenig angeregt vom Anblick der vielen glänzenden Uniformen, da im Karree stehen; vor ihnen eine prachtvolle Suite und dann irgendein ER. Ein glorreicher Oberbefehlshaber, ein Präsident, ein General, was weiß ich. Knapp legt er die Hand an den blinkenden Mützenschirm. „Ich danke, meine Herren!“ Furchtlos hält der tapfere Mann die ordenübersäte Brust den photographischen Objektiven hin, die alle auf ihn gerichtet sind. Ein ff. historischer Moment –! Danke, meine Herren!

Die Medizinischen sind auch an die Front gereist. Oho! kein wilder Negerstamm ohne einen Medizinmann. Dickbäuchige Zivilärzte werden, schnaufend in der ungewohnten Uniform, an Grobheit es den aktiven Kollegen gleichzutun suchen – mit Erfolg, mit Erfolg. Wer noch keine Kassenpraxis gehabt hat: hier lernt er, wie man mit Leuten umzugehen hat. „Zum Sterben tauglich – raus!“ Und was sich vor vierzehn Tagen noch katzbuckelnd und händereibend vor den reichen Kommerzienräten Angoras verbeugt hat, weiß sich hier nicht zu lassen vor Manneskraft.

„… während die andern mit Versorgungsangelegenheiten hinter der Front sich befassen werden.“ Beim Katzenschwanz Angoras und beim heiligen Sankt Baldrian: das werden sie! Ja, wenn wir diese andern nicht hätten –! Während vorn, noch vor den Militärischen und den Medizinischen, Menschen in Ackergräben verlausen und verrecken, befassen sie sich. Womit du willst: mit Proviant und mit Leder, mit Granaten und mit Pferden, ein wenig auch mit sich selbst; auf Samtpfoten und leise schnurrend buckeln sie zum Bezirkskommando Angoras. Miau! Wir sind alle, alle unabkömmlich …

Ich sehe Angora. Branntwein wird ausgeteilt; ein paar Narren, die nicht glauben wollen, daß ihr Vaterland auch über das Leben verfügen dürfe, fliegen ins Gefängnis; Redakteure schreiben sich die Federkiele heiß – vom Sterben der andern; das Kater-Lampesche Telegraphenbureau fertigt gut sitzende Originalsiege an, an denen alle Welt seine Freude hat; wer „mies, mies, mies“ macht, bekommt Prügel; die Regierung streicht den sozialistischen Katzen solange über das Fell, bis sie vor Behagen schnurren und alle auf dem Bauch liegen; in allen Schaufenstern prangt das Bild jenes historischen Moments, mit jenem großen Mann, einem Ludendorff, der einmal desertieren wird: ein wahrhaft gestiefelter Kater. Alle Generale vergessen Gicht und Gallenstein und wettern wieder auf den Kasernenhöfen daher, daß es eine Lust ist; der ganze Militärstand wacht auf und sträubt die Katerbärte, bereit zum Sterben der andern und froh der eignen so aktuell gewordenen Wichtigkeit. Ja, und die Berufssoldaten werden doppelt froh ihren Lohn einstecken, und ihre Onkel und Neffen, die sich schämen, nicht selbst mitzumarschieren, und die sich ärgern, in jeder Gesellschaft – und noch dazu vor Damen – von so einem uniformierten Kater ausgestochen zu werden, werden auch nicht hinter der Zeit zurückbleiben wollen. Und so werden sie in ihren Büchern und in ihren Kollegs, in ihren Kirchen und in ihren Lesezirkeln davon sprechen, wie heilig, wie notwendig und wie edel der Krieg ist, sie werden das Sterben der andern loben, und wie süß es sei … Denn nichts ist schwerer und nichts erfordert mehr Charakter, als sich in offenem Gegensatz zu seiner Zeit zu befinden und laut zu sagen: Nein.

Es ist nicht nur gefährlich; stirnrunzelnd wird der Kaufherr von seinen Lieferungsverträgen aufblicken und den neben ihm stehenden militärischen Handlanger fragen, wer denn da toll geworden sei – winkend, man möge den Verräter einsperren. Was geschieht. Es ist nicht nur das, weshalb so viele Leute es scheuen, nein zu sagen. Es ist ja so schön, im großen Strom der Masse mitzuschwimmen – Windstoß und Wasserrichtung tragen das Schiff –; und wenn es dann so stolz dahinsegelt, denken die Leute, es fahre aus eigner Kraft … Es ist auch bekömmlicher, sich der Macht zu unterwerfen – wer sich vor ihr verbeugt hat, auf den geht ein Quentchen der großen Macht über, und aus einem kleinen Lehrer oder Delikateßwarenverkäufer ist über Nacht plötzlich ein gewaltiger Mann geworden. Ein Tyrann macht viele. Das ist ein großes Geheimnis …

Und die Frauen Angoras werden jubeln und schnurren und miauen und Charpie zupfen und rosenrote Gedichtchen schreiben und über blau gekleidete Leichen jauchzen und über rot gekleidete jammern und am lautesten nach dem Oberkater schreien … Auf den Dächern Angoras …

Und in den Schulen Angoras lehrt man die Lehre von der Herrlichkeit des Krieges. Man lehrt: Du sollst nicht töten! und man lehrt: Du mußt töten! – und weil niemand in der Geschichtsstunde an die Religion denkt, so hat beides in den jugendlichen Gehirnen sehr wohl Platz, um so mehr, als ja das staatliche Töten mit vielen herrlichen, leuchtenden, bunten Farben verbunden ist, mit Musik und Ehren, mit Feiern und Orden und mit sehr viel Kaisern, die man ganz aus der Nähe ansehen darf. Und weil der Mensch immer glaubt, alles, was er auf der Schule, als er noch klein war, gelernt hat, ohne nachzudenken, nur, weil es ihm so eingetrichtert ward, das sei als absolute Wahrheit vom Himmel gefallen, so werden die jungen Angoristen später im Leben gute Staatswürger abgeben.

So wird in Angora das Vaterland verteidigt. Der Deutsche liests, bejahts und nimmt sich vor, es bei nächster Gelegenheit grade so zu machen.

Und keiner steht auf – in Angora nicht und in Potsdam schon gar nicht – und sagt dem Tier Masse, dem Tier Zeitgeist, dem Tier Staat: Nein! Du, die blinde, schwarze Kollektivität, bist der große Krumme, der Teufel, ein wütiges Tier, bar jeder Verantwortung. Denn ist das Katzenfest vorüber, so löst du dich in einzelne Lebewesen auf, von denen es keiner, keiner gewesen sein will. Und auch keiner war. Einzeln sind sie ganz vernünftig.

Und nicht eher wird die Kateridee der absoluten Souveränität des Staates schwinden, als bis die einzelnen, die unter ihm seufzen, sich hochrichten und klar und bestimmt sagen:

Wir wollen nicht mehr.

Die Zentrale

Die Zentrale weiß alles besser. Die Zentrale hat die Übersicht, den Glauben an die Übersicht und eine Kartothek. In der Zentrale sind die Männer mit unendlichem Stunk untereinander beschäftigt, aber sie klopfen dir auf die Schulter und sagen: „Lieber Freund, Sie können das von Ihrem Einzelposten nicht so beurteilen! Wir in der Zentrale …“

Die Zentrale hat zunächst eine Hauptsorge: Zentrale zu bleiben. Gnade Gott dem untergeordneten Organ, das wagte, etwas selbständig zu tun! Ob es vernünftig war oder nicht, ob es nötig war oder nicht, ob es da gebrannt hat oder nicht –: erst muß die Zentrale gefragt werden. Wofür wäre sie denn sonst Zentrale! Dafür, daß sie Zentrale ist! merken Sie sich das. Mögen die draußen sehen, wie sie fertig werden!

In der Zentrale sitzen nicht die Klugen, sondern die Schlauen. Wer nämlich seine kleine Arbeit macht, der mag klug sein – schlau ist er nicht. Denn wäre ers, er würde sich darum drücken, und hier gibt es nur ein Mittel: das ist der Reformvorschlag. Der Reformvorschlag führt zur Bildung einer neuen Abteilung, die – selbstverständlich – der Zentrale unterstellt, angegliedert, beigegeben wird … Einer hackt Holz, und dreiunddreißig stehen herum – die bilden die Zentrale.

Die Zentrale ist eine Einrichtung, die dazu dient, Ansätze von Energie und Tatkraft der Unterstellten zu deppen. Der Zentrale fällt nichts ein, und die andern müssen es ausführen. Die Zentrale ist eine Kleinigkeit unfehlbarer als der Papst, sieht aber lange nicht so gut aus.

Der Mann der Praxis hats demgemäß nicht leicht. Er schimpft furchtbar auf die Zentrale, zerreißt alle ihre Ukase in kleine Stücke und wischt sich damit die Augen aus. Dies getan, heiratet er die Tochter eines Obermimen, avanciert und rückt in die Zentrale auf, denn es ist ein Avancement, in die Kartothek zu kommen. Dortselbst angelangt, räuspert er sich, rückt an der Kravatte, zieht die Manschetten grade und beginnt, zu regieren: als durchaus gotteingesetzte Zentrale, voll tiefer Verachtung für die einfachen Männer der Praxis, tief im unendlichen Stunk mit den Zentralkollegen – so sitzt er da wie die Spinne im Netz, das die andern gebaut haben, verhindert gescheite Arbeit, gebietet unvernünftige und weiß alles besser.

(Diese Diagnose gilt für Kleinkinderbewahranstalten, Außenministerien, Zeitungen, Krankenkassen, Forstverwaltungen und Bauksekretariate, und ist selbstverständlich eine scherzhafte Übertreibung, die für einen Betrieb nicht zutrifft: für deinen.)

Auslandsberichte

Wien, 19. November. Aus Amsterdam wird uns gemeldet: Nach Mitteilungen der Pariser Presse hat der „Daily Telegraph“ ein Telegramm des „New York Herald“ aus Konstantinopel erhalten. Danach soll die Brotkarte in Berlin eingeführt werden

Zeitungsmeldung aus dem Krieg.

Was im Ausland von den Korrespondenten der großen Zeitungen verlangt wird, ist heller Wahnsinn. Die ungeheuern Spesen, mit denen sich die großen Zeitungsverlage belasten, gehen monatlich in die fünfstelligen Zahlen: es wird telephoniert und telegraphiert, telegraphiert und telephoniert. Was wird telephoniert?

Es gehört kein übermäßig geübtes Auge des Routiniers dazu, um den Kern jedes Auslandsberichts sofort zu erkennen. Man wird nach der Lektüre dieser Meldungen immer fragen: Woher hat er das? In den meisten Fällen kann man antworten: Aus einer andern Zeitung. Ungefähr neunzig Prozent aller Auslandsmeldungen enthalten Pressestimmen, das heißt: Verwertung fremder Nachrichten, das heißt: Resultate einer Arbeit, die man ebensogut in Berlin tun könnte. Die Zeitung nimmt die Zeitung wichtig, das kann man verstehen. Aber ganz abgesehen davon, daß Auszüge aus Zeitungsartikeln nicht immer klare Bilder ergeben, fehlt ja diesen Zitaten völlig die Atmosphäre, in der die zitierten Pressestimmen entstanden sind. In den meisten Fällen kennt der Leser den jeweiligen Charakter der fremden Zeitungen nicht, er kann sie nicht richtig auseinanderhalten, und das französische Zwölf-Uhr-Mittagsblatt, der französische Lokalanzeiger und der französische Börsencourier werden ihm meist alle hintereinander ohne Kommentar serviert; er ist nicht in der Lage, Schwere und Bedeutung der einzelnen Zeitungen richtig abzuwägen, er kennt in den wenigsten Fällen ihre Auflageziffern, geschweige denn Parteizugehörigkeit, Interessentengruppe, Nüance und öffentliche Geltung. An Fälschungen und Dummheiten denke ich dabei gar nicht. Wenn der Berliner Lokal-Anzeiger den „Figaro“ eines der bedeutendsten politischen Blätter nennt, so kann man sich aussuchen, ob die Unbildung oder die Böswilligkeit seiner Redakteure größer ist. Aber das Unmaß von Nachrichten, die gar keine sind, prasselt in der ganzen Sinnlosigkeit ihrer Quantität auf den Leser herunter, der sich hier ein Körnchen herauspickt und da eins und der in Wahrheit durch Überschriften angeregt, manchmal irregeleitet, aber nie unterrichtet wird.

Mit den Korrespondenzen steht es nicht besser. Um den ganzen Unfug dieses falschen Nachrichtenrummels zu begreifen, sehe man sich einmal eine kleinere deutsche Provinzzeitung an: da bekommt der Leser in Bernau eine sinn- und zusammenhanglose Reihenfolge von lächerlichen Nachrichtenfetzen vorgesetzt, die auch für einen Kenner fremder Länder unverständlich sind.

Das Leben eines Landes spielt sich eben nicht in seinen Zeitungen ab. Man kann zwar aus diesen Zeitungen viel ersehen, wenn man auch sonst gut Bescheid weiß – ihre Macht soll nicht unterschätzt werden. Aber eine Zeitung ist keine Kamera – Journalisten sind Abzeichner. Man muß immer Bild und Wirklichkeit vergleichen.

Die deutschen Verleger verlangen von ihren Auslandskorrespondenten zunächst diesen wüsten Haufen von Nachrichten mit dem ganzen Anhängsel der Pressestimmen; sie verlangen ferner etwas, das sie für besonders lebendig und instruktiv halten: unpolitische faits divers. Auch diese faits divers sind in den allerseltensten Fällen vom Berichtenden selbst beobachtet; sie sind wiederum aus Zeitungen abgeschrieben und geben, Kopie einer Imitation, blasse, schiefe, unrichtige Bilder. Diese Sensation war gar keine Sensation, das Tagesgespräch war ein Feuilleton, und die Wahrheit sieht ganz anders aus. Die faits divers sind auch schuld daran, daß die eine Nation die andre für einen Haufen tobsüchtig gewordener, ewig ehebrechender, halbirrer, sonderlinghafter, unter völlig desperaten Umständen lebender und mit Revolvern herumfuchtelnder Menschen hält. Wie sich der englische Hochadel zur Kirche stellt; was die jugoslawische Universitätsjugend für Ausbildungsmöglichkeiten hat; wie das Ausgabenbuch einer amerikanischen Mittelstandsfamilie aussieht – davon erfahre ich nichts. Aber da ist kein Ehebruchprozeß unsauber und dumm, keine blöde Wette von Rennjobbern albern, keine Toilette eines Theatergirls belanglos genug, als daß mich meine Leibblätter nicht ausführlich darüber unterrichteten. Der Grund ist sehr einfach: jene Fragen zu behandeln kostet viele Reisen und mühsame Kleinarbeit – den kindischen Klatsch kann man aus der Zeitung abschreiben.

Die deutschen Auslandskorrespondenten versenken sich in die ausländischen Zeitungen und blicken viel zu selten auf. Das hat einen ganz bestimmten Grund.

Die deutschen Journalisten im Ausland haben kein Geld.

Sie sind gar nicht in der Lage, ernsthaft mit ihrem englischen und amerikanischen Kollegen zu rivalisieren, weil sie nicht auftreten, weil sie die soziale Stufenleiter nicht genügend herauf- und herunterklettern können, weil ihr soziologischer Horizont zu klein ist.

Der unendliche Stolz eines deutschen Journalisten, der ein paar Ministerialindiskretionen aufgeschnappt hat, zeigt deutlich, wie kümmerlich sonst seine Quellen sein müssen. Sie können nicht ergiebiger sein; denn es gibt keinen deutschen Verlag, der einsieht, wie seine Auslandskorrespondenten austreten müßten.

Mag sein, daß dabei die unleidliche Eitelkeit der Bureauhierarchie von der „Zentrale“ mitspricht, die nicht dulden kann, daß irgendein Londoner Vertreter besser bezahlt wird als ein leitender Mann in Berlin (obgleich ihre Aufgaben und Aufwendungen ganz verschieden voneinander sind); mag sein, daß sich der Verleger, leider mit einigem Recht, sagt, daß es auch so gehe: auf jeden Fall ist festzustellen, daß die deutschen Auslandsjournalisten ihre Aufgabe nicht erfüllen können.

Ich habe hier hinzuzufügen, daß mir bei dieser Feststellung nichts ferner liegt als ein verhüllter persönlicher Angriff: die deutschen Zeitungsvertreter, die ich zum Beispiel in Paris kennengelernt habe, sind gebildete, saubere und stets hilfsbereite Männer, die der sehr anstrengende Dienst voll ausfüllt. Mehr können sie nicht hergeben. Es fehlt ihnen an der Zeit, mehr zu tun – und es fehlt ihnen am Geld.

Es ist möglich, nach sehr langem Aufenthalt auch ohne größere Mittel über manche Gebiete eines fremden Landes gute Berichte zu machen; andre faßt man nie, wenn man kein Geld hat.

Man hat mir hier in Paris mit Recht gesagt, die Franzosen würden es als taktlos empfinden, wenn ein Deutscher, also der Angehörige einer Nation, die Frankreich Geld schuldet, wie ein Dollarmillionär aufträte. Das ist richtig. Aber zwischen einem solchen Auftreten und der Verfügung über absolut nötige Betriebsspesen ist noch ein großer Unterschied. Alles Wichtige, was ein guter Beobachter erfährt, erfährt er in Unterhaltungen mit Menschen, und zwar nicht mit Menschen, die er bei seinem Interview zum ersten Male sieht, sondern mit Menschen, zu denen er durch gesellschaftlichen Verkehr bereits einen nähern Kontakt hat. Die Herstellung dieses Kontaktes macht Kosten.

Das, was für viele zehntausend Mark jetzt getrieben wird, ist Unfug. Das Zeug unterrichtet keinen und führt höchstens zu innenpolitischem Mißbrauch. Man mag die Abstimmung über einen Kammerantrag telegraphieren, und wohin Herr Painlevé gereist ist – was die „Liberté“ und der „Matin“ und das „Echo de Paris“ dazu sagen, ist viel weniger beachtenswert, als die deutschen Verleger glauben.

Fontane erzählt aus seiner Kreuzzeitungs-Zeit, wie oft die englischen Berichte zu Hause geschrieben wurden, und er macht sich ein bißchen darüber lustig. Aber nur ein bißchen. Die Schreiber waren und machten keine Wippchen. Es waren kenntnisreiche Männer, die die englische Presse genau kannten und Wirkung und Ausmaß jeder Nachricht durchaus abzuschätzen verstanden. Das kann man auch in Berlin, und dazu braucht man niemand nach London zu schicken.

Was man aber in Berlin nicht kann, ist dieses:

Zwanzig verschiedene Milieus im fremden Lande immer wieder aufsuchen: Akademiker, Gewerkschaftssekretäre, Geistlichkeit, den Adel, die Industrie, die Bauern und die Volksschullehrer. Was man in Berlin nicht kann, ist: im gesellschaftlichen Verkehr mit den Fremden auf jene Halbtöne zu horchen, auf die es so sehr ankommt, jene unwägbare Stimmung einzufangen, Zufälligkeiten vom Prinzipiellen zu sondern und Typen zu sehen. Um das zu erreichen, muß der Beobachter finanziell völlig frei sein und das besonders im Ausland, wo man andre Tischsitten und eine viel größere Geselligkeit beim Essen hat. Die dazu nötigen Spesen bewilligt keine deutsche Zeitung. Sie wirft ihr Geld zum Telephon hinaus.

Selbstverständlich ist das, was ein so profunder Kenner Frankreichs wie René Schickele nach Hause geschrieben hat, tausendmal wichtiger als dreihundert Telephonate, aus denen man sich beim besten Willen kein Bild machen kann. Trennt man die geschickte „Aufmachung“ des kümmerlichen Stoffs von seiner Substanz, so sieht man erst, wie dürftig die Quellen rinnen.

Es gibt wohl nur eine Gruppe, die in ihrem Fach wirklich gut über das Ausland unterrichtet ist: das sind die Industriellen.

Da wird mit den Spesen nicht gespart – aber diese Leute berichten auch nicht, was in den fremden Fachzeitschriften steht, sondern sie gehen umher, machen die Augen und Ohren auf und erfahren wirklich etwas. Die Presse dagegen schreibt sich selbst aus.

Alle Einwände, daß die deutsche Presse solche Spesen für ihre Auslandsjournalisten nicht tragen könne, sind falsch. Sie trägt sie ja für die Durchführung eines total mißverstandenen Nachrichtendienstes, der seinen Zweck verfehlt. Wer nur einmal den „Temps“ oder die „Times“ in der Hand gehabt hat, weiß, wie ausgezeichnet da die Journalisten unterrichtet sind: sie haben eben nicht nur kalt interviewt, sondern sie haben mit aller Welt einmal gefrühstückt, zu Abend gegessen, sind mit allen einmal ins Theater, zum Rennen, in die Ausstellungen gegangen, haben die andern reden lassen, haben gefragt und zugehört. Die Verlage haben es sich etwas kosten lassen und eine gute Ware bekommen. Unsre Leute: eine schlechte. Die sozialdemokratischen und pazifistischen Blätter mit inbegriffen – sie sind im Ausland entweder überhaupt nicht oder meist elend vertreten.

Die deutsche Presse erinnert sich jährlich mindestens zweimal an ihre Kulturpflicht. Was das Gebiet des Nachrichtenwesens angeht, so ist zu sagen: sie erfüllt sie nicht.

Gedenkmäler

Die atavistische Sitte, für Verdienste Denkmäler zu setzen, die nachher keiner anguckt, ist immer noch im Schwange, und was sich unter dem Seligen romantisch gab, hats heute mit der schlichten Sachlichkeit: trutzig-karg recken sich da Stahlhelmsoldaten, kantigen Kinns werfen sie marmorne Handgranaten auf Marktplätze, und kein anständiger Ort, der nicht ein Reklame-Kriegerdenkmal sein eigen nennt: „Immer wieder Krieg!“ Auch werden gern sogenannte Individuen mit Mälern gefeiert, und weil der Cut ein unkleidsames Kleidungsstück für Statuen ist und weil man nicht jeden Fraktionssekretär in eine Toga hüllen kann, die ihm anstände wie ein Nachthemd, so tuts auch eine Marmortafel und irgend etwas Allegorisches, bei dem sich jeder jedes und keiner nichts denken kann. Soweit gut und schön.

Aber warum feiern wir immer nur das Andenken der guten Menschen, wie: Generäle, Reichspräsidenten, Könige, Kaiser, Professoren? Warum nicht auch einmal das Andenken der bösen Menschen wie: Generäle, Reichspräsidenten, Könige, Kaiser, Professoren? Das wäre so übel eben nicht. Zum Beispiel:

Marmorstatue auf dem Platz vor einem Gericht. Ein alter, verhungerter Sträfling, auf einem kleinen Sockel, unten Frau und Kind, die der Schmerz zu Boden geworfen hat, die Gesichter in den Staub gewühlt, die ohnmächtigen Arme nach oben gestreckt. Inschrift: „Zum Andenken an die Justizopfer des Landgerichtsrats Brausewetter.“

Erztafel im Gang eines Polizeipräsidiums: „An dieser Stelle wurde der widerrechtlich verhaftete Untersuchungsgefangene Schulz von einem toll gewordenen Beamten auf der Flucht erschossen.“ Und ein Kränzchen aus immergrünen Blättern …

Reiterstatue: „Dieser Verwaltungsbeamte zog sich im Jahre 1914 eine Uniform an und jagte sinnlos achttausend junge Menschen in den Maschinengewehrtod. Ehre seinem Andenken. Die dankbaren Mütter.“

Warum immer lobende Denkmäler? Warum nicht einmal solche voller sanften Tadels? Warum nicht –?

Weil die Diktatur, unter der wir leben, nur ein Sittengesetz kennt: das ihre. Weil dieses Gesetz schlecht ist. Weil die Verdienste, die der Staat anerkennt und durch Sandstein, Erz und marmornen Tortenaufsatz feiert, die Unwahrheit sagt. Weil wir die Wahrheit nicht sagen dürfen. Die ewige Wahrheit, daß Menschen gemartert, unterdrückt, gepeinigt werden, solange ein Lump sich hinter ein Amt verkriechen darf.

Paris und Umgegend

Wie uns aus

deutschnationalen Kreisen mitgeteilt wird, hat sich der bekannte Kommunistenführer Ignaz Wrobel nach Paris begeben. Wir erfahren dazu folgende Einzelheiten:

Die Ankunft Wrobels gestaltete sich besonders feierlich. Ministerpräsident Poincaré empfing Wrobel in Gemeinschaft mit allen seinen Kollegen, dem diplomatischen Korps der Feindbundstaaten, den Erzbischöfen von St. Emilion und St. Beaujolais sowie dem Polizeipräfekten von Paris. Wrobel wurde vermittels einer Ansprache begrüßt und ins Hotel geführt, wo er auf einem Tisch die Monatsapanage der französischen Regierung vorfand.

Wrobel soll in Paris ein geradezu gotteslästerliches Leben führen. Er steht spät auf, macht einen Morgenspazierritt auf seiner Schimmelstute „Karin Michaelis“ und nimmt das Frühstück im Moulin Rouge ein. Gegen Mittag zieht er sich meist mit einem pornographischen Roman zurück, schlummert und liest dann die Abendzeitungen. Nachts treibt er Unzucht, und zwar hauptsächlich mit galizischen Jüdinnen, da sogar die Pariser Dirnen ihre Weigerung ausgesprochen haben, sich Wrobel zur Verfügung zu stellen. W. bezieht außer den Geldern der französischen Regierung noch erhebliche Zuschüsse der sozialistischen, kommunistischen und klerikalen Partei Frankreichs. Bezeichnenderweise verkehrt er in den ersten Häusern der Stadt, so in einem sehr eleganten Palais der Rue Chabanais. Wrobel trinkt täglich zwei bis drei Flaschen Sekt, den er sich aus Deutschland nachschicken läßt, und ist inzwischen völlig französiert: er trägt Apachenkostüm, schwarzen, stumpfen Zylinder und nennt sich Pierre Pantin.

Wir gönnen den Franzosen die Neuerwerbung dieses Mannes, der endlich heimgefunden hat, und bedauern nur, daß er nicht gleichzeitig den Relativitätsjuden Einstein sowie die Juden von Unruh, Gerhart Hauptmann und Wirth mitgenommen hat. Aber was nicht ist, kann ja noch werden. Das Ganze ist ein erneuter, klarer Beweis für die Nichtigkeit der deutschen Dolchstoßlegende.

Les Abattoirs

Ein grüngrauer, stumpfer Himmel liegt über La Villette, dem Arbeiterviertel im Nordosten der Stadt. Ein Stückchen Kanal durchschneidet quer die Straßen, von hier fahren die Kähne mit dem Fleisch durch rußige Wiesen. Es ist sieben Uhr früh.

Gegenüber dem begitterten Eingang zu den dunkeln Gebäuden des Schlachthofes hocken, sitzen, bummeln vor den Caféhäusern merkwürdige Männer und Frauen. Viele haben blutbespritzte Hosen, blutgetränkte Stiefel, ein grauer Mantel bedeckt das ein wenig. Einer ist nur in Jacke und Hose, unten ist er rot, als habe er in Blut gewatet, auf dem Kopf trägt er eine kleine, runde, rote Mütze – er sieht genau aus wie ein Gehilfe von Samson. Er raucht. Eine Uhr schlägt.

Die Massen strömen durch die große Pforte, hinten sieht man eine Hammelherde durch eine schattige Allee trappeln, mit raschen Schritten rücken die Mörder an. Ich mit.

Über den großen Vorhof, flankiert von Wärter- und Bureauhäuschen, an einer Uhrsäule vorüber, hinein in die „carrés“. Das sind lange Hallen, nach beiden zugigen Seiten hin offen, hoch, mit Stall-Löchern an den Seiten. Hier wird geschlachtet. Als ich in die erste Halle trete, ist alles schon in vollem Gange. Blut rieselt mir entgegen.

Da liegt ein riesiger Ochs, gefesselt an allen Vieren, er hat eine schwarze Binde vor den Augen. Der Schlächter holt aus und jagt ihm einen Dorn in den Kopf. Der Ochse zappelt. Der Dorn wird herausgezogen, ein neuer, längerer wird eingeführt, nun beginnt das Hinterteil des Tieres wild zu schlagen, als wehre es sich gegen diesen letzten, entsetzlichen Schmerz.

Eine Viertelminute später ist die Kehle durchschnitten, das Blut kocht heraus. Man sieht in eine dunkle, rote Höhle, in den Ochsen hinein, aus dem Hohlen kommt das Blut herausgeschossen, es kollert wie ein Strudel, der Kopf des Ochsen sieht von der Seite her zu. Dann wird er gehäutet. Der nächste.

Der Nächste hat an der Stalltür angebunden gestanden mit seiner Binde. Die ist ihm jetzt abgenommen, er schnüffelt und wittert, mit geducktem Hals sieht er sich den Vorgänger an, der da hängt, und beriecht eine riesige weiße Sache: einen Magen, der, einer Meeresqualle gleich, vor ihm auf dem Steinboden umherschwimmt.

Auf einem Bock liegen drei Kälbchen mit durchschnittenen Kehlen, noch lange zucken die Körper, werfen sich immer wieder. Rasch fließt das Blut mit Wasser durchmischt in den Rinnsalen ab. Dort hinten schlachten sie die Hammel.

Zu acht und zehn liegen sie auf langen Böcken, auf dem Rücken liegen sie, den Kopf nach unten, die Beine nach oben. Und alle diese vierzig Beine schlagen ununterbrochen die Luft, wie eine einzige Maschine sieht das aus, als arbeiteten diese braunen und grauen Glieder geschäftig an etwas. Sie nähen an ihren Tod. In der Ecke stehen die nächsten, sie sind schon gebunden, schnell nimmt der Schlächter eins nach dem andern hoch und legt es vor sich auf den Bock. Kein Schrei.

Drüben in der nächsten Halle wird à la juive geschlachtet. Der Mann, der schächtet, ist aus dem Bilderbuch, ein Jude: ein langes, vergrämtes Gesicht mit einem Käppchen, in der Hand hat er einen riesigen Stahl, scharf wie ein Rasiermesser. Er probt die Schneide auf dem Nagel, er nimmt irgendeine religiöse Förmlichkeit mit ihr vor, seine Lippen bewegen sich. Die süddeutschen Gassenjungen übersetzten sich dies Gebet so: I schneid di nit, i metz di nit, i will di bloß mal schächte!

Hier wird das Tier nicht vorher getötet und dann zum Ausbluten gebracht, sondern durch einen Schnitt getötet, so daß es sich im Todeskampf ausblutet. Ich bin auf den Schnitt gespannt.

Der Ochse ist an den Vorderbeinen gefesselt, durch den Raum laufen über Rollen die Stricke, und zwei Kerls ziehen langsam an. Der Ochse strauchelt, schlägt mit den Beinen um sich, legt sich. Der Kopf hängt jetzt nach unten, die Gurgel strammt sich nach oben … Der Jude ist langsam nähergekommen, den Stahl in der Hand. Aber wann hat er den Schnitt getan –? Er ist schon wieder zwei Meter fort, und dem Ochsen hängt der Kopf nur noch an einem fingerbreiten Streifen, das Blut brodelt heraus wie aus einer Wasserleitung. Das Tier bleibt so länger am Leben, unter der Rückenmuskulatur arbeitet es noch lange, fast zwei und eine halbe Minute. Ob es bei diesem System, wie behauptet wird, länger leidet, kann ich nicht beurteilen. Das Blut strömt. Erst dunkelrotes, später scharlachrotes, ein schreiendes Rot bildet seine Seen auf dem glitschrigen Boden. Nun ist das Tier still, der Augenausdruck hat sich kaum verändert. Neben ihm hat sich jetzt ein Mann auf den Boden gekniet, der das Fell mit einer Maschine ablöst. Sauber trennt der Apparat die Haut vom Fleisch, die Maschine schreit, es hört sich etwa an, wie wenn ein Metall gesägt wird, es kreischt. Dann wird dem riesigen Leib ein Schlauch ins Fleisch gestoßen, langsam schwillt er an: es wird komprimierte Luft eingepumpt. Das geschieht, wird gesagt, um die Haut leichter zu lösen. Es hat aber den Nachteil, daß diese Luft nicht rein ist, und das Fleisch scheint so schneller dem Verderben ausgesetzt zu sein. Und es hat den Vorteil, daß sich die Ware, da die Luft nicht so schnell entweicht, im Schaufenster besser präsentiert.

Carrees und wieder Carrees – der Auftrieb auf dem benachbarten Viehmarkt, der zweimal wöchentlich stattfindet, ist stark genug: gestern waren es 13000 Tiere. Paris ist eine große Stadt, und es gibt nur noch kleinere Abattoirs, wie das an der Porte de Vaugirard, und eines nur für Pferde in Aubervilliers. Jetzt ist das Pferdefleisch annähernd so teuer wie das reguläre – der Verbrauch hat wohl etwas nachgelassen. La Villette hat das größte Abattoir – keineswegs das modernste –, mit dem in Nancy und den großen Musterschlachthöfen in Amerika und Deutschland nicht zu vergleichen.

Stallungen und Stallungen. Viele Tiere sind unruhig, viele gleichgültig. An einer Stalltür ist ein Kalb angebunden, das bewegt unablässig die Nüstern, etwas gefällt ihm hier nicht. Zehn Uhr zwanzig, da ist nichts zu machen. Ein Ochse will nicht, er wird furchtbar auf die Beine geschlagen. Sonst geht alles glatt und sauber und sachlich vor sich. An einer Tür stehen zwanzig kurz abgeschnittene Rinderfüße, pars pro toto, eine kleine Herde. Hier liegt ein Schafbock und kaut zufrieden Heu. Es ist ein gewerkschaftlicher Gelber.

Der wird an die Spitze der kleinen Hammelherden gesetzt, die da einpassieren, er führt sie in den Tod; kurz vorher verkrümelt er sich und weiß von nichts mehr, der Anreißer. Er ist ganz zahm und kommt immer wieder zu seinem Futterplatz zurück. Dafür schenkt man ihm das Leben. Das soll in den letzten Jahren schon mal vorgekommen sein.

Hier im großen Stall ist ein Pferch ganz voll von Schafen. Sie werden wohl gleich abgeholt, sie stehen so eng aufeinander, daß sie sich überhaupt nicht bewegen können, und sie stehen ganz still. Sie sehen stumm auf, kein Laut, hundertzwanzig feuchte Augen sehen dich an. Sie warten.

Durch Stallstraßen, an Eisfabriken und Konservenfabriken vorüber, zu den Schweinen. Eine idyllische Hölle, eine höllische Idylle.

In dem riesigen, runden Raum brennen in den einzelnen Kojen, die durch Bretterwände abgeteilt sind, große Strohfeuer. Die Rotunde hat Oberlicht, und die Schlächter, die Männer und Frauen, die die Kadaver sengen, sehen aus wie Angestellte der Firma Hephästos & Co. Die Schweine rummeln in den Kojen, durchsuchen das Stroh – der Schlachter mit einem großen Croquethammer tritt näher, holt, heiliger Hodler! weit aus und schlägt das Tier vor den Kopf. Meist fällt es sofort lautlos um. Zappelt es noch, gibt er einen zweiten Schlag, dann liegt es still. Keine Panik unter den Mitschweinen, kein Laut, kein Schrecken. Draußen, in den Ställen drumherum, schreien sie, wie wenn sie abgestochen werden sollen – hier drinnen kein Laut. Dem toten Schwein werden von Frauen die Borsten ausgerupft, mit denen du dich später rasierst, dann wird es ans Feuer getragen und abgesengt. Die schwarzen Kadaver, auf kleinen Wägelchen hochaufgeschichtet, fahren sie in den Nebensaal, wo man sie weiterverarbeitet. Hier, wie bei den Rindern, stehen Leute mit Gefäßen, die fangen das Blut auf. Das Blut raucht, es ist ganz schaumig, sie rühren ununterbrochen darin, damit es nicht gerinnt.

Die Schlächter stehen sich nicht schlecht: sie verdienen etwa zweihundert Franken die Woche. (Eine Umrechnung ergäbe bei den verschiedenen Lebensbedingungen ein falsches Bild; der Reallohn ist für deutsche Verhältnisse hoch: der französische Arbeiter wohnt schlechter als sein deutscher Genosse, ißt bedeutend besser, kleidet sich fast ebenso gut.)

Da an der Ecke stehen vor großen Trögen Männer und Frauen und kochen die Kalbsköpfe aus. Blutig kommen sie hinein, weiß kommen sie heraus. Auf dem Boden rollen die abgeschnittenen Köpfe mit den noch geöffneten Augen – ein Mann ergreift sie und pumpt sie gleichfalls mit der Luftpumpe auf. Jedesmal bläht sich der Kopf, jedesmal schließt das tote Kalb langsam und wie nun erst verlöschend die Augen … dann werden sie gekocht.

Das einseitige Stiergefecht dauert noch an, bis elf wirds so weitergehen. An der Uhr, vorn am Eingang, hängen die Marktnotizen.

Da ist zunächst eine große erzene Tafel, den Toten des Krieges als Erinnerung gewidmet, aufgehängt von den vereinigten Großschlächtereien der Stadt Paris. Namen, eine Jahreszahl … Ich studiere die Markttafeln. Und beim Aufsehen bleiben mir Worte haften, ein paar Worte von der Inschrift, die die Gefallenen ehren soll. So:

La Boucherie en gros
1914 – 1918
Die Parallele ist vollständig.

Deutsche Kinder in Paris

Im Pariser Gewerkschaftshaus, in der Rue Grange-aux Belles, lärmt der große, braungraue Versammlungssaal. Kinder, überall Kinder. In einer Ecke stehen Pakete, Kisten, Rucksäcke: Nahrungsmittel, Stoffe, kleine Käfige mit Meerschweinchen und Kaninchen – das wird jetzt auf die Bahn geschafft. Frauen sitzen auf den Bänken, Arbeiterfrauen. Man sieht viele verheulte Gesichter. Hier wird Abschied genommen: ein Transport deutscher Kinder, die sechs Monate zu Besuch bei den französischen Genossen waren, nimmt Abschied.

Die Internationale Arbeiterhilfe, die dieses wundervolle Werk organisiert und ermöglicht hat, hat damit den deutschen Proletarierkindern sechs materiell sorglose Monate bereitet. Selbstverständlich machte die deutsche Regierung ihre traditionellen Kindereien: sie setzte dem Werk der Völkerversöhnung zunächst die Schwierigkeiten entgegen, die sie in ihrer Jämmerlichkeit immer macht, wenn etwas gegen die Diktatur der Industrie- und Militärkaste in Deutschland geschieht.

In aufopfernder Arbeit verteilten die französischen Genossen – insbesondere der Genosse Detilleuil – die Kinder auf viele französische Städte.

Sie sprechen alle französisch, manche noch stockend, nicht ganz richtig; alle verstehen es. Es ist drollig, zu hören, wie eine lebend erlernte Sprache so ganz anders in die Gehirne eindringt – man fühlt ordentlich, wie die Worte „petite fille“ ein einziger Begriff sind, wie keine Grammatik die Formung geprägt hat. Die Kinder sehen ausgezeichnet aus: blühend, gesund, gepflegt, aufgepäppelt. Ein kleines Mädchen, das artig neben ihrer französischen Pflegemutter sitzt, hat sechzehn Pfund zugenommen: sie ist jetzt nur normal – wie traurig muß sie früher ausgesehen haben! Sie stammt, wie das Pappschildchen auf ihrem kleinen Bauch sagt, aus Berlin. „Freust du dich, wieder zurück nach Hause zu kommen?“ Ich hätte das nicht fragen dürfen. Nein, sie freut sich gar nicht. Die Frau sagt: „Sie hat keine Mutter mehr.“ Aber einen Vater? Ja, einen Vater … „Mais il n’est pas très doux!“ Und sie will wiederkommen, wissen Sie, sie wird wiederkommen … Die Kleine sieht die Frau an.

Ich spreche mit den Jungen. Ja, sie haben es hier besser gehabt als zu Hause, sie waren so zufrieden, sie erzählen, was sie alles geschenkt bekommen haben, was sie mitnehmen dürfen. Ein kleiner Dicker ist da, der hat als Delegierter der Kinder bei den Franzosen eine Rede gehalten – er ist sehr stolz darauf. Ein kleines Mädchen: „Und ich habe ein Armband bekommen, aus richtigem Silber – und ich habe meine schlechtesten Kleider angezogen, die guten habe ich alle eingepackt!“ Und Hamburger Jungens sind da, und einige fangen, wenn das Französische nicht so recht will, behaglich an zu sächseln.

Die Pflegemütter sitzen auf den langen Bänken, sie sprechen wenig. Viele weinen. Immer wieder umarmen sie die Mädchen, die Jungens – sie dürfen sie nur noch zum Bahnhof begleiten, aber man läßt sie nicht mehr auf den Perron, weil sie das vorige Mal nicht von den Kindern zu trennen gewesen sind. Es hat herzzerreißende Szenen gegeben. Es sind ihre Kinder geworden in den sechs Monaten. Noch einmal gibt es Abendbrot, dann ordnet sich der Haufe zur Abfahrt (den die Deutsche Botschaft in Paris liebevoll und mit großer Tatkraft unterstützt hat).

Noch einmal sitzen alle Pfleglinge auf der linken Seite des Saals, die Mütter auf der rechten, gleich sollen die Namen noch einmal aufgerufen werden. Immer wieder fliegen Kußhändchen herüber und hinüber, Koseworte, Rufe … Da tritt ein Redner auf die kleine Tribüne und spricht: zu den Kindern deutsch, zu den Eltern französisch.

„Habt ihr euch wohlgefühlt?“ Und alle Kinder im Chor: „Oui!“ „Dann vergeßt das nicht“, sagt der Redner, „und seid dankbar für die Gastfreundschaft und bewahrt an diese Monate ein gutes Andenken. Und wenn euch später einmal eure Offiziere aufrufen und euch befehlen wollen, auf die französischen Freunde zu schießen, dann tut das nicht und antwortet ihnen: „Macht euch euern Krieg alleine –!“ Und dasselbe zu den Eltern in ihrer Sprache. Und Detilleuil spricht zu ihnen im gleichen Sinn. Und dann fahren sie fort, nach Deutschland, und es ist ein schwerer Abschied.

Proletarier pflegen ja auch sonst manchmal durch Europa zu reisen – aber nur in größern Horden und mit einem Schießeisen auf dem Buckel. Hier ist der Beginn eines wahren Friedenswerkes. Hier ist internationale Solidarität der arbeitenden Klassen zur Wirklichkeit geworden, nicht zum erstenmal, aber in stärkstem Ausmaß. Wenn nicht alles täuscht, so werden diese Kinder schlechte Soldaten werden. Denn was ihnen Bücher und Vorträge nur anzudeuten vermögen, das haben sie nun mit eigenen Augen gesehen:

Daß drüben hinter den Schützengräben keine „Feinde“ wohnen, sondern Eltern, sondern Väter, Mütter, Kameraden. Daß man diese Eltern auf beiden Seiten betrogen und belogen hat, wenn man ihnen sagte, auf der andern Seite stehe der Gegner. Er steht ganz, ganz wo anders. Die Kinder werden nach Hause kommen, und man wird auf dem deutschen Bahnhof wiederum nicht erlauben, daß sie photographiert werden, damit keiner in Deutschland zu sehen bekommt, wie die Franzosen, die Menschenfresser, Kinder pflegen – diese Kinderstube braucht ihren schwarzen Mann mit den roten Hosen. Soldaten rüsten, Industrien stellen sich um, Richter versuchen, mit ihren kläglichen Formeln die Wahrheit zu drosseln – es nützt nichts, wenn das Proletariat stark bleibt.

Es nützt nichts – wenn die Arbeiter einsehen, daß ein Parteivorstand keine Partei ist; daß es keine Disziplin, sondern Schlafmützigkeit ist, den abgerutschten Göttern von 1914 immer noch zu glauben. Wenn sie einsehen, daß die wichtigtuerischen Reisen offiziös beauftragter Sozialdemokraten eitel Zeit- und Geldverschwendung und zu nichts gut sind; daß der Pazifismus nicht mit taktischen Bedenken und mit greisenhaften Resolutionen erstritten werden kann, sondern nur mit der schärfsten aktiven Resistenz: mit der absoluten Verweigerung des Dienstzwanges und mit dem Generalstreik in den Waffenfabriken; daß die proletarische Energie nicht in den dummschlauen Kommissionen mit den strategischen Winkelzügen aufgefangen und verpulvert werden darf – daß man die volle Wahrheit sagen muß.

Die herrschende Klasse in Deutschland will den Krieg. Sie bereitet ihn vor – alle ihre Anhänger dulden ihn schweigend, wenn er da ist; nehmen die östlichen Absatzgebiete aufs Korn, bewilligen den ungeheuerlichen Reichswehretat; lassen die Künder der Wahrheit verhaften. Das muß man erkannt haben, es in der vollen Schwärze sehen, es aussprechen.

Und dann muß man nicht gutgläubig in den pazifistischen Friedensgesellschaften sanft schlummern und ehrgeizig primadonnenhaft den Vorsitz führen; dann muß man nicht böswillig in dem kleinbürgerlichen Haufen der Sozialdemokratie die Wahrheit auf morgen verschieben, die andern für dümmer halten als man selbst ist, sie zu betrügen versuchen, ihnen die Wahrheit verheimlichen, sich eine Rolle anschwindeln, zu Hause mit den „Auslandsbeziehungen“ protzen und, alle Mann hoch, im gegebenen Augenblick das Maul halten – dann muß man zuschlagen.

Im Pariser Gewerkschaftssaal saß ein Teil von Deutschlands Jugend. Sie sollen noch oft nach Frankreich kommen. Aber nicht als Stiefelputzer ihrer Etappenkommandanten; um Frauen zwangsweise ärztlich auf Geschlechtskrankheiten zu untersuchen, um Möbel zu stehlen, um Zivilbevölkerung zur Arbeit zu treiben, um Menschen erschießen zu lassen – sie sollen wiederkommen, um ein einziges Wort zu ihren französischen Arbeiterkameraden zu sagen:

Brüder.

Französisches Militärgericht in Paris

Conseil de Guerre. Ein kleiner Saal mit kahlen Wänden, der einzige Schmuck ist eine alte Wanduhr. Die Fenster sind grün verhangen, der Zuschauerraum ist durch Eisenstangen abgeteilt. Hinten an der Wand, dem Gerichtshof gegenüber, eine lange Bank mit sechs Soldaten darauf. Das Ganze liegt im Militärgefängnis zu Paris.

Das Gericht besteht aus dem Vorsitzenden und sechs Dienstgraden in verschiedenen Uniformen. Die Gesichter sind – mit einer Ausnahme – anständig; immerhin ist in den Augen meist etwas, das einen den Wunsch aussprechen läßt, mit den Herren dienstlich und zu Kriegszeiten lieber nichts zu tun zu haben … Links der Staatsanwalt, le commissaire du gouvernement, ein dicker, hindenburgartiger Mann mit einem leichten Tick in den Schultern; neben ihm der greffier, ein Herr mit merkwürdig kleinem Hinterkopf. Das, was man in Deutschland gern als „Kasernenfresse“ bezeichnet, ist hier seltner. Rechts der Angeklagte, und zwar einer in Zivil. Hinter ihm sein Verteidiger und die der nächsten Affären – drei in Zivil, einer in Uniform.

Die französischen Militärgerichte richten sich in ihrer Zusammensetzung nach dem Grade des Angeklagten; in Verhandlungen der Art, wie ich sie mitansah, sitzen gewöhnlich 1 Colonel oder 1 Lieutenant-Colonel als Vorsitzender, 1 Bataillonschef, 2 Capitaines, 1 Lieutenant, 1 Unterlieutenant und 1 Unteroffizier als Beisitzer. Das ist die Regel. Es gibt ein Revisionsrecht an die Conseils[1] de Revision. Revisionsgründe sind: Bestimmungswidrige Zusammensetzung des Gerichts; Kompetenzfehler; gesetzwidrig ausgesprochene Strafe; Verkennung des Delikts; Formfehler; Beschränkung der Verteidigung oder der gesetzlichen Machtbefugnisse des Staatsanwalts durch das Gericht. Die nächste Instanz, die Cour de Cassation, kann nur bei Inkompetenz angerufen werden. Die Strafen sind die in Militärkoden üblichen: wie so oft liegt auch hier der Schwerpunkt in den Ausführungsbestimmungen.

Verletzung der Dienstpflicht. Der greffier verliest den Eröffnungsbeschluß und den aufgenommenen Tatbestand. Der Vorsitzende: „Was haben Sie zu Ihrer Verteidigung anzugeben?“ Der Angeklagte spricht leise. Er habe seine Adresse nicht absichtlich verschwiegen, er habe nicht gewußt … Das Verhandlungstempo ist eilig, diese Sachen benötigen allerdings keine Zeugen; das Verfahren ist insofern nicht rein mündlich, als sehr stark auf den Inhalt der Akten Bezug genommen wird, die nicht alle herangezogen werden. Der Ton ist von allen Seiten konziliant; nirgends mit dem vieler deutschen Strafkammern zu vergleichen, wo das persönlich ungehörige Verhalten des Richters sofort zeigt, auf welcher Seite er steht. Das Verhör hat noch keine fünf Minuten gedauert, sämtliche Beteiligte verzichten aufs Wort. Der Staatsanwalt.

Der dicke Mann hebt sich langsam hoch, steht da wie ein Turm und hält ein maßvolles Plaidoyer. Er scheint seiner Leute sehr sicher zu sein. Ein Strafmaß beantragt er nicht. Der Verteidiger spricht nicht sehr Erhebliches. Der Angeklagte? Nichts? Der Gerichtshof erhebt sich. Hinten die Wache auch: ein halblautes Kommando, sie präsentiert. Der Gerichtshof zieht sich zurück. Fünf Minuten Pause.

Dann klingelt es, die Wache ruckt hoch, macht die Ehrenbezeugung, die Richter treten ein. Bleiben stehen. „Au nom du Peuple Français …“ Sieben weiße Handschuhe fahren flüchtig an die Mützen, und dann eine lange Formel, die stereotyp abgelesen wird – dann die Strafe: drei Monate Gefängnis. La séance continue.

Die Fälle klappern automatisch ab. Es sind meist arme Teufel von Proletariern, die da stehen, und von denen die Mehrzahl sich ihrer Dienstpflicht durch fehlende Anmeldung, Flucht und Ausflüchte entzogen haben soll. Die Strafen bewegen sich in einem Ausmaß von drei bis neun Monaten, je nach dem Vorleben und den Vorstrafen. Manche weinen, fast alle haben diese seltsame Angewohnheit so vieler Menschen, in Augenblicken stummer Erregung lautlos mit den Kiefern zu arbeiten … Nach dem Verhör und den Plaidoyers werden sie wieder ins Gefängnis abgeführt: das Urteil wird ihnen später verkündet, eine arge Quälerei.

Nun eine Uniform auf der Anklagebank, eine lehmbraune. Soldat de deuxième classe. Hat sich gut geführt, bis er eine Lues attrappiert hat, wird von den Kameraden fortan gemieden und gehänselt, begeht Fahnenflucht und wird gefaßt, als er in den Straßen von Paris herumzigeunert. Bei der Verhaftung durch zwei Unteroffiziere das typische und historische Geschimpfe: „Ah – les vaches! Ils m’arrêtent lorsque je n’ai rien fait!“ Les vaches … Es ist eigentlich unvorstellbar, wie man durch die traditionell harten Urteile die Bedeutung dieses Schimpfwortes so durch die Jahrzehnte retten kann. Aber es ist – gegen Schutzleute und Unteroffiziere des Heeres ausgesprochen – die tödlichste Beleidigung, die nie verziehen wird. Sechs Monate.

Und dann zwei Fälle, die aufhorchen machen.

Im Jahre 1915 ist ein französischer Soldat in die Schweiz desertiert. Er lebte dort schon vor dem Kriege, war mit einer Deutsch-Schweizerin verheiratet und rückte artig und gehorsam im Jahre 1914 ein, um auch für sein Teil ein Vaterland gegen ein Vaterland zu schützen. Im Jahre 1915 verwundet, bittet er um Urlaub, um seine Angelegenheiten zu ordnen. Man verweigert ihm das. Nun reißt er vom Lazarett aus, geht zu seiner Frau, wird nicht mehr fortgelassen oder bleibt freiwillig – kurz: er sieht sich den Krieg von einem Platz aus an, wo sonst nur Prediger, höhere Generalstabsoffiziere und Industrielle sitzen. Nach zehn Jahren – im Jahre 1925 – stellt er sich dem französischen Konsul in Lausanne. Was den Mann dazu bewogen haben kann, bleibt unverständlich. Reue? Spekulation, begnadigt zu werden? Der Wunsch, nach Frankreich zurückzukehren, was ihm bis dahin verwehrt war? Nescio.

Der Mann weint. Der Verteidiger macht geltend, daß seine Frau, die Deutsch-Schweizerin, seine fünf Kinder deutsch erzogen habe, daß diese Kinder Schweizer werden, wenn der Mann, was er als Deserteur aber nicht kann, ihre französische Staatsangehörigkeit nicht beim Konsul reklamiert – kurz: er macht in nicht ungeschickter Weise alles geltend, was seinen Klienten in den Augen der Gestrengen als „bon garçon“ erscheinen lassen kann … Das hat Erfolg: sechs Monate.

Der nächste hats nicht so gut. Er ist einer von den vielen, die wegen Desertion zu einer formation pénitentiaire verdonnert wurden, also einer Art Strafbataillon, deren schlimme Geschichte in Marokko, in „Biribi“ liegt, eine Kulturwidrigkeit, die auch der tapferste Kampf französischer Kommunisten und der französischen Liga für Menschenrechte bisher noch nicht hat ausrotten können.

Vergebens macht der – diesmal uniformierte – Verteidiger geltend, daß der Mann, wird er wieder ins Gefängnis geschickt, unfehlbar in den Abgrund taumelt, besinnungslos von den vielen Strafen, unfähig, sich den neuen Qualen anders zu entziehen als dadurch, daß er neue Straftaten begeht; vergebens macht er auf das Alter des Mannes aufmerksam, dem höchstens noch durch die Möglichkeit, sich in anständiger Umgebung zu bessern, geholfen werden kann – man wandelt sich nicht mehr mit vierundvierzig Jahren; vergebens bietet er im Namen des Angeklagten freiwillige Meldung nach Marokko an: es hilft nichts. Zwei Jahre. Der Mann ist erledigt.

Diese Verhandlung ging in dem sanftesten Tone der Welt vor sich. Niemand schnauzte den Angeklagten an, er wurde fast freundlich behandelt. Das Urteil knallte wie ein Hieb herunter; der Verteidiger bekam einen roten Kopf und ging frische Luft schöpfen. Der Angeklagte saß schon wieder in seiner Zelle. La séance continue.

*

Militärgerichte sind Zweckeinrichtungen, ihre Urteile sind als administrative Maßnahmen zu werten. Es ist in Deutschland besonders gegen die französischen Kriegsgerichte sehr viel gewettert worden, als sie im besetzten Gebiet funktionierten. Was Schlageter angeht, so haben sie recht getan – und im übrigen ist Militärjustiz in allen Fällen vom Übel: nicht nur, weil sie vom Militär kommt, sondern weil sie sich als Justiz gibt, was sie niemals sem kann.

Nun halte ich aber diese braven Bürgerproteste gegen die Justiz anderer Länder in den meisten Fällen für feige, leer, zu nichts verpflichtend. Es gehört gar kein Mut dazu, als Franzose gegen die diktatorische Innenpolitik Primo de Riveras, als Deutscher gegen Horthy und als Österreicher gegen die Bolschewisten zu manifestieren – es ist viel schwieriger, gegen das Wüten der Justiz im eigenen Lande wirksam etwas zu sagen, ohne ihr in die Finger zu fallen. Aber es ist Pflicht.

Wer so viel auf dem Buckel hat wie die Scheindemokratien Europas, sollte sich um sich selbst kümmern.

Wir hatten die Militärgerichte und haben sie innerhalb der Reichswehr noch. Wir haben – was viel gefährlicher ist – eine Rechtsprechung in politischen Strafprozessen, die es in Voruntersuchung, Verhandlungsführung und Richtervorbildung mit jeder Auslandsjustiz im schlimmsten Sinne aufnimmt. Und wir haben das Reichsgericht.

Was da – fast unbeachtet von der Öffentlichkeit – allmonatlich an Urteilen in den sogenannten „Spionageprozessen“ geleistet wird, spottet jeder Beschreibung. Heute noch, nach so langer Zeit, werden Kriegsurteile gefällt, die an Härte und an Begründung nichts zu wünschen lassen. Die Verhandlungen finden mit vollem Recht unter Ausschluß der Öffentlichkeit statt, und es hagelt nur so: zehn Jahre Zuchthaus, acht Jahre Zuchthaus, fünfzehn Jahre Zuchthaus … Nun ist außerordentlich schwer, sich der Opfer anzunehmen, weil die meisten wirklich Dreck am Stecken haben, weil dieses Milieu trübe ist, weil es sich nicht um Fechenbach oder um Leviné handelt. Aber die Strafen stehen zu den Straftaten in keinem Verhältnis, sie sind mit einem bösen Koeffizienten multipliziert worden: mit dem Patriotismus der Richter. Daß sechs Jahre nach dem Krieg einer – Heinrich Wandt – verurteilt worden ist, und zu sechs Jahren Zuchthaus, weil er Belgier kompromittiert hat, die nun ihrerseits wieder durch flamische Sonderbestrebungen ihr „Vaterland“ verraten haben sollen, wurde damit begründet, daß die Verwertung dieser Bestrebungen dem deutschen Staat eines Tages noch nützlich sein könnte … ein durchaus richtiges Prognostikon. Wir haben also allen Anlaß, vor unserer eigenen Tür zu kehren. Die französischen Militärgerichte zu bekämpfen, ist Sache der Franzosen.

Hier in Paris und dort in Leipzig verteidigen sich die Angeklagten gewöhnlich damit, daß sie sagen, sie seien an sich gute Patrioten, wie das Gesetz es befahl, sie seien nur gestrauchelt, ein Mißverständnis … das heißt: sie erkennen die Prinzipien der Richter als bindend an, versuchen aber, sich zu exkulpieren. Einer hat eine rühmliche Ausnahme gemacht.

Hölz hat die Sittengesetze negiert, die jene verkünden. Neben wenigen andern hat er den bewundernswerten Mut gehabt, den Vorwurf „Verräter“, dem Sinne nach, mit der ins Schwarze treffenden Antwort eines französischen Kommunisten zurückzuweisen: „Ich habe Ihnen nichts versprochen, was ich verraten könnte!“

Und weil es Kriegsgerichte in Zivil gibt, weil der Talar den Richter äußerlich verkleidet, ohne ihn innerlich zu wandeln – weshalb denn auch mit Recht die Hosenbeine unten heraussehen und der Kopf oben –, deshalb sind die Sprüche dieser Leute so zu werten, wie sie abgegeben werden: als notwendige, rein administrative Abwehrmaßnahmen gegen die einzige wirkliche Gefahr, die diese Demokratien bedroht. Der äußere Feind bestärkt sie. Der innere will sie auflösen. So binden sie sich den Talar um, legen eine Mullbinde um die Augen, durch die man alles genau erkennen kann, und sprechen Recht. Es sollte ihnen gesprochen werden. Und es wird ihnen eines Tages gesprochen werden.

La séance continue.

Ah – ça …!

„Sagen Sie bitte: bei dem gelieferten Kleiderschrank wackelt ein Bein. Das Bein hat vom ersten Tag an gewackelt. Das Modell, das Sie mir gezeigt haben, hat nicht gewackelt. Können Sie mir ein andres Bein nachliefern?“

Deutsche Ablehnung: „Ausgeschlossen. Wir haben den Schrank in einwandfreiem Zustand geliefert – Sie hätten sofort nachprüfen müssen, dann wäre Ihre Reklamation eventuell geprüft worden. Wahrscheinlich haben Sie Mäuse, und die haben das Bein angeknabbert. Oder Ihre Kinder haben damit gespielt. Jedenfalls muß meine Firma die Haftung ablehnen.“

„Sagen Sie bitte: bei dem gelieferten Kleiderschrank …“ (wie oben).

Französische Ablehnung: „Ah – ça …!“

Bei „Ah“ werden die Schultern leicht angehoben, es ist kein Zucken, sondern nur der leichte Ansatz dazu. Bei „ça“ ist der Hals eingezogen, die Augenbrauen flattern empor, das Gesicht ist recht nachdenklich. Wenn der Franzose „Ah – ça“ sagt, ist der Punkt erreicht, wo gewöhnlich nichts mehr zu machen ist. „Ah – ça“ heißt: Force majeure. „Ah – ça“ heißt: Auch dem menschlichen Wirken, mein Lieber, sind von den vernünftigen Mächten Schranken gesetzt. Hier ist eine solche. Bescheide dich.

Es gibt auch eine pantomimische Abkürzung des „Ah – ça“. Sie besteht darin, daß die Unterlippe ganz leicht vorgezogen wird, die so entstehende Schippe läßt Luft ab. Hals und Schultern wie bei „Ah – ça …“ Auch dieses populäre Pusten bedeutet: Aus. Nichts mehr zu machen.

„Ah – ça“ ist allemal erreicht, wenn man in Frankreich zum Beispiel auf haarscharf exakte Einhaltung von Bedingungen hält. Das ist des Landes nicht der Brauch. (Übrigens lebt das Land damit weitaus glücklicher als die Korrekten.) „Ah – ça“ ist der Stoßseufzer des indirekten Steuerzahlers, auf dem die Gewalten regieren. Er erkennt sie nicht an – jeder Franzose ist Frondeur –, aber er unterwirft sich, solange es nicht lohnt, sich aufzulehnen. Meist lohnt es nicht. So haben auch im Kriege neben den rigorosesten Strafen die Offiziere mit Überredung viel mehr ausgerichtet als mit: „Ich fordere Sie dienstlich auf …“

„Ah – ça“ ist viel leichter und graziler als die deutsche Ablehnung. Aber man muß Ohren haben zu hören – der französische Mensch reagiert viel feiner, sein Seismograph schlägt bei der leichtesten Erschütterung haargenau aus. Ich habe immer gefunden, daß der Deutsche – ich auch – viel zu grob mit den Franzosen spricht; nicht etwa, daß er sich rüplig benimmt, sondern er ist grob, so wie ein Raster, ein Sieb zu grob ist – man braucht einfach eine Nummer feiner. Sie genügt auch. Ja: die grobe wird gar nicht verstanden. Die Franzosen fühlen auf dreihundert Meter gegen den Wind, daß jemand unzufrieden, entschlossen, unnachgiebig ist – man braucht ihnen das gar nicht erst ausdrücklich mitzuteilen. Es genügt, ganz leise anzuspielen … Ball, Bande, Ball – es kommt an.

Und er wird, umgekehrt, genau so reagieren. Sein „Ja“ ist kein rocher de bronce, sein „Nein“ kein wilder Entrüstungsschrei. Da, wo es nicht mehr weiter geht, sagt er es, aber leise, ohne Geschrei, ohne Anrufung der Gesetzbücher und andrer Polizeiheiligen. „Ah – ça … je ne peux pas vous le garantir …“ Dann weiß man: Es ist aus.

„Wir möchten gern eine Republik machen, eine pazifistische, solange wir nicht schießen, eine zurückhaltende, solange wir noch nicht ganz fertig sind; leben Sie doch mit uns in Frieden, solange es uns gefällt; lassen Sie uns doch unsere Würde, die darin besteht, daß wir zu allem Ja sagen, was Sie fordern, aber im Innern den Vertragsgegner wüst beschimpfen, wir sind uns das schuldig – bitte sagen Sie uns: können wir so zusammenleben …?“

„Ah – ça …!“

Das Siebente

Mit den Arrondissements in Paris ist das nicht so wie mit der „Gegend“ in Berlin. Wenn einer vor Hunger nicht krauchen kann, so zieht er um des Himmels willen nicht aus der Geisbergstraße hinter den Alexanderplatz, weil „man in der Gegend doch nicht wohnen kann“ – obgleich die Leute hinter dem Alexanderplatz mindestens so viele Vermögen aufzuweisen haben wie der Kurfürstendamm, nur besser fundierte. Mit einem Wort: Pariser Arrondissements sind kleine Städte. Le quartier hat sein Kino, sein Theater, seine Stammeinwohnerschaft, seinen Charakter. Es gibt, zum Beispiel, auf dem linken Ufer, um die Rue de la Convention, kleine Straßen und Plätze, die so nach Kleinstadt schmecken, nach Weltabgelegenheit, nach stillen Kleinbürgern … Wenn aber einer von uns beiden stirbt: ich zieh ins Siebente.

Das Siebente liegt auf dem linken Ufer. Es ist ein großes rechtwinkliges Dreieck, mit der gebogenen Hypotenuse an der Seine, vom Eiffelturm bis zur Gare d’Orléans, und mit den Katheten der Avenue Suffren und einer Linie, die etwa vom Quai Voltaire bis zur Untergrundbahnstation Sèvres-Lecourbe führt. Da ist die Spitze.

Es hat von allem etwas:

Das schöne Champ de Mars, mit den vornehmen Straßen; von den obern Stockwerken aus sieht man über die weiten buschigen Flächen und die hohen Bäume, die bunten Anlagen vor der Ecole Militaire, daran stille Alleen entlang führen, abends klappert der Maschinist in der kleinen Elektrizitätsbude auf dem Turm die ganze Lichtreklame herunter, und die Mieter können stolz sagen: Eignen Eiffelturm im Hause … Hier wohnen auch seine Leute, Finanz, Beamte und sogar ein deutscher Legationsrat. Und dann ist da der Dôme des Invalides, der so still und weit auf die Seine hinausguckt, besonders, wenn nicht gerade Ausstellung gespielt wird, und östlich davon eine Menge kleiner Straßen, und die meisten sind still. Das war „le noble faubourg“, und heute liegt da noch ein Stück des Boulevard St.-Germain, in dessen Salons Proust so gut Bescheid wußte und so verdünnt darüber schrieb, und in dem die deutschen Schmöcke gar nicht Bescheid wissen und so verdickt darüber schreiben … Eine Fülle von alten Palais liegt in diesem Teil der Stadt, keines hat die Fassade auf die Straße, alle verbergen Fronten, Vornehmheit und Architektur; die lange Straßenmauer schließt die Welt ab, und jene andre beginnt erst hinter dem großen Einfahrtstor.

Gleich hinter der Chambres de Députés fängt die Stille an, und alles, was um die Kirche St. Clotilde herum liegt, hats gut: es ist mitten in der Stadt, und doch gehts da leise zu.

Ein feiner grauer Steinton ist in diesem Arrondissement, alles ist getönt, zart und doch kräftig. Wenn man schon in der großen Stadt wohnen muß, dann hier.

Du Unbekannte, die du mir einst dein ganzes Vermögen vermachen wirst, weil du dich seit zwölf Jahren allwöchentlich einmal mit der „Weltbühne“ zurückgezogen hast, hör mich an. In Paris, wohin meine Sehnsucht mich ruft, kann man keine Wohnungen mieten. Man muß sie kaufen. Laß es so viel sein, daß ich im Sommer in Dänemark leben kann, an den grünen und blauen Seen, wo die Butter und die Damen so frisch sind, daß man nie mehr Margarine essen mag – im Winter will ich eine Stadtwohnung haben. Darin soll dein Name gesegnet werden für und für, denn du wirst eine bessere Wohltäterin sein als Hebbeln seine. Vergiß es nicht: in Paris. Im Siebenten.

If …

Es gibt ein englisches Theaterstück, darin wird gezeigt, wie ein junger Mensch einen Untergrundbahnzug erreichen will, er kommt zu spät, und an der Sperre lassen sie ihn nicht durch … der Zug fährt ihm grade vor der Nase weg. Zweite Szene: das noch einmal – aber nun stößt er den Mann an der Sperre beiseite, fliegt vor, taumelt noch grade in den abfahrenden Zug. Und darin sitzt ein Mädchen, mit dem er ins Gespräch kommt – in dem Zug sitzt ein Schicksal: sein Schicksal, das er erlebt hätte, wenn er damals den Zug erreicht hätte …

In Paris habe ich neulich eine Wohnung gesehen – das war meine Wohnung. (Du hast keinen Sperrdruck, S. J.? Sperr: „meine“ – es war meine, meine, meine Wohnung.) Einen Nachmittag lang habe ich geglaubt, ich könnte sie vielleicht haben.

Sie lag im fünften Stock, oder war es der sechste? Jedenfalls schob sich der Fahrstuhl nicht weiter hinauf, die Treppen hörten scheinbar auf – und dann kam eine kleine Privattreppe, und da hinauf gings. Oben war eine Tür, ein Korridorchen … Und dann das Arbeitszimmer aller Arbeitszimmer: ein riesiges, hohes Atelier; an der Breitwand führte noch eine kleine gewundene Treppe hinauf, da standen die Borte einer Bibliothek … Und von da in den Nebenraum, man sah durch die breiten Glasfenster über die vielen Giebel und die grauen Häuser. Totenstill. Und von da in ein Zimmerchen und noch eins und noch eins … Das dritte war mit einer Doppeltür versehen, die war mit hellblauem verschossenem Tuch gepolstert, „und die Schreie der Lust erstickten in dem Schlafgemach des teuflischen Verführers“. Alles in der Miete mitinbegriffen. Und ein Badezimmer war da – nie hätte man unter zwei Stunden darin verbracht; man hätte Gäste dazu einladen müssen. Davor lag eine Sonnenterrasse. So eine Wohnung war das.

Wenn Paris zu laut, zu bunt, zu lustig ist, dann fahre ich da hinauf – und es hat mich verschluckt. Ich gehe langsam die kleinen Stufen der Privattreppe nach oben; während der Fahrstuhl erdwärts surrt, schließe ich vorschmeckend die Tür. Da wird der Hut hingehängt, da der Mantel, die Tür schnappt zu – wie der Griff vertraut in den Fingern liegt! da ist das Atelier. Da die Post, oben brennt matt eine Lampe – nun der Tisch in warmer Helle. Sie liegt auf dem kleinen Diwan und liest furchtbar eifrig. „Was liest du da?“, sage ich. „Paul Valéry,“ sagt sie, „sag mal: was will der Mann eigentlich?“ Ich lehne indiskrete Fragen ab – ich bin ein einfacher Arbeiter im Weinberg des Herrn, und das ist feinste Literatur, viel zu teuer für mich. Sie steht auf und verjagt die graue Seidenkatze, die buckelt. „Ich für mein Teil“, sagt sie, „gehe ins Bett. Lisa ist schon da.“ Lisa heißt gar nicht Lisa. Übrigens sind wir drei. Ich lasse das Duo schlummern und krame ein bißchen am Tisch.

Vormittags ist es manchmal ganz hellgrau, dieses lichte Grau der Pariser Vormittage. Es ist so still, daß man die Kanarienvögel singen hört. Meiner singt nicht, die faule, gelbe Kugel. Er sitzt da und blinzelt heimtückisch. Es ist so still … Auf dem Tisch liegen die Notizen von gestern abend – man muß seine Gefühle aufbewahren können – los gehts. Es hat mich, der Kopf läuft langsam violett an, die Schreibmaschine klingelt lieblich.

Nun lebe ich schon seit Jahren in dieser Wohnung – ich kann gar nicht denken, daß ich jemals anderswo gelebt hätte – hier ist Heimat. Elli ist längst nicht mehr da, aber sie hat einen Spiegel dagelassen – der grüßt immer zurück, man muß aber zuerst grüßen. Manchmal kommen Leute aus Berlin; die sagen: „Sie haben aber hier … Donnerwetter noch mal – ich suche nämlich auch eine Wohnung in Paris – wissen Sie nicht …“ Nein, ich weiß nicht.

Manchmal wache ich an späten Nachmittagen auf; da liegen oben an der Decke schon schräg die Lichtkringel – so lange habe ich geschlafen. Heute abend ist das hinter der Ecole Militaire – es kann sehr heiter werden, wenn die braune Kommerzienrätin da ist. Pfeifend schlurre ich ins Badezimmer – unterwegs werde ich durch widrige Winde in die Küche getrieben, wo noch etwas Büchsenananas steht. Hat die Wirtschafterin sie aufgefressen? Büchsenfrüchte sind manchmal giftig. Gott segne sie alle beide.

Jetzt ist es schon so lange her. Wann bin ich eigentlich hier eingezogen …?, rechne ich einmal. Vier, fünf, warten Sie mal: sechseinhalb Jahre! Was ist hier alles entstanden? Bücher – zwei dicke Bücher – und sonst noch allerhand; liebevoll streicheln die Augen alles Erreichbare und alle Wände. Wenn ich verreist bin, sage ich manchmal so ganz nebenbei: „Meine Pariser Wohnung – in meiner Pariser Wohnung …“

If … Einen Nachmittag lang. Der Vertreter des Architekten, der die Wohnung für den gérant an Stelle des Hausbesitzers verhökerte, besaß einen copain, der war Prix de Rome und hatte eine Submission der Stadt Nantes zu vergeben. Unter diesen Umständen ist leicht zu begreifen, daß mir die Tochter der concierge, als ich auf Zehenspitzen das Haus anschlich, freundlich, aber ernst sagte: „Monsieur – il vient d’être loué.“

3 Rue de la Terrasse, falls Sie die Adresse wissen wollen.

Le „lied“

Bétove ist kein Druckfehler, sondern ein Klavierhumorist. Er hat eine Brille, einen schadhaften Fuß und lange Haare. Er spielt eine ganze Oper vor: mit Chor, Liebesduett und Racherezitativ, genau so schön von vorvorgestern wie die meisten Aufführungen in der Opéra Comique – neulich sah ich daselbst einen älteren, etwas asthmatischen Herrn als Figaro umherrollen, und jedesmal, wenn die Damens die Noten Wolfgang Amadeus Mozarts gesungen hatten, raste das Haus, und das ganze erinnerte an den Humor, der unter Hartmann in Charlottenburg entwickelt wurde und wohl in Görlitz noch entwickelt wird. Becher her, stoßt an! Und dieselben Leute, die in der Opéra Comique solchem Gewerke applaudieren, gleich hinter den Boulevards, da, wo der kleine Platz Boiéldieu abends so aussieht, als müßten gleich alle Passanten im Takt zu singen anfangen, und als käme hinter einer Ecke ein Page mit einem rosa Billett herausgelaufen, kommt aber keiner – dieselben Leute freuten sich sehr über Herrn Bétove, weil seine harmlose Parodie lustig anzuhören war. Er parodierte, was hier für die Musikabonnenten im Schwange ist: „Die Regimentstochter“.

„Manche Völker sind musikalisch – dem Franzosen ist die Musik nicht unangenehm“, hat Jean Cocteau einmal gesagt. Oh, sie sind hier sehr gebildet. Vor einiger Zeit haben sie sogar einen Abend gegeben: „Le lied à travers les âges“ – die geschichtliche Entwicklung des deutschen „Liedes“, mit gesungenen Beispielen.

Bétove fährt also fort; jetzt singt er etwas Spanisches, er kann kein Wort dieser Sprache, soviel ist einmal sicher, aber er gurgelt und lispelt ein Spanisch, wie er es auffaßt; er hats gehört, wenn die spanischen Paare auf dem Varieté in die kontraktliche Leidenschaft kommen. Sogar die Pause ist da, in der nur die Schritte der Tanzenden rhythmisch auf den Planken schleifen, tschuck-tschuck-tschuk – da setzt die Musik wieder ein. Das ist gewiß nicht neu; wir haben das hundertmal gehört, wie einer englische songs kopiert, französisch näselt. Pallenberg kann das meisterlich und Curt Bois auch … Aber Bétove kündigt nun noch mehr Nationallieder an, nennt einen Namen, den ich nicht genau verstehen kann. Fritz …? und beginnt ein Vorspiel. Still –

Das Präludium ist edel-getragen, und der kleine Mann am Klavier macht ein trauriges Gesicht, bekümmert den Kopf schüttelnd blickt er offenbar in das goldige Grün des Waldes, was mag sein blaues Auge sehn? Und nun beginnt er zu singen, und mir läuft ein Schauer nach dem andern den Rücken herunter.

Das ist kein Deutsch. Der Mann kann wahrscheinlich überhaupt nicht Deutsch, aber es ist doch welches. Es ist das Deutsch, wie es ein Franzose hört – Deutsch von außen. Da klingt: le „lied“.

Ein deutscher Mann schreitet durch den deutschen Wald, die Linden duften, und die deutsche Quelle strömt treuherzig in einem tiefen Grunde.

Im grünen Wallet
zur Sommerszeit –

Ich verstehe kein Wort, es hat keinen Sinn, was der da singt, aber es kann nichts anderes heißen. Die Musik ist durchaus von Loewe – es ist so viel dunkles Bier, Männerkraft, Rittertum und Tilsiter Käse in diesem Gesang. Soweit ich vor Grauen und Lachen aufnehmen kann, hört es sich ungefähr folgendermaßen an:

A-ha-haa-schaupppttt
da-ha-gerrächchzzz –!

– an die weichen Stellen der Melodie setzt der Kerl jedesmal einen harten Konsonanten und erweckt so den angenehmen Eindruck eines, der lyrisch Lumpen speit. Aber nun wird die Sache bewegter.

Der Eichwald rauschet, der Himmall bezieht sich, im Baß ringt dumpf die Verdauung, der deutsche Mann schreitet nunmehr hügelan, Tauperlen glitzern auf seiner Stirn, die kleinen Veilchen schwitzen, der Feind dräut heimtückisch im Hinterhalt, jetzt schreit der Waldes-Deutsche wie beim Zahnbrecher, vor mir sehe ich Herrn Amtsrichter Jahnke, der am Klavier lahnt und mit seinem weichen, gepflegten Bariton unterm Kalbsbraten hervorbrüllt, und in den Schoß die Schönen – jetzt Welscher, nimm dich in acht! und ich höre so etwas wie

schrrrrachchchchttttt –!

da bricht die Seele ganz aus ihm herausser, das Pianoforte gibt her, was es drin hat, und es hat was drin, die Melodie wogt, der kleine Mann auch – und jetzt, jetzt steht er oben auf dem steilen Hügel, weit schaut er ins Land hinein, Burgen ragen stolz beziehungsweise kühn, laßt es aus den Kehlen wallen, ob Fels & Eiche splittern, die Lanzen schmettern hoch in der Luft, das Banner jauchzet im kühlen Wein, frei fließet der Bursch in den deutschen Rhein, jetzt hat Bétove alle zweiundzwanzig Konsonanten mit einem Male im Hals, er würgt, er würgt – da kommt es hervorgebrochen, der Kloß ist heraus! das Klavier ächzt in allen Fugen, der Kaiser ruft zur deutschen Grenz’, die Deutschen wedeln mit den – da steht er hehr, ein Bein voran, wenn kein Feind da ist, borg ich mir einen, den blitzenden Flamberg hoch in Händen, mein Weib an der Brust, den geschliffenen Helm im Nacken, der Neckar braust, der Adler loht, im deutschen Hintern sitzt das Schrot, es knallt das Roß, ein donnernd Halt, o deutscher Baum im Niederwald, mit eigenhändiger Unterschrift des Reichspräsidenten –!

Die Franzosen klatschen, wie ich sie noch nie habe klatschen hören. Neben mir kämpft der dicke Morus mit einem Erstickungsanfall. Wird gerettet.

Zum erstenmal seit zwei Jahren fühle ich: Fremde. Ich denke: wenn sie wüßten, daß du, einer der Verspotteten, unter ihnen sitzt … Würden sie dich zerreißen? Unfug. Gewiß, manchmal habe ich nicht gefühlt wie sie, habe nicht mitgelacht, nicht mitgeweint … aber heute ist da, zum ersten Mal, das andre, das fremde Blut, auf einmal sind sie drüben, und ich bin hüben.

Das war unsre deutsche Sprache? Die, in der immerhin „Füllest wieder Busch und Tal“ gedichtet ist? Das ist Deutsch –? So hört es sich für einen Fremden an? Es muß wohl. Und ich brauche nicht mehr auszuziehen, das Fürchten zu lernen. Ich habe mich gefürchtet.

Es war, wie wenn man sich selbst im Film sieht. Viel schlimmer: wie wenn sich das Spiegelbild aus dem Rahmen löste, sich an den Tisch setzte und grinsend sagte: „Na – wie gefalle ich dir?“ Da stehe ich auf, weiche einen Schritt zurück und sehe den da, mich entsetzt an … Das bin ich –

Den ganzen Abend und noch am nächsten Tage getraue ich mich nicht, deutsch zu sprechen. Vor mir selber traue ich mich nicht. Ich höre überhaupt keine Vokale mehr, immer nur Konsonanten. Die Sprache ist wieder in ihren Spiegelrahmen zurückgekehrt, fremd sehen wir uns an, ich mißtrauisch, sie könnte vielleicht jeden Augenblick wieder auskneifen, mir gegenübertreten … Wir kennen uns nun schon so lange. Zum erstenmal habe ich sie nackt gesehn.

Umzug

Auch im Französischen gibt es ein Wort, das ungefähr besagen will: „Lieber dreimal abbrennen als einmal umziehen.“ Das ist recht wahr. Bei einem Brand hat man es doch mit einemmal hinter sich. Nachts schreit das Mädchen im Korridor: „Herr Regierungsrat! Herr Regierungsrat!“, ich raus aus dem Bett, das Mädchen kreischt, aber diesmal nicht, weil ich so schön bin, sondern weil es wirklich brennt, qualmt, knistert … sie ergreift das Vogelbauer, ihren Sonnenschirm und einen alten Korb, ich entkorke den Feuerlöscher, er funktioniert nicht, ich gieße Wasser ins brennende Zimmer, dazwischen: „Wie ist denn das möglich?“ – das Mädchen jammernd: „Ich weiß ja auch nicht! Gestern abend hats noch nicht gebrannt …!“, das ist ein Trost, Feuermelder, Feuerwehr, es sieht gar nicht schaurig-schön aus, sondern stinkt nur entsetzlich, Gott weiß, welche Kindsleiche da mitbrennt. Morgens ziehe ich traurig einen Band Unruh aus dem Unglück, der pappne Deckel hat sich gebogen, das kommt von der Hitze. Und dann ist es vorbei, und man weiß: Bei Panters hats gebrannt.

Aber ein Umzug –! Das ist viel schlimmer. Dieses Mal bin ich in Frankreich umgezogen, und vier Wochen waren verloren. Vier Wochen lang telegraphierten die Verleger: „Wo bleibt Fünfter Akt Pubertätsdrama? Sofort senden, da Baisse in Pubertät bevorstehend.“ Und: „Zwei Pfund Pariser Stimmungsbilder ausstehend, desgleichen Boulevard-Treiben, Sensationsprozeß und Modebilder von Montmartre. Wenn bis Montag nicht geliefert, abschließe mit Konkurrenz.“ Nur der Chef der „Weltbühne“ schwieg, gütig wie immer: die Aktualitäten der deutschen Politik hatte er für ein halbes Jahr voraus, ihm konnte nichts geschehen.

Eine Wohnung zu finden, war nicht leicht gewesen. Hier in Frankreich gibt es kein Wohnungsamt, dafür lebt ein kleines Achtel der Bevölkerung vom Wohnungsnachweis. Es wimmelt von Agenturen, jedes kleine Örtchen hat deren mehrere, und die Bewegung auf dem Immobilienmarkt scheint stark zu sein. Paris platzt erst jetzt über die Fortifikationen, es wird viel gebaut, und zwar nicht, wie in Deutschland, nur Villen, sondern sehr viele Mietshäuser. Die haben kleine Zimmer, Wände zum Umblasen, sehr oft Badezimmer – und sind teuer. Ja, es ist überhaupt schwierig, zu mieten, denn die meisten dieser Wohnungen sind „à vendre“, und das heißt in Wirklichkeit: es bilden sich Baugenossenschaften der zukünftigen Mieter, und die schießen dem Unternehmer, der nicht schlecht daran verdient, einen Teil der Bausumme vor, er baut (manchmal baut er auch nicht), und bei Fertigstellung oder kurze Zeit nachher wird die Restsumme fällig; nun gehört die Wohnung dem Einziehenden als Eigentum. Die Unterhaltungskosten des Gebäudes haben aber die Teileigentümer zu tragen, sehr niedrig sind sie nicht. Und so drängt also alles in die heitere Umgebung von Paris.

Ja, sie ist schön, diese Umgebung. Im Westen und Nordwesten, da, wo die Seine ihren Mäanderlauf vollführt, sind viele Höhenzüge bewaldet, nein, eigentlich nur begrünt. Außer Fontainebleau gibt es in der nähern Umgebung von Paris nicht recht etwas, was man „Wald“ nennen kann – und auch der bei Fontainebleau hat noch einen fast parkartigen Charakter. Feen tanzen darin umher, keine Bären. Und dann gibt es dorfartige Ansiedlungen, darin sind die Wohnungen nicht schön, und da gibt es ein sich immer wiederholendes Bild: die kleinen Häuserchen liegen in dürftigem Grün hingewürfelt, nahe beieinander, es entstehen keine stillen Straßen, das Ganze liegt platt da wie eine Maurermeisteransiedlung. Und ich suchte und suchte. Was habe ich alles gesehen!

In Leu am Brunnen steht ein steinernes Haus, das hat Zimmer so groß wie Reitställe. In Soisy steht eines, das ist wie aus dem Schmuckkästchen – aber wer darin wohnt, der ist zum Bahnwärter prädestiniert, die Kleinbahn pfeift unmittelbar daran vorbei. In Saint Germain gibt es einen Pavillon, der ist von einem Onkel Hasse Zetterströms erbaut: man tritt ein, geradeswegs ins Eßzimmer, kommt von da auf einen Korridor, von da ins Badezimmer, von da wieder auf einen Korridor mit einer kleinen Treppe, von der Treppe in ein Schlafzimmer, vom Schlafzimmer aufs Dach … weiter habe ich mich nicht getraut. Man kann ein ganzes Schloß mieten: mit 133 Zimmern, Garage, Waschbude, Hühnerstallungen, Pferdekäfigen, Untertanen, eigner Gerichtsbarkeit und Wasserspülung. Schließlich habe ich dann eine kleine Wohnung bezogen.

Lieber dreimal abbrennen … Dabei machens einem hier die Leute nicht schwer: die kleinen Handwerker sind nicht unzuverlässiger als in Deutschland, auch nicht übermäßig geschickt, aber bei weitem freundlicher. Es fehlt dieser entsetzliche passive Widerstand, dieses grauenhafte „Ja – da müssen Sie erst …“ Hier muß man gar nicht erst.

Natürlich muß man in einem Lande Arbeit nehmen, um es wirklich kennen zu lernen, nicht nur Arbeit geben. Aber auch dabei sieht man dies und jenes. Zum Beispiel die unerschütterliche Anständigkeit der kleinen Lieferanten, die da kreditieren … es nützt gar nichts, um Rechnungen zu bitten, man bekommt sie doch nicht. Hierbei und bei vielen andern Erscheinungen habe ich immer den Eindruck, als lebe Frankreich noch gar nicht im Jahre 1925, oder als tue das wenigstens nur eine kleine Schicht. Die allgemeine Geisteslage hier entspricht beinah einem Frank-Stande von 80 Pfennigen. Sie ist noch nicht nachgerückt.

Zeichen von Deutschfeindlichkeit –? In vierzehn Monaten: einmal. Das hat nichts mit dem zu tun, was sich die Franzosen über die Deutschen denken. Schwerer deutscher Aberglaube, daß die auf der gesamten übrigen Erde geltende glatte Umgangsform etwas mit „Achtung“ oder „Beliebtheit“ zu tun hat. Es klingt aber alles netter im Französischen, es streichelt die Nerven, niemand bockt. Der Polizeikommissar auf dem Revier: „Ich hätte nicht geglaubt, daß Sie Deutscher sind. Freilich: Sie haben nicht den Akzent der lateinischen Rassen …“ Man stelle sich das in Schöneberg vor.

Aber dennoch: lieber dreimal abbrennen.

Nun ist beinahe alles eingeräumt, der Tischler ist aus dem Haus, der Maler auch, der Schlosser auch. Ich knie vor einem Koffer und weide ihn aus. Das hört nie auf, weil ich immer wieder innehalte und mir ansehe, was ich da gefischt habe. Die alten Sachen stehen herum und wundern sich. Das ist nicht sehr heiter, mitunter. Briefe sollte man ja keinesfalls aufbewahren. Worauf sie sorgfältig weggepackt (nicht etwa gelesen) werden. Und da sind also die Bücher.

Lichtenberg: „Er hatte seine Bibliothek verwachsen, so wie man eine Weste verwächst. Bibliotheken können überhaupt der Seele zu enge und zu weit werden.“ Wie recht hat er! Wie sieht mich das an! Wie sehe ich das an! Mit ganz wenigen Ausnahmen hat die Tagesliteratur, die vor dem Jahre 1914 erschienen ist, ungefähr den Wert von Kindheitserinnerungen: man bewahrt das Schuhchen von Fritzchen auf, nicht, weil man es noch einmal tragen will, sondern eben als Erinnerung … Diese Schmerzen, diese Verse, diese Polemiken, diese Romane – ja, es ist alles sehr schön und gut, aber es geht einen gar nichts mehr an. Man soll nicht undankbar sein – aber wie tot ist das alles! Was ist geschehn?

Es ist geschehn, daß wir gelernt haben, wie unmöglich es ist, seelische Erlebnisse ohne Zurückführung auf gesellschaftliche Zustände anzusehen. Daß man ruhig und still die Einkommenziffern der Helden prüfen muß, um sie zur Hälfte zu verstehen: ihre Freuden, ihre Anschauungen, ihr Leben. Daß ein Sparkassenbuch, eine unrechtmäßig ausgenutzte Kokerei, das Privateigentum an Transportmitteln – daß dergleichen Villa und Park erst ermöglichen, mit allem, was danach kommt …

Mit dieser Kenntnis, zu deren Erwerbung unsereiner erst den Weltkrieg nötig gehabt hat, ist nicht alles erworben, aber viel. Wir haben viel gewonnen. Und mehr verloren. Geblieben ist wenig vom Alten, und viel Neues ist dazu gekommen. Balzac ist geblieben.

So weit wären wir also eingerichtet. Die im Prospekt garantierte ff. Morgenstille ist nicht geliefert worden. Ums Haus herum bellen die Hunde, unsre gefiederten Lieblinge. Da bellen sie, stumpfsinnig, aufgeregt, ununterbrochen; an den einzelnen Stimmen kann man die Größe der einzelnen Joujous veranschlagen. Hoch, tief, ein kleiner bellt … wenn ein Stiefmütterchenbeet bellen könnte, würde es so bellen; einer hat Bronchitis, bellt aber doch, dafür ist er Hund. Es hört sich an, als ob sich die Rotte Korah meilenweit mit einemmal übergäbe – wenn morgens die Lieferanten an den Häusern klingeln, steht der ganze Horizont in Flammen. Sie reißen an den Stricken, sie springen gegen die Gitter, sie flöhen sich, belfern, quietschen, jaulen, in den Triefaugen Treue zum Futternapf und zum angestammten Herrscherhause, durchaus konservativ und gegen die landfremden Elemente. Wenn man genau hinhört, kann man aus dem Gebrüll eine getragene Hymne heraushören. Gott segne diesen Volksstamm!

Der letzte Lampenschirm ist angeschraubt, der Tisch wackelt nicht mehr, der letzte Nagel ist eingeschlagen. Wohlan! Von hier aus ist fröhlich Wohnung suchen.

Der Türke

Ich habe in Paris einen Türken kennengelernt, der war französischer Untertan, sprach englisch und konnte Deutsch. (Mitunter ist es gar nicht so einfach im menschlichen Leben.) Im Kriege hatte dieser Polyglott Kunze bei der türkischen Armee Dolmetscherdienste getan, und da hat er wohl vieles gelernt, vieles aufgeschnappt … Er übersetzte sehr gewandt; als wir mit einem Engländer nicht recht zu Rande kamen, vermittelte er wortgetreu, ohne Verdrehungen und Abkürzungen – sehr gut. Dann sprach er mit mir, Deutsch.

Er sprach und sprach, und je länger er sprach, destoweniger paßte ich auf das auf, was er sagte – und zum Schluß fielen mir fast die Augen aus dem Kopf. Wo hatte ich diesen Jargon schon einmal gehört? Was war denn das, was dieser Mensch sprach?

Ich fragte ihn nach einem gemeinschaftlichen Bekannten. „Donnerwetter!“ sagte der Türke, „das war vielleicht ein Kerl!“ Ich sah ihn an, in seinen Augen war kein Arg; er war fest überzeugt, reines Deutsch gesprochen zu haben. Ja – ich nickte beifällig. Und dann sprachen wir von der Verpflegung in der Kriegstürkei. „Da haben wir eine Nummer jesoffen!“ sagte der Türke, „einfach verheerend –!“

Ah –! Jetzt wußte ich, wo der sein Deutsch gelernt hatte. Und durch sein Deutsch erschienen wie durch einen Schleier die Lehrmeister dieser erfreulichen Grammatik: mit hohem Kragen, mit Monokel, mit leicht geröteten Gesichtern, mit den nötigen „Harems“-Adressen in der Brusttasche, beklunkert mit deutschen, österreichischen und türkischen Orden, mit dem ganzen Bahnhofsspinat. „Der Kümmeltürke soll ma reinkomm, übersetzen!“ Er näselte wie sie. Er schleppte die Worte wie sie, ließ die Endsilben fallen, hatte genau den Timbre fauler Verachtung, der es nicht verlohnt, das Maul aufzumachen. Er hatte es alles abgeguckt.

„Kenne die Brüder da unten janz jenau!“ sagte der Türke. Und im Geiste segnete ich die deutsche Kultur, die so schöne Früchte trägt und an der die Welt im allgemeinen und dieser Türke im besonderen so herrlich genesen war.

Der Platz im Paradiese

Die Bretagne ist das Bayern Frankreichs. (Protest der Bretagne, Protest Bayerns, schwere internationale Verwicklung der beiden Staaten –.) Denn man will auch dort schon wieder immer wie die Geistlichkeit. Daß Plouézec nirgends anders als in der Bretagne liegen kann, ist für den Kenner außer Zweifel.

In Plouézec wohnt ein Kerl, der war einmal Leuchtturmwächter in Algerien gewesen, il a fait les colonies, ist also ein weitgereister Mann. Weil er denselben dicken Kopf wie die umwohnende Landbevölkerung hatte, ihren harten Geiz, ihre Geschäftstüchtigkeit, aber flinker war als sie, gerissner, schneller dachte, brachte er es bald zu viel Geld. Dieser Bursche nun erzählte neulich eine absonderliche Geschichte. Die Bretagne trinkt Cidre. Cidre macht betrunken. Aber in vino veritas, in der Lüge auch.

Der Leuchtturmwächter a. D. hatte einen Vetter, der war Priester. Zu dem kam eines Tages ein gutes altes Frauchen und ließ in der geistlichen Unterhaltung so nebenbei fallen: „Jaja … Die Zeiten sind schwer … Jung bin ich auch nicht mehr: ich möchte mir gern einen Platz im Paradiese sichern, aber ich höre, das ist sehr teuer. Sehr teuer soll das ja sein.“ Der Priester spitzte die Ohren. Meinte sie das symbolisch? Eine Seelenmesse? Geistliche Tröstung? Nein, nein, sie meinte es ganz wörtlich. Sie wollte wirklich und wahrhaftig einen Platz im Paradiese. Das fiel dem Priester auf.

Es begannen nun durchaus ernste Verhandlungen, der Priester bedang sich einige Tage Zeit aus, um sich mit den zuständigen Stellen in Verbindung zu setzen, und kam nach einer Woche mit dem Bescheid an: ein Platz koste 60 000 (sechzigtausend) Franken. Die Frau setzte sich schweratmend auf einen Stuhl.

Zur größten Überraschung des Priesters, der ja allerhand gewöhnt war, dergleichen aber denn doch noch nicht erlebt hatte, rückte sie nach ein paar Wochen an, hatte Geld flüssig gemacht und händigte dem frommen Mann Gottes 60 000 Franken ein. Für einen Platz im Paradiese. Die Sache schien in Ordnung zu sein.

Der Priester aber konnte nicht mehr schlafen. Es waren weniger Gewissensbisse, die ihn plagten, als der tödliche Zweifel: Habe ich auch genug gefordert? Solch ein Lamm hätte doch ganz anders geschoren werden können! Warum – bei Gott in der Höhe – warum habe ich nicht 80 000 gesagt? Achtzigtausend … Und da brachte ihm der frische Meerwind eine Idee, einen Gedanken, unmittelbar von seiner himmlischen Behörde inspiriert. Er ging hin – das war im Jahre 1924 –, er ging wirklich hin, stellte die Frau und sprach:

„Liebe Frau. Ihr Platz im Paradiese ist Ihnen sicher. Für 60 000 Franken, Betrag dankend erhalten. Aber – damit Sie sich keinen Illusionen hingeben und mir etwa im Jenseits Vorwürfe machen: es ist ein Stehplatz!“

Die Frau setzte sich abermals. Was … was man denn da tun könne? Ja, sagte achselzuckend der Priester, man könne ja vielleicht einen Sitzplatz kaufen – obgleich die sehr, sehr gesucht seien. Es sei fast ausverkauft. Aber er habe Beziehungen … Übrigens koste ein Sitzplatz 80 000 Franken. Und da beschloß die Frau, auch noch die 20 000 flüssig zu machen, und sie begründete das auch. Cidre macht trunken – aber keine Dichter. Diese Antwort kann nicht erfunden sein. Sie sagte:

„Ich werde Ihnen auch noch die 20 000 geben. Denn ich möchte einen Sitzplatz, parce que c’est pour l’éternité!“ – Weil es doch für die Ewigkeit ist …

Nun aber griff der liebe Gott ein, seines Zeichens bekanntlich langsam, aber sicher mahlender Mühlenbesitzer. Die gute Frau hatte Verwandte, denen die Wirtschaft in den Renten- und Aktienbeständen ihrer Tante, Großmutter und Schwester nicht unbekannt blieb, sie forschten nach, die Sache wurde ruchbar, es gab einen mächtigen, aber lautlosen Skandal – und der Priester wurde exkommuniziert. Alle frommen Seelen durften aufatmen. Aber nicht lange.

*

Der verjagte Priester gab das Geld nicht her. Er begründete vielmehr damit – wer wollte es ihm verübeln! – eine Milchwirtschaft und reiste im Land umher; übrigens immer noch in der Soutane, weil das mehr zog, er hatte die modernsten Milchmaschinen und verdiente in kürzester Zeit einen gehörigen Haufen Geld. Da saß er nun.

Seinen Vetter, den Leuchtturmwächter, sah er oft; beide waren gewaltige Fresser und Säufer, und sie setzten sich häufig um eine mächtige Seezunge und die erforderlichen Bouteillen Weines. Bei einer solchen Zusammenkunft nun geschah es, daß dem Priester der Kragen zu eng wurde, die Augen quollen ihm heraus, ein kleiner Schlaganfall meldete sich, er begann zu röcheln … Der Vetter fühlte seine Stunde gekommen. (In der Erzählung äußerte er: „Maintenant je savais: il est à moi!“) Und er sprach zu dem Sünder: „Das ist die Strafe Gottes! Da hast du es!“

Dem Ex-Priester wurde mulmig um die Brust. Er begann, nachdenklich umherzugehen, sonderbares Zeug vor sich hinzumurmeln, und eines Tages kam er recht klein zu seinem Cousin: ob ihm der nicht zum Wiedereintritt in die Alleinseligmachende verhelfen könne … Selbstverständlich. Der Vetter ging ans Werk.

Zunächst machte er einen Besuch bei dem zuständigen Erzbischof. Der flammte auf. Nie. Niemals! Als sich das geistliche Gewitter ausgetobt hatte, zog der Vetter ganz leise und vorsichtig seinen Trumpf aus dem Hosensack. Der Ex-Priester besäße eine halbe Million …

Dumpf grollte es noch einmal aus dem Bischof – dann dachte auch er nach. Und sprach, um sich ganz zu vergewissern, die geflügelten Worte: „Est-ce que la bête est bien morte –?“ Ist der Kerl auch ganz und gar auf dem Aussterbeetat? Dafür könne er garantieren, sagte der Vetter eifrig. „Ça je vous le garantie, Monseigneur!“ Sieg auf der ganzen Linie. Und zehn Prozent für den Leuchtturmmann – für freundliche Vermittlung.

Der Priester durfte sich demütig der Kirche nahen, er wurde in ein Kloster für reuige Mönche gesteckt, in eine strenge und härene Sache. Und da bereut er nun noch und hat sein Geld der Kirche vermacht.

*

Es ist aber zu erwägen, ob das Mütterchen aus Plouézec nicht zeit ihres Lebens glücklicher gewesen wäre, wenn sie einen Platz im Paradiese ihr eigen geglaubt hätte. Einen Sitzplatz, versteht sich. Einen Sitzplatz.

Windrose

Über die alte Hafeneinfahrt von Marseille spannt sich eine luftige Brücke, der Pont transbordeur, ein stählernes Spinnennetz. Oben auf der Brücke steht ein kleines Restaurant, die Brücke ist hoch, die Preise auch. Oben vor dem Restaurant steht ein Tisch. Auf dem Tisch ist eine Windrose aus Email, es ist eine runde Platte, auf der das ganze große Panorama, das man da hat, abgebildet und wiederholt ist. Da sieht man Hügel und Täler, Kirchen und andere öffentliche Häuser, Küsten, Inseln und das Meer, alles noch einmal. Und am Rand des Windrosenkreises steht jeweils, an jeder Himmelsrichtung, die Stadt, die dort weit hinter den Bergen von Gemenos und den Tälern von Saint-Pons, wie man bei uns zu Hause so schön sagt: zu liegen kommt. Und über das Email gebückt, hoch oben auf der zugigen Brücke, sehe ich wie der liebe Gott über die ganze Welt.

Konstantinopel … Das Auge wandert die Himmelsrichtung entlang, die ein Pfeil ihm angibt. Da, hinter jenen Gäßchen, liegt es. Elektrische in den Straßen; politische Schieber, die gute Geschäfte – merkantile, die schlechte Geschäfte machen, im Harem kein Aas, die Cafés stippevoll bei leeren Tischplatten, Zeitungen, Kinos, Telephone und – bei einem Pascha – ein Wasserklosett. In einer Ecke kratzt jemand gutmütig einen flohbeladenen Hund mit einem Stöckchen, dann erhebt er sich und setzt sich vor seine Wasserpfeife. Sie ist verstopft. Er reinigt sie mit dem Stöckchen. Pera – du Stadt unserer Träume!

Bern. Also da, hinter jener Kirche und dann wohl noch ein kleines Stückchen … Elektrische klingeln in den Straßen, artige Sittsamkeit, Korrektheit, Bravheit, die geborenen Hoteliers der alten Klasse, Natur mit Ei und einige Engländerinnen, die den quick-lunch nehmen, weil es so im Reisehandbuch steht. Kinos, Zeitungen, Telephone und etwas Radio – aber eine gesunde Luft. Im Regierungsgebäude berät gerade Herr Nationalrat Muggli mit Herrn Kaufmann Mögli über einen Volksentscheid zur Einführung des Alkoholverbots in schweizerischen Seemannsheimen … Bern – du gute Schweizerstadt!

London … Nein, zu sehen bist du nicht. Aber da, hinter dem Neuen Hafen, gleich da, wo der kleine dicke, phallusrunde Leuchtturm steht, dahinter wirst du wohl liegen. Elektrische klingeln in den Straßen, ernsthafte Engländer gehen vorbei, mit nicht so übermäßig vergnügten Gesichtern; die das Wort „Lady“ wie „Laidi“ aussprechen, was nicht gerade von Feinheit zeugt, sind fröhlicher als die andern, denen es besser, aber nicht so gut wie früher, also schlechter geht. Kinos, Zeitungen und Telephone, Nebel und eine emsige Wahlbewegung mit traditioneller Aufgeregtheit. Am Tisch eines Boardinghauses sprechen gerade fünf Damen und ein unglücklicher Mann miteinander. „Ein feiner Tag heute!“ „Haben Sie gestern gutes Frühstück gehabt?“ „Wir hatten ein sehr gutes Frühstück!“ „Der König ist heute nach Windsor gefahren!“ So prallen die aufgeregten Leidenschaften aufeinander. Und andere Frauen, die sich langsam vom Kontinent herübergeholt haben, was ihnen so lange gefehlt hat … sie tragen die neue Erotik mit wenig Glück, scheints … Sei gegrüßt –!

Paris! Die Elektrischen klingeln durch die Straßen, die riesigen Autobusse jagen um die Ecken; daß die Sonne untergeht, ist nicht gewiß, daß Gott aber am zweiten Tage das Déjeuner und am dritten das Diner erschaffen hat, das ist ganz bestimmt. Wie unromantisch du bist, du beschwingte Stadt! La Fouchardière schreibt gerade seinen täglichen Artikel, zwei Societärinnen der Comédie Française sind in einen tödlichen Streit geraten, der nie, spätestens aber morgen nachmittag, zu Ende sein wird, ein Zeitungsverkäufer schwingt seine Blätter, eine Hymne singend, die heißt: „Intran – – – Spoooort!“ und die Theaterdirektoren Brüder Isola sind traurig, weil ihnen ein ungetreuer Kassierer die Karriere verdorben hat. Die gestrige Skandalaffäre ist im Verblassen. Nur ein kleiner deutscher Schmock schlachtet sie noch aus, weil er davon lebt, von den faits divers (französisch: Schmonzès), und morgen wird sein kümmerliches Deutsch im heimischen Blatt prangen. „Viel Aufsehen erregt in Paris …“ Kein Mensch weiß etwas davon. Und Kinos, Telephone und Zeitungen … Bon soir, les copains –!

So suche ich den ganzen Horizont ab, da oben auf meiner Brücke. Und während vom Mittelländischen Ozean her der Wind in meinen Locken spielt, entdecke ich an einer Stelle der Windrose etwas, einen Namen, zwei kleine Silben, nicht ausgekratzt, wahrhaftig unversehrt, klar und deutlich.

Berlin. Sehnsüchtig wende ich mich ab und zeige ihr eine ganze volle Kehrseite.

Wandertage in Südfrankreich

Daß man den lieben Herrgott um seine Jahreszeiten betrügen kann –!

Bestimmt schickt jetzt in Berlin Herr Prokurist Protzekuchen zum Wirt hinunter und läßt fragen: wann er denn nun endlich und ob er denn nun nicht endlich zu heizen gedächte – es sei immerhin November! Hier, vor Toulon, ist es Sommer.

Allerdings eine eigene Art von Sommer. Die Sonne scheint den ganzen Tag schräg, und am Nachmittag gegen fünf Uhr gibt sie es auf, dann wird es lila, dann hellblau, dann dunkelblau – und dann ist es aus. Aber am Vormittag brät man auf dem kleinen Strändchen, das die zwei Inseln miteinander verbindet, und spielt: Badeleben. Ich und noch fünf andere.

Das hier heißt Les Sablettes und liegt vor Toulon, wo die großen, grauen Kriegsschiffe liegen. Toulon, wo Farrères „Petites Alliées“ spielen, dieses amüsante Buch von den Schiffsoffizieren und ihren kleinen Freundinnen, Toulon ist eine freundliche Stadt mit ein paar wunderschönen alten und krummen Gassen, einem winzigen, überdachten Fischmarkt, Kirchen, in Häuser eingemummelt … Auch die alte Stadtmauer ist noch da, nur ist die Stadt – wie alle alten Städte – aus den Fortifikationen herausgequollen, weil sie ihr zu eng geworden sind. Aber wir drehen Toulon den ganzen Tag über den Rücken – denn was ist Toulon gegen diese Sonne!

Sie wärmt. Sie strahlt. Sie vergoldet die Bucht und macht das Wasser blau, weil sich der Himmel darin spiegelt, der rein ist von Wolken. Lange habe ich nach einem solchen stillen Ort gesucht. Die tripots an der Mittelländischen Küste, wo sie am feinsten ist, sind noch leer; und ich habe noch nicht heraus, was mir unangenehmer ist: Nizza, wenn es voll ist, oder Cannes, wenn es leer ist. Westlich davon war Sanary-sur-Mer und Bendol – kleine Nester, aber sie waren nicht das richtige. Diese ganze Küste hat nur einen Fehler: längs des Meeres führt die große Automobilstraße von Marseille bis nach Nizza, und aus ists mit Ruhe, Abgeschiedenheit und Stille, die nichts hören und nichts sehen und nichts riechen will. Hier in Les Sablettes liegt der Strand, durch die Badeanstalt und die Mauern des Parks abgetrennt von der Straße; sie wird noch nicht allzu oft befahren.

Überall lungern Hunde herum und Katzen. Es sind sehr feine Herrschaften dabei. In Sanary lag ein Hund quer über die Straße gestreckt, offenbar der pensionierte Angestellte einer Schlächterei. Er stand nicht einmal auf, als das Postauto herangebummert kam – er sah kaum auf. Der Chauffeur fuhr auch brav um ihn herum. (Was folgt daraus über das Verhältnis romanischer Völker zu den Haustieren sowie … Gar nichts.)

In Les Sablettes muß einmal etwas anderes gewesen sein als ein Hotel. Eine Tür steht halb auf, unter der Lackschicht lese ich im Sonnenlicht: Chef Médecin. Ein Hospital? Ein Hospital im Kriege. Draußen, auf der Terrasse, da, wo der warme Wind über die Palmen streicht, die man gepflanzt hat, und über die Bäume, die dort wachsen, da haben sie gelegen, die Rekonvaleszenten: Lagerstatt an Lagerstatt. Engländer. Als Soldaten verkleidete Engländer. Nach einem Fußballspiel um Menschenköpfe.

Und eines Morgens, als ich an den kleinen Strand hinuntergehe, ist die Bucht und das Meer und der Strand und der ganze Tag verzaubert. Der Mistral weht. Er hat den Himmel reingefegt, silberne Konturen gesetzt, vielleicht wirbelt er weiter drinnen im Lande die Staubwolken zusammen – hier ist die Luft glasklar, das Ferne ist nah, alle Häuser am Meer leuchten, der Wind ist Champagner, eine Art frischer Wärme, die Natur aus flammend blauem Stahl. Die Lungen atmen tief.

Manchmal zieht am Horizont ein großes Schiff vorbei auf seiner Seeroute von Marseille nach dem Suezkanal, nach China – das gibt dann für die alte Engländerin am Nebentisch unerschöpfliche Gesprächsthemen. Sie ist ganz aufgeregt über das Schiff, überhaupt über Schiffe, sie kürzt sogar ihr ewiges Wettergespräch aus dem großen Plötz um einige Feuchtigkeitsgrade ab. Sie spricht eine Art Französisch … aber es hilft alles nichts – es ist ja doch Englisch. Ja, gnädige Frau, es ist ein großes Schiff! Nein, gnädige Frau, heute werden die Passagiere keine stürmische Fahrt haben. Augenscheinlich … gewiß, gnädige Frau …!

Untrügliches Merkmal für gute Erholung: die Tage fangen an zu laufen. Ein ängstlicher Blick auf den Kalender sagt jeden Tag: Es ist Zeit! Es ist hohe Zeit! Die Provence wartet und die Weltbühne auch. Aber noch einen Tag – noch einen einzigen – und noch einen – es ist zu heiter und sonnig und warm.

Zwischen Les Sablettes und Toulon liegt La Seyne, ein kleiner Hafenort. Sein Häfchen sieht aus wie ein Enkel von Marseille – auch hier die kleinen Häuschen, die unmittelbar um das Hafenbassin herumstehen, ganz nahe. Am Sonntag spielen alle Männer Boules; wie die Spielregeln sind, weiß ich nicht – aber es scheint Haupterfordernis zu sein, daß man sich dazu wie beim Kegeln die Jacke auszieht. Und alle haben so weiße Hemdsärmel. (Das kommt daher, weil das Spiel hauptsächlich Sonntags gespielt wird.) Wie beim deutschen Kegeln? Aber ich sehe an keiner Stelle, daß dabei getrunken wird. Neulich haben sie versucht, die Boules in einen richtigen Sport zu verwandeln. Turnier, Preise, Schiedsgericht, Zeitschriften, „Wie man ein Champion der Boules wird“ … Für diesen Stumpfsinn ist das Spiel sicherlich zu schade; fällt es erst einmal dem Sport in die Finger, so hört es auf, ein Sonntagsspiel zu sein. Es wird sich dann mehr um „Spitzenleistungen“ handeln. Weil aber die Südfranzosen gar nicht so große Sehnsucht haben, sich in tausend Organisationen und Gruppen zusammenzuschließen, bei denen der gesellschaftliche Vorgang des Zusammenschlusses mit seinen Komplikationen die Hauptsache und der Stoff Nebensache ist, und weil sie ihre kleine Sehnsucht danach anderswo befriedigen, wird es wohl so bald keinen „Boules-Sport“ geben.

Ist es schon Herbst –? Die Luft sagt: Nein. Aber eine Partie Bäume ist da, die feiert, weil sie orthodox ist und nicht von der südlichen Gegend, Herbst: ihr helles Braun und flammendes Gelb stehen gegen den leuchtend blauen Himmel. Ewig stumpfgrün, stehen die silbrigen Olivenbäume dabei und spielen den Herbst nicht mit. Es ist Sommer. Mitten im November ist Sommer! Man kann also um den Herbst herumkommen. Das ist keine „Entdeckung“. Was könnte man denn auch heute noch auf der weiten Welt entdecken? Aber so scharf habe ich noch nie gewußt, daß man sich warme Jahreszeiten kaufen kann. Gletscher im heißen Sommer und warme Küsten im Herbst und weiche Luft im Winter – wem gehören die –?

Aber nun jagt mir der Kalender einen Schreck ein, und ich fahre ab.

*

Die große Eisenbahnlinie an der französischen Südküste hat streckenweise einen kleinen Konkurrenten – dieser Konkurrent fährt von Toulon aus näher am Wasser entlang. Hin zu ihr! Die Bahn ruckelt davon.

Die Küste wird immer schöner, je weiter man ostwärts kommt. In geschwungenem Bogen schäumt das blaue Wasser um bebuschte Felsen, um kahle Steine, in flache Buchten. Einmal weht der Wind vom Lande her, er rauht die glatte Wasserfläche auf, daß sie stäubt – die Wellen sind ganz klein, Embryowellchen …

St. Tropez steht auf allen Karten als Winterkurort aufgemalt. Bei aller Liebe – aber dann schon lieber Neuruppin! Es ist dunkel, als ich ankomme – der Wind durchheult den Ort, stößt sich an den Häuserkanten wund und heult noch mehr … Dunkel sind die Gassen, ein Betrunkener durchschimpft sie, aus einem braunen Hause hört man einen Zank … Die Laternen brennen trübe. Am Hafen liegt ein Gewirr von Tauen und Segelleinewand, überall drücken sich Männer herum, es ist schmutzig und dürftig.

Am Morgen sieht es schon besser aus. Vor der kleinen Stadt liegt auf einem Hügel die alte Zitadelle – jetzt erholen sich dort skrofulöse Kinder. Ich klettere die Anhöhe hinauf. Ringmauer, Festungstor und dicke Wälle – dahinter bleiche Kindergesichter, dünne Ärmchen, ein kleines Mädchen auf Krücken. Sie zeigen mir den Hof und die ganze Befestigung. Sie warten, daß ich aus dem Hof hinausgehe – da gibt es doch nichts zu sehen. Ich kann mich nicht losreißen. Welches Wunder, immer wieder: Burg- und Klosterhof! Wie die Wände einschließen und zurückwerfen! Wie man immer wieder sich und seine Welt vor Augen hat! Wie geschlossen alles ist! Hier kann man nachdenken; hier ist man geborgen, hat Distanz zu den andern, die draußen sind und nicht hereinkommen dürfen. Oben leuchtet der Himmel in die Hofstille. Und ganz oben, auf der Plattform, wo die dicken Türme stehen, hat man einen Rundblick über Meer und Land. Drüben liegt Sainte-Maxime.

Das ist ein ander Ding. Durch die Berge vor dem Mistral sanft geschützt, sehr sauber und adrett und freundlich. Unten am Hafen ein kleiner Kai mit überdachten Gaststätten und Segelbooten, die im Wasser schwanken.

Auch hier ist noch Sommer, tagsüber strahlender, warmer, im Winde nadelduftender Sommer. Es ist wenig Laubwald da – der Wald liegt hoch – immer sieht man das Meer. Unten wohnt Victor Margueritte, der Mann der „Garçonne“ – wir erzählen uns etwas, und er zeigt mir sein ganzes Besitztum: vom Strand aus reichts bis oben zu einer kleinen Anhöhe, wo er sich ein winziges Belvedere, eine neue Ruine, gebaut hat. Ich bekomme Nußwein zu trinken, und seine Frau zeigt eine Übersetzung von Rilkes „Malte Laurids Brigge“, die sie zärtlich liebt. Er spricht über Deutschland. Auf seinem Arbeitstisch liegen die historischen Quellenwerke des deutschen Zusammenbruchs, Material für ein neues Buch, „Les Criminels“ wird das heißen. Er ist voll guten Glaubens, hofft zuversichtlich auf die deutsche Demokratie und zeigt sich als ein Mann von umfassender Bildung und Geschmack. Um ihn herum stehen und hängen gute Sachen: auch ein paar lustige bunte Bilder von Kießling, der im Sommer drüben in St. Tropez malt.

Heute ist Sonntag, es muß etwas geschehen. Es geschieht, daß ich unten am Quaiwasser in dem kleinen Restaurant esse. Die Sonne brennt auf das buntgestreifte Dach, die kleinen Hunde bellen herum und betteln, manche Leute sitzen an Tischen mitten auf dem freien Platz unter den Palmen, alle sind beim Kaffee, munter-träge. Manchmal fährt ein Automobil vorbei und lädt ein Rudel lärmender und lachender Menschen ab. Es ist so warm, beinahe heiß … Hautes-Sauternes ist ein schwerer Wein, wenn man ihn mittags trinkt. Man wird müde danach. Ans Klavier des Saales drinnen im Haus hat sich ein junger hübscher Bursch gesetzt, im gestreiften Hemd der Cowboys, mit aufgekrempelten Ärmeln. Er spielt nicht laut. Er spielt, was man weder von ihm noch hier erwarten sollte: ganz moderne Musik. Puccini wirkt in der Melange wie ein Gassenhauer. Er holt aus dem alten Restaurationskasten, auf dem nachmittags eine Jazzband rackert, die gleitenden Nuancen der neuen Musiker heraus, keine Melodie, kaum Ansätze dazu. Wie kompliziert diese Freude ist! Aber diese Musik ist wahrer als Waldesrauschen und Symphonieroutine. Die Töne plätschern über den kleinen Platz, ein paar Leute klatschen gedämpft. Der junge Mann lächelt und spielt weiter, für sich allein. Alles ist getaucht in Musik, Sonne und eine mittägliche Schläfrigkeit.

Sonnig sind die Tage und so schön – wie mag das in den Bergen aussehen?

Plan-la-Tour liegt ein paar Kilometer entfernt vom Meer – das ist der erste Ort, den ich durchwandere. Es ist Montag, gestern war Totensonntag, alle Arbeiter machen noch einen so, wie soll ich sagen, ergriffenen Eindruck. Die Wirtin hat auch kaum etwas zu essen, aber dreihunderttausend Fliegen und alle minderbemittelten Hunde des Dorfes zu Gast. Wir essen, Fliegen, Hunde und ich, essen alle eine Kleinigkeit, ich bezahle, und dann geht es in die Berge. Oben auf den Höhen läuft ein Weg, an dem noch gebaut wird. Erst ist er glatt und fahrbar, dann nur gangbar, dann wird er steinig und steiniger, holprig und mündet schließlich in die Holzpantinen der Arbeiter, die da hacken, man muß durch Geröll und Steinbrocken hindurch. Die Sonne sticht. Ich bleibe stehen und sehe mich um.

Da liegen die Täler. Menschenleer, kein Dorf ist zu sehen, manchmal ein Gehöft. Und endlich, endlich ist hier das, was ich so lange und so vergeblich gesucht habe: Stille. Hier ist es still. Die Uhr hört man ticken. Wohlig lassen die Nerven nach und entspannen sich. Welche Wohltat! Wie hatte neulich Willibald Krains kleiner Proletarierjunge im Walde der Ferienkolonie gesagt? „Ach, Frollein, hier riecht et so scheen – nach jahnischt!“ Glück, sagt schon der Weise, ist etwas Negatives. Vollkommene Stille ringsum. Und ich bin so glücklich-dankbar für das, was nicht da ist.

Und denke so im Weitergehen nach: Was haben sie mit uns in den letzten zehn Jahren gemacht! Wie zerrauft! Wie ausgeschlossen von aller Welt! Wie zerprügelt! Wie abgestumpft! Und wofür –? Alles, damit am Wannsee und in Dahlem neue Herren einziehen konnten, wahre Gewinner des Mordes, Plusmacher aus einem allgemeinen Defizit … Es ist nicht schön, zurückzublicken – aber vergessen ist so schwer. Und es ist sehr, sehr schwer, sich wieder in den Zustand des alten Glücks einzufühlen, wenn man einmal den Boden unter sich hat schwanken fühlen. Es ist da etwas geschehen, was nicht mehr ausgelöscht werden kann, für uns wenigstens nicht. Die Welt hat übrigens schon vergessen.

Sacht geht der Weg hinab. Und während ich so ausschreite, singe ich laut und kräftig unsere guten alten deutschen Marsch- und Wanderlieder, und die französischen Kiefern und Tannen bewegen erstaunt die Köpfe, haben sie doch noch nie so markige … Nein, das ist aus einem Leitfaden für einen Reichswehrunterricht. Oder aus einem republikanischen Lesebuch.

In La Garde-Freinet haben sie offenbar die ganze Stadt in Salz verzaubert. Die Fensterläden sind alle zugeklebt, die Straßen sind leer, meine Tritte klappen. Vor mir wackelt ein Hund, ein runder, fetter, mit langen Wollfäden bekleideter Hund, ein Prachtexemplar von einem Hund. Es ist ein älterer Herr, vom Leben gereift und zu gar keinen Späßen mehr aufgelegt. Er geht so fürbaß, dreht nicht einmal den Kopf, als ich ihm einen guten Tag wünsche. Er wünscht dergleichen nicht. Der würdige Greis stellt sich schließlich vor eine Haustür und bellt. Total heiser, um drei Töne zu tief und im letzten Winkel seiner Magengrube um irgend etwas tief gekränkt und schwer beleidigt. Dann rollt er ins Haus.

Bewohner hat diese Stadt nicht. Aber ein Automobil kann man mieten. Eine halbe Stunde später trudelt der alte Wagen (Ford Nummer 1) aus dem Städtchen, die glatte, absteigende Chaussee hinunter. Das Auto war redlich verdient: achtundzwanzig Kilometer sind genug für einen beleibten Herrn.

In Grimbaud hält der Mann. Es ist schon halb dunkel – aber man kann noch alles sehen. Ich klettere durch die winzig kleine Stadt, auf die Burg.

Das ist eine wahrhafte Ruine –! So eine, wie sie immer auf den Bildern in den alten Schweizer Hotels abgemalt ist, und vor denen man sich vergeblich fragt, wo in aller Welt denn solche pittoresken Ruinen vorkämen. Das ist sie. Ich stapfe in den Trümmern herum und sehe ins Tal. Unser Zeitalter liebt keine Ruinen. Heiße ich Herr Biedermeier –? Also. Aber hübsch ists doch.

Wir fahren ab, die Scheinwerfer sind schon angezündet. Immer, wenn uns ein anderer Wagen entgegenkommt, blinzeln sich die Autos an, beide Chauffeure blenden die Lichter ab, es ist wie ein Gruß im Dunkel. Durch die schwärzlich verhüllten Straßen rollt der Wagen. Ich bin müde.

(„Sagen Sie mal – apropos: Ich meine … so … mit den Weibern … Die Französinnen sollen ja dolle Nummern sein!“ Hm. „Erzählen Sie mal!“ Ja, also in Toulon, in einem … puschpuschpuschpusch … „Ah! Wirklich! Hat sie ganz einfach …? Großartig! Faaabelhaft!“ Das möchte Ihnen so passen, Sie altes Ferkel! Kein Wort wahr! „Schade. Man hörts doch immer wieder gern.“)

Über eine Bahnstrecke springen die Räder, eine weiße Frau taucht am Wege auf, mit einem Kinderwagen … dann bin ich zu Hause. Noch einen Tabak … Alle Sterne blitzen und der Mond auf dem Meer. Man sieht noch das regelmäßige verlöschende Blinkfeuer am Horizont und einen stillen weißstrahlenden Leuchtturm, milchigen Schein auf dem Wasser, Glitzern, den hauchigen Glanz am Himmel – dann gar nichts mehr.

Der Erbfeind

Wenn man durch die Straßen von Paris geht, so sieht man nicht selten ein merkwürdiges Bild:

Am Eingang eines Ladens sitzt ein Kätzchen und sonnt sich. Paris ist die Stadt der Katzen. Und zwei Schritt von ihr: ein riesiger Schlächterhund der daliegt, die Pfoten lang vor sich hingestreckt, stolz, ruhig, im Bewußtsein seiner Kraft. Um das Kätzchen kümmert er sich gar nicht. Das Kätzchen sieht auch ihn nicht an. Manchmal gehen sie aneinander vorbei, wie eben alte Bekannte aneinander vorbeigehen. Vielleicht begrüßen sie sich leise im Tier-Esperanto – aber sie beschnuppern sich nicht einmal. Katze und Hund – friedlich leben sie nebeneinander.

Als ich das zum erstenmal sah, glaubte ich an ein Wunder der Dressur. So sehr war ich, aus Deutschland kommend, geneigt, den Zustand des ewigen Zähnefletschens, Heulens, Fauchens und Bellens als den primären anzusehen. Aber als ich immer und immer wieder beobachtete, wie Hund und Katze hier einträchtig miteinander auskommen, da schien es mir doch anders zu sein.

Man kann also bei aller Verschiedenartigkeit des Wesens so friedlich nebeneinander leben, ohne sich Löcher ins Fell zu beißen –? Aber warum geht es? Warum geht es hier?

Weil man die kleinen Katzen von Jugend an, wenn sie noch nicht sehen können, mit den Hunden zusammensperrt. Weil man die kleinen Hunde zu den Katzen trudeln läßt, wenn sie noch alle in einem Wollknäuel und in einem Milchnapf die Welt sehen. Und niemand hetzt sie aufeinander, niemand findet Gefallen daran, daß „sein“ Hund schneller, kräftiger und männlicher ist als die Katze des andern. Niemand gerät in einen Tobsuchtsanfall, wenn er eine Katze sieht, die doch stets mit allen Mitteln – Stöcken, Steinen und Hunden – verjagt werden muß. „Kusch!“ und: „Such doch das Kätzchen! Wo ist die Katz – Katz – Katz?“ Denn es ist doch zu komisch, nicht wahr?, wenn ein Köter hinter der Katz her ist, und die springt auf einen Zaun und faucht von oben gebuckelt herunter. Ja, das ist eine Freude. Denn Zwist der andern, das ist immer schön.

Wenn man aber die Lebewesen von klein auf richtig erzieht, in dem einzig möglichen Stadium abfängt: wo das Gehirn noch weich ist, wo es noch Eindrücke und Lehren empfangen kann – wenn man ihnen dann den Frieden als eine Selbstverständlichkeit aufzeigt: dann geht es auch. Es geht sogar besser. Aber freilich: die unvernünftigen Tiere haben keine Fahnen, keine Stahlhelme, keine Telephongenerale, keine Pfaffen, die zum Schlachtfest die Ware segnen, daß sie gut faule; keine Privatdozenten, die den Krieg sittlich fundieren, und keine Heldenmütter, die ihre Kinder für das Schußfeld eines M.-G. aufziehen. Das haben die Tiere alles nicht.

Die Pariser Katzen und Hunde werden also mit Erfolg zum Frieden erzogen. Ein ererbter Friede. Und wann treten wir an die Menschen heran? Wenn sie reif, erwachsen, ernsthaft, hart und fast unempfänglich geworden sind – wenn sie die alten Kinderlehren fest in Fleisch und Blut haben. Und wer hat bei uns die Kinder?

Geschichtslehrer, die zum Kriege hetzen; Universitätsprofessoren, die zum Kriege hetzen; Kindergärtnerinnen, die zum Kriege hetzen; Fürsorgevorsteher, die zum Kriege hetzen. Und dann leben wir nachher mit aller Welt, und mit Frankreich insbesondere, im Streit – wie Hund und Katze. Nein, leider nicht wie diese Hunde und diese Katzen. Sondern wie Hyänen: wie Ludendorff und Léon Daudet.

Reiselektüre

Der neudeutsche Stil

„Ah – die Herren sprechen geistreich aus dem Munde?“
Käthe Erlholz

Leser mit einem ausrasierten Vollbart besinnen sich vielleicht auf Leo Berg, den ungewöhnlich gebildeten und begabten Kritiker aus dem Anfang des Jahrhunderts, der unter anderm einen grimmen Kampf mit Wilhelm Bölsche, dem Pächter des Liebeslebens in der Natur, geführt hat. Dem warf er rechtens neben der Verlogenheit seiner Embryonal- und Ei-Lyrik auch seinen Stil vor, oder vielmehr: natürlich seinen Stil vor, da ja eins aus dem andern, der Stil aus der Gesinnung hervorgegangen war. Beschäftigt man sich heute mit vergilbten Büchern und Tagesbroschüren des fin de siècle, so muten einen die Terminologie, das Vokabularium, die Ausdrucksweise unsäglich komisch an. Kunst bleibt. Mode von gestern ist lächerlich.

Manche ist schon heute von gestern. Da bekomme ich ein Buch zugeschickt: „Girlkultur“ von Fritz Giese; das Buch trägt den Untertitel: „Vergleiche zwischen amerikanischem und europäischem Rhythmus und Lebensgefühl.“ Der Verfasser, ein beachtenswerter, sauberer Schriftsteller, der gute Bücher geschrieben hat, so ein mustergültiges über Kinderpoesie, hat dieses Mal in einen bösen Topf mit Schleim gegriffen: in den modernen Literatenjargon.

Aber er ist einer von Hunderten. Nachdem ich mir die schönen und interessanten sechsundfünfzig Photographien angesehen habe, fange ich an zu lesen und erkenne einen Stil, der einer ganzen modischen Schule gemeinsam ist, und ich lese und lese und gebe es, erschöpft, dreiundreißigmal wieder auf und fange von neuem an und werde ohnmächtig hinausgestragen …

Und ich würde, schon des mir bekannten Autors wegen, schonungsvoll über dieses Malheur schweigen, wenn nicht fast alle so schrieben, in Zeitungen, Büchern und Zeitschriften; wenn es nicht eine verdammte Unsitte wäre, solche überfütterten Sätze auch noch zu sprechen; wenn nicht dieser Stil Allgemeingut wäre, so aufgequollen, so übermästet, mit solchen Stopflebern im Hals. Vom Clown Edschmid wollen wir gar nicht reden. „Von einer Unanständigkeit und einer Wiederbelebung mittelalterlicher Dichtheit und Kompaktheit der Formung, die an Squenz und Straparola erinnert, und die ich in der Fülle der Muskulatur der Phantasie heutigen Deutschen nicht zugetraut.“ Soweit über einen Sechserhumoristen; aber das ist noch gar nichts. Die ganze Klasse mauschelt schon.

Die Kennzeichen des neudeutschen Stils sind: innere Unwahrhaftigkeit; Überladung mit überflüssigen Fremdwörtern, vor denen der ärgste Purist recht behält; ausgiebige Verwendung von Modewörtern; die grauenhafte Unsitte, sich mit Klammern (als könne mans vor Einfällen gar nicht aushalten) und Gedankenstrichen dauernd selber – bevor es ein anderer tut – zu unterbrechen, und so (beiläufig) andere Leute zu kopieren und dem Leser – mag er sich doch daran gewöhnen! – die größte Qual zu bereiten; Aufplusterung der einfachsten Gedanken zu einer wunderkindhaften und gequollenen Form.

Im Anfang war das Problem. Was mit diesem Wort in Deutschland zur Zeit für ein Unfug getrieben wird, spottet jeder Beschreibung, die wahrheitsgetreu angeben müßte, daß dieser verblasene Ausdruck nun zum Glück auf die gebildeten Köchinnen heruntergekommen ist. Eine illustrierte sozialdemokratische Zeitschrift beschrieb neulich in Bildern, wie junge Lehrer in einem Heim ausgebildet werden. Photographie: die jungen Leute unterhalten sich, Butterbrot essend, vor der Tür. Unterschrift: Pausenprobleme. „Na jewiß doch“, sagt Hauptmanns Schiffer Julian Wolff. „Da soll er man immer machen, det er hinkommt –!“

Der gesamte neudeutsche Stil wimmelt von „Problemen“. Das ist ein Modewort genau wie: Einstellung, Symptom, gekonnt, Absenkung, Überbau – was diese beiden bedeuten, ahne ich nicht – und: irgendwie … Dieses „irgendwie“ heißt überhaupt nichts; man kann es einfach weglassen, ohne daß sich der Sinn des Satzes ändert, es drückt nur die Schludrigkeit des Autors aus, der zu faul war, scharf zu formulieren.

Die Wandervögel, die Kunsthistoriker, die Tanzphilosophen, die Nationalökonomen verfügen jeweils über einen schönen Vokabelschatz von Modewörtern, die man, ohne Unheil anzurichten, beliebig durcheinanderwerfen kann. Kaum ein Gedanke wird durchgeführt, ohne daß der gebildete Autor drei andere einschiebt. Alles wird angeschlagen, nichts wird zu Ende gedacht, die „Komplexe“ häufen sich, und wie verdeckte Bleikessel werden Begriffe, Personen, Anspielungen herumgereicht. Man höre sich das an: „Wir haben niemals Optimismus kultiviert. Niemals kannten wir jene Einstellung, die das Lachen will.“ Und: „Dieses Lachen ist eine Haltungsweise, die zwei andere Möglichkeiten differenzieren läßt.“ Heiliger Simmel! Man kann gewiß nicht alles simpel sagen, aber man kann es einfach sagen. Und tut man es nicht, so ist das ein Zeichen, daß die Denkarbeit noch nicht beendet war. Es gibt nur sehr, sehr wenige Dinge in der Welt, die sich der glasklaren Darstellung entziehen. Hier ist Schwulst Vorwand. Mensch, sag Problem –!

Und hast du es gesagt: dann laß den Artikel weg. Sag nicht: „Die Auswanderung ließ nach.“ Wo kämen wir da hin! Sag: „Emigration ist ein völkergeschichtliches Problem, dessen Diminution zu dieser Epoche ein beachtliches Phänomen darstellt.“ Und sag immer dazu, in welche Wissenschaft das gehört, was du gerade erzählst, sag: „Wir haben also zwei rhythmische Erlebnisse heute, und es fragt sich dann nur rein erzieherisch, ob wir …“ Haben Sie sich schon mal rein erzieherisch gefragt? Ich nicht.

Der Ursprung dieser dritten schlesischen Dichterschule fällt ungefähr in die Zeit des Krieges. War damals ein „Exposé“ zu verfertigen, so hatte der reklamierte Reservehauptmann das größte Interesse daran, seinen Pflichtenkreis so weit wie möglich zu schlagen, und wenn er Bohnen anforderte, sprach er bombastisch wie ein Narr von Shakespeare. Statt daß die Literatur den gesunden Menschenverstand der Kaufleute annahm, wurden die Schleichhändler zu Philosophen, und es gibt heute in Deutschland kaum einen längern Geschäftsbrief, worin nicht eingestellt und tendiert und symptomatisiert wird. Es ist einfach eine Modesache; wer früher von Blauveiglein sang, der sagt heute: „Die Elemente unserer naiven Menschenvorstellung sind in dieser Kunst zu Gebilden einer höhern Organisationsstufe umgewandelt.“ Früher Baumbach – heute: „Geistige Ebene der Tiefenschicht.“ Dieser Stil läuft von ganz allein; man braucht nur einige dieser abstrakten Begriffe aufs Rad zu setzen, und das Rennen geht vor sich. Und alle diese Rennbrüder zusammen fallen wohl unter die Erklärung Knut Hamsums:

„Die Literatur schwoll an. Sie popularisierte die Wissenschaft, behandelte die sozialen Fragen, reformierte die Institutionen. Auf dem Theater konnte man Doktor Ranks Rücken und Oswalds Gehirn dramatisiert sehen, und in den Romanen war noch freierer Spielraum, Spielraum sogar für Diskussionen über fehlerhafte Bibelübersetzung. Die Dichter wurden Leute mit Ansichten über alles; die Menschen fragten sich untereinander, was wohl die Dichter über die Evolutionstheorie dächten, was Zola über die Erblichkeitsgesetze herausgefunden, was Strindberg in der Chemie entdeckt habe. Daraus ergab sich, daß die Dichter zu einem Platz im Leben aufrückten, wie sie ihn nie vorher innegehabt hatten. Sie wurden Lehrer des Volkes, sie wußten und lehrten alles. Die Journalisten interviewten sie über den ewigen Frieden, über Religion und Weltpolitik, und sobald einmal in einer ausländischen Zeitung eine Notiz über sie stand, druckten die heimischen Blätter sie sofort ab, zum Beweis, was ihre Dichter für Kerle wären. Schließlich mußte ja den Leuten die Vorstellung beigebracht werden, daß ihre Dichter Weltbezwinger seien, sie griffen übermächtig in das Geistesleben der Zeit ein, sie brachten ganze Völkerschaften zum Grübeln. Diese tägliche Prahlerei mußte natürlich zuletzt auf Männer, die schon vorher Hang zur Pose gehabt hatten, wirken. Du bist ja ein wahrer Teufelskerl geworden! sagten sie wohl auch zu sich selbst. Es steht in allen Blättern, und alle Welt sagt es, also ist es wohl so! Und da die Völker niemand andern dazu hatten, so wurden die Dichter auch Denker, und sie nahmen den Platz ein, ohne Widerspruch, ohne ein Lächeln. Sie hatten vielleicht so viel philosophische Kenntnisse, wie jeder notdürftig gebildete Mensch hat, und mit dieser Grundlage stellten sie sich also auf ein Bein, runzelten die Stirn und verkündeten dem Zeitalter Philosophie.“

Und in welcher Form! Geschwollen, stuckbeklebt, behängt von oben bis unten. Giese, der übrigens nicht alle herangezogenen Beispiele verschuldet hat: „Als soziologisches Kräfteverhältnis erinnert Amerika etwas an deutsches Mittelalter.“ Daß nicht die Küchen beider Länder und Epochen verglichen werden sollen, geht aus dem Buch klar hervor. Die Worte „als soziologisches Kräfteverhältnis“ sind also nichts als gespreizte Wichtigmacherei.

Führt man das verdreht gewordene Vokabular der Essayisten auf seine Elemente zurück, so bleiben etwa hundertunddrei Vorstellungen, die immer wiederkehren, immer wieder: Rhythmus und Genius und Typus und Apperzeption und Freud und falsch verstandene Salonhistorie und ein Spiel mit halbem Wissen, das verlogen ist bis in seine Grundtiefen. Begabte Oberprimaner. Und sie sehen es noch nicht einmal, was sie da anrichten! „Man wird der geistigen Jugend von heute einmal alles Mögliche absprechen können, man wird ihr jedoch zubilligen müssen, daß sie schärfer als je eine frühere auf phrasenlose Wahrheit drang, und daß sie an nichts so wenig zu wünschen übrig ließ wie an Wirklichkeitssinn.“ Der sieht so aus: „Wahrheit ist an sich Zielhaftes. Wir gehen unter dem Zügelband des Gewissens nicht in voller intellektueller Freiheit auf sie zu. Der, der die Wirklichkeit liebt, bleibt dagegen am Ort. Er hat nur die Funktion der Erkenntnis. Sein äußerstes Los ist das des gebärenden Gestalters: nämlich aus dem empfangenden Schauenden Nachschöpfer des Hingenommenen, Sichtbarmacher und Sinnlichträger der erfaßten herrenhaften Substanz der Weltenbilder zu werden.“

Also spricht der Weise:

„Statt auf jede Weise berühmt zu seyn, seinem Leser deutlich zu werden, scheint er ihm oft neckend zuzurufen: ‚Gelt, du kannst nicht rathen, was ich mir dabei denke!‘ Wenn nun jener, statt zu antworten: ‚Darum werd’ ich mich den Teufel scheeren‘ und das Buch wegzuwerfen, sich vergeblich daran abmüht, so denkt er am Ende, es müsse doch etwas Höchstgescheutes, nämlich sogar seine Fassungskraft Übersteigendes seyn und nennt nun, mit hohen Augenbrauen, seinen Autor einen tiefsinnigen Denker.“ Und: „Nun, da wird die arg- und urtheilslose Jugend auch solches Zeug verehren, wird eben denken, in solchem Abrakadabra müsse ja wohl die Philosophie bestehn, und wird davongehen mit einem gelehrten Kopf, in welchem fortan bloße Worte für Gedanken gelten, mithin auf immer unfähig, wirkliche Gedanken hervorzubringen, also kastriert am Geiste.“ Sowie: „Als einen belustigenden Charakterzug des Philosophierens dieser Gewerbsleute habe ich schon oben bei Gelegenheit der ‚synthetischen Apperzeption‘ gezeigt, daß, obwohl sie Kants Philosophie, als ihnen sehr unbequem, zudem viel zu ernsthaft, nicht gebrauchen, auch solche nicht mehr recht verstehen können, sie dennoch gern, um ihrem Geschwätze einen wissenschaftlichen Anstrich zu geben, mit Ausdrücken aus derselben um sich werfen, ungefähr wie die Kinder mit des Papas Hut, Stock und Degen spielen.“

Sich auch noch etwas auf seine Fehler einzubilden –! Giese zum Beispiel spricht von deutschen Professoren, die nach Amerika gegangen sind. „Es ist amüsant zu sehen, wie oft in diesen Professorenbüchern, etwa bei Behandlung des Lohnproblems, der Achtstundenarbeitszeit, schüchterne Fragen und Andeutungen erfolgen, die über die Zahl, über das Formale hinausgehen wollen.“ Ich weiß nicht, auf wen das zielt. Wenn er aber den Professor Julius Hirsch meint, der neulich „Das amerikanische Wirtschaftswunder“ hat erscheinen lassen, dann gehört ihm eins auf die Finger. Es ist gar nicht amüsant zu sehen, mit welcher Überheblichkeit ein Fremdwörterlexikon einen so kenntnisreichen, vernünftigen und klaren Mann abzutun versucht. Gebe Gott, Giese, auch Ihr Buch hätte erzieherisch-stilistisch irgendwie diese hochwertigen Tendenzqualitäten …

Das Modedeutsch der Wiener und Berliner Schmalzküchen mit den frech hingenuschelten „Nebenbeis“ und der Bildungsmayonnaise, diese künstlich hochgetriebene Hefebildung, dieser neudeutsche Stil hat wie eine Seuche um sich gegriffen. Jeder Barbier spricht von „kulturbedingter Motorik der Neger“, und man wird nicht glauben, wie komisch dergleichen im Jahre 1940 aussehen wird. Aber da wird es ja auch niemand mehr lesen.

Wer ist in Deutschland heute einfach? Die Schafsköpfe. Rudolf Herzog. Die treudeutschen Oberförster. Wenn sie nicht den schrecklichsten der Schrecken vollführen: die germanische Nachahmung romanischer Beweglichkeit. Aber ist es nicht eine Schande, daß die andern „simpel“ und „einfach“ verwechseln? Sie denken im Grunde nicht komplizierter als du und ich. Doch diese Knaben haben Nietzsche gelesen und falsch gelesen, und Simmel verdaut, aber halb verdaut, und Spengler ausgelacht und sich angesteckt.

Kommt hinzu, daß jeder ein Fachmann für jedes sein will, daß keiner ums Verrecken zugeben möchte, er verstehe etwa von einer Sache nichts; kommt dazu, daß sie, analog ihren Vorfahren, den wallenden Oberlehrern, in das Leben Papiermühlen voll „rhythmischer Typen“ hineininterpretieren, mit denen sie sich wichtig machen wollen: so darf gesagt werden, daß der neudeutsche Stil ein wahrer Ausdruck der nachwilhelminischen Epoche ist. Preußisches Barock.

Ich habe oft genug zum Spaß versucht, für französische Freunde dies oder jenes aus solcher Literatur ins Französische zu übersetzen, und daß es mir nicht gelungen ist, liegt sicherlich auch an mir. Aber meistens fehlte es mir nicht am Französischen, sondern an Verständnis für dieses Rackerlatein. Und dabei kommt man nicht nur zu der Erkenntnis, daß: „Was steckt an Kulturgut in ihr? Was ist bedingt daran durch ein Anderssein als wir“ – daß es dergleichen im Französischen nicht gibt: man entdeckt auch rasch etwas anderes. Daß es das überhaupt nicht gibt. Und nun will ich euch einmal etwas sagen.

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Als sich Emil Jannings eines Winters im Harz erholte, da saß im Hotel bei den Mahlzeiten ein pikfeines Paar: er klein und dick, aber gescheitelt vom Kopf bis zur Sohle, sie so elegant, wie sich Frau Potzekuchen Paris vorstellt. Sie sprachen wenig, hauchten nur hier und da ein paar Worte. So fein waren sie.

Und eines schönen Schneetages, als Emil gerade im Gelände umherschlenderte, da sah er sie kommen, ohne von ihnen bemerkt zu werden. Er stellte sich hinter vier Fichten, machte sich dünn, Schauspieler können alles, und wartete ab. Das Paar stapfte heran: sie voran, in hochelegantem Sweater – gute Ware! – und er hinterher, klein und dick. Und da hörte Emil zum erstenmal während seines Aufenthalts das feine Paar laut sprechen.

Sie wandte den Kopf halb herum und sagte das erlösende Wort, eines, das der ganzen Qual eines gedrückten Herzens Luft machte: „Wenn ich bloß dein dämliches Gequatsche nicht mehr anzuhören brauchte –!“

Gott segne den neudeutschen Stil.

Sehnsucht nach der Bakerstreet

Der Kriminalroman ist dahin. Wir haben jetzt Kriminalfilms, und Kriminalschauspiele waren schon immer da. Aber der gute alte Holmes zieht nicht mehr. Und er fehlt uns, ach, so sehr.

Brüder in Apoll! Sagt doch ehrlich: saßet ihr nicht gleich mir vor Gemütlichkeit zusammenschaudernd in der Bakerstreet beim Holmes, wo alsbald durch das Unwetter das Rollen einer Droschke hörbar wurde oder der Klingelzug eines Hilfsbedürftigen? „Watson,“ sagte Holmes dann jedesmal, „wenn mich nicht alles täuscht, so kommt dort ein junger lungenkranker Matrose vom dritten Regiment in Davonshire und hat uns etwas zu sagen.“ Und richtig – er kam.

Ihr wißt alle, wie es weiterging. Der „Fall“; die Vorgeschichte, die langsam heraussickerte; die ersten Anzeichen der Entdeckung – war es nicht schön, wenn Holmes morgens zum Frühstück nicht erschien, sondern uns erst gegen elf Uhr in einem Matrosenanzug erschreckte, aber dafür auch einen kleinen Pfeifenstummel gefunden hatte, der seinesgleichen suchte?

Es war schön.

Auch das hat nun der Film gemordet. Da sehen die Wohnungen der Detektivs immer anders aus; wir kommen nicht dazu, uns auch nur in einer wohlzufühlen. Bei Holms kannten wir jedes Eckchen, wußten, daß er es liebte, ein wenig unordentlich zu sein, und kannten seine gefährliche Kokainleidenschaft.

Dahin, dahin. Und statt abends bei der Bettlampe den anspruchslosen Sherlok zu lesen, der bereits anfing, Tradition anzunehmen, muß ich mich mit prätentiösem Kitsch abplagen, der mir noch einreden will, er sei etwas – mit … Aber ich sehe keinen an.

Rezept des Feuilletonisten

Fürs erste: Protze. Du mußt protzen mit allem, was es gibt, und mit allem, was es nicht gibt: mit Landschaften, Frauen, Getränken, teuern Sachen aller Kaliber, noch einmal mit Frauen, mit Autos, Briefen, Reisen und der Kraft der andern, die du müde kennst. Es ist eine eigene Art der Lüge; Franz Blei hat sie, wie so vieles, einmal mit seiner leichtesten Grazie geschildert, in den drei „Briefen an einen jungen Mann“. Da steht: „Ich sagte Ihnen schon: nie lügen. Immer nur so tun. Ihre Rede muß immer sein, daß der Zuhörer das für Sie Angenehmste mit Ihrer leicht nickenden Nachhilfe heraushören kann, aber auf seine Kosten und Gefahr. Sie müssen leichten Herzens in der schwierigsten Situation fragen können: Habe ich jemals gesagt, daß …?“

Nein, der Feuilletonist hat niemals gesagt, daß … Aber er hat den Anschein erwecken wollen, als habe er es gesagt. Immer liegt unter seinen Worten ein leichtes Geheimnis, so, nach der Melodie: Es ist zu privat, als daß ich es hier erzählen könnte – und der Leser denkt dann, wenn er dumm ist, prompt an Schlösser, englische Tänzerinnen, Lustjachten, buschumrauschte Gartenplätze, verschwiegene Bars edschmiedcetera pp. Man muß es nur geschickt machen. Etwa so:

„Man legt müde den weißen Bademantel“ – (man! man ist wichtig!) – „den weißen Bademantel ab, winkt dem groom, er solle einmal zum bar-keeper herübergehen, ob jenes gewisse Pumamädchen geschrieben habe. Der Himmel blickt kopenhagenblau durchs Milchfenster – eine leuchtende Erinnerung an Heluan. (Wo aber die Korbstühle weicher und die Frauen härter sind.) Draußen bellen die Hunde. Nicht so sanft wie die in Algerien – nicht so glockentief wie die in Calasat, wo man, träge an der Donau entlanglümmelnd, Serbiens Ufer grüßte. Die bani saßen locker damals … Man wird morgen auf einem Kongreß sprechen, übermorgen den Bericht absenden, in drei Tagen den goldenen Schoß der großen Tänzerin segnend grüßen …“

Preußen phantasiert. Denn wenn du näher hinsiehst, ist er injeladen, nicht uffjefordert, das Ganze spielt zwischen Koblenz und Köln, es soll der Sänger mit dem Kommerzienrate gehen – und jede kleine Reisebeschreibung des graziösen Herrn Sling ist ehrlicher, anständiger und reizvoller als der Talmikram dieser modernen Reisejungens.

Die letzte Seite

Mein Beruf – ich bin Zweiter Leuchtturmwächter auf der kleinen Ostseeinsel Achnoe, und die Nächte sind lang – mein Beruf zwingt mich, viel und ausgiebig zu lesen. Um neue Bücher ist mir nicht bange – die bekomme ich von meinem Freund, Herrn Andreas Portrykus, dem Nachtredakteur des „Strahlförder Generalanzeigers“ (mit Unfallversicherung). Er schenkt mir alle Rezensionsexemplare, und so lese ich Nacht für Nacht, alles durcheinander: Romane und Reisebeschreibungen und zarte, sinnige Geschichten aus edler Frauenhand, und was man eben so liest.

Und wenn der Wind an die dicken Scheiben stößt, wenn mein Burgunderpunsch auf dem Tisch dampft, der bräunliche Tabak knastert und ich alter Mann wieder einmal froh bin, diesen Posten ergattert zu haben –: dann kommt es wohl vor, daß ich aus Zerstreutheit und guter Laune die Bücher von hinten zu lesen beginne, so, wie man aus einem Kuchen sich zuerst die Rosinen herausknabbert. Und da bin ich zu der Entdeckung gekommen, daß die Schlüsse all der vielen Bücher sich deutlich nach verschiedenen Arten gruppieren lassen. Es gibt Normalschlüsse, die immer wiederkehren: der Autor mag vom Mond heruntergefallen sein, am Schlusse besinnt er sich doch auf sein edles Menschentum und redet deutsch.

Heute nacht habe ich wieder vier Pfund Bücher gelesen – mir ist noch manches im Gedächtnis. Ich will es einmal versuchen.

Der Unterhaltungsroman, der Erfolg hat

„ … Gefühlt habe ich es schon lange“, flüsterte Helene. „Aber du hast es mir erst ins Bewußtsein gebracht. Jetzt beginne ich erst wirklich zu leben.“ – Edgar zog sie an sich …

So verrannen ihnen die Stunden, ohne daß sie es merkten. Dann schritten sie miteinander über das abendlich dämmernde Feld, auf dem sich der würzige Geruch der jungen Kartoffeln mit dem süßen Duft der Rosen mischte.

Edgar Helmenberg führte seine junge Braut in das Haus auf dem Hügel. Der Mond ging auf. Er ergriff ihre Hand. „Siehst du den Mond?“ sagte er stark. „Ich aber will dir die Sonne geben!“ – Und gebannt flüsterte sie: „Die Sonne!“ –

Der Unterhaltungsroman, der keinen Erfolg hat

Es war alles aus. Kuno stand an den Scherben seines bescheidenen Glücks. Warum ihm das Unglück? Warum gerade ihm? Und die anderen? Ingrimmig ballte er die Fäuste – und ließ dann doch die Hände wieder sinken.

Da zogen sie hin; wie sie gelacht hatte, seine – ja seine! – Gertrud. Herr Doktor Holtzenheimer aber hatte Geld und war ein flotter Kerl …

Die lange Liebe, die Werbungen so vieler Jahre – alles vergebens. Da brach er weinend zusammen und zerknickte die Rose in seiner Tasche …

Professorale Reisebeschreibung

So endet diese meine schöne und lehrreiche Reise in das Sonnenland Ägypten. Sie hat mir viel Neues gezeigt und meinen Wissenskreis erweitert. Sie hat mir aber auch bewiesen, wie heutzutage der Deutsche überall wohlgelitten ist, wenn er nur seinen Platz an der Sonne verteidigt. Möge das Büchlein seinen Lesern Unterhaltung und anregende Belehrung gewähren, damit auch sie dereinst hinausziehen in das altehrwürdige Land des Nils und der Könige Ramses und Ramsenit!

Bemerkt mag noch werden, daß der auf Seite 154 erwähnte mittlere Fliegenpilz auch in Deutschland beobachtet worden ist. So hat nach einer Mitteilung Schaedlers im „Geographischen Wochenblatt“ ein Lehrer in Meißen einen solchen gefunden und auch bestimmt.

Die Moderne um 1900

„Seele“, flüsterte er. Dann knallte ein Schuß. Die aufgeschreckten Hausbewohner liefen durcheinander – – Schutzleute bahnten sich einen Weg durch die Menge. Der Mann im Hausflur war tot. Sein Blut sickerte durch den linken Ärmel auf den hellblau und grünlich karrierten Steinfliesboden und verrann in Rinseln in den staubigen Fugen …

Altes Buch

„Möge euch“, so schloß der Geistliche seine alle Anwesenden aufs tiefste ergreifende Rede, „der liebe Gott den Bund segnen, den zwei so mächtige Familien miteinander durch ihre Kinder geschlossen haben!“ –

Was soll ich noch viel erzählen? – Eduard und Kunigunde wurden ein glückliches, aber kinderreiches Paar; der alte Hader war begraben und vergessen. Draußen aber pfeift der Wächter schon die zwölfte Stunde, laß mich das Licht löschen, geneigter Leser! Gute Nacht! –

Das richtige Jungensbuch

(Die Lagerfeuer in Kalifornien)

„Schurke!“ knirschte der Mestize. Ein Messer blitzte in seiner Hand – aber mit einem gewaltigen Schlage streckte ihn der alte Trapper nieder. Ein kurzes Röcheln – dann war alles vorbei.

Der alte Trapper geleitete die Karawane noch in die nächste große Stadt S., dann begab er sich wieder in seine Einöde zurück. „Einen Dank brauche ich nicht“, sagte er. „Ich habe nur getan, was rechtens war.“

Franz und Fräulein Armstrong, die Erbin des Goldfundes, wurden ein Paar und lebten glücklich und zufrieden.

Der Kellner Fritz bekam eine zuträgliche Stellung in San Francisco, die er heute noch innehat.

Von dem hinterhältigen Don Pedro hat kein Mensch mehr etwas gehört. Er blieb verschollen.

Der alte Indianer Hefrakorn aber erhielt das Gnadenbrot bei Krafts. Franz Kraft ist ein alter Mann geworden, und Kinder und Enkel umspielen seine Knie. Wenn er aber mit seiner immer noch schönen Frau, seinen Kindern und dem alten Indianer um den runden Tisch zusammensitzt, dann gedenken sie wohl noch oft der

„Lagerfeuer in Kalifornien“.

*

Ja, wird stets der geneigte Leser nun sagen: Das ist ja alles sehr schön und nett – aber wie soll denn ein Buchschluß nun sein? Diese gefallen doch dem Herrn Leuchtturmwächter alle nicht …

Ich muß sagen, daß ich in meiner jetzt zwanzigjährigen Dienstzeit nur einmal einen wirklich guten, ehrlichen und motivierten Buchschluß gefunden habe. Er fand sich in einem Gedichtbüchlein „Frühlingsstimmen“ von Herrn Hugo Taubensee. Der Mann war – wie man aus dem beigehefteten Porträt sehen konnte – Postschaffner, aber auch Dichter, eine der so häufigen Verbindungen von Geschäftsmann und Romantiker. Der Verleger war nur Geschäftsmann.

Diese „Frühlingsstimmen“ klangen folgendermaßen aus:

„Mitteilung an den Leser!

Die gesammelten Gedichte des Verfassers gehen in Wirklichkeit noch weiter. Weil ich aber nicht in der bemittelten Lage bin, weiteres Papier und auch die Druckkosten anzuschaffen, so sehe ich mich gezwungen, die Gedichte hier abzubrechen. Ich will aber, wenn der Absatz dieses Büchleins ein entsprechender ist, die ‚Frühlingsstimmen‘ gern fortsetzen. Die Leser handeln also im eigenen Interesse, wenn sie das Buch fleißig kaufen und weiterempfehlen!“

Das heiß ich einen Schluß! Von jetzt an werde ich mich mehr den Anfängen zuwenden.

Interview

Ich sage: „Sagen Sie mal,“ sage ich, „was schreiben Sie denn jetzt so –?“

„I,“ sagt er, „wir schreiben doch heute nicht mehr“, sagt er.

„So?“ sage ich, „Sie schreiben nicht mehr? Wie kommt denn das?“

„Sehn Sie mal,“ sagt er, „das ist so:

Wo die andern schon alles geschrieben haben – wozu sollen wir nochmal? Was Neues erfinden wollen wir nicht, weil wir nicht wollen – und da arbeiten wir um, ja. Da haben sie ‚L’Aiglon‘ geschrieben – das machen wir nochmal; da ist der ‚Kean‘ – den schreiben wir auch – einrichten nennt man diß. Nächstens werden wir einen Faust und einen Hamlet und einen Fuhrmann Henschel schreiben … ja.“

„Aha“, sagte ich.

„Ja!“ sagt er. „Wir sind die Reclam-Dichter“, sagt er. „Und denn,“ sagt er, „das enthebt uns sozusagen von aller Erfindung.“

„So –“, sage ich.

„Allemal“, sagt er. „Wollen Sie mir vielleicht sagen,“ sagt er, „wozu die gute Königin Luise gelebt hat? Die hat gelebt, damit Herr Berger aus Frankfurt ihr Schicksal gestalten kann“, sagt er. „Wenn die gute Königin Luise auch aus Frankfurt wäre, hätt er das valleicht nicht getan,“ sagt er, „aber so –. Und dann haben wir den großen Preußenkönig – von dem schneiden wir die Romäne man bloß immer so runter“, sagt er. „Der Mann war ja so interessant! Der Mann hatte ja solch ein Herz für sein Volk! Und für seine Leiden! Und für die Blasenleiden seiner Kammerdiener –! Ja. Na, und denn Joethe! Kenn Sie Joethen? Sie, da kommt keiner mit – so’n Stoff ist der Mann! Und Schiller? Kenn Sie Schillern? Das arme Luder hat Walter von Molon nicht mehr erlebt – sonst hätt er einen dreibändigen Roman aus ihm gemacht. Eine Tirolojieh nennt man diß. Ich sage Ihnen das eine“, sagt er. „Wenn Sie schlau sind, dann stellen Sie man immer eine markige Gestalt aus dem Konservationslexikon auf die Beine, das sind schon zwei Akte, jedes Bein einer. Und dann stellen Sie noch eine Gestalt auf die Beine – das sind wieder zwei Akte, macht vier Akte. Und denn lassen Sie die beiden Persönlichkeiten miteinander reden, das sind schon fünf Akte, und wenn Sie eenen vajessen ham, denn sahrn Sie: dichterische Freiheit. So macht diß Robert Neumann und Alfred Neumann und Hansjörg Neumann – so machen das alle unsre Neuleute. Ja.“

„Aha!“ sage ich.

„Ja“, sagt er. „So macht man diß, wenn man Grips hat. Das Publikum“, sagt er, „hat Respekt vor seiner eignen Bildung“, sagt er. „Da kann Ihnen gar nichts passieren. Sehen Se mal, früher: Pippa, Ophelia, der olle Moor, der junge Carlos – wat denn? wat denn?“ sagt er. „Man muß die Leute mit seine Phantasmajohrjen nich irre machen. Künstlerische Wirklichkeit, Herr!“ sagt er.

„Hindenburg?“ sage ich.

„Zu nah“, sagt er. „Es steht uns nicht an, die lebende Größe zu beleuchten“, sagt er. „Nee: Wolfjang von Gneisenau! Hermann der Cherusker! Michel Anschelow“, sagt er. „Nappolium, das pathetische Aast. Zeppedäus von Ziethen; Rinnesanx; der olle Pappenheimer – Geschichte, Herr! Historie! Bildung! Bildung!“

„So is diß!“ sage ich.

„Ja“, sagt er. „Es bringt die Bedeutung der verflossenen Vergangenheit dem deutschen Volke nahe“, sagt er. „Was meinen Sie, wie viele Judenjungs heute in fremde Reiterstiebeln rumjehn! Die Geschichte ist die Mutter aller Dinge. Und denn,“ sagt er, „es ist auch leichter. Dies ist die Wiedergeburt des deutschen Dramas.“

„Na, denn hatchö!“ sage ich.

„Einen deutschen guten Tag“, sagt er.

„Sie mir auch!“ sage ich. Aber da war ich schon draußen.

Büchertisch

Wie alljährlich, so breiten wir auch heuer für unsere Leser die Gaben der deutschen Literatur auf den Weihnachtstisch aus, damit jeder sich für die kerzenflimmernde Tanne das aussuchen möge, was ihm besonders am Herzen liegt. „Wer vieles bringt, wird manchem etwas bringen“, denken wir mit Oskar A. H. Schiller, und ist doch ein gutes deutsches Buch wie kein anderes geschaffen, ja bestimmt, neben dem nervenstärkenden Fußball und der Gesundheitswäsche auf dem Gabentische zu prangen. Wohlan –!

Da liegt uns zunächst Walter von Molos „Pankraz Lausebums“ vor. Molo, der offenbar in seine dritte Schaffensperiode hineingetreten ist, hat uns hier sein Bestes, wo nicht Allerbestes gegeben. Der Leser lasse sich durch den Titel nicht irreführen: hier ist kein „Roman“ in der landläufigen Bedeutung des Wortes, eine lesbare, amüsante Unterhaltungslektüre – hier ist, wie sich das für einen deutschen Roman gehört, ein Problem aufgerollt. Das Problem dieses zähen Werks ist die Durchschauung der kosmischen Kultur schlechthin, im Wirbel der Folgehaftigkeit ihrer Geisteskonflikte – wahrlich: eine alle Heutigen tief bewegende Frage! „Jeder ist Partner, in allen Räumen des Seins!“ – das lehrt uns dieser groß angelegte Roman, mit seinen spiralhaft empfundenen Typen, unter denen ein Verehrer Friedrichs des Zweiten ganz besonders gelungen sein dürfte. Niemand kann an diesem Roman vorbeigehen – er wird es immer aufs neue tun.

Dem zunächst steht Max Schelers „Persönlichkeitsrhythmus und Kulturgenius“ (nicht wie in der vorigen Nummer irrtümlich angegeben: „Kulturrhythmus und Persönlichkeitsgenius“). Das Buch dieses tiefsten Kopfes unter der heutigen Philosophengeneration zeigt eine klare Einstellung zu den Dingen der Zeit: Scheler legt endlich den Unterschied zwischen dem Sein als solchen und dem Sein in Hegelscher Auffassung klar dar – und wir wüßten nicht, was uns im Augenblick nöter täte. Die Haltung dieses echt deutschen Mannes im Krieg ist uns allen unvergessen – er setzt sie würdig fort.

Den Kriegsgeschichtler wird besonders „Zwischen Château d’Auve und Chemin des Embusqués“ von Generalmajor Rudolf Marsch interessieren. Marsch weist hier überzeugend nach, daß die O.H.L. im Jahre 1917 nicht, wie bisher allgemein angenommen wurde, den linken Flügel südlich Verdun zurückgenommen hat, sondern daß sie ihn nicht zurückgenommen hat – eine strategische Feststellung, die ein ganz neues Licht auf die Kriegsforschung zu werfen geeignet ist. Wenn die ausländische Propaganda ein klares Bild des deutschen Militärs haben will, so kann sie das am Marsch feststellen.

Mit besonderer Freude weisen wir auf Sven Fleurons „Sudebambel, Erlebnisse eines Mistkäfers“ hin (bei Eugen Titerich, Gena). Die Kraft, mit der sich hier ein echter Dichter in das Seelenleben dieses mit Unrecht verachteten Tieres eingelebt hat, zeigt so recht, daß das germanische Tierbuch hoch über allen anderen steht. Nicht zu Unrecht sagt schon Hermann Löns in seinem Buch „Der Gewehrwolf“ sowie Gorch Fock in „Erhöhung des Marineetats tut not!“ – beide sagen fast übereinstimmend: „Die deutsche Seele flüchtet sich gern aus der harten Wirklichkeit des rauhen Alltags in das Paradies der Tiere.“ Im Anschluß hieran machen wir auf die famose „Anleitung zu schwierigen Laubsägearbeiten“ (bei Holzapfel, Eutin in Mecklenburg) aufmerksam.

Die bekannte Operette „Anneliese von Dessau“ von Chaskel und Meirowitz hat Hans Harringer zu einem echt deutschen Roman inspiriert. Wie hier noch einmal alle historischen Figuren der Reihe nach vor uns auftreten, der derbgemütliche, aber herzensgute Herzog, das Anne-Liser’l, der Leibjäger Franz – nicht zu vergessen Friedrich der Große –: das bedeutet eine echt deutsche Herzstärkung in dieser so echt deutsch beschimmelten Zeit.

Josef Jansen hat „Das Nibelungenlied“ neu bearbeitet und uns damit etwas völlig Neues gegeben. Er hat sich nicht ganz an die zeitlichen Grenzen gehalten – so führt er aufs glücklichste in Wotans Sagenkreis Friedrich den Zweiten ein –, aber hier ist doch in mustergültiger reiner Prosa etwas Gewaltiges entstanden. (Broschiert 6,50.)

Die „Deutsche Volkheit des Volks der Deutschen“ (bei Diederichs in Jena) setzt ihre Sammlung fort: sie wird volkhafter von Nummer zu Nummer, wie wir das so häufig antreffen.

„Als Mundschenk im Großen Hauptquartier“ ist ein geschichtliches Dokument allerersten Ranges. Oberkellner Jensch hat es geschrieben, Arthur Doepler der Ältere hat die frischen Bildchen beigesteuert. Jensch war drei Jahre lang Obermundschenk bei Wilhelm dem Zweiten und ist also wie kein zweiter befähigt, über die Stimmung des Heeres Allgemeingültiges auszusagen. Nach ihm war die Stimmung bis zum Frühjahr 1917 ausgezeichnet – dann setzte langsam der Dolchstoß ein, ohne welchen wir seiner Ansicht nach noch jahrelang hätten kämpfen und durchhalten können. Ein echt deutsches Buch.

Gleichfalls einen geschichtlichen Rückblick – wenn auch etwas trüberer Art – gibt Parteifunktionär Albert Konzowski (Leipzig) über die traurigen Tage um den 9. November. Nach ihm hat die Sozialdemokratie das Verdienst, den Bolschewismus zurückgedämmt zu haben; so berichtet Konzowski von einer Äußerung Eberts, der im Januar 1919 zu ihm (Konzowski) gesagt habe: „Albert – noch zwei solcher Siege wie die über Liebknecht und Luxemburg, und wir haben gesiegt!“ Ein lehrreiches Büchlein.

Die Gymnastik pflegt: „Mit Blitzlicht und Büchse durch Mary Wigman“ – mehr dem Sport zugewendet ist: „Anleitung zur Anlegung von Jahrestabellen und Leistungsprüfungsverordnungen in der Hochschule für Leibesübungen“ von Reichsobersportwart Hagedorn.

Das Kochbuch von Dr. theol. hon. caus. Hedwig Heyl ist in achtzehnter Auflage erschienen – moderne Speisen, wie „Falscher Hase nach altem Fritz“ und „Verlorne Eier nach Ludendorff“, würzen die Neubearbeitung.

Fügen wir noch Erich Rümelins „Der Zivilprozeß bei den Tungusen“ und das entzückende Bilderbuch „Wenn du groß bist, Fridolin – kommt der Uhu zu dir hien!“ sowie „Was junge Mädchen kurz vor der Hochzeitsnacht wissen müssen“ hinzu – so haben wir wohl des Guten und Besten genug aufgezählt.

So zeigt sich auch hier wieder, daß der Born deutscher Kunstkraft auch in diesem Jahr unverstopft quillt, und daß Künstler, Schriftsteller und Dichter ihre Zeit so recht verstehen – so daß auf Deutschland das Dichterwort:

„Seine Sorgen und Rothschilds Geld“

die vollste Anwendung finden dürfte.

Fantasia

„… sattsam bekannte Ignaz Wrobel. Ja, glaubt denn dieser degenerierte Wüstensohn …“
Nationale Zeitungsnotiz

Der Löwe hinter meinem Hause schlug kurz an.

Vom Felsgestein der sieben Lüste, das sich grade an der Wegbiegung erhob, schritt ein Mann, in einen ehemals fast weißen Burnus gehüllt, majestätisch auf mich zu. Es war Reimann-Effendi, der Führer der sächsischen Mohammedaner. „Batschari-Aleikum!“ sagte ich, würdevoll die Hand auf meine orientalische Brust legend. „Wie gähds dr denn?“ sagte der Effendi und holte aus seiner Toga ein Gaffeegännchen, das er schlürfend leerte. „Der Name des Propheten sei gelobt!“ sagte ich. „Nimm Platz und rauche diese Nargileh – wenn du ziehst, kommt Rauch; wenn du bläst, spielt sie: Deutschland, Deutschland über alles!“ Der Effendi setzte sich, zog, blies und schwieg. Die Sonne glühte, um eine Zeile zu füllen.

Der Effendi blinzelte durch die offene Tür meines Harems; leise hörte ich ihn vor sich hinmurmeln: „Eene gleene Digge hädch gern …“, aber schon tauchte der riesige Schatten meines Leibeunuchen Lissauer auf – solange er da war, konnte ich unbesorgt sein: denn was der unter den Händen hatte, das wurde nichts. Um meinen Gast abzulenken, begann ich, höflich mit ihm zu plaudern.

„Habt Ihr schon einmal eine Fantasia gesehn?“ fragte ich ihn. Reimann-Effendi sah mich mit listigen Äuglein an, schwenkte den Kaffee und sprach die Verse:

„Dein dämliches Gefrage ehrt den gemeinen Mann – der Majestät des Todes kann niemand entgehn –

Wenn Sie meinen, daß Fantasia gut ist – mir soll sie nicht zu dick sein.“

Darauf sagte ich die Verse:

„O Adamskind, laß nicht die Hoffnung höhnen – Fantasia ist kein Mädchen, sondern eine Art Reitervergnügen –

Wenn ich aber Anschluß mit Damaskus bekomme – dann kriegst du die Fantasia.“

Und ich forderte „Damaskus Neunundneunzigneunundneunzig“ und bekam es dreimal fast, und schließlich sah Allah-el-Telephon wohlgesinnt auf mich herab, und ich bereitete alles vor, wie es vorgeschrieben steht in den heiligen Büchern, und wir saßen still auf unsern Matten und kratzten uns und warteten. Nur einmal unterbrach Reimann-Effendi die Stille und sprach: „Wenn die Araber ’n Geenj häddn, wär alles viel besser!“ – und dann war es wieder still.

Mit einem Satz sprangen wir auf.

„Ulululululululu –“ heulte es durch die siedend-heiße Luft, und da brauste es heran. Wir stiegen uns aufs Dach und sahen hinunter auf Damaskus mit seinen Minaretts und seinem Moscheegekuppel, und dies war es, was wir sahen:

Vornweg sprengte die Reiterkavalkade der Samisischen Fischer: an der Spitze der alte Scheich Hauptmann, dem der Koran den Wein verboten hatte; hinter ihm ein Sklav’ aus dem Stamme der Schmoggs; dann Thomas-al-Raschid auf einem Zauberpferd, das hatte vier Beine und kam nicht vom Fleck; dann Johab-il-Wassermann, der gern inkognito ausging; dann Trebitsch, der es lieber kognito tat; danach Shaw-Effendi, der Töpfer, der mit leeren Tongefäßen gute Geschäfte machte, und Rudolf Herzog, der Schuster …

„Ululululululu –“ heulte die Kavalkade, und Tausende von arabischen Wüstensöhnen folgten, in Staub gehüllt, nach.

Da ritt, in prächtiger Haltung, der Reichsbund der deutschen Verleger, es waren einundvierzig Mann: Ali Baba und die vierzig andern; nach ihnen Alfred Sindbad der Seefahrer, der sieben Reisen gemacht hatte; Hedwig Scheherezade-Mahler, die sich dem Kalifen in der tausendundeinsten Nacht zum Fraße angeboten, aber er hatte gesagt: „Erzähle gottbehüte weiter!“; der junge Prinz Sternheim-al-Snob, der sich im Glanze einer Perlenkette sonnte, es war aber nur eine Perle daran; der Prinz von Theben; der Leibarzt des Kalifen, Unruh-Pascha, der Erfinder des immanenten Durchfalls; Omar-Klabund, ein vornehmer Perser, der hinter einem Steinklöpfer herjagte, weil der ihm einen Film weggenommen hatte; der junge Seeler-Hassan: der schoß, kaum wurde er unser gewahr, auf unsre Wasserpfeife, er mochte Pfeifen nicht; Abdullah Zuckermayer, der Besitzer eines berühmten Weinbergs, um den allabendlich, in der Dämmerung, die Säue grunzten; Fatme Geßlerine, eine bekannte Märchenerzählerin; der alte Kümmeltürke Bahr, der Mohammedaner geworden war, von der letzten Bekehrung her hatte er noch ein Kreuz um den Bauch baumeln. Auch zwei vermummte Gestalten bemerkte ich im Zug, die waren in weiße Tücher gehüllt, weil der Herausgeber der „Weltbühne“ mir verboten hatte, sie anzugreifen, die alten Teppen – und so zogen sie ungenannt dahin.

Und ich reichte dem Reimann-Effendi mein Riechbüchschen mit Sago, und er hielt es an die edel geformte Nase und sagte die Verse:

„Wer ist der schöne Reiter dort, der keines unbeschnittnen Christenhundes Wut wich?
Gännsde dähn? Das ist wohl Aemil Ludwig!“

Und ich antwortete mit den Versen:

„Wer ist der edle Moslem dort – mit jenem rosa Pickele?
Gännsde dähn? Das ist wohl René Schickele!“

und so sprachen wir noch viele schöne Verse.

Und es ritt ein Fremdling im Gedränge mit, den niemand kannte – in einem sonderbaren Kostüm. Wie sich später herausstellte, hatten wir den Ritter von Hofmannsthal gesehen, einen Christen, den die Türken bei der Belagerung von Wien im Jahre 1529 dort zurückgelassen hatten, als einzigen seines Stammes; der hatte sich zur Abwechslung als Orientale verkleidet, und daher erkannte ihn im Morgenlande kein Mensch. Auch trieb sich ein Gaukler in der Schar umher, mit einem Tigerfell, darunter eine Panterhaut, darunter die Federn eines Wrobels – und unter alledem ein magerer, blau rasierter Kerl, mit einem Gesicht, wie wenn er Essig gesoffen hätte.

Und es folgten, auf Pferde gebunden, die Kriegsgefangenen der Kavalkade: die verfluchten Söhne des Sozi-al-Demokrat. Auf daß sie weicher säßen, hatte man ihnen einige Kompromisse untergelegt, und doch waren sie braun und blau am ganzen Leibe, Allah weiß, von wem sie ihre Prügel bezogen hatten; und es war einer dabei, Hörsing aus Bagdad, das war ein Barbier und ein fürtrefflicher Schaumschläger vor dem Herrn. Und nach ihnen tänzelte noch ein junger, aber falscher Prinz, in Wahrheit ein Edschmid von Beruf, hier aber hieß er der Aufgewachsen-Bey, und das war der allerletzte.

Und als sie alle versammelt waren, siehe, da wurden wir Zeugen eines unvergeßlichen Schauspiels. Aufbäumten sich die Pferde der Fantasia, der Staub wirbelte, einer der Reiter erhob die Flinte und gab einen Schuß ab. Bestürzt und erschreckt hielt die Kavalkade der Tausende – sie dienten jetzt fünfundvierzig Jahre der Fahne des Kalifen –: aber einen Vorschuß hatten sie noch nie erlebt.

Und als sie alle, alle so auf ihren Pferden regungslos in der untergehenden Sonne hielten, horch, da sang der Muezzin vom Turm der nahen Moschee sein Abendgebet. Und also sprach der Muezzin:

„Allah-il-Allah – es gibt nur einen Gott, und Mohammed, der Heilige von Mokka und der ganzen Medine, ist sein Prophet!

Höret, Gläubige!

Lobet den Brecht, denn der Bronnen ist nicht weit – und ein Thomas in der Hand ist besser als ein Klaus auf dem Dach …

Wenn dich Kerr lobt, ist es Fatum; wenn dich aber Ihering tadelt, ist es Kismet, und so spielen sie das Spiel: Haust du meinen Moslem, hau ich deinen Moslem …!
Gedenket in Liebe Paul Valérys, der da Mode ist unter den Völkern; wer ihn aber lesen kann, dem will ich was prousten  …

Herrgott, wie groß ist deine literarische Welt, wie erhaben deine Weltbühne und wie mannigfaltig dein Tierreich …

Und wer da eingeht in die Gesamtausgabe, dem ist das Paradies sicher, mitsamt den Houris, die da rufen: Na, Kleener –?

Es ging ein Fischer aus, einen Wolff zu suchen, aber es war eitel Reiß in seinem Netz, und als er sich den Schaden besah, da war die himmlische Schmiede leer …
Zeucht hin in Frieden, vermehret euch wie die Sandflöhe am Meer, denn wir haben noch nicht genug  …

Allah-il-Allah –!“

Da erhob sich ein brausender Ruf aus tausend und abertausend brauner Kehlen. „Wem sagen Sie das –!“ riefen die degenerierten Wüstensöhne.

Der östliche Abend verdämmerte langsam im Westen, mein Gast Reimann-Effendi war längst gegangen, und ich sann noch lange unter den rauschenden Palmen über die Wunder des Morgenlandes.

Picknick

Die Katz

Neulich saß ich vor dem kleinen Theaterchen „Ambassadeurs“ in den Champs-Elysées, unter grünen Bäumen. Um meine Bank strich mehrere Male eine große, gut genährte Katze, grau mit schwarzen Flecken. Wir kamen so ins Gespräch – sie fragte mich, wieviel Uhr es sei –, und da stellte sich heraus, daß sie aus Insterburg stammte. Nun kenne ich Insterburg sehr genau – ich habe da seinerzeit gedient –, und wir waren gleich im richtigen Fahrwasser. Sie kannte erstaunlich viele Leute, und wir hatten auch gemeinsame Bekannte: eine Verwandte von ihr war bei meinem Feldwebel Lemke Katze gewesen, sie wußte gut Bescheid. Meine Stammkneipe kannte sie und das Theater und die Kaserne und alle möglichen Orte. Ja, es ist sogar möglich, daß wir uns einmal gesehen hatten, im Schützenhaus zu Palmnicken, aber da hatte ich natürlich nicht so darauf geachtet. Wie es ihr denn so in Paris gefiele, fragte ich sie.

„Näi, hier jefällts mir nich!“ sagte sie. „Ich wäiß nich, die Leite sinn ja soweit janz natt – aber, wissen Se, mit die Verfläijung, das is doch nichts. Ja. ’s jibbt ja Fläisch un so – aber Fischkeppe – wissen Se – son richtichen Kopp von ’nem Zanderchen oder Hachtchen – das hätt ich doch jar zu jern mal jajassen. Aber: Pustekuchen!“ Das fand ich auch sehr bedauerlich.

„Gott, man erlebt ja allerhand hiä“, sagte die Katze. „Da haben se mich näilich einem alten Madamche ins Bett jestochen, wissen Se, die konnt keine Katzen läiden. Erbarmung! hat se jebrillt. Ei, seht doch! seht doch! hat se immer jerufen – das heißt, ich denk mä das so –, denn sie hat ja franzeesch jebrillt. Dabei hab ich se nuscht jetan! Und se hat all immer jemacht: ‚Pusch! Pusch! Willste da raus!‘ – Aber ich bin ruhig liegen jeblieben, wissen Se – und da hat se mit all ihre Koddern aufn Pianino jeschlafen – ja. Und am friehen Morjen hat se mer denn ein Tellerche Schmant hinjehalten, das hab ich auch jenomm, und denn bin ich los. Es war ’ne janz nette Frau soweit. Se war all janz bedammelt von den Unjlick.“ Aha. Und diese große Schramme da über dem Auge? was wäre denn dies?

„I,“ sagte die Katze, „da hat mir neulich son Kater anjesprochen – aber ich wollt nich – wissen Se, ich wer mer doch mit die franzeeschen Kater nich abjehm! De Frau in Insterburch hat auch immer jesacht, mehr als dräimal im Jahr soll ’ne ordentliche Katz nich – na, und meine Portion war all voll. Ja – ich wollt eben nich. Da hat mir doch das Biest anjesprungen! Was sagen Se –! Ich hab ’n aber ordentlich äine jelangt – sobald jeht der an käine ostpräische Katz mer ran, der Lorbas!“

„Kinder haben Sie also auch?“ fragte ich. „Ja“, sagte sie. „Es sinn alles orntliche Katzen jeworn – bis auf äine. Die streicht da aufn Monmartä rum, bei die Franzosen – und wenn mal ’n Tanzvergniejen is, denn macht se sich an die Fremden ran. Näilich dacht ich: I, dacht ich, wirst mal hinjehn, sehn, was se da macht. Wissen Se – ich hab mir rein die Augen ausn Kopp jeschämt – lauter halbnackte Marjellen – und meine Tochter immer dabäi! Sone Krät –! Ich sach: ‚Was machst du denn hier?‘ sach ich. Se sagt: ‚Ah – Mama!‘ und denn redt se doch franzeesch mit mir! mit die äijene Mutter –! Ich sach: ‚Schabber nich so dammlich!‘ sach ich und jeb ihr eins mit de Pfot. Da haben se uns rausjeschmissen ausn Lokal, alle bäide – und draußen auf de Straß wollt ich mer nich mit se hinstellen. Und – rietz! – war se denn auch jläich wech. Ach, wissen Se, heutzutach, mit die Kindä …!“ Ja – da konnte ich nur zustimmen. Na – und sonst? Paris und so?

„Manchmal“, sagte die Katz, „krie ich doch mächtig Heimweh. Kenn Se Keenichsbarch? Das is ’ne Stadt – wissen Se – da kann Paris jahnich mit! Da war ich mal auf Besuch – man is ja in de Welt rumjekomm, Gott sei Dank – und da war ich bei de Frau Schulz. Kenn Se die? Die Mutter von Lottchen Schulz, die immer so brillt? De Tochter hat jetzt jehäirat.“ Halt! Lottchen Schulz kannte ich. Diese etwas bejahrte, schielende und hinkende Dame hatte geheiratet? Ich äußerte Bedenken. „Och,“ sagte die Katze, „sehn Se mal: Nu hat se doch das lahme Bein, und ordentlich gucken kann se auch nicht mehr – was soll Se –!“ Dagegen war nichts einzuwenden – Heirat schien in solchem Fall das beste. „Ja, da war ich auf Besuch,“ fuhr die Katze fort, „ach, wenn ich daran noch denk! Inne Ofeneck saßen die bäiden Jungens Schulz und schlabberten ein Tulpchen Biä nachn andern, de Frau trank Kaffee, und ich kriecht ab un zu ’n Stickche Spack – aber, wissen Se, son richtchen, ostpräißschen Kernspack – nich wie hier! Ja. Nur äin Malhör is mich in Keenichsbarch passiert: ich bin da in den Hiehnerstall jejangen und hab da jefriehstickt, und nachher hab ich es all jemerkt: alle die kläinen Kaichel, die hatten dem Pips! Dräi Tach war mir janz iebel!“

Eine feine Dame ging vorüber und sagte zu ihrer Begleiterin: „Vous savez, il n’y a que des étrangers à Paris!“ Die Katze sagte:

„Wissen Se, hier mit die Katzen, da versteh ich mir jahnich! Se sind auch so janz anders als bäi uns – manche sind direkt kindisch – wissen Se …! Na, denn wer ich man bißchen jehn, auf Mäise …!“

Und lief seitwärts, in die Büsche. Ich wollte noch etwas sagen, sie nach ihrer Adresse fragen – aber sie war schon weg. Und ich stand noch lange vor dem Busch und, ohne daran zu denken, daß es ja eine Katze war, rief ich: „Landsmann! Landsmann!“ – Aber es antwortete keiner. Wir haben uns nicht mehr wiedergesehen.

Chef-Erotik

„… und dann hat er seine Sekretärin geheiratet.“ Wie war das möglich?

Als sie eintrat, war da gar nicht viel – er hat das Mädchen kaum beachtet. Die Diktatprobe hatte genügt, die Referenzen waren gut, das Äußere soweit in Ordnung. Auch spielte damals die Geschichte mit Lux, und er hatte, weiß Gott, den Kopf viel zu voll … „Überhaupt: im eignen Betrieb! nicht rühr an. Lieber Freund, wenn ich das will, kündige ich und fange mit ihr später was an! Ja.“

Monatelang war gar nichts; sie tat ihre Arbeit, und er ließ sie tun. Die Gewöhnung kam leise und langsam, ganz langsam. Sie war eben immer da, gehörte zum Mobiliar; er merkte das erst, als sie einmal krank wurde, da fehlte etwas im Bureau, er konnte gar nicht arbeiten in diesen Tagen. Das fremde Gesicht der Aushilfe … Er atmete auf, als sie wieder da war.

Er genierte sich gar nicht vor ihr; er telephonierte in ihrer Gegenwart mit Hanna und auch einmal mit dem dänischen Fratz, der sich damals in Berlin herumtrieb. Sie hörte das unbewegten Angesichts mit an. Das war kein Stenogramm; das ging sie nichts an. Aber auf dem Schreibtisch war noch ihre Hand spürbar, die Art, wie sie die Bleistifte hinlegte, die sanfte Ruhe, mit der sie ihn betreute. Und dann wuchsen die Leiber zusammen. Es lag einfach daran, daß er eines Tages sachte zu fühlen begann, wie auch dies eine Frau sei, mit Beinen, Schenkeln, Oberarmen. Es war nichts, aber auch nichts als die Nähe, die ihn dahin trieb; man kann doch nicht dauernd neben einer Quelle liegen, ohne zum mindesten einmal spielerisch die Hand ins Wasser zu stecken. Durst? Nein. Es war nur eine Quelle da.

Befehlen können und hier nicht befehlen können – Chef sein und Mann zugleich wie jeder andre; und eben die leise Gewöhnung. Der spielerische Drang vergessener Knabenjahre war wieder da, den andern einmal genau anzusehen, aus Neugier, aus Langerweile, aus tastendem Grauen … Einmal, einmal muß man hinter jeden geschlossenen Vorhang sehen – das ist so. Und dann hat sie nicht mehr losgelassen.

Übrigens hat er es nicht bereut; sie ist ihm eine gute Hausfrau und brave Mutter der Kinder geworden, und in der großen Stadt im Rheinland weiß niemand von der Vergangenheit der Frau, die ja nicht schändet, nein, gewiß nicht, aber es ist ja nicht nötig, nicht wahr? Die Ehe blieb, was sie war: eine Arbeitsgemeinschaft. Ohne die bunten Stunden, aber mit viel Erinnerungen an gemeinsame Campagnen, Geschäftsfreunde, Betriebskollegen … Er hat jetzt einen Sekretär. Oder eine kleine käsige Tipse.

Zur Zeit ist er sterblich verliebt in die Inhaberin eines Modesalons: ein strammes Prachtweib mit weißen, blitzenden Zähnen und schwarz angelacktem Haar. Im allgemeinen ist er seiner Frau treu, ein anständiger Familienvater. Aber er ist so neugierig; er möchte nur ein einziges Mal den Vorhang jenes Kleides heben. Und das wird er ja wohl auch tun.

Konversation

Magda spricht. Arthurchen hört zu.

Magda (presto)

„Gott, Sie verstehen doch was vom Theater – endlich mal einer, der was vom Theater versteht. Ich werde Ihnen das also ganz genau erzählen.

Die Leute hatten zunächst die Straub engagiert, die sollte den Dragonerrittmeister spielen. Ich die Lena. Ich habe gesagt, neben einer Hosenrolle komm ich nicht raus. Ich komme doch nicht neben einer Hosenrolle raus –! Mit mir kann man das nicht machen. Wenn ich mir mal was in den Kopf gesetzt habe, alle meine Freunde sagen, ich bin so eigensinnig, und das ist auch wahr. So bin ich eben. Nicht wahr, Sie finden das auch –? Nicht wahr? Ja. Und da habe ich dem Direktor gesagt, ich sage, wenn ich die Lena nicht spielen darf, dann schmeiß ich ihm seinen Kram vor die Füße. Papa sagt auch … Finden Sie richtig, nicht wahr –? Ja. Da hat der Direktor natürlich nachgegeben, soo klein war er, ich kenn doch die Schwester von dem Kammergerichtsrat Bonhoeffer, der der Onkel von seinem Geldgeber ist – wissen Sie übrigens, daß Klöpfer die neue Rolle nicht spielen will? Er hat gesagt, so einen Drecktext spricht er nicht. Klöpfer geht zum 1. Juni auf Tournee. Ich sollte erst mit, aber ich mach mir nichts aus Tourneen. Gott, ich hätts ja vielleicht getan – aber wenn jetzt die neue Trustdirektion kommt, dann werden wir ja sehn! Ich hab in diesen Sachen sowas Kindliches. Ich bin überhaupt ein großes Kind. Finden Sie nicht auch –? Nicht wahr? Ja. Kennen Sie Gerda, die blonde Gerda? Die, die’n Verhältnis mit der Frau Petschaft hat – na ja, sie hat auch’n Freund, aber bloß so nebenbei. Der Freund weiß das, natürlich. Mit mir hat sie … ach, Sie sind ’n gräßlicher Mensch – was Sie immer alles gleich denken! Die Gerda ist völlig talentlos. Und frech ist die Person –! Das Gretchen will sie spielen. Was sagten Sie –? Nein. Ja. Ich meine: die Frau darf das einfach nicht spielen. Geht auch gar nicht, weil die neue Kombination Fischer-Hirsch dagegen ist. Und wenn die Kombination nicht dagegen wäre – Himmel, es ist sechs Uhr! Nein, wie man sich mit Ihnen verplaudert! Sie reden so nett und anregend … Grüß Gott, Doktorchen. Seins nicht bös – aber ich muß fort. Auf baldiges –“

Arthurchen (denkt)

Das kann man wohl sagen, daß ich was vom Theater verstehe – das hat sie ganz hübsch gesagt. Natürlich versteh ich was vom Theater. Nu leg mal los.
Sie ist ja doch pikant, sie hat was. Nette Beine. Ob sie einen Büstenhalter trägt? Nein, sie trägt wohl keinen. Wenn sie schnell spricht und dabei lacht, dann hat sie so ein nettes Fältchen um die Augen. Sie sollte sich übrigens die Wimpern nicht färben, das steht ihr gar nicht. Aber eine nette Person. Eigentlich … Wer hat die eigentlich –? Na ja, Franz – aber das füllt sie doch nicht aus! Dabei spricht sie immer von Papa und Mama, wie macht sie das mit dem Ausgehn? Lebt sie zu Hause? Wenn sie auch zu Hause lebt, das kann man arrangieren …

Die Schwester von dem Kammergerichtsrat? ein übles Aas. Wer weiß, ob die Leute überhaupt so viel Geld haben … Was hab ich denn heute für einen Schlips um? Sie guckt mir immer so nach dem Hals … Das ist doch eine neue Krawatte – hab ich da’n Fleck …? Nein, das war wohl nichts. Wenn sie die Augen zumacht, sieht sie nett aus. A un certain moment – stand neulich in dem Roman. So sieht sie dann aus. Nett. Sie kann doch sehr lustig sein. Es kann doch sehr lustig werden. „Ja, das finde ich auch. Gewiß, gnädiges Frollein.“ Reizende Person. Wie spät mag das sein? Sie erzählt ja ’n bißchen viel. Aber jetzt kann ich nicht nach der Uhr sehn. Verdammt, die Uhr im Salon kann man von hier aus auch nicht sehn. Ich wer mal so ganz nongschalang aufstehn … Sieht man die Uhr auch nicht. Die Gerda –? Die Gerda mit ihr zusammen – wär gar nicht übel. Was ist das fürn Parfum, das sie hat? Was ich gesagt habe? Ich hab doch gar nichts gesagt. Mein Gott, spricht die Frau! Mein Gott – aber man müßte sehen, zu irgendeinem Schluß zu kommen, so oder so … Schnupfst du eigentlich Kokain, mein Engel? Hoffentlich nicht. Sechs? Schockschwernot, Hilde wartet nie so lange. Und nachher ist die Wohnung zu, und ich habe keinen Schlüssel. Na, dann diese hier. Bin ich heute abend frei? Ja. Sind Sie vielleicht heute abend … „Auf Wiedersehn!“ Wupp. Jetzt ist sie weg.

Dienstzeugnisse

Für die mit einem Sternchen versehenen
Zeugnisse: Übelnehmen gilt nicht!

*Herr Thomas Mann war bei mir achtunddreißig Jahre lang als Erster Buchhaltungskonzipist in Stellung. Ehrlich und fleißig, von stets gemessenem Auftreten und von sauberstem Äußeren, hat er die ihm aufgetragenen Arbeiten immer mit der größten Akkuratesse und der peinlichsten Korrektheit, wenn auch hier und da mit einem sonderbaren Anflug von Traurigkeit ausgeführt. Seinen einzigen Urlaub nahm er bei seiner Konfirmation; seitdem ist er ununterbrochen derselbe geblieben: arbeitsam, treu und pünktlich. Er verläßt unser Haus auf eignen Wunsch, um sich fortan ganz der Fischerei zu widmen, an die ihn viele Bände fesseln. Ich kann Herrn Thomas Mann, der sozusagen ein durchaus zuverlässiger Künstler ist, nur allerseits bestens empfehlen.

*

Herr Graf Hermann v. Keyserling wurde an der hiesigen Anstalt als gehobener Mittelschullehrer verwandt. Mit seiner Lehrtätigkeit haben wir die besten Erfahrungen gebracht: die etwas dunkle Art seines Vortrags wurde zwar allgemein nicht verstanden, dagegen schämten sich die Schüler, dies einzugestehen, und hörten artig zu. Die Klassenrüpel verfielen in seinen Stunden einem pädagogisch heilsamen Schlummer. Keyserling ist politisch völlig harmlos: er lehrt nur staatlich approbierte Wahrheiten sowie das kleine Einmaleins. Der Titel eines von ihm verfaßten Buches: „Reisetagebuch eines Philosophen“ ist irreführend; gemeint ist in dem Werke er selbst. Wir entlassen ihn seiner hohen Auflagen wegen mit Glück- bzw. Segenswünschen. Wie wir ihn schätzen, mag daraus hervorgehen, daß am letzten Unterrichtstag auf seinem Klassenpult als Wahrzeichen etwas stand, das sein Wirken gewissermaßen symbolisierte: ein alter Darmstädter Armleuchter.

*

Herr Kasimir Edschmid wurde probeweise in meinem Etablissement als Coiffeur eingestellt. Seine einnehmenden Manieren, seine weitgereisten Handbewegungen sowie seine reichen Sprachkenntnisse (er spricht allein vier Sorten Französisch, darunter eine beinah richtig) erweckten die schönsten Hoffnungen. Leider mußte er hinausgetan werden, da seine Kenntnisse im Deutschen nicht genügten, so daß er sich mit der Kundschaft nicht verständigen konnte. Entweder man verstand ihn, wußte aber nicht, was er meinte – oder man wußte, was er meinte, verstand ihn aber nicht. Seine leichte Hand in Damenfrisuren wird mir stets in angenehmer Erinnerung bleiben.

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Herr Dr. Rudolf Breitscheid war verhältnismäßig treu, mitunter fleißig, auch ehrlich und immer etwas müde. Das Zeugnis, das er sich selbst ausstellt, kann nur ausgezeichnet genannt werden. Seine große Gedächtnisschwäche sowie seine mild verzeihende Art machen ihn besonders zu seinem schweren Beruf geeignet. Da es ein Kündigungsrecht bei seiner Firma nicht gibt, hat er alle Aussicht, noch recht lange Rayonchef zu bleiben. Herr Breitscheid, der nur ein Auge hat, genießt in den Kreisen der hiesigen Blindenanstalt das größte Ansehen. Als kleiner Nachteil könnte nur seine unselige Wettleidenschaft angeführt werden; sein ihm angeborener Hang, dabei immer auf das falsche Pferd zu setzen, hat ihn schon in manche unheilvolle Situation gebracht. Dieses Zertifikat gilt nur für die Paßbeschaffung.

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Herr Adolf Bartels hat in unserm Stadttheater (Kottbus an der Buse) 1300mal als Komparse im „Lohengrin“ mitgewirkt. Wir empfehlen ihn allen Opernbühnen als unerschütterlichen und unermüdlichen Statisten, der die Geschehnisse im Vordergrund mit wildem Gebrumm im Hintergrund begleitet. Sein Deutsch- und Friesentum, seine Ho- und Christenheit stehen außer allem Zweifel. Auch als Sanitätsgehilfe ist Bartels gut zu verwenden: er hat die immanente Beschneidung erfunden.

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Herr Oberlandesgerichtsrat … (nach Belieben auszufüllen) scheidet mit dem heutigen Tage aus dem Justizdienst aus. Wir wünschen ihm zwar das Beste, wüßten aber nicht, in welchem Betrieb er sonst zu brauchen wäre. Herr Oberlandesgerichtsrat … hat nicht viel gelernt: er ist Jurist.

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Herr Dr. Rudolf Hilferding wurde vom Reichsverband zur Bekämpfung der Sozialdemokratie in die Redaktion der „Freiheit“ entsandt. Es gelang ihm, das gefährliche Blatt in zwei Jahren derart herunterzuwirtschaften, daß sowohl von einer Gefahr wie von einem Blatt nicht mehr gesprochen werden kann. Herr Rudolf Hilferding gilt in Finanzkreisen als ausgezeichneter Mediziner. Von ihm gibt es ein Aufsehen erregt habendes Werk: „Das Finanzkapital.“ Seine Bequemlichkeit hat ihn leider daran gehindert, das Buch zu lesen.

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*Herr Peter Panter wurde von mir ab gestern bis heute als Privat-Sekretär beschäftigt. Seine Anlagen, die ihn zum idealen Zweiten befähigen, ließen mich das Beste erwarten. Leider scheiterte seine Beibehaltung an seinem frechen, vorlauten Wesen sowie an seiner maßlosen Gefräßigkeit. Seine sonst guten Manieren stellten sich als Indolenz heraus; sein Horizont hat ungefähr die Größe eines Schnapsglases. Auch seine häßliche Angewohnheit, während des Dienstes dauernd mit Bleisoldaten zu spielen, hat nicht dazu beigetragen, ihn im Betrieb beliebt zu machen. Ich wünsche Herrn Peter Panter das Beste auf seinen fernern Lebenspfaden und kann jedermann nur auf das schärfste vor ihm warnen!

Ein Stückchen zu Fuß

Alte Weltbühnen

Manchmal, nachts, blättere ich in alten Weltbühnen. Ich habe so ziemlich alle: einzeln, in roten Heften, deren Farbnuance des Umschlags schwankt, und ernst gebunden, in dicken roten Leinenüberzügen. Und ich blättere …

Zuerst suche ich mir alle Polgars zusammen. Fast von Anfang an ist er da – und ich schmunzle im Geist noch einmal alle Wiener Theaterpremieren durch, die er mit seiner bitter-heitern Gegenwart beehrt hat. Und ich lese seine himmlische Literaturgeschichte: „Wie der Goethe entstand“, die noch lustiger ist als das entzückende kleine Spiel der beiden Dioskuren Polgar und Friedell. Und ich lese seine heiterste und bunteste Skizze „Scharlach“ (nur für Kenner!) – und ich muß lachen, ganz wie beim erstenmal … Und ich lese S. J., wie der unter der Berliner Lämmerherde der Schohspieler herumwütete und sie schlachtete und fraß und wonnesam brummte, wenn er den Bauch voll hatte – und lese seine leisen Locktöne zu Reinhardt herüber, als er den noch uneingeschränkt liebhaben konnte … Und ich lese – entschuldigen Sie – mich selbst.

Das heißt: ich lese mich eigentlich gar nicht. Ich erinnere mich nur. Ich erinnere mich, wie das gewesen ist, als ich dies Gedicht da schrieb und jenes – was für Zeiten das waren (und was für Honorare es damals gab), und welche Damen ich in mein Herz geschlossen hatte. Es ist wie eine kleine Biographie, diese Weltbühne – ich kann mir an den Fingern abzählen, wie es alles gelaufen ist mit mir. Gibt es wohl eine Liebe – und wäre es auch nur eine von den ganz kurzen, brennendsten gewesen –, die ich nicht abkonterfeit hätte? Keine. S. J. ließ mir den Spaß (sucht euch Redakteure, die keine Unteroffiziere sind!), und nur, wenn Gussy Holl öfter als viermal im Monat in den Artikeln verkleidet, persönlich oder zitiert auftauchte, weinte er leise. Ich konnts doch aber nicht lassen, und ich kanns heute noch nicht. Und alles, was so in den letzten Jahren für mich gut und teuer gewesen ist, steht da in den roten Heften: die hübschen Bücher und die hübschen Mädchen, die märkische Luise und die einzige Blonde und der Strubbs und die und die … Von Claire zu schweigen, die ich schon besungen habe, ale ich meine Manuskripte noch zweiseitig beschrieb … Es war eine schöne Zeit.

Guten Tag, kleine Hefte! Dies ist keine Reklame für euch – denn der Herausgeber weiß kaum, wie er euch noch liefern soll, und viele von euch gibts gar nicht mehr in den Verlagsregalen. Kleine Hefte, guten Tag –! Und ich bemerke, daß sie nicht nur das Leben eines Panters aus den letzten Jahren widerspiegeln, sondern, wenn man genauer hinsieht, unser ganzes Leben und unsere ganze Zeit.

Märchen

Dies ist meine erste gedruckte Arbeit;
erschienen im „Ulk“, November 1907

Es war einmal ein Kaiser, der über ein unermeßlich großes, reiches und schönes Land herrschte. Und er besaß wie jeder andere Kaiser auch eine Schatzkammer, in der inmitten all der glänzenden und glitzernden Juwelen auch eine Flöte lag. Das war aber ein merkwürdiges Instrument. Wenn man nämlich durch eine der vier Löcher in die Flöte hineinsah – oh! was gab es da alles zu sehen! Da war eine Landschaft darin, klein, aber voll Leben: Eine Thomasche Landschaft mit Böcklinschen Wolken und Leistikowschen Seen. Rezniceksche Dämchen rümpften die Nasen über Zillesche Gestalten, und eine Bauerndirne Meuniers trug einen Arm voll Blumen Orliks – kurz, die ganze moderne Richtung war in der Flöte.

Und was machte der Kaiser damit? Er pfiff drauf.

Peter Ganter

Vielleicht besinnen Sie sich noch auf die Geschichte:

Im Jahre 1908 kam ein Mann auf den freundlichen Gedanken, den Roman „Doppelte Moral“ dadurch populär zu machen, daß er an viele hunderttausend Menschen in ganz Deutschland am selben Tag – am achtzehnten Dezember – den folgenden Brief expedierte (Anrede nach Maß):

Mein verehrter Herr Dr.! Habe soeben den Tendenzroman „Doppelte Moral“ gelesen, unglaublich – ein Skandal schlimmster Art. Man sieht wieder, daß der Staatsanwalt da, wo erforderlich – versagt, denn sonst dürfte ein solches Buch nicht bis in die Öffentlichkeit dringen. Oder soll es politische Klugheit sein? Und wer mag nur hinter dem anonymen Verfasser stecken? Jedenfalls sind R. und H. auf das fürchterlichste mitgenommen und zur Klage direkt gezwungen. Werden auch Sie sich dieser Klage anschließen? Ich bin leider ebenfalls mit hineingezogen. Fürchterlich!

In Eile Ihr ergebenster

(Unterschrift unleserlich.)

Es soll damals recht heiter zugegangen sein. Die Leute saßen morgens verstört und mit kalkweißen Gesichtern in der Untergrundbahn; wenn man gut hinhörte, konnte man die Butter auf ihrem Kopf zergehen hören. Tiedtke stellt solchen Kummer bedrohter Ehrenmänner herrlich dar: eine Verlegenheit, die Streichhölzer schwitzt. Ein Summsen wie in einem Bienenschwarm entstand: sie hatten alle etwas am Stecken. Nur die Anfangsbuchstaben R. und H. paßten nicht ganz auf jeden – im übrigen war es ein Universalbrief. Die hübsche Idee fiel ins Wasser: sie war zu großzügig vorbereitet worden, denn der Trost, im tiefen Lustspielmalheur so viele Genossen zu haben, beruhigte die Leute bald wieder. (Heute würden sie einen „Reichsverband der doppelten Moral-Geschädigten“ gründen.) Die Reklame wurde erkannt, und das übrigens saudumme Buch ging nicht.

Der literarische Hauptmann von Köpenick anno 1908 hieß Peter Ganter. Und nun … „Erfinden Sie das mal, lieber Spitta!“ steht bei Hauptmann. Es ist die reine Wahrheit.

Dieser Peter Ganter wurde damals wegen groben Unfugs oder aus irgendeinem andern Paragraphen bestraft und ist seitdem verschollen. Und nun kommt zur „Weltbühne“ sein inzwischen herangewachsener Sohn und fragt ernst und ordentlich an, ob der ergebenst Unterzeichnete vielleicht Peter Ganter sei –

Nein. Ich bin es nicht. Ich bin kein Druckfehler, heiße Panter (mit P wie Pfreude) – und bin in keiner Weise identisch.

In Rumänien kannten wir eine Serbin, die war so hysterisch wie beschnurrbartet. Natürlich mußte Karlchen mit ihr etwas anfangen. Und sie klagte mir einmal ihr Leid: „Ich bin auch in dieser Intrigue gemischt!“ sagte sie. Jetzt kann ich ihr nachfühlen.

Wenn aber diese Zeilen dem richtigen Peter Ganter zu Gesicht kommen, der nun wohl längst als Cowboy die Liebig-Ochsen mit dem Lasso jagt oder als mehrfacher Häuserbesitzer in Singapore die eintreffende weiße Ware im Privatkontor persönlich durchprüft oder in Aserbeidschan sich freut, daß kein Mensch weiß, wo das liegt – wenn ihm diese Seite zu Gesicht kommt, dann möge er milde lächelnd eine Ansichtskarte an seinen Sohn abschicken und mich von einem schrecklichen Quiproquo befreien. Eine Ansichtskarte mit folgenden Worten:

„Mein liebes Kind! Ist das dortige Publikum noch immer so dumm wie zu meiner Zeit? Wenn ja, nimm sie hoch, wie sie es verdienen. Wir sind hier fein dran: hier weiß das Publikum noch gar nicht, daß es eins ist – daher ist es noch dümmer. Und laß Pantern zufrieden – er kann nichts dafür.  Dein treuer Vater

Peter Ganter.“

Wo bist du –?

Ich möchte mal fragen, ob vielleicht jemand weiß, wo es geblieben ist.

Als ich noch ein ganz kleiner Junge war, Tanzstunden nahm und glaubte, daß Richter Leute seien, die Recht sprächen, da besuchte ich zusammen mit einem dicken Freunde den Max Brod in Prag. Brod war freundlich und nett, zeigte uns seine schöne Stadt, machte uns mit Oskar Baum bekannt, dem blinden, feinen Dichter – es waren leuchtende Tage. Eines Tages fielen wir in ein Café am Bahnhof – und der Oberkellner, der aussah wie der Sohn eines Fiakerkutschers, einer Bardame und Kaiser Franz Josefs, kam auf uns zu und fragte, ob wir neben dem Kaffee auch etwas zu lesen haben wollten. Ja, das wollten wir. „Etwas zu lesen oder Lektüre?“ fragte er. Ich sah ihn an mit einem ratlosen Ausdruck in meinen Kinderaugen. „Zu lesen … Lektüre …“, sagte ich. „Lektüre, bitte sehr, bitte gleich!“ sagte er. Und eilte herbei, einen Packen Bücher und Hefte auf dem Handteller wie ein Tablett mit vielen Tassen Kaffee balancierend. Und gab uns das.

Heilige Gertrud Bäumer! Es waren die gesammelten Schweinereien des Jahrhunderts: Bücher mit Dialogen, die nur in begeisterten Ausrufen bestanden, sorgsame Schilderungen gesellschaftlicher Vorgänge, wie: „Die Baronin riß sich das Hemd vom Leibe, ergriff eine Peitsche und – –“ Auch hatte der vorsorgliche Mann uns mit Bilderbüchern versehen: Photographiealben mit allgemein verständlichen Aufnahmen, auf denen der brave Gesichtsausdruck der Handelnden in sonderbarem Gegensatz zu ihrem Tun stand, auch Zeichnungen und Gemälde aller Art. Ich sah um mich: da saßen neben mir viele Freudensgefährten, die stierten mit hochroten Köpfen in ebensolche Alben, und wenn sich eine Dame durch die Tische schlängelte, dann klappten sie ihr Heft nonchalant zu. Wir fanden das sehr interessant und sahen es uns alles an.

Unter den Büchern war eins, das machte mächtigen Eindruck auf mich. Es hieß: „Liebe“ und bestand aus vierzig Lithographien eines russischen Malers, des Grafen Zichy. Sie waren nicht unwitzig. In Erinnerung blieb mir manche Szene: emsiges Treiben nachts im Knabenpensionat, viele leicht und zierlich hingehuschte Bettbilder von lockender Wärme der Frauenkörper, in den Bildecken saß gewöhnlich eine kleine freche Unterschrift, so: „J’avais une tante qui m’aimait beaucoup“ und „Bons souvenirs!“ und ähnliches. Die letzte Seite bestand nur aus Skizzen von Händen, die sich mit allerhand beschäftigten, eine teilte einen Nasenstüber aus. Es war recht heiter.

Kaum staken wir wieder in Berlin, da ging ich zum sel. Meyer in der Potsdamer Straße, demselben, der seine Kunden als Begrüßung gern auf den Bauch zu klopfen pflegte, und befragte ihn nach diesem Werk. Er grinste und zog es aus einem Stapel seiner Bücher, unter denen nur er sich herausfand. Da hatte ich es, und es war nicht einmal teuer gewesen: fünfundsiebenzig; handeln hatte Meyer nicht gern, wenn er es nicht selber tat. Ich ließ es binden: in einem Anfall von Größenwahn in Ganzpergament, das ganze große Ding in Pergament, mit hellgelbem Seidenvorsatz. Es war ein rechtes Prachtalbum geworden.

Vierzehn Jahre ist das Buch bei mir geblieben. Es bekam langsam Daumenabdrücke von allerlei Damen: auch von Frau Knautschke, meiner damaligen, nunmehr in Gott eingegangenen Wirtin, die es sich während meiner Abwesenheit genau ansah. „Man will doch auch mal was haben!“ sagte sie, als wir darüber sprachen. Dann packte ich es fort, man wird dicker und älter, in den Krieg habe ich es nicht mitgenommen, wir Soldaten lesen seit unserer Kadettenzeit nur noch militärische Bücher, und dann sah ich es immer weniger und weniger an.

Und als sie dann meine Siebensachen packten, weil Poincaré mich rief, da legte ich es obenauf, unvorsichtigerweise uneingewickelt. Die Kisten reisten über Kehl, rollten über den Rhein, den deutschen Strom, nicht Deutschlands Grenze, und als der ganze Schwung in Paris ankam, da fehlte etliches. Das schöne Buch von Prinzhorn „Bildnerei der Geisteskranken“ und dies und jenes, und auch der Zichy. Was nun –?

Ah, Ersatz in Paris, nein, das war es nicht. Es ist doch ein kleines Stückchen Leben gewesen, das sich losgelöst hatte – und nur, weil ein Möbelpacker seinen Mund von einem Ohr bis zum andern aufgerissen hatte, als er es sah, sollte ich es entbehren …? Das war bitter. Auch war immerhin möglich, daß ein Zollbeamter … ich wage es nicht zu Ende zu denken. Kurz: der Zichy war weg.

Und da wollte ich mal fragen, ob es vielleicht jemand gesehen hat.

Es wäre ja denkbar, daß es sich einer gekauft hat, zu Studienzwecken, der Wissenschaft halber, nur um sich so etwas mal anzusehn, und was man so sagt. Der Pergamentdeckel ist leicht fleckig, das Buch gut erhalten, nur unten, an den rechten Ecken, sind manchmal die Seiten ein wenig eingerissen, wie wenn es da jemand beim Umblättern furchtbar eilig gehabt hätte.

Und wenn es einer hat, dann soll er mirs doch bitte sagen. Ich kaufe ihm ein neues, aber das da möchte ich gern wiederhaben. Es hat so viel aufgesaugt; an Gegenständen bleibt ja bekanntlich, wie auch an Wänden, das Leben haften, man lebt sie voll … Es ist eine Art Erinnerung, eine Erinnerung an die schönen Zeiten, als wir noch jung waren und erheblich neugieriger als heute. Eine Erinnerung an die Zeit, wo noch nicht ein Auge immer zuguckte, wenn das andere leuchtete – darin lebt ein Jahrzehnt. So wie in einer alten Grammophonplatte, die ein nun Verstorbener besungen hat, wie etwa der erschossene Chansonnier Fragson, in den Atempausen die damalige Zeit rauscht: 1910, vorbei, vorüber – aber doch einmal gewesen.

Wo bist du? In guter Pflege? Sind sie nett zu dir? Wo bist du –?

Die Musikalischen

Ich bin unmusikalisch. Wenn ich es sage, antworten die Leute mit einem frohen Gefühl der Überlegenheit: „Aber nein – das ist ja nicht möglich! Sie verstehen gewiß sehr viel von Musik …“ und freuen sich. Es ist aber doch so. Musik läßt mich aufhorchen; wenn ich sie höre, habe ich ein Bündel blödsinniger Assoziationen – und dann verliere ich mich im Gewirr der Töne, finde mich nicht mehr heraus … Und um rat- und hilflos zu sein, dazu brauche ich schließlich nicht erst in eine Oper zu gehen. Gut.

Was aber die Musikalischen sind, so ist das eine eigenartige Sache mit ihnen.

Ganz vernünftige Menschen, solche mit einer Stellung oder einem Mann oder einer oder mehreren Überzeugungen – diese also fallen plötzlich in das Musikfeld ein. Gurgelnd jagen sie durch die Notenstoppeln. Was gibts –?

Plötzlich sind sie drin, und ich bin draußen. Auf einmal sind sie alle verwandt, und ich bin eine Waise. Der Name eines Dirigenten fällt: und Haß leuchtet aus ihren Augen, ihre Zähne zermalmen ein Gekeif, sie ereifern sich, Hitze bricht aus den Kühlsten – was gibts, um Gotteswillen? Sie sind eine große Familie, wenn sie über Musik sprechen, ja, sie zanken sich, wie man sich nur in Familie zankt, mit jenem kundigen Haß der Nähe, jeder Hieb sitzt, weil man weiß, wo es weh tut, sie schnattern, wirtschaften im Irrgarten ihrer Musik – was gibts? Ich weiß es nicht.

Auch ist viel Stolz in ihnen und schöne Gesinnung, weil daß sie so musikalisch sind, was sie oft mit musisch verwechseln – besonders die Frauen hassen das Gemeine, sind unentwegt edel und schweben hörbar eine Handbreit über dem Erdboden. So: „Ich bin eine Hohepriesterin der Musik, und das will ich mir auch ausgebeten haben.“

Auch zeichnen sich Musiker durch einen fühlbaren Mangel an Humor aus – das ist grauslich. Sie verständigen sich schon von weitem durch kabbalistische Terminologie; kaum haben sie sich berochen, so bricht es aus ihnen hervor, jeder hat ein Klavier im Stall oder einen schwarzen Steinway-Rappen und erzählt von seinen Feldzügen auf diesen geschundenen Tieren … Stehn Sie einmal so kulturlos draußen herum, vor der Tür, so durchum und durchaus nicht dazu gehörig …

Horch! Wie sie murmeln! „Furtwängler habe ich doch noch gehört, wie er … Also von Mahler versteht er nichts, davon soll er die Finger lassen … Die Baßlage bei der Kulp ist in der letzten Zeit nicht so …“ Beschämt, zerknirscht, ein Trällerliedchen aus Palestrina auf den Lippen – so schleiche ich betrübt aufs Lavabo.

P.S. Selbstverständlich habe ich die falschen Musiker kennengelernt, Karikaturen musikalischer Menschen – Ausnahmefälle. „Denn Sie werden doch nicht leugnen, daß die Musik …“ Gute Nacht.

Rheinsberg

Im „Börsenblatt für den Deutschen Buchhandel“ finde ich eine Anzeige: „Rheinsberg, ein Bilderbuch für Verliebte“ erscheine zu seinem fünfzigsten Tausend in einer feierlichen und vom Verfasser abgezogenen Luxusausgabe. Die Vorrede, steht da, schrieb Kurt Tucholsky. Aber das ist nicht das richtige. Wo werde ich in einen signierten Büttenband etwas Gescheites hineinschreiben! Die richtige Vorrede soll hier stehen.

Rheinsberg … Et hoc meminisse iuvabit … Die Sache war damals so, daß ich das Buch, nach dem später generationsweise vom Blatt geliebt wurde, an der See schrieb, auf die Postille gebückt, zur Seite die wärmende Claire, und es, nach Berlin zurückgekehrt, Herrn Kunstmaler Szafranski vorlas. Das war eine Freude –! Der Dicke sagte, einen solchen Bockmist hätte er wohl alle seine Lebtage noch nicht vernommen, aber wenn ich es ein bißchen umarbeitete, und wenn er es illustrierte, dann würde es schon gehen. Ich arbeitete um, ließ die hübschen Stellen weg, walzte die mäßigen etwas aus, und inzwischen illustrierte jener, denn was ein richtiger Plagiatmaler ist, der ist fleißig. Während er abzeichnete, ging ich zu Herrn Verlegermeister Axel Juncker.

Verleger sind keine Menschen. Sie tun nur so. Dieser warf mich mit Buch hinaus.

Nun ist das weiter keine Schande. R. Tagore ist, wie Hans Reimann berichtet, auch erst bei Kurt Wolff abgewiesen worden, und nur der plötzlich bekommene Nobelpreis rettete ihn davor, bei Ullstein verlegt zu werden. Ich erhielt den Nobelpreis nicht – Rosegger stand damals in der engeren Wahl –; aber nachdem mir Verlegermeister Juncker noch rasch mitgeteilt hatte, daß Liebespaare niemals so miteinander redeten, nahm er es doch. Das war ihm ganz recht.

Inzwischen war Szafranski nicht müßig gewesen. Unter Zugrundelegung der Lipperheidischen Kostümbibliothek seines reich ausgestatteten photographischen Archivs und einiger anderer Vorlagen entsproß seinen dicken Händen langsam ein Werk, das man ruhig unter die besten Arbeiten Paul Schenrichs einreihen darf. Aber er wurde und wurde nicht fertig. Wir telephonierten damals recht lange und recht unfreundlich miteinander – schließlich bestellte er mich in die selige Queen-Bar und zeigte mir, was er angerichtet hatte. Ich trank vier Whiskys hintereinander. Dann sagte ich schüchtern, es sei sehr schön. Szafranski, leichtgläubig wie er nun einmal ist, glaubte das. Das Werk ging unter die Presse.

Es wurde ein Bombengeschäft. Über meine Verdienste will ich gar nicht erst reden; Szafranski kaufte sich jedenfalls von den seinen etwas, das er in befreundeten Kreisen als Häuschen ausgibt, und gehört heute zu den geachtetsten Mitbürgern Zehlendorfs. Der Verleger tat das, was Verleger immer tun: er setzte zu.

Nun hatten wir damals auf dem Kurfürstendamm die „Bücherbar“ aufgemacht, einen richtigen Studikerunfug, über den sich die Leute halb krank ärgerten, weil wir ein polyglottes Schild am Laden hatten, darauf in allen lebenden und toten Sprachen – auch auf gemauschelt – zu lesen war, daß es darinnen billige Bücher zu kaufen gäbe. (Wir haben noch unser Goldenes Buch, in das sich die illüstern Gäste eintragen mußten: Carl Meinhard war da und Hardekopf und Ludmilla Hell und Schriftsteller, die überhaupt nicht schreiben konnten und sich doch eintrugen … Die feinern Herrschaften kriegten einen Schnaps.) Die Presse brachte sich um. Die „Breslauer Zeitung“ war dagegen, die „Vossische“ dafür, Prag und Riga verhielten sich neutral – die Ausschnitte sind noch da – und der „Sankt Petersburger Herold“ vom achtzehnten Dezember 1912 schrieb, wer einen Wilde erstehe, der bekäme Whisky Soda, und wer Ibsen kaufte, einen nordischen Korn. Das stimmte aber nicht – wir tranken selber. Und verkauften schrecklich viele Rheinsbergs.

Also gut, wir gaben die Bücherbar wieder auf, weil ein guter Ulk immer ephemer ist, und die Zeiten gingen dahin. Was Axel Juncker inzwischen mit dem Buche machte, ist nie ruchbar geworden. Er schien es nicht gern herzugeben – denn man bekam es nirgends zu kaufen. Szafranski behauptete, das würde wie folgt gehandhabt: Trete jemand in den Buchladen und verlange das Werk, dann lächle Juncker süffisant und frage bekümmert: „Muß es denn sein?“ Und nur, wenn der sonderbare Käufer auf seinem Verlangen bestand, kroch der Verleger in den Keller und holte aus einer wohlbehüteten Ecke den kleinen Band, nicht, ohne ihn vorher sorgfältig abgestaubt zu haben. Aber schon aus dieser letzten Einzelheit geht ja klar hervor, daß die Geschichte nicht wahr sein kann.

Was Wilhelm den Zweiten anging, so ließ es selben nicht ruhn, und er entrierte ein Unternehmen, das später unter dem Namen „Große Zeit“ so berühmt geworden ist. Ich immer mit.

Und in Radsiwilischki – wir ließen gerade am deutschen Wesen die Welt genesen – in Radsiwilischki lief ein Schreiben des Verlegers ein, die erste Auflage sei vergriffen, und – was muß der gelitten haben, der Arme! – nun wolle er eine zweite drucken. Ich erwartete, vor die Front gerufen und belobigt zu werden. Das geschah nicht. Unser Hauptmann, der gegen die zivilische Heimat eine ähnliche Antipathie hatte wie mein Nebenmann, den sie zu Hause suchten, unser Hauptmann wurde auf einer Art Pferd angebracht, ein kurzes Kommando, und die kräftigen Tritte der wackern Feldgrauen erdröhnten auf dem welschen Pflaster. Das Nähere siehe unter Lissauer.

Als ich, von hinten erdolcht, wieder nach Hause kam, waren viele tausend Stück „Rheinsberg“ verkauft. Der Verlag hatte sein mögliches getan: ganze halbe Jahre war das schädliche Buch, geeignet, die Stimmung der Heimat zu untergraben, vergriffen gewesen, weil ja auch alles Papier für die 1001 Heeresberichte gebraucht wurde – aber zum größten Bedauern Junckers hatte sich der Verschleiß doch nicht ganz vermeiden lassen. Wir wußten uns vor Honoraren gar nicht zu lassen. Ich zeigte damals meinen Vertrag, den ersten, den ich in meinem Leben gemacht hatte, dem damaligen Vorsitzenden des Schutzverbandes Deutscher Schriftsteller. Der weinte eine halbe Stunde vor Freude und streichelte mir dann leise den Kopf. Ich weiß bis heute nicht, was er damit hat sagen wollen. Und Juncker setzte inzwischen immerzu zu …

Natürlich ist die Geschichte von „Rheinsberg“ wahr. Auch die Claire existiert noch. Sie lebt als eine wacklige, etwas tropfnasige Alte in Ducherow, unweit Pasewalk, wo sie neugierigen Fremden vom Rathauskastellan gegen ein Entgelt von fünfundzwanzig Pfennigen gezeigt wird; vormittags von elf bis eins und nachmittags von drei bis fünf. Sonntags ist sie zu. Ihr Lebensunterhalt wird in freundlicher Weise von unserm Verleger bestritten, sie ist also völlig verarmt.

Dieses da ist auch nicht die erste Luxusausgabe. Wir haben schon einmal eine gemacht, ganz privat, damals, als das Buch herauskam. Es waren dreißig Exemplare – und weil wir es unseren Damen schenken mußten, die im Verhältnis 29:1 unter uns aufgeteilt waren, malten wir in alle Exemplare, damit es keinen Ärger gäbe, eine schöne 1.

Bei den Rezensenten fand das Buch eine recht freundliche Aufnahme. Die netteste beim Dr. Owlglaß, dem alten Mitarbeiter des „Simplicissimus“, auf dessen Lob ich am meisten stolz gewesen bin.

Nun sind wir alt geworden und nur wenig schöner. Szafranski ist verheiratet, ich habe auch viel Unglück im Leben gehabt, und nur der Verleger setzt noch zu. Aber eines Tages werden auch wir dahin müssen, – denn das Schöne stirbt –, Szafranski wird zu Grabe getragen werden, seine Chefs, bei denen er arbeitet, werden ihm was blasen, sein Bruder wird ihm eine Rede halten und im Zylinder gradezu nett aussehen, ich werde auf sein Grab etwas Sellerie und kleine Erdbeeren pflanzen, die hat der Verstorbene immer so gern gegessen; und dann gehe auch ich und folge ihm nach. Und der Verleger wird in den Himmel kommen – doch, das kommt vor, man muß da nicht so rigoros sein, das Fegefeuer ist überfüllt – und die noch vorhandenen Exemplare von „Rheinsberg“ werden versickern, das Papier wird zerbröckeln, und dann gibt es gar keine mehr.

Wenn aber im Jahre 1985 ein neugieriger und verliebter junger Herr den Bücherschrank seiner Großmama durchstöbert, wird er von ganz hinten einen „auf Bütten abgezogenen und in rotes Bockleder gebundenen“ Band herausklauben – Nummer 18, vom Verfasser signiert. „Was ist das?“ wird der junge Herr fragen.

Und die Großmama wird sich den Band geben lassen, ihn ganz nahe an die Augen halten und dann leise lächeln. „Das“, wird sie sagen, „hat mir mal dein Großvater selig geschenkt, als wir uns verlobten. Aber du darfst es behalten und für deine Lydia mitnehmen.“ Das tut der junge Herr. Er packt den Bocklederband mit einigen Dingen, die zu schenken in dieser Zeit schick sein wird, zusammen und sendet alles an Lydia. Und Lydia wird die schicken Dinge sehr bewundern, sich an ihnen und am zukünftigen Neid ihrer Freundinnen erfreuen und schließlich einen Blick in das Buch hineintun. Und ein bißchen darin blättern.

Weil aber die Zeit läuft und sich das, was zwischen den Zeilen eines Buches ausgedrückt ist, niemals länger als fünfzig Jahre hält und mit den Menschen, von denen es und für die es geschrieben ist, dahingeht – deshalb wird die Dame Lydia mit den Achseln zucken und sagen: „Reizend!“ Und dann wird die Geschichte mit ihr und dem jungen Herrn ihren Fortgang nehmen.

Oben im Himmel aber, in einer besonders bevorzugten Ecke, gleich neben Cotta und Rowohlt, sitzt der Verleger und setzt zu.

Pars –!

Der dressierte Affe ist nun endlich ins Bett gebracht worden, er hat noch zum Juchhei aller Damen imaginär das Töpfchen benutzt, Herrgott, daß den Dresseuren auch gar nichts anderes einfällt! Die Springer sind gesprungen, die Leute am Reck haben sich gereckt, und nun haben sie einen schwarzen Samtvorhang herabgelassen, die Bühne bleibt einen Augenblick leer, das Orchester spielt hastig den kommenden Refrain … da ist sie. Keine langen Beine, die Finger, wie so oft bei Französinnen, kurz – das Ganze eine erste Nummer für Dijon. Gott weiß, wer sie nach Paris engagiert hat. Sie singt.

Pars –!
Sans te retourner,
Pars –!
Sans te souvenir!
Ni mes baisers, ni mes étreintes,
En ton cœur n’ont laissé d’empreintes…

Ein Groschenlied, natürlich. Eines von denen, die unter einem runden, weißrot gestreiften Sonnenschirm auf der Straße verkauft werden, drum herum steht im Ring das Publikum und lauscht dem Orchester: Geige, Harmonika, Mann mit Megaphon und eine Frauenstimme. Sie singen es dreihundertsechzigmal am Tag – nachher verkaufen sie die Noten.

Je n’ai pas su t’aimer,
Pas su te retenir …
Pars –!
Sans un mot d’adieu,
Pars –!
Laisse-moi souffrir –

Merkwürdig, daß man das alles gar nicht übersetzen kann. „Meine Küsse nicht und nicht meine Umarmungen haben Spuren in deinem Herzen zurückgelassen …“ Gut, Kammholz; nun noch mal das ganze auf französisch … Schon: „pars“ – wie soll man das sagen? Geh? Schieb ab? Hinfort mit dir? Es gibt im Deutschen kein einsilbiges Wort dieser Bedeutung mit einem a, das man so schön singen könnte wie „pars“ –

Le vent qui t’apporta t’emporte
Et, dussé-je en mourir qu’importe
Pars –!
Sans te retourner!
Pars –!
Sans te souvenir …

Da bleibt das Lied in der Terz hängen und verhallt. Die Dame steigt in die zweite Strophe.

Ne t’excuse pas, tu n’es pas coupable …

Nein, du bist nicht schuldig! Du hast ausgehalten bis zu allerletzt – ich, ich bin schuldig, ich krummer Hund auf meinem Parkettsitz. Fremde sitzen neben mir, links ein fetter Mann, rechts eine alte Dame mit weißem Haar. Mit mir spricht niemand. Zu mir sagt keiner: „Da vorn sitzt ein neuer Bräutigam von mir – ein ungewöhnlich schöner Junge!“ Ich bin unabhängig, ein freier Mann –

Tu ne sauras pas toute ma détresse
Tout le vide affreux de ton abandon –

Gar nicht. „Die schreckliche Leere, seitdem du weggegangen bist …?“ Gar nicht. Gar nicht. Doch.

Prends dans un baiser l’ultime caresse –

Diese Moorbäder von Tröstungen, ein schmutziges Opium mit bösen Reaktionen … Nur diese Ersatzfrauen nicht wiedersehen – nur das nicht – in den fremden Augen steht eine unendlich kleine Photographie von mir selbst, in welcher Aufmachung! In welcher Haltung! Ah, nein. Aber es ging schließlich nicht länger.

Nous ne sommes plus que des étrangers –

Aber es ging doch nicht mehr – nicht wahr, es ging doch nicht mehr weiter? Das wußten wir doch beide, nicht wahr? Noch diese Zwietracht eint – letzte Bindung: wir, wir haben uns gezankt – nein, auseinandergelebt.

Poursuis ton chemin –

Wie zwei Bahnlinien, die sich einmal gekreuzt haben, jetzt ist der eine Zug schon längst in Flandern, der andere vor Paris – aber einmal haben sie sich gekreuzt. Übrigens ist das alles ausgesprochen kindisch: in dieser riesigen, rotgoldenen Halle gibt es hundert Unglückliche, zehn Kranke, acht Entlassene, die noch keine neue Stellung haben und die nicht wissen, wie das nächsten Monat werden soll – und seinen kleinen Herzensjammer wird wohl jeder haben. Ach ja – jeder wird ihn haben, soll ihn haben – ich kann doch hier nicht allein sitzen und mich zum Narren machen. Ich bewahre aber gute Haltung, und man sieht mir gar nichts an. Pars –! Natürlich heißt das: Schieb ab.

Und nun muß dieses verfluchte Weib eine Zeile singen, eine einzige –:

Le souvenir est un chemin très long –

Eine weiche Faust schnellt von der Bühne herunter, preßt mich, würgt, mein Speichel trocknet aus, die Augen sind verschleiert … Ich schlucke. Und stehe vorsichtig auf und störe die alte Dame, der fette Mann sieht mir verwundert nach, da gehe ich auf Zehenspitzen hinaus. Sie singt:

Pars –!
Sans te retourner,
Pars –!
Sans te souvenir …

Ein Mann, der in einem kleinen Kabinett steht und heult – das ist wohl etwas hervorragend Lächerliches. Man hört noch ein ganz kleines bißchen Musik. Übrigens stirbt keiner im höchsten Schmerz. Alles arrangiert sich, es geht ein langsamer Wechsel der Zellen vor sich – und weil niemand in fortgesetzter Ekstase leben kann, verfliegen Töne und Musik und Tränen, als wären sie nie gewesen.

Enthüllung

„Es gibt keinen Mädchenhandel“, sagt Kurt Tucholsky. – Was hat er für ein Interesse, die Mädchenhändler zu schützen?

Nationale Zeitungsnotiz

Frühmorgens, wenn, mit Verlaub zu sagen, die Hähne krähn, springe ich fröhlich aus dem Bett, reibe mir den Beischlaf aus den Augen, gürte meinen Galanteriedegen, und – hei! – fort gehts, meinem heimlichen Beruf entgegen, von dem niemand, niemand nichts weiß. Rasch den Kuppelpelz umgelegt, und hinein in den Rolls-Royce jüngere Linie, der schon vor der Tür, abgezahlt bis auf das linke Hinterrad, auf mich wartet. Fahr zu, Johann, und laß die Pferdekräfte traben –!

Bei der Pariser Polizei bin ich als Schriftsteller gemeldet. In Wirklichkeit habe ich, allein in Paris, fünf Häuser, mit zweihundertachtundvierzig Insassinnen, zwölf Oberschwestern, einem Generalkuppelwart, und alle sind Tag und Nacht geöffnet.

„Glückauf!“ begrüßt mich der stattliche Pförtner der Zentrale in der rue Louletrou. Mit echt kapitalistischem Kopfnicken grüße ich zurück und betrete die samtgeschwollenen Bureauräume. „Was Neues?“ frage ich kurz. Herr Friedrich, der Direktor der Zuhaltei, legt mir respektvoll in der Unterschriftsmappe die Post vor. Ich durchfliege sie.

– „Blondinenbaisse an der Mädchenhändlerbörse in Buenos-Aires“ – „… die von Ihnen vorgebrachte Reklamation leider nicht anerkennen können, da der Schade auf dem Transport entstanden ist, wir also keinerlei Haftung …“ – „… Ihnen meine so gut wie neue, und nur von ersten Kavalieren getragene Cousine anzubieten, die …“ – „… daher bestimmt mit einer Erhöhung des Grundtarifs auf 1,84 Mark rechnen zu können uns in die sicherste Erwartung zu setzen glauben zu müssen. Der Betriebsrat des Hauses ,Chez Neppine‘.“

– „Sonst was?“ frage ich Herrn Friedrich mit jenem leichten Vibrieren in der Stimme, das andeutet, er zähle zwar zu den höhern Beamten, das ihn aber nicht vergessen macht, daß auch er nur ein Angestellter ist. Hier in diesem mächtigen Zimmer laufen die Fäden der großen Geschäfte zusammen: Umsatz in Nordafrika flau; Transitverkehr mit Australien überwiegend fester; der Konzern internationaler Mädchenhändler beschließt, die Abberufung des Sowjet-Gesandten aus Paris zu erzwingen, da er sich in unzulässiger Weise gegen unsere Interessen ausgesprochen hat, ein kleiner Krieg zieht leise am Horizont auf, und wir werden gut an ihm verdienen … „Sonst nichts“, sagt Herr Friedrich.

Elastischen Schrittes begebe ich mich zur Einkaufsabteilung. Auf dem Korridor steht schon eine Schar Mädchenfänger, zum Ausrücken bereit, an der Tür.

Die Mannschaften tragen große Netze, mit denen sie in einsamen Gegenden, in Stadtparks und an leeren Kanalböschungen unschuldige Mädchen einfangen und mir hierher bringen; die Leute vom Salontrupp haben sich kleine schwarze Bärtchen geklebt, die ihnen ein verführerisches Aussehen verleihen: so schleichen sie sich in die feinen Familien ein und flüstern dort mit heißer Stimme den Haustöchtern verlockende Angebote in die Öhrchen; erst gestern war man auf diese Weise einer reichen Bankierstochter habhaft geworden, der wir eine Stellung als Dienstmädchen in Rio de Janeiro angeboten hatten. Ich musterte den Trupp, der militärisch grüßte. „Zweiter Stoßtrupp der Mädchenfänger zum Ausmarsch angetreten!“ meldete der Führer. Ich winkte ab. Und trat in die Einkaufsabteilung.

Meine Augen sahen alles: da standen große Kisten, in denen lagen die chloroformierten Opfer der letzten Streifzüge, etliche hatte man bei der Lektüre des „Zauberbergs“ erwischt, und sie waren gar nicht gewahr geworden, daß man sie noch einmal eingeschläfert hatte … andere waren frisch aus dem Filmatelier oder bei der Konfektion weggefangen worden, und müde hatten sie sich gegen den überflüssigen Umzug gewehrt. In einer Ecke war die Arbitrage-Abteilung, dort wurden die Mädchen ausgetauscht, streng nach ihrem Wert: zwei kleine zu fünfzehn gegen eine große zu dreißig und so fort. Denn hier ist das, mit Verlaub zu sagen, Becken, in dem sich alle Vorräte sammeln: hier werden die Mädchen verteilt und repartiert, von hier gehen die bemusterten Offerten heraus, die Mädchen auf Abzahlung und die gröbern Dessins für das Militär. So passen sich die Kollektionen jedem Land und jedem Kontinent an: die für die Vereinigten Staaten bestimmten Mädchen – Marke „Petting“ – sind garantiert sexuell unaufgeklärt und bleiben das auch ihr Leben lang. (Man beachte die Banderole.) Auch wurde hier unser Patent-Präparat für einsame Farmer hergestellt: „Das Weib in der Tube.“

An der linken Glastür gabs Lärm. „Was ist –?“ fragte ich. Der Rayonchef stürzte beflissen vor.

„Herr Präsident werden erstaunt sein, zu hören …“, sagte er, „daß wiederum, trotz aller Absperrungsmaßnahmen, zwei Damen zur freiwilligen Meldung gekommen sind. Sie begehren durchaus Aufnahme!“ – „Um wen handelt es sich?“ fragte ich. „Es sind vier!“ meldete der Aufsichtsbeamte vom Dienst. „Es ist der gesamte Vorstand vom Reichsbund zur raschen Niederkämpfung des außerehelichen Geschlechtsverkehrs!“ – „Sagen Sie den Damen,“ befahl ich, „daß wir komplett sind!“ Ein vierstimmiges Jammergeheul vor der Tür bewies, daß edlere Teile getroffen waren.

Brummend rollte mein Wagen mit mir davon.

Im „Garten des Paradieses“ war gerade großes Reinemachen. Wasser floß von den Wänden, Staubsauger sogen an den Türen, die laut polizeilicher Vorschrift die heißen Schreie der Lust zu ersticken hatten … Die Vertrauensdame, Frau Wedderbein, trat mir entgegen und grüßte mit erfahrener Verbindlichkeit. „Glück auf!“ sagte sie. „Glück wieder runter!“ sagte ich. Wir begaben uns ins Vorstandszimmer.

Alles in Ordnung.

Im Inventarbuch fehlte kein Bett und keine Rute; es war, wie der illustrierte Führer durch das Paradies zeigte, für jeden Geschmack gesorgt, und auch der kleine Mann konnte hier nach den Mühen des Tages Begierden frönen, auf die er nach harter und ernster Berufsarbeit wohl Anspruch hatte. Sexuelle Traumen; Spiegelzimmer für minderbemittelte Ipsisten sowie Separatabteilungen für Fetische in allen Größen waren da: hier konnten die Leute einen schönen Stiefel lieben; prima Affekttaumel waren schon von acht Mark das Stück zu haben, und auch Fernbehandlung wurde gern übernommen. Wir standen durchaus auf der Höhe. Und während die Frau Vorstand mir eine Seite des Hauptbuches nach der andern aufblätterte und meine Augen mechanisch die Kolumnen musterten:

… dasselbe mit ff. Ödipuskomplex … 12,65 M

da schweiften, mit Verlaub zu sagen, meine Gedanken zurück in die ferne Vergangenheit, in die Zeiten meines Anfangs.

’s ist nun acht Jahre her, daß ich das erste Haus eröffnet habe: eine kleine kümmerliche Etage am Dönhoffplatz, und neben den stolzen Prachtbauten des Viertels konnte sich mein kleiner Betrieb gar nicht sehen lassen. Vier Damen beschäftigten wir damals – und wenns gar hoch herging, dann half wohl Stiefmütterchen in der Not mit aus, und ich saß an der Kasse und überzählte die Scheine. Und welcher Aufstieg seitdem!

Haus reiht sich heute an Haus, Werk an Werk; da rauchen die Schlote, da gellen die Sirenen, da richten sich riesige Schornsteine freudig zum Himmel empor, und durch eine selbstverständlich horizontale Vertrustung ist es mir gelungen, den gesamten Mädchenhandelsmarkt zu kontrollieren. Medaillen prangen auf meinen Briefbogen; ich bin Hoflieferant, wenn auch ein aufrechter Republikaner, allerdings die guten Seiten des alten Regimes schätzend, aber natürlich durchaus verfassungstreu. Ein eignes Ressort ist damit befaßt, genau darauf zu achten, daß die Häuser – je nach der Kundschaft – auch die richtige Fahne heraushängen. Bei uns an der Gösch!

Ja, wenn ich so zurückdenke … Was hat allein die, mit Verlaub zu sagen, Revolution in Deutschland uns für Schwierigkeiten bereitet! Am idealsten ist die Sache in unserm „Anschlußheim“ gelöst: das hat eine doppelte Straßenfront, rechts flattert Schwarz-Weiß-Rot, und links weht, im jeweiligen Winde, Schwarz-Rot-Gold. Rechts ist alles volkhaft eingerichtet, wie es der echte deutsche Mann liebt: zierliche Guirlanden ziehen sich durch echt deutsche Rheinzimmer, sinnige Plakate schmücken die Wände – „Deutsche, vergewaltigt deutsche Mädchen!“ – und deutscher Wein rollt durch deutsche Kehlen. Links hingegen können sich die Besucher an allen Freuden der Demokratie gütlich tun: kein Zimmer ohne Schaukel und ohne Filzpantoffel.

Befriedigt verließ ich den „Garten des Paradieses“ und begab mich zum Bijou meiner Betriebe: in den von mir gegründeten Kammerpuff. Mit dem hatte es eine eigne Bewandtnis.

Der „Kampu“, wie er in vertrauten Kreisen gern genannt wird, war errichtet worden, um auch den raffiniertesten Ansprüchen einer subtil empfindenden Kundschaft gerecht zu werden. Hier gab es sonderbare und seltsame Einrichtungen – „Jedem das Seine“ stand über der dekorativen Haustür – und da hatten wir als Attraktionen: ein Mitglied vom sozialdemokratischen Parteivorstand, das zugleich Pazifist war, es war äußerst zerbrechlich und wurde nur von weitem gezeigt, was vielen mit Recht genügte; einen deutschen Minister, der Deutsch konnte und es auch schrieb – ja, wir standen sogar im Begriff, uns einen Redakteur anzuschaffen, der bei seinem Verleger etwas durchsetzen konnte, aber bisher hatten wir noch keinen gefunden. In einem engen, vaterländisch ausgeschlagenen Raum konnte ein Richter Recht sprechen, und wo sollte er das auch sonst tun! Wir hatten einen lesbischen Regierungsrat und einen Major, der war Transvestit: er zog sich fortwährend sein Zivil aus und die lakaiserliche Uniform an; wir hatten Tauchermädchen, die stundenlang unter Wasser repunsieren konnten, und wir hatten Elefanten und Schaukelpferde, chinesische Enten und die Dolden edler Lilien. Das kostete nicht billig. „Bei Kisch!“ rief ich aus, „so ein Haus macht uns keiner nach!“

Nur eins hatten wir nicht: es waren Staatsanwälte zu uns gekommen und wünschten die gleiche Sensation zu haben, die sie bei der Konfiskation unsittlicher Bücher empfänden; aber da hatte sich das ganze Personal einhellig geweigert: solchen Ansprüchen, sagte es, könne es nicht gerecht werden.

So ging ich von Zimmer zu Zimmer, umgeben von meinem Stab, den Hausvorständen, dem Betriebsleiter und den Anstaltsgeistlichen: von Moltke, Feldrabbiner; der Kaplan Eusebius Brenda, dessen Amt sich seit Generationen vom Vater auf den Sohn vererbt hatte; sodann der Superintendent D. Dr. Raucheysen, der neidete dem Juden die Schläue und dem Pfaffen die politische Macht und ersetzte, was ihm fehlte, durch rücksichtslose Würde. Das war der seelsorgerische Beistand, und wenn man genauer hinsah, konnte man die drei gar nicht voneinander unterscheiden.

Doch nun war es dämmrig geworden, und ich rollte in meinem Wagen mit Rückkupplung davon.

Durch dunkle Straßen kamen wir, vorbei an Fabriken, die ihren Menscheninhalt ausspien. Da bewegten sich die lebenden Maschinenarme, stießen, schoben sich im Gedränge um meinen Wagen – ausgemergelte Männer mit müden, stumpfen Gesichtern, Frauen mit schlaffen Brüsten; mir schien, als seien sie mir feindselig gesinnt, besonders die Weiber. Pfiffe … Und ich begriff gar nicht, wie diese Frauen jemals auf den Gedanken verfallen konnten, ihre schöne Arbeit aufzugeben und Anstellung in unseren Betrieben zu suchen. Hatten diese nicht alles, was ihr Herz begehrte? Eine geachtete ehrliche Arbeit? Und zehn Stunden dazu? Und einen Wochenlohn von achtzehn Mark fünfzig?

Ich hielt erst vor der „Blauen Grotte“, dem größten meiner Häuser, das grade in vollem Betrieb war. Und voyeurte durch die Gucklöcher.

Da lagen sie.

Da lagen sie und lachten verschmitzt, als hätten sie dem lieben Gott etwas abgeluchst, was ihnen eigentlich nicht zustände – viele hatten ernste und verbissene Gesichter, nie waren sie so außer sich, wie wenn sie in sich gingen. Die Kunden zerflossen irr, alle Temperamente waren vertreten, verliebt war keiner, alle eilig. Keine Geste war mir fremd – ich kannte sie, die Monomanen, die zutiefst im andern nur sich selbst spiegelten: Kasperlefiguren ihres Ich, das im Rhythmus des in sie gelegten Schicksals auf- und abzuckte. Herkömmlich ihre Individualität grade in dieser Stunde, traditionell ihre Besonderheit, in jeder Kabine wähnte sich einer Gott und war Serienartikel, Leben, das nur Wiederholungen kennt, weil in der Wiederholung das Leben ist – kleine mechanische Püppchen, zu meinem Vergnügen an einer Schnur aufgereiht … Ich auch? Ich auch.

Versonnen schritt ich auf die matt erleuchtete Straße, in der schwarz und drohend der Wagen stand. Der Chauffeur schlief. Da traten vier ältere Herren auf mich zu, feierlich, lüpften die Zylinder, und nannten leise, wie fragend, meinen Namen. „Gewiß …“ sagte ich. Der Längste trat vor. Und sprach:

„Wir danken Ihnen im Namen der Sittlichkeitsvereine, daß Sie auf der Welt sind. Denn wären Sie nicht –: was sollten unsere Frauen tun? Wir sind alt, Herr Präsident; wir sind müde, Herr Präsident; wir sind ernste Geschäftsleute: wir wollen abends in Ruhe unsere Zeitung lesen und eine Zigarre rauchen. Durch die blauen Wölkchen der Havanna aber blicken unsre Frauen träumerisch ins Weite, weit fort vom Großreinemachen und der täglichen Wirtschaft; Sumatra erscheint und Celebes, wilde schwarze Männer zerren halb bekleidete weiße Mädchen ins Bordell, spitze Schreie steigen auf, und gepeinigt sinken die armen Opfer der Wollust auf die harte Bettstatt ihrer Schande. Aber da naht der Retter. Die blauen Jungens unsrer edeln Handelsmarine, unter Führung des Grafen Luckner, greifen mit kräftigen Fäusten ein, deutsche Hiebe hageln, der schurkische Mestize sinkt entseelt zu Boden, und stolz weht vom Heck des sittlich gereinigten Mädchens die Flagge Schwarz-Weiß-Rot!“ Erschöpft schwieg der Sprecher. Der Nächstlängste fuhr fort:

„Und darum danken wir Ihnen! Denn jetzt haben unsre Frauen eine Beschäftigung – und eine, die sie, mit Verlaub zu sagen, befriedigt. Ja, sogar der Völkerbund bekämpft den Mädchenhandel – denn wer sollte die billige Nachtarbeit in den Fabriken tun, wenn Sie uns die Mädchen stehlen? Aber handeln Sie nur so fort – wir sind wie das Militär: ohne einen Feind müßten wir elend verkümmern. Ihr Gewerbe ist abscheulich – doch muß es sein: Sittliche Entrüstung führt unsre reinen Frauen zur selben Entspannung, die Sie mit fluchbeladener Sünde zu erreichen in der beneidenswerten Lage sind!

Und nun bitte ich um eine Karte Ihrer Häuser –!“

Kirchhofsmauer

Requiem

Am 24. Mai ist er sanft entschlafen, und am 27. Mai haben wir ihn begraben. Es war eine erhebende Feier.

*

Es war so überraschend schnell gegangen. Am Mittwoch hatte er noch Spengler gelesen und andern Unfug getrieben, als um dreiviertel sieben Uhr abends zwei Freikarten für eine neue Operette einliefen. War es nun die Gelehrsamkeit des 18 prozentigen Industrie-Philosophen oder der Schreck – kurz: Wrobel bekam Atembeschwerden, und, seiner Sinne nicht mehr mächtig, ließ er den Halsspezialisten Dr. Puppe rufen. Bevor der noch in der Eile den letzten Teuerungsindex errechnen konnte, glitt der Patient dahin, und alles war aus. Der schwer erschütterte Mediziner saß im Vorzimmer des Toten – es war die erste Nasenscheidewand in seinem Leben, die unoperiert davongekommen war –, und als ihm nun eröffnet wurde, daß er als Vermächtnis alle Jahrgänge der „Weltbühne“ geerbt hatte, da weinte der große und starke Mann bitterlich.

Wir andern aber formierten den Trauerzug und setzten uns langsam in Bewegung. Vorn rollte der Dichter selbst – zum Glück war der Sarg geschlossen, denn der Anblick des im Wagen fahrenden Wrobel hatte stets den Neid und den Abscheu aller Vorübergehenden erregt. Immer hatte er in den großstädtischen Automobilen nach der Melodie gesessen: „Wie gut, daß ihr lauft!“ Das konnte er dieses Mal nicht sagen. Schwer zogen die Pferde an der ungewohnten Last. Bekanntlich hatte Wrobel falsch ausgesehen – die tiefe Tragik seines Lebens bestand darin, daß jeder, der ihn kennenlernte, beleidigt fragte: „Sie sind Herr Wrobel? Sie habe ich mir ganz anders vorgestellt!“ Und auf die bescheidene Frage, wie man sich ihn denn vorgestellt habe, erfolgte jedesmal die Antwort: „Nun – hager, blau rasiert und mit einer Intellektual-Brille versehen!“ Und dann hatte Wrobel jedesmal zu bedauern – aber es half ihm nicht: er sah falsch aus. Das also fuhr im vordersten Wagen.

Dahinter folgte eine unübersehbare Reihe von drei Droschken. In der ersten saß die republikanische Partei Deutschlands; ein Mitglied hatte auf dem Bock Platz genommen, weil es eine Sondergruppe bildete und sich mit den andern nicht vertrug. Im zweiten Wagen saßen die Geliebten des Dichters – von jeder Haarfarbe eine zur Auswahl. Die Damen hatten sich sofort miteinander verständigt, denn sie waren sich über die zahllosen Lächerlichkeiten des lieben Verstorbenen vollkommen einig: er schnarchte, machte Plüschaugen, bevor er mit den Mädchen geschlafen hatte, und war im ganzen von einem stinkenden Geiz. Alle in diesem Wagen hatten ihn wirklich geliebt, ehe sie ihn persönlich kannten; auch gaben sie ihn für eine freundliche Erinnerung aus: an die Zeit der Kopulation selbst mochte keine gern zurückdenken. Die dritte Droschke war leer – der Kutscher fuhr aus Langerweile mit, und weil er hoffte, auf dem Friedhof eine gute Fuhre zu bekommen.

Der Friedhof war stippevoll. Als der Wagenzug räderknirschend das schmiedeeiserne Tor erreicht hatte, senkten sich alle Zylinderhüte. Der Sarg wurde durch das Spalier getragen. Hinter Trauerbosketts aus frischem Suppengrün setzte sich ein unsichtbarer Chor in musikalische Bewegung – der Direktor Rudolph Nelson dirigierte ihn, leicht verärgert, daß man ihn so aus seiner Ruhe gestört hatte, würdevoll und eingedenk der hohen Vorschüsse, die da zu Grabe getragen wurden. Er konstatierte mit Befriedigung, daß auch hier alles ausverkauft war, nickte mit dem kleinen dicken Kopf aus dem tadellosen schwarzen Überzieher, sah zu Käthchen Erlholz, seiner Frau, hinüber, die dastand und sich furchtbar mopste – und der Chor begann:

„Mir ist heut so nach Tamerlan!“

Das war eines jener zahllosen Chansons des Verstorbenen, angefertigt für die Kreise, die er so zu verachten vorgab; mit der einen Hand kritisierte er sie, mit der andern zapfte er ihnen den Sekt ab. Er war eben eine problematische Natur…

Die Leute schritten langsam zur Trauerhalle.

Unter den Erschienenen bemerkten sich u. a.:

Herr Pallenberg; Frau Massaray; der gefeierte Emil Jannings, der, wie alle vernünftigen Leute, gegen Begräbnisse eine schwere Antipathie hatte, aber gefaßt war, aussah wie ein trauernder ägyptischer Koloß und dachte: „Mensch, wenn ich bloß erst wieder zu Hause wäre –!“; zwei Zeitungsherausgeber, die dem Verstorbenen für alle seine Arbeiten zusammen so viel Honorar gezahlt hatten, wie ihre Autofahrt nach dem Friedhof kostete; kleine Damen, die sich in Rheinsberg hatten verführen lassen und dem Toten dafür dankbar waren, obgleich der gar nichts davon gehabt hatte; mit einer Hand in der Hosentasche: Georg Bernhard; Claire Waldoff; Paul Graetz, der sein wirklich ernstes Gesicht aufgesetzt hatte („Denn er war meiner!“) – und der in guter Haltung daherschritt, weil er der einzige Berliner Komiker war, weit und breit; eine Abordnung von Nazis, die der Tote so geschätzt hatte… Und Gussy Holl stand da, entzückend ließ sich ihr helles Blond zu dem feinen Schwarz ihres neuen Tuchkleides –: „Doktor, rat mal, was das Kleid gekostet hat?“ Aber der Doktor konnte es ihr nicht mehr sagen – zum erstenmal in seinem Leben war er pathetisch geworden und lag in seinem Sarg und schwieg. Und alle Lebenden haben Unrecht vor einem Toten.

Die Republik hatte einen amtlichen Vertreter geschickt. Das heißt: eigentlich hatte der bei Wrobels Begräbnis gar nichts zu suchen, sondern er war ausgesandt worden, um namens der Reichsstelle für die Förderung deutscher Gebrauchskatzen zu dem Tode des Oberförsters Karnowsky sein amtliches Beileid auszusprechen. Der hohe Beamte aber hatte sich im Feld geirrt und ging hier nun ahnungslos mit. Er wurde späterhin wegen Teilnahme an einem öffentlichen Unfug pensioniert. Denn die deutsche Republik gibt dem Kaiser, was des Kaisers ist.

Nun war die Menge in die Trauerhalle gelangt. Der Zug stockte, hielt. Ein schwarz begehrockter Herr trat vor und hielt ein weißes Blatt in der Hand. Alle Köpfe entblößten sich. Alfred Holzbock stand mit völlig kahler Platte da; seine Haare waren im Zylinder verblieben. Und der Redner sprach:

„Geehrte Trauerversammlung! Wir stehen am Grabe von Kaspar Theobald Peter Kurt Ignaz Wrobel. Ein schwerer Schlag hat ihn und uns getroffen. Der Entschlafene wurde geboren am 9. Januar 1890 in Podejuch bei Stettin und besuchte dortselbst bis zu seiner endgültigen Pubertät die Fürsorgeanstalt für geistig zurückgebliebene, aber uneheliche Kinder; im Jahre 1908 wurde er in die Schule für eheliche Kinder versetzt. Nachdem ihm zugleich mit General Mackensen das Doktorat einer deutschen Universität für den Wiederbeschaffungspreis von 350 Mark verliehen worden war, trug er einen vom damaligen Kaiser entliehenen Rock und bekleidete denselben vom Jahre 1915–1918. Nach siegreicher Durchdringung Rumäniens trat der Verblichene in eine Berliner Zeitungsredaktion ein, woselbst er durch rasche Verjagung der zahlungsfähigen Inserenten und Abonnenten bald eine beliebte Persönlichkeit wurde. Als nur noch der Chefredakteur und er das von ihm redigierte Blatt lasen, wurde er Stellungsloser und bezog von der Stadt Berlin eine Rente.

Geehrte Trauerversammlung! Der Verstorbene ist ein glücklicher Mensch gewesen. Das Leben in diesem sonnigen Lande war ihm stets eine Freude, und zauberte dasselbe ewiges Lächeln auf seine reichlichen Züge. Er hat die Stille geliebt und die Unabhängigkeit: wollte er Unabhängigkeit, so ging er spaßeshalber zur U. S. P. D., und wollte er Stille, so ging er zur Deutschen Demokratischen Partei.

Er hat ein schönes Dasein gehabt. Er hat alle Frauen bekommen, die er begehrt hat – und er hat aus Vorsicht nur die begehrt, die er bekommen konnte. Stets in der Lage, seine Neurasthenie für weisen Verzicht auszugeben, war er immer bereit, um eine Arbeit zu ersparen, mehr Arbeit aufzuwenden, als die Arbeit selbst gekostet hätte. Er war Misaut von reinstem Wasser.“ (Hier murrte die Zuhörerschaft und verbat sich antisemitische Äußerungen. Aber der Redner fuhr fort.)

„Er interessierte sich für die verschlungenen Fäden der deutschen Justiz – diese Knoten von deutschen Richtern aufgelöst zu sehen, war ihm immer eine schöne Freude. Wie liebte er das muntere Völkchen der freien Künstler, diese unordentlichen Bürger! Wie liebte er die Geschäftsleute, die sich den Künstler heranholten und tief beleidigt waren, wenn er etwa seine Individualität nun auch bei ihnen adhibierte!

Stets ist es ihm gelungen, in der ‚Weltbühne‘ durch die Grazie seines Stils über die Hohlheit seines Kopfes hinwegzutäuschen! Er hat durchgehalten. Er glaubte an keinen Zusammenbruch. Er sah, daß die Pazifisten zumeist beleidigter Landsturm ohne Waffe waren – und er sah, wie der altdeutsch angestrichene Apparat nur funktionierte, wenn er sich mausig machen konnte.

Und weil die meisten Erfolge auf Mißverständnissen beruhen, so darf gesagt werden: Er hat viel Erfolg gehabt. Und aus diesem Paradeis mußte er hinfort, aus diesem schönen Lande scheiden! Wie wird er es ohne Deutschland da drüben aushalten? Ohne diese Nation von Biertrinkern, Diensttuenden, Diensthabenden und Dienstmännern?

Unser Leben währet, wenn es hochkommt, siebenzig Jahre – und was das angeht, so ist ihm immer nach achtzig zumute gewesen. Wir, die wir nacheinander und unbeirrbar an Kaiser und Vaterland, an Sozialistengesetz und Lex Heinze, an Kriegsanleihe und Ruhrabwehrkampf geglaubt haben – siehe, wir stehen da und grüßen dich! Ich spreche für alle und rufe ich dir ins Grab nach, Ignaz Wrobel:

Glückliche Reise –!“

Der Redner schwieg. Leise spielte der Wind mit den abgeschabten Rockschößen der Pressevertreter, die da auf dem Rasen standen: rechts die besseren Herren, links einige Kommunisten, die am liebsten links von sich selbst gestanden hätten – und auf dem goldenen Mittelweg, wohin er gehörte: Friedrich Stampfer.

Sie hoben den Sarg und trugen ihn hinaus. „Von Erde bist du“, sprach einer und warf die drei Handvoll nach unten. Die Schollen verhielten sich vorschriftsmäßig: sie polterten dumpf.

Über und über mit Kränzen bedeckt war der Boden. Atlasschleifen lugten aus dem Grün hervor; Journalisten notierten sich die Inschriften:

„Seinem Ehrenmitglied der Verband Berliner Absteigevermieterinnen.“ – „Dies war mein lieber Sohn, an welchem ich Wohlgefallen habe. Jes. Sir. 42, 1. Gustav Noske.“ – „1000 Tränen! abzüglich 20% Freiexemplare gleich 650 Tränen vergießt der Drei-Masken-Verlag.“ So lagen da viele schöne Kränze.

Das Trauergefolge zerstreute sich. Die Nazis gingen in ihren Klub, wo sie beim Spielverbot neuen Operetten- und Filmstoff aus dem Begräbnis schöpften; Georg Bernhard organisierte in einer Ecke eine Tarifvereinigung der Totengräber; die jungen Mädchen hielten die von Mama gemopsten Spitzentaschentücher vor die Augen und fuhren dahin, sich wiederum verführen zu lassen; und Pallenberg, Massary, Jannings und Holl – nicht ungefilmt gingen sie davon.

Noch einmal trat Claire Waldoff an die Grube, sah hinunter und sagte mit heiserer Kehle: „Komm ruff!“ Und trat ab, um aufzutreten.

Der Friedhof war leer. Der freundliche Schein der Sonne fiel auf den granitenen Grabstein, mit dem sich der gute Ignaz Wrobel rechtzeitig eingedeckt hatte. In silbernen Buchstaben stand da zu lesen:

HIER RUHT EIN GOLDENES HERZ
UND EINE EISERNE SCHNAUZE.
GUTE NACHT –!

Brot mit Tränen

Manchmal, wenn etwas Fürchterliches passiert ist, muß man nachher essen. Das ist eine seltsame Art zu essen …

Ekel vor dem Alltag, Scham, ihm unterworfen zu sein, sind überwunden – denn erst hat der Gedanke so weh getan, nun, nach solchem Geschehnis, etwas zu essen. Dann erfüllt das Gefäß des Schmerzes eine Formalität.

Es ist gar kein Essen. Ja, es wird wohl dem Körper eine Nahrungszufuhr vermittelt, das ist wahr, und es rutscht auch hinunter. Aber die Augen brennen noch verschleiert von Tränen, salzig fällt es auf die Butterbrote, vom Pathetischen zum Trivialen ist es nur eine Nasenspitze weit. Die Backen kauen, die Kehle schluckt, die Hand umklammert irgend etwas Brotiges. Aber es schmeckt nach nichts, es ist eine unnütze Geste, dieses Essen. Es widert einen an, das da.

Einmal, da starb einer Verwandten der Mann. Das war um sieben. Als er tot war, saßen nachher alle bei Tisch, gezwungenermaßen, wie nach einer geschlagenen Schlacht, nach einer Niederlage. Es war aus. Niemand sprach. Dann aber sprach jemand, und ich werde nie die Stimme der Frau vergessen, die da zu ihrer Schwester sagte, schluchzte, naß stöhnte: „Wo hast du die Eier her –?“ Und die andere, tonlos, leergeweint, am Ende: „Von Prustermann. Sind sie nicht gut –?“

Seht, so holt sich das Leben seine Leute wieder, die ins Land der Trauer auf Urlaub gehen.

Nachher

Wir schaukelten uns auf den Wellen – kurze und lange umhauchten uns, die Sendestationen der Planetenkugeln versorgten uns damit, uns, im jenseitigen Herrenbad. Aus den Familienkabinen drang leises Kreischen.

„Welches war eigentlich Ihr schlimmster Eindruck hier bei uns?“ fragte er. Ich sagte:

„Der erste Tag im Empfangssaal – das war gräßlich. Daran mag ich gar nicht zurückdenken. Gräßlich war das.“

„Warum?“ fragte er. Ich sagte: „Zweiundsiebzig Jahre auf der Erde, das bedeutet: neunundsechzig Jahre lang gelogen, Empfindungen versteckt, geheuchelt; gegrinst, statt zu beißen; geschimpft, wo man geliebt hat … Manchmal dämmert eine Ahnung auf, das vielleicht lieber doch zu unterlassen. ‚Gewissen‘ sagen die Kultusbeamten. Es ist aber nur das matte Versickern des Gefühls, daß die, die vor uns gestorben sind, uns durchschauen, von oben her. Denken Sie doch: die ganze Lüge offenbar! Wenn ich das gewußt hätte! Ich kam in den Empfangssaal“ – aber jetzt schienen sie drüben im Familienbad geradezu auf den Köpfen zu gehen –, „und ich glaubte vor Scham in die Erde sinken zu müssen. Es war aber keine da. Schrecklich – nie in meinem ganzen Leben habe ich mich so geschämt, so schrecklich geschämt. Und das allerschlimmste war: sie sahen mich nur an. Sie sahen mich alle nur an. Niemand kam auf die peinlichen Dinge zurück – aber ich wußte das doch, daß sie alles wußten! Ich war klein wie eine Maus – so jämmerlich. Ich würde nie mehr lügen.“

„Der alte Mann,“ sagte er, „der das arrangiert, hätte diese Zeremonie des Empfangssaals vorher legen sollen, vor unser Leben. Vielleicht …“

„Ja“, sagte ich.

„Aber dann wäre es nicht so schön gewesen“, sagte er.

„Nein“, sagte ich.

Jetzt kam eine große Welle, eine von den langen, starken, und warf uns mit den Beinen aneinander, daß wir lachen mußten.

Wir saßen auf der Wolke und ließen die Beine baumeln.

„Am liebsten“, sagte ich zu ihm, „waren mir zeitlebens die Betriebe, die ein wenig verfault waren. Da arbeitete ich so gern. Der Chef schon etwas gaga, wie die Franzosen das nennen, mümmlig, nicht mehr ganz auf dem Trab, vielleicht Alkoholiker; sein Stellvertreter ein gutmütiger Mann, der nicht allzu viel zu sagen hatte. Niemand hatte überhaupt viel zu sagen – der Begriff des Vorgesetzten war eingeschlafen. Auch Vorschriften nahm man nicht so genau – sie waren da, aber sie bedrückten keinen. Diese Läden hatten immer so etwas von Morbidität, es ging zu Ende mit ihnen, ein leiser Verfall. Wissen Sie: man arbeitete, man faulenzte nicht, hatte Beschäftigung – aber es war im großen ganzen doch nur die Geste der Arbeit. Haben Sie mal in einer Posse eine Choristin die Möbel abpuscheln sehen? So etwas Ähnliches war es. Schrecklich, wenn der Betrieb etwa aufgefrischt werden sollte, wenn ein neuer Mann kam, der gleich am ersten Tag erklärte: ‚Die Schweinerei hört jetzt auf!‘ Wie lange es immer dauerte, bis sich auch der neue eingewöhnt hatte! Denn Verfall steckt an – unweigerlich. Ich bin zweiundsiebzig Jahre alt geworden: mir ist kein Fall bekannt, wo er nicht angesteckt hätte. Ja. Es gab viele Stätten solcher Art. Beim Militär habe ich sie gefunden, in der Industrie; auf dem Lande lagen solche Güter – Operettenbetriebe. Hübsch, da zu arbeiten. Sehr nett. Und immer so eine leise kitzelnde Angst vor dem Ende, denn einmal mußte es ja kommen, das Ende – immer konnte es nicht so weitergehen.“

„Nein,“ antwortete er, „immer konnte es natürlich nicht so weitergehen. Kommen Sie übrigens heute nachmittag zum lieben Gott?“ „Wer wird da sein –?“ sagte ich. Er antwortete: „Gandhi, Alfred Polgar, einer von den unbekannten Soldaten und dann irgendein Neuer.“

„Ich mag die Neuen nicht“, sagte ich. „Sie kommen sich so feierlich vor. Wie finden Sie übrigens den lieben Gott?“

„Sehr sympathisch“, sagte er. „Er erinnert ein wenig an das, wovon Sie eben sprachen.“ „Ja“, sagte ich.

Dann ließen wir wieder die Beine baumeln.

Haben Sie schwimmen gelernt, damals, als Sie lebten?“ fragte ich ihn. Wir ruderten durch den endlosen Raum, in farblosem Licht, es hatte eigentlich keinen Sinn, sich zu bewegen, weil jeder Maßstab fehlte, wohin die Fahrt ging. Planeten waren nicht zu sehen – sie rollten fern dahin.

„Nein“, sagte er. „Ich kann nicht schwimmen. Ich hatte einen Bruch. Mein Leib hatte einen Bruch.“

„Ich habe es auch nicht gelernt“, sagte ich. „Ich wollte es immer lernen – ich habe drei-, viermal angefangen –; aber dann ist es immer nichts geworden. Nein, schwimmen nicht. Englisch auch nicht – damit war es ganz dasselbe. Haben Sie alles erreicht, was Sie sich einmal vorgenommen hatten? Ich auch nicht. Und dann, an stillen Abenden, wenn man einmal aufatmen konnte und das ganze Brimborium des täglichen Klapperwerks verrauscht war, dann kamen die nachdenklichen Stunden und die guten Vorsätze. Kannten Sie das –?“

„Wie oft!“ sagte er. „Wie oft!“

„Ja, ich auch…“, sagte ich. „Man nahm sich so vieles vor an solchen Abenden. Da lag denn klar zutage, daß man sich eigentlich, im Grunde genommen, mit einem Haufen Unfug abgab, der keinem Menschen etwas nützte, und sich selbst nützte man damit am allerwenigsten. Diese kindischen Einladungen! Diese vollkommen nutzlosen Zusammenkünfte, auf denen zum hundertsten Male wiedergekäut wurde, was man ja schon wußte, diese ewigen Predigten vor bereits Überzeugten… Das sinnlose Gehaste in der Stadt mit den lächerlichen Besorgungen, die keinem anderen Zweck dienten, als daß man am nächsten Tage wieder neue machen konnte… Wieviel Plackerei an jedem einzelnen Ding hing, wieviel Arbeit, wieviel Qual… Der Zweck der Sachen war vollständig vergessen, sie hatten sich selbständig gemacht und beherrschten uns… Und wenn es dann einmal ausnahmsweise ganz still um uns wurde, ganz still, daß man die Stille in den Ohren sausen hörte: dann schwor man sich, ein neues Leben anzufangen.“

„Man glaubt sogar daran“, sagte er wehmütig.

„Und wie man es glaubt!“ fuhr ich eifrig fort. „Man geht ins Bett, ganz voll von dem schönen Vorsatz, nun aber wirklich mit diesem ganzen Unfug aufzuräumen und sich zu leben – sich ganz allein. Und zu lernen. Alles zu lernen, was man versäumt hat, nachzuholen, die alte Faulheit und Willensschwäche zu überwinden. Englisch und Schwimmen und das Ganze… Morgens klingelt dann der Rechtsanwalt an, Tante Jenny und der Geschäftsführer des Vereins, und dann hat es einen wieder. Dann ist es aus.“

„Haben Sie das Leben geführt, das Sie führen wollten?“ fragte er und wartete die Antwort nicht ab. „Natürlich nicht. Sie haben das Leben geführt, das man von ihnen verlangt hat – stillschweigend, durch Übereinkunft. Sie hätten alle Welt vor den Kopf gestoßen, wenn Sie es nicht getan hätten, Freunde verloren, sich isoliert, als lächerlicher Einsiedler dagestanden. ‚Er kapselt sich ein‘, hätte es geheißen. Ein Schimpfwort. Nun, das ist vorbei. Und wenn Sie jetzt zur Welt kämen: wie würden Sie es machen?“ Er hielt mit seinen Schwimmbewegungen inne und sah mich gespannt an.

„Genau noch einmal so“, sagte ich. „Genau so.“

„Warum haben Sie gelacht –?“ fragte ich ihn.

Er hatte dagesessen, seine Hand hatte mit den verrosteten Knöpfen einer nicht mehr benutzten Blitzkammer gespielt – und plötzlich hatte er gelacht. Es war ein recht eigentümliches Lachen gewesen, so ein Schluchzer, Station auf der Reise zwischen Lachen und Weinen… „Warum haben Sie gelacht –?“ fragte ich ihn.

„Ich habe gelacht,“ sagte er, „weil ich an da unten denken mußte. An etwas ganz Bestimmtes; es ist sehr dumm. Wissen Sie, heute ist mein Todestag – nein, gratulieren Sie mir nicht… nicht der Rede wert. Zum fünfzigsten, bester Herr, zum fünfzigsten… Und heute vor acht Jahren – wissen Sie, warum Lebende keine Angst vor den Toten haben, die gerade gestorben sind?“

„Ich kann es mir denken“, sagte ich. „Weil – weil wir ja die erste Zeit gebunden sind, noch nicht hier oben… nun, Sie kennen das. Es ist, als ob sie es ahnten.“

„Ganz richtig!“ sagte er und ließ die Hand über die Klaviatur spielen; hätte das Werk funktioniert, so wären die Erde, der Mond und einige andere Etablissements in Rauch aufgegangen. „Ja, das ist so. Wir sind nicht sofort disponibel – sie sind vor uns sicher, kurz nachher. Nun gut, und Sie wissen doch auch, was mit unsern Sachen geschieht – nachher?“

„Natürlich“, sagte ich. „Da wird ein Inventar aufgenommen, da kommen die Erben gelaufen, die Kinder, die unbezahlten Rechnungen…“

„An das Inventar dachte ich eben“, sagte er. „Das heißt: nicht gerade an das Inventar. Sondern daran, wie sie in unsern Sachen herumstochern. Es ist komisch und rührend zugleich. Kennen Sie das?“

„Nun…“, sagte ich.

„Es ist nämlich so“, sagte er. „Sie kramen die Schubladen aus, kratzen an den Schrankschlössern herum, packen alles aus und packen es wieder ein… Und jeder Hosenknopf hat auf einmal eine Bedeutung, jedes Federmesser ist mit Sentimentalität geladen, alte Briefmarken machen ein Kummergesicht und trauern mit…“ Wieder ließ er diesen mittlern Schluchzer hören. „Sie finden alte Couverts mit Recepten und Tabakasche; Chininpillen und fein säuberlich aufbewahrte Theaterprogramme, mit denen wir einmal irgend etwas anfangen wollten, natürlich haben wir es vergessen, und nun liegt dieser ganze Kram in den Fächern – ein Viertel aller menschlichen Habe pflegt ja aus solchem Unfug zu bestehen. Und sie fassen das alles mit zitternden Fingern an, ihre Tränen lassen sie darauf fallen, und während sie Kontenbücher auf- und wieder zuschlagen und an Glasstöpseln riechen, sagen sie: ‚Das hat er sich noch aufbewahrt!‘ und: ‚Achatsteine hat er immer so gern gehabt!‘ – und auf einmal ist unser Wesen auf tausend Dinge verteilt, es sieht sie an – wir sehen sie an, mit tausend Augen… Alles kommt ihnen wieder zur Erinnerung, wird lebendig… so haben sie uns nie geliebt.“

„Nein“, sagte ich. „So haben sie uns nie geliebt.“

„Woran liegt das?“ fragte er vorsichtig.

„Man muß wohl nicht mehr da sein, um geliebt zu werden“, sagte ich. „Noch nicht oder nicht mehr: man muß wünschen, um zu lieben. Zu unsern Lebzeiten kümmert sich keiner um unsern Nachlaß.“

„Aber da ist es ja auch kein Nachlaß“, sagte er.

Eine Leitung schien versehentlich noch angeschlossen zu sein – denn nun fuhr ein Blitz aus dem Gehäuse, daß es zischte, und wir machten uns eiligst davon, auf daß er es nicht erführe, der Allwissende.

„Er ist ein Pedant, ein ganz lächerlicher Pedant!“ sagte er.

„Weißt du, wieviel Sternlein stehen …?“ sagte ich. „Gott der Herr hat sie gezählet …“

„Er hat alles gezählet!“ schimpfte er. „Gezählet – das feierliche e, das schon Liliencron nicht leiden konnte, genau so lächerlich wie dieser ganze alte Mann. Alles hat er gezählet … Haben Sie einmal in unser Lebensbuch hineingesehen –?“

„Es war die größte Überraschung, die ich jemals erlebt – nein, die ich jemals gehabt habe“, sagte ich. „Das ist denn doch die Höhe.“

„Nicht wahr? Aufzuschreiben, wie oft man jede einzelne Handlung begangen hat: es ist ja – geisteskrank ist das, das ist ja … das übersteigt denn doch alles an Greisenhaftigkeit, was je …“

„Sie lästern“, sagte ich. „Sie müssen ihn nicht lästern, dann kann dieses Buch nicht erscheinen. Gott ist groß.“

„Gott ist …“

„Nicht, nicht. Natürlich ist es lächerlich. Denken Sie sich: ich habe neulich einmal einen ganzen Nachmittag auf der Bibliothek verbracht und meinen Band durchgeblättert. Er ist sehr exakt geführt, das muß man schon sagen. Manches hätte ich nicht für möglich gehalten – summiert sieht es doch anders aus als damals, als man es tat.

Schlüssel gesucht: 393mal. Zigaretten geraucht: 11876. Zigarren: 1078. Geflucht: 454mal. (Bei uns ist erlaubt, zu fluchen – daher kann ich es nicht so gut. Ich bin kein Engländer.) An Bettler gegeben: 205mal. Nicht viel. Nugat gegessen – ist ein Mensch je auf den Gedanken gekommen, derartiges aufzuschreiben …! Nugat: 3mal. Ich habe keine Ahnung, was Nugat ist. Die Handschrift des Buchhalters ist aber so ordentlich, daß es schon stimmen wird. Übrigens: die letzten tausend Seiten sind mit einer Buchhaltungsmaschine geschrieben. Man modernisiert sich.“

„Er zählt alles“, grollte er. „Er zählt Verrichtungen, die ein anständiger Mensch …“

„… non sunt turpia“, sagte ich. „Ich habe demnach, sah ich an jenem Nachmittag, recht mäßig gelebt, in Baccho et in Venere … recht mäßig. Ich mag Ihnen die Zahl nicht nennen – aber es grenzt schon an Heiligkeit. Jetzt tut es mir eigentlich leid … Das merkwürdigste ist –“

„Was?“ fragte er.

„Das merkwürdigste ist,“ sagte ich, „zu denken, daß man dies oder jenes zum letztenmal in seinem Leben getan hat. Einmal muß es doch das letztemal gewesen sein. Am vierzehnten Februar eines Jahres hat man zum letztenmal ein Automobil bestiegen … Und man ahnt das natürlich nicht. Finales gibt es ja doch nur in den Opern. Man steigt ganz gemütlich in ein Automobil, fährt, steigt aus – und weiß nicht, daß es das letztemal gewesen sein soll. Denn dann kam vielleicht die Krankheit, die lange Bettlägerigkeit … nie wieder ein Automobil. Zum letztenmal in seinem Leben Sauerkraut gegessen. Zum letztenmal: telephoniert. Zum letztenmal: geliebt. Zum letztenmal: Goethe gelesen. Vielleicht lange Jahre vor dem Tode. Und man weiß es nicht.“

„Aber es ist gut, daß man es nicht weiß“, sagte er; „wie?“

„Vielleicht“, sagte ich. „Man sollte aber bei jeder Verrichtung denken: Tu sie gut. Gib dich ihr ganz hin. Vielleicht ist es das letztemal.“

„Aber er ist doch ein gottverdammter Pedant …!“ fuhr er auf.

„Nennen Sie nicht seinen Namen!“ sagte ich. „Er ist ein göttlicher Pedant.“

Das mittlere Feld war gesperrt, weil ein Meteorregen niedergehen sollte – obgleich uns der gar nichts antun konnte, hatte der alte Herr mit vertatterten Händen die Sperrung angeordnet. Wir krochen vier Zeitlosigkeiten hindurch am Rande des Feldes entlang, dann setzten wir uns, um den Regen mitanzusehen, wenn er zu regnen anhübe. Mir paßte die Absperrung nicht, und ich fluchte leise vor mich hin.

„Haben Sie einmal einen Märtyrer gesehen?“ sagte er. Mir blieb ein ellenlanger und herrlicher Fluch, den mich einst ein Matrose in Dänemark gelehrt hatte, im Halse stecken. „Einen Märtyrer?“ sagte ich. „Einen, der seine unbefriedigte Eitelkeit hinter eine Sache steckt und nun plötzlich dasteht, lichtumflossen – ja, ich kenne das.“ „Wenn Sie das kennen,“ sagte er, „dann wissen Sie auch, was man mit so einem macht?“ „Sie … man gibt ihm wenig zu essen, die Kinder auf der Straße und die Professoren rufen hinter ihm her, er sei unfruchtbar und hätte keinen Kontakt mit der Wirklichkeit.“ „Das auch“, sagte er. „Aber ich habe einmal etwas gesehen, lange nach meinem Tode, etwas viel Merkwürdigeres.

Da kriecht in der zweiten Hyperbel ein Ding herum, es ist noch kein rechter Planet, es will erst einer werden. Dort habe ich einmal zur Frühstückszeit geangelt. Und da hatten sie einen Kerl gefangen, der wollte ihnen den ganzen Ball umkrempeln, ein Heiliger, ein Vorwärtsrufer – in die Einzelheiten habe ich mich nicht gemischt, es ging mich ja auch nichts an. Den hatten sie also beim Kragen, und da haben sie ihn dann beendigt.“

„Nun ja“, sagte ich. „Das kommt vor. Das ist doch nichts Außergewöhnliches. Einer opfert sich auf, weil er muß; er brächte ein Opfer, wenn ers nicht täte; er horcht, wie es in den andern weint, dann wühlt er sich durch, bis er zu dieser Stimme gelangt, quält sich und wird gequält, und dann kommt er zu uns. Gewiß, ja.“

„Das war es nicht“, sagte er. „Wie sie es taten … Welch ein Hohn! Sie berieten lange, wie es zu tun wäre. Nun muß da eine Infektion stattgefunden haben – einer schlug vor, ihn zu kreuzigen.“ Ich sah jetzt aufmerksam auf das Meteorfeld – es war nicht gerade neu, daß einer gekreuzigt werden sollte. Er fuhr ruhig fort.

„Sie führten ihn also zur Kreuzigung hinaus, vor die große Stadt, auf ein Feld. Der Zug näherte sich dem Hinrichtungsplatz – der Heiland, ein gedrungener, dunkler Mann, sah sich ungeängstigt, aber erschreckt um. Da war kein Kreuz.“ Ich sah auf. „Was heißt das: da war kein Kreuz?“ sagte ich.

„Da war kein Kreuz“, sagte er. „Eine lange, hohe Stange stand da, wo das Kreuz zu stehen hatte. Und der Anführer der Rotte trat vor und sagte zum dortigen Heiland: ‚Du bist nicht einmal wert, daß man dich kreuzigt. Du bist nicht einmal ein Kreuz wert. Zwei Balken sind zu viel für dich, du Beglücker. Hier ist eine Stange, die genügt.‘ Und dann kreuzigten sie ihn.“

„Sie konnten ihn doch gar nicht kreuzigen“, sagte ich. „Sie hatten kein Kreuz.“

„Sie nagelten ihn an die Stange“, sagte er. „Sie war breit genug … Sie nagelten ihn so: den einen Arm, den linken, senkrecht hoch erhoben, am linken Ohr vorbei, und den rechten glatt herunterhängend, an der rechten Hüfte. Da hing er, ein blutender Strich. Er schrie nicht.“

„Das – Sie haben das selbst gesehen?“ sagte ich.

„Ich habe das gesehen“, sagte er. „Wie ein Finger ragte er in den Himmel. Er lebte achtzehn Stunden, davon nur eine halbe ohne Bewußtsein. Es war ein Christus ohne Kreuz. Er sah so unbedingt aus – kein Querbalken strich wieder durch, was das lange Holz einmal ausgesagt hatte. Es starrte nach oben wie ein schneidendes Ausrufungszeichen, den Blitz herausfordernd. Aber es kam kein Blitz. Und ich sage Ihnen: die Leute haben recht getan. Wieviel Holz braucht der Mensch? Zwei Balken? Einer genügt. Sie sind ihren Weg zu Ende gegangen, wie der seinen zu Ende gegangen ist. Man soll bis ans Ende gehen. Die himmlische Güte …“

„Der Meteorregen –!“ rief ich. Wir sahen angestrengt zum angekündigten Ereignis hinüber; es verlief matt und etwas eindruckslos, wie alles, wovon er sich so viel verspricht.

„Was haben wir gelacht!“ sagte er. „Wir haben so gelacht!“ Er wischte sich ein wasserhelles Sekret aus den Augen, und ich tat desgleichen: denn was er da erzählt hatte, war nicht ohne gewesen. Er sprach sonst wenig von solchen Dingen – aber es waren zwei vorübergeglitten, ineinandergekrampft, mit zugeküßten Lidern, zwei, die aus ihrem Liebeshimmel heruntergefallen waren in die Hölle der Erfüllung. Übrigens wußten sie das nicht. Das hatte ihn auf den Gedanken gebracht, mir die Geschichte eines Ehepaares zu erzählen, das sich nach dem Buch liebte, nach dem vollkommnen Ehebuch, mit einer Art Notenständer am Bett. Wir atmeten tief.

„Sie haben so gelacht –“, sagte ich. „War noch genug Gelächter da –?“ Er sah mich verständnislos an. „Ob genug Gelächter – wie meinen Sie das?“ „Sie wissen,“ sagte ich, „woher das Gelächter kommt?“ „Aus der Brust!“ sagte er und lachte tief. „Nein“, sagte ich. „Nicht aus der Brust. Wollen Sie sehen, woher es kommt, das Gelächter?“ Er wollte das. Und ich zeigte es ihm.

– – – – – – – – – –

Es war schon finster, als wir vor dem gigantischen Berg standen. „Was ist das? Wohin führen Sie mich?“ sagte er leise. „Was das ist?“ sagte ich. „Es ist der Berg des Gelächters.“ „Kommen Sie ein Stückchen hinauf – hier hinauf. Hören Sie –!“ Wir lauschten.

Kaskaden von Lachen kamen heruntergebraust, Wogen von Gelächter, Kicherbäche, ganze Tonleitern klapperten herab, es schritt auf großen Füßen Treppenstufen herunter, auf uns zu, und wenn es unten ankam, verebbte es in Atemlosigkeit zu kleinen Tönen … Leise bewegte sich der Boden unter unsern Füßen. Dumpf dröhnend lachten die Bässe, Triller von Frauenlachen stiegen auf und fielen melodisch ab, Koloraturgelächter und silberne Schellen … Fettes, schadenfrohes Lachen wälzte sich ölig dahin, breit klatschte es an die Ufer; Lachgemecker und fröhliches Gelächter von Kindern, spitze Lachstimmen, die sich überlachten, eine kletterte über die andere, dann fiel alles in sich zusammen. Und wieder stieg oben ein Chor von Gelächtern auf, dumpf überdröhnt von einer dicken, alten, akkompagniert von einer süßen Weibsstimme. Stille. Ein Rinnsal von Lachtränen tropfte an uns vorbei.

„Das ist der Vulkan des Gelächters“, sagte ich. „Sie kannten es nicht? Sie haben mir hier oben so viel gezeigt und kannten ihn nicht? Er versorgt die da unten mit Lachen, von oben kommt es herunter, aus dem Vulkankrater rollt es heraus, alle Sorten. Alle Gelächter, die gebraucht werden: Sie haben sie gehört? Grinsen und pfeifende Peitschen mit kleinen Knoten in der Schnur, die brennen so schön … dummes Lachen und befreiendes Lachen und Lachbonbons, mit Tränen gefüllt – alles kommt von da oben. Man kann nicht hinauf.“

„Was ist oben?“ sagte er. „Ich habe es mir sagen lassen“, sagte ich. „Ein riesiges, tiefes Loch wie im Ätna, da quillt es heraus.“ „Aber woher kommt es?“ sagte er. „Wer versorgt die Erde mit Gelächter – woher diese Quantität, die Unerschöpflichkeit, die immerwährende Bereitschaft, zu geben und zu geben –?“

„Es gibt ein Ding,“ sagte ich, „das hat begriffen, warum Er das geschaffen hat, da unten. Es hat den Witz der Welt begriffen. Seitdem –“ „Seitdem?“ sagte er. „Seitdem lacht das Ding“, sagte ich.

Wir wandten uns ab. Weit unten sahen wir die beiden fallen, ihrer Privathölle zu. „Ein seltsames Geschäft“, sagte ich. Er wollte lachen, setzte plötzlich ab. Im Dunkel glitt eine Tierseele scheu an uns vorüber. „Hat das nie aus dem Lachtränenbach getrunken?“ sagte er. „Tiere lachen nicht“, sagte ich. „Sie sind die Natur selbst, die ist ernst, unerbittlich vielleicht heiter – aber lachen? Er läßt sie nicht lachen.“ „Und warum nicht –?“ sagte er. „Weil er Furcht hat“, sagte ich. „Er hat Furcht[WS 1], man könnte ihn auslachen. Dabei tut es keiner. Sie gehen an den Berg des Gelächters und lachen zwar aus, aber nur einander. Hören Sie, wie es heruntergluckert!“

Jetzt war der ganze Berg überrieselt mit Gelächter, fallendem und steigendem; erst hatten wir ein wenig mitgelacht, dann lächelten wir nur noch, und nun stimmte es ganz traurig. „Lachen ist eine Konzession des Herrn“, sagte ich. „Sie ist auch danach“, sagte er. Dann glitten wir davon.

„Wieviel Uhr …“ – aber schon sank die Hand schlaff herunter. „Ach so –“, sagte er. Ich lächelte doch. Als ich den Ausdruck seiner Augen bemerkte, stelle ich die Lachfalten wieder gerade. „Keine Zeit“, flüsterte er. „Sich daran zu gewöhnen, daß es keine Zeit mehr gibt. Ja, die guten Aprioristiker …“ Ich bog ab. „Haben Sie sich da unten die Zeit auch geometrisch vorgestellt?“ sagte ich. „Nein, wie …“, sagte er. „Als lebe man im Raum vorwärts“, sagte ich. „Als könne man im Raum der Zeit auf- und abrutschen, vorwärts und rückwärts, mit allen Spielen im Raum: wer da hinten auftaucht, ist noch klein, er kommt auf uns zu, wird immer größer, dann nimmt seine Gestalt ab, verschwindet, wissen Sie?“ „Das kenne ich nicht“, sagte er. „Nicht?“ sagte ich. „Es ist so:

Das kleine Haus, in dem ich einmal gewohnt habe, steht unbeweglich. Nun setzt es sich in Bewegung; nachts, wenn wir nicht einschlafen können, hört man, was es macht. Es fährt durch die Zeit. Vorn, am Bug schäumt das Zeitwasser hoch auf, mit solcher Geschwindigkeit geht es vorwärts, es zerteilt die Zeit, sie gleitet rechts und links am Haus vorbei, da rauscht sie auf, überall, und wir liegen in der kleinen Bettschublade und werden davongetragen, wehrlos, machtlos, weiter und immer weiter. Manchmal streckt sich eine Hand aus solch einem Bett, sie hängt laß herunter und bewegt sich – zurück? Da gibt es kein Zurück. Manchmal schaudert der Schlafende vor dem, was nun kommt – aber sie fahren mit ihm. Ahnungen helfen nicht. Morgens früh, wenn du aufwachst, hält das Haus schon anderswo.“

„Ja – etwas Ähnliches habe ich doch wohl schon empfunden“, sagte er. „Man ist übrigens nicht sehr glücklich dabei.“

„Nein“, sagte ich. „Man ist nicht sehr glücklich dabei. Zum Schluß bleibt die etwas trübe Empfindung von einer Masse Eindrücke; es wäre ein herzhafter Spaß, wenn man den Zeitraffer anbringen könnte und das ganze Leben, das man zu führen verurteilt ist, donnerte mit einem Male herunter. Aber das war nicht zu machen.“

„Haben Sie sich sehr gesehnt, zu … hierher zu kommen?“ sagte er.

„Oft“, sagte ich. „Hunger habe ich alle meine Lebtage gehabt. Hunger nach Geld, dann: Hunger nach Frauen, dann, als das vorbei war: Hunger nach Stille. Oh, solchen Hunger nach Ruhe. Mehr: Hunger nach Vollendung. Nicht mehr müssen – nicht mehr durch die Zeit fahren müssen –.“

„Man geht spurlos dahin –“, sagte er. „Nein“, sagte ich. „Man geht nicht spurlos dahin. Ach, denken Sie nicht an Denkmäler – das ist ja lächerlich. Und ich weiß schon, was Sie jetzt sagen wollen: unsterbliche Werke. Ich bitte Sie … Nein, etwas anderes. Ich habe etwas dort gelassen, ja, ich habe etwas dort gelassen.“ „Was?“ sagte er, ein wenig ironisch.

„Ich habe den Dingen etwas gelassen“, sagte ich. „Seit jenem Tage, wo ich den greisen Klavierspieler in Paris wiedersah, den mein Vater zwanzig Jahre vorher in Köln gesehen hatte. Er spielte noch dieselben Stücke, der Wandervirtuose – noch genau dieselben. Und da war mir, als grüßte durch ihn mein toter Vater. Auch ich habe den Dingen etwas gesagt. Ich habe an vieles, was längere Dauer hat als ich und Sie, Grüße befestigt. Ich habe hier einen Gruß angeheftet und da einen Kranz, hier einen Fluch und da ein abwehrendes Schweigen … und als ich das tat, da merkte ich, daß die Dinge schon voll waren von solchen Grüßen Verstorbener. Fast alle hatten sich an die Materie gehalten, hatten Spuren hinterlassen; wenn man vorüberstrich, bat, flehte, beschwor, fluchte und segnete es von diesen Sachen herunter, die die Menschen tot nennen. Ich bin nicht spurlos dahingegangen. Nur –“

„Nur –?“ sagte er.

„Nur –“, sagte ich. „Die Menschen sind Analphabeten. Sie können es nicht lesen.“

Er sah mich an und tastete an die Stelle, wo einmal seine Uhr gesteckt hatte. „Kommen Sie!“, sagte er. „Wir wollen zum Nachmittagskaffee.“

Wir saßen auf der goldenen Abendwolke und ließen die Beine baumeln – er ruckelte ungeduldig hin und her, weil sich die Wolke nicht abkühlen wollte, man fühlte sich sanft geröstet. „Noch ein kleines“, tröstete ich ihn. „Gleich wird sie fahl und grau, dann sitzen wir angenehmer. Wir wollen nicht wegschwimmen.“ Da blieb er. Als es kühler wurde, sagte er: „Sie müssen doch eigentlich ein schönes Dasein gehabt haben, damals. Wenn ich so denke, wie agil Sie sind, wie flink, wie anpassungsfähig …“ Ich sah ihn von der Seite an und wickelte mich fester in das Gewölk. „Ich?“, sagte ich. „Ich …“

„Wenn man Sie sprechen hört,“ sagte er, „hat man den Eindruck, als seien Sie mit den Mitbrüdern fertig geworden, nicht immer siegreich, aber immerhin. Ich meine das nicht böse. Sie sagen gar nichts. Warum lachen Sie –?“

„Es ist ja jetzt alles vorbei“, sagte ich. „Es war so:

Am Anfang ging es an. Mit dem Elan der Potenz ritt ich über viele Bodenseen, ich hatte keine Schwierigkeiten zu überwinden, weil ich sie gar nicht sah. Nachher, als das nachließ, zog der Schimmel doch langsamer, und ich hatte Muße, mir ein bißchen die Landschaft anzusehen, durch die wir fuhren.“

Er hatte ein Stück Wolke auseinandergezogen und malte mit ihr ein Gesicht an den Himmel, einen ausdruckslosen Pausback. Dann wischte er ihn wieder weg. „Und was sahen Sie?“ sagte er.

„Was ich sah?“ sagte ich. „Ich sah – aber ich verstand nicht. Ich verstand immer weniger. Wissen Sie, daß es eine bestimmte Sorte Geisteskranker gibt, die Furcht hat vor allem, und die ratlos ist. Sie frösteln ständig, ziehen sich zusammen, wenn sie mit der Welt in Berührung kommen, immer enger, dann sterben sie; sie sind ins Negative hinübergekippt. Jahrelang, besonders in der Mitte meines Lebens, hatte ich das Gefühl, ausgestoßen zu sein, als Kind unter Erwachsenen zu leben, Verhandlungen der Großen beizuwohnen, deren Sinn mir ewig verborgen bleiben würde. Sie sprachen miteinander – und ich hörte verständnislos zu. Sie fochten Ehrgeizschlachten aus – ich stand daneben und machte runde Augen. Sie schlossen Geschäfte ab – ich hatte gewissermaßen den Eindruck zu stören. Und das allerschlimmste war: Alle verstanden sich, sprachen ihre Sprache, sie hatten sofort die Ellbogenfühlung, sie waren verwandt. Ich stand da, allein, auf einem weiten Hof mit meiner Kappe in der Hand, und ich drehte sie, wie es die Schauspieler machen, wenn sie Verlegenheit ausdrücken … Mittags saß ich mit ihnen zusammen, sie schwatzten, ich schwatzte auch – aber mir fehlte irgend etwas, ein Code-Schlüssel, eine Auflösung, ich wußte nicht … und abends ging ich traurig nach Hause.“

Jetzt bröselte er langsam die Wolke auf, die immer kleiner wurde. Wir hatten kaum noch Platz zum Sitzen. „Aber da waren doch noch andre“, sagte er. „Auch: Einsame. Auch: Enttäuschte. Auch: Weltfurchtsame. Weshalb gingen Sie nicht zu diesen –?“

„Um einen Klub der Einsamen zu gründen?“ sagte ich. „Ich verachtete sie maßlos, ich haßte sie nahezu. Ich fand sie lebensschwach, anspruchsvoll, uninteressant verrückt. Ihnen gegenüber mimte ich das Leben, das pralle Leben. Außerdem kochten sie eine andre Art Melancholie, und so verstanden wir uns nicht. Blieben sie allein, waren sie mir widerwärtig. Fanden sie den Anschluß, dann fühlte ich mich erhaben über so viel gemeinen irdischen Sinn.“

„Also was blieb Ihnen zum Schluß?“ sagte er, ein klein wenig spitzer, als mir lieb war. Ich konnte ihm nicht mehr antworten, denn nun hatte er glücklich die ganze Wolke aufgebröselt, wir rutschten ab und fielen, fielen –

Er pfiff – das tat er so selten. „Sie sind sehr vergnügt –?“ fragte ich. „Sie müssen hingehn!“ sagte er. „Sie müssen auf alle Fälle hingehn! Es ist ganz großartig. Ganz großartig ist es!“ „Was?“ fragte ich. „Einweihung eines neuen Planeten? Schlußfest auf einem Trabantenmond? Maskenball in der Milchstraße?“ Er wehrte mit einer Handbewegung ab. „Nicht doch!“ sagte er. „Das O hat mir das Erdkino gezeigt! Sie müssen hingehn!“

Wer das O war, wußte ich – aber was war ein Erdkino? Ich fragte ihn. Er nahm einen Meteorstein in die Hand und schickte ihn auf die Reise, nach unten. „Das Erdkino?“ sagte er.

„Das O hat die Erde aufgenommen – nun, das ist nichts Neues. Aber es hat die Bilder aneinandergesetzt, flächig aneinandergepappt, verkleinert, wieder vergrößert, ich bin kein Techniker und habe seine Erklärung kaum verstanden. Es sagt etwas von Zeitraffer … Es kann die Menschen auf den Filmen löschen – man sieht nur die Sachen.“ „Was für Sachen?“ sagte ich. „Sachen!“ sagte er. „Kleider, Anzüge, Hutnadeln, Schränke, Bücher, Dampfer, Laternen, Papier, Antennen, was Sie wollen. Das sieht man. Nun setzt es sich in den Fabriken zusammen, die Menschen sind nicht zu sehen, verstehen Sie? Es setzt sich allein zusammen, wächst, aus dem Boden, in Werkstätten, in Ateliers, lackiert sich, prangt und spreizt sich in Neuheit … Dann wird es benutzt, die Schranktüren klappen auf und zu, Papier wendet sich, Hutnadeln hängen in der Luft, Bilder leuchten, Anzüge wandeln, drehen sich, liegen über Stühlen … wie sind die Sachen fleißig! Wie dienen sie! Wie sind sie tätig! Wie leben sie mit! Welch ein Leben!“ Seine Augen leuchteten. „Und dann?“ fragte ich. „Und dann werden die Sachen müde, immer seltener stülpt sich der Hut auf eine unsichtbare Form, immer wackliger fällt der Vorhang, immer bröckliger klappt die Zauntür … Und dann gibt es einen Ruck, Holz wird zerschlagen – man sieht nicht, von wem –, alte Kissen fliegen durch den Raum, Schnur schnurrt zusammen und rollt sich ab – und dann sinken die Sachen auf die Erde. Ganz langsam sinken sie nieder, da liegen sie. Und dann werden sie immer unkenntlicher, sie werden wohl zu neuen Klumpen gekocht, zusammengeschweißt, ich verstehe mich nicht so darauf. Und viele werden wieder Erde. Und dann fängt es wieder von vorn an.“

„Und das gibt es da alles zu sehen?“ sagte ich. „Das und noch viel mehr“, stimmte er begeistert zu. „Noch mehr?“ fragte ich. „Was tun denn die Sachen noch?“ „Die Sachen tun nichts!“ sagte er. „Es gibt einen andern Film; da hat das O die Sachen ausgelöscht, man sieht nur die Menschen – und es hat auch einen Teil der Menschen ausgelöscht und nur diejenigen mit der gleichen Betätigung übriggelassen.“ Ich sagte: „Wie das …?“ Er sagte:

„Es hat Kontinente photographiert, auf denen man nur trinkende Menschen sieht. Hören Sie? Nur Trinkende. Geöffnete Münder, gespitzte Lippen, hastige Durstende und abschmeckende Genießende – Totschlaffe über Pfützen und spielende Kinder, die an Tröpfchen saugen, Kinder an der Mutterbrust und heimlich saufende Ammen … Und einmal: nur Lesende. Von allen Graden. Und einmal: nur Rauchende. Und einmal … Ja.“

„Was – und einmal?“ fragte ich.

„Und einmal nur Liebende“, sagte er leise. „Das war nicht schön. Hören Sie: das war ekelhaft. Welch ein Puppenspiel. Was treibt sie? Es ist, als bewegten sie sich nicht, als bewegte es sie. Das sind nicht mehr sie, die dieses Auf und Ab vollführen – das ist ein andres. Sie sehen es tausend und tausendmal beim O – schließlich scheint es eine zeremonielle Förmlichkeit, man möchte rufen: Aber so wechselt doch einmal! Tut doch einmal etwas andres! Nein – das Repertoire ist so klein … Sie nähern sich einander, gehen umeinander herum, lächelnd, und dann immer dasselbe, immer dasselbe … Sagen Sie: Haben wir uns auch so albern benommen, damals?“

„Sie wären sonst nicht hier“, sagte ich.

„Aber das ist ja … ich bitte Sie: so albern. Und immer wieder –?“

„Man muß wohl an das Einmalige glauben“, sagte ich. „Sonst kann man es nicht tun. Sähe man wirklich alles und alle – man könnte wohl nicht bleiben, da unten. Das O soll weiter photographieren; sie werden es zum Glück nie zu sehen bekommen.“

„Doch. Nachher“, sagte er. Wir schwiegen und schämten uns.

„Kommen Sie mit ins Wasser-Sanatorium?“ sagte er. Ich sah ihn an. „Wird hier jemand geheilt?“ sagte ich. „Jemand … ja“, sagte er. „Sie verstehen nicht richtig: da wird nicht mit Wasser geheilt. Anders: denken Sie an Kinderkrankenhaus. Wird da mit Kindern geheilt? – Kinder werden geheilt.“ „Wollen Sie vielleicht sagen, daß hier Wasser geheilt wird?“ sagte ich. „Krankes Wasser … das habe ich noch nie gehört.“ „Sie sind nun schon so lange hier“, sagte er, „und kennen sich noch immer nicht aus. Kommen Sie mit.“

Es war hinter dem Wasserplaneten, einer dicken, gurgelnden und etwas lächerlichen Sache, die da wie rasend umherwirbelte. An den Rändern zischten die Spritzer in der Rotationsrichtung, der Himmelskörper speichelte sich durch den Raum. Den ließen wir turbulieren, dann kam der große Salzsee, darüber hinaus war ich noch nie gewesen. Dann kam es.

Weit, äonenweit: Wasser, eine stille Fläche. Sie lag in der Luft wie eine hauchige Scheibe, glasdünn, glasklar, wie mir schien. Ich sagte ihm das. „Es ist nicht klar“, sagte er. „Das ist es eben. Es ist hier zur Erholung, das Wasser. Es ist abgeguckt.“ „Was ist es –?“ sagte ich. „Es ist abgeguckt“, sagte er. „Sie haben da alle hineingesehn – setzen wir uns. Ich werde Ihnen das erklären.“ Wir setzten uns an den Rand der Wasserglasplatte. Man konnte die andern Wolken sehn, die unterhalb wimmelten.

„Was tun die, die Muße haben, wenn man ihnen Wasser oder Feuer vorhält?“ sagte er. „Sie sehen hinein“, sagte ich. „Richtig“, sagte er. „Aber … sie sehen nicht nur hinein. Sie lassen sich hineinfallen. Die Augen werden glasig, das Gehirn arbeitet nicht, es ist ein Halbtraum. ‚Das Leben zog in den Flammen an ihr vorüber‘ – das steht in den Büchern. Es zieht gar nichts vorüber. Die da springen aus dem vorüberlaufenden Strom der Zeit ins Wasser, ins Kaminfeuer, wie auf eine kleine Insel; da stehen sie und blicken verwundert um sich. Jetzt strömt das andre, und sie selbst bleiben. Die Nerven lassen nach, alles läßt nach, ist entspannt – die Zügel hängen lässig über die Wagendecke, langsamer laufen die Zeitpferde … da senken sie sich ins Wasser.“ „In dieses Wasser hier?“ sagte ich. „Eben in dieses“, sagte er. „Sie haben so viel hineingetan, das Wasser ist voll davon, und jetzt ruht es sich aus. Mein Lieber, wer hat da alles Bröckchen des Lebens hineingeworfen! Bröselchen von Schmerz, Erinnerung, Wehleidigkeit, Faulheit, Tobsucht, zerbissene Wut, heruntergeschlucktes Begehren –! Das strengt an. Das arme Wasser liegt hier und ruht. Es muß wieder sauber werden. Es ist vermenscht.“

„Warum tun sie es?“ sagte ich. „Sie brauchen das“, sagte er. „Wenn die Flammen züngeln, werden sie nachdenklich – bei den Flammen geht es noch besser, sie verbrennen alles, was in sie hineinfällt. Wenn das Meer rauscht, werden sie nachdenklich – sie fühlen plötzlich Halbvergessnes, einer klopft an die Tür, an eine wenig beachtete, kleine Hintertür … Sie öffnen den Spalt – da kommt es herein. Und drängt sie halb aus dem Haus, mit einem Fuß stehn sie draußen; außer sich. Für Augenblicke sind sie Pflanze geworden, sie wachsen dumpf vor sich hin, auch dieses Wachstum ist manchmal angehalten. Dann steht die Zeit still, und die Urmelodie wird hörbar: das Leid. Haben Sie jemals einen gesehn, der froh ins Wasser gesehn hätte, froh ins Feuer –?“ Ich sagte, daß ich es nie gesehn hätte. „Also, was ist es –?“ sagte ich. „Was empfinden sie, was bedeutet das?“ „Es ist eine Art Generalprobe“, sagte er. „Es ist ein süßschwacher Tod.“

Wir standen langsam auf und schoben uns von der Wasserplatte fort. Sie lag da, ruhig atmend, und als wir davonschwammen, sah es uns nach: aus hunderttausend Augen.

Er ist fort. Ich kann das noch gar nicht glauben.

Die ganze letzte Zeit hatte er schon immer so schwermütig gesprochen, hatte dunkle Andeutungen von sich gegeben, vom „männlichen Glück, vorhanden zu sein“, von einer „schönen Sinnlosigkeit der Existenz“ und andre beunruhigende Sätze. Ich hatte dem keine Bedeutung beigelegt, jeder hat schließlich seinen eigenen Cafard. Und auf einmal war er fort.

Am Morgen, als die Zentral-Sonne mit majestätischem Rollen durch den Raum gewitterte, war er zu mir gekommen, schleichender, merkwürdiger denn je. Er hatte geschluckt. „Wir … wir werden uns vielleicht …“ Dann hatte er sich abgewandt. Mir ahnte nichts Gutes. Nachmittags war er weg.

Ich fand ihn nicht. Beim Alpha war er nicht, beim Silbergreis nicht, auf seinem Angelplaneten nicht, nirgends, nirgends. Ich ging zum O, mir blieb gar nichts andres übrig. Ich hasse das O, es ist gelehrt, kalt, klug, scheußlich. Das O lächelte unmerklich, bastelte an seinen Apparaten, sah mich an, ließ mich heran …

Pfui Teufel. Ah, pfui Teufel.

Das O hatte den Zeitraffer gestellt, die alten Strahlen noch einmal zurückgeholt, ein fauler Witz, den es sich da macht. Und ich sah.

Den dicken gerundeten Bauch der Mama; es war, als hätte sie sich zum Spaß ein Kissen vorgebunden. Sie ging langsam, vorgestreckten Leibes. Und dann sah ich ihn, oder doch das Ding, in das er gefahren war.

Er lag auf einem Anrichtetischchen und wurde gerade gepudert. Er zappelte mit den kleinen Beinchen und bewegte sich, blaurot vor Schreien. Sein Papa stand leichtgeniert daneben und machte ein dummes Gesicht. Die Kindswärterin hantierte mit ihm eilfertig und gewohnheitsmäßig, in routinierter, gespielter Zärtlichkeit. Ich sah alle Einzelheiten, seine unverhältnismäßig großen Nasenlöcher, den Badeschwamm …

Zwei Städte weiter saß ein kleines Mädchen auf dem Fußboden und warf Stoffpuppen gegeneinander, das war seine spätere Frau; ein rothaariger Bengel schaukelte unter alten Bäumen: das war sein bester Freund; in einer Hundehütte jaulte ein Köter, der Großvater dessen, der ihn einst beißen würde; ein Haustor glänzte: die Stätte seiner größten Niederlage. Er wußte von alledem nichts, brüllte und war sehr glücklich. Neben mir kicherte leise das O.

Da liegt er im Leben. Er fängt wieder von vorn an. Er will auf eine Reitschule gehen und sich die Beine brechen; er will den Erfolg schmecken, den in Geschäften und den in der Fortpflanzung; er wird den Kopf in die Hände stützen, oben, in einem vierten Stock, und über die Stadt mit den vielen schwarzen Schornsteinen sehen, auch in den Himmel … Dabei wird ihm etwas einfallen, eine Art Erinnerung, aber er wird nicht wissen, woran. Er wird seine Jugend verraten und das Alter ehren. Er wird Gallensteine haben und Sodbrennen, eine Geliebte und ein Konversationslexikon. Alles, alles noch einmal von vorn.

Und ich werde mich hier oben zu Tode langweilen, wenn das möglich wäre – ich werde mir einen neuen Freund suchen müssen, mit dem ich auf den Wolken sitzen und mit den Beinen baumeln kann … Eine homöopathische Dosis von Neid ist in meinem Seelenragout zu schmecken, nicht eben viel, nur so, als sei jemand mit einer Neidbüchse vorbeigegangen … Was hat ihn nur gezogen? Was zieht sie nur alle, die wieder herunter müssen ins Dasein –? Schmerz? Hunger? Sehnsucht? Und vielleicht gerade die Sinnlosigkeit, der Satz vom unzureichenden Grunde, die Unvollkommenheit, die kleinen Hügelchen, die es zu überwinden gibt, und die man nachher so reizend leicht herunterfahren kann? Aber er kennt das doch alles, er kennt es doch, wir haben es uns oft genug erzählt … Und wie hat er sich darüber lustig gemacht!

Eidbruch. Fahnenflucht. Verrat! Ich komme mir schrecklich überlegen vor, ein Philosoph. Ich habe recht. Er hat unrecht.

Aber er lebt. Er atmet, mit jenem Minimum an Erkenntnis, das das Atmen erst möglich macht; er ersetzt beständig seine Zellen, schon morgen ist er nicht mehr derselbe wie gestern, und heute ist er glücklich, weil er nichts mehr von alledem weiß, was er hier gewußt hat; er verschwimmt nicht mehr im All, er ist ein einziges Ding, Grenzen sind die Merkmale seines Wesens, und gäbe es außer ihm keine andern, er wäre nicht. Seine Mutter liebt ihn, weil er ist; sein Vater wird ihn später einmal lieben, weil er so ist und nicht anders. Manchmal ist er glücklich, unglücklich sein zu können.

Er ist fort. Und ich bin ganz allein.

Er schämte sich über die Maßen, als er wieder da war. „Sie sind lange fortgewesen –“, sagte ich. „Wir wollen doch die Sache beim Namen nennen“, sagte er. „Ich habe Sie plötzlich allein gelassen; so, wie es da unten welche gibt, die aus dem Leben scheiden, aus Sehnsucht nach dem Tode – so habe ich das Umgekehrte getan. Nun –“ Ich schwieg. Dann:

„Es hat Ihnen gefallen?“ sagte ich harmlos. Er sah mich aufmerksam an. „Ironie verkaufe ich allein“, sagte er. „Aber ich kann es ja ruhig sagen: Nein – es hat mir nicht gefallen.“ „Und warum nicht?“ sagte ich. „Weil –“, sagte er. „Ich will Ihnen etwas erzählen:

Oft habe ich Ihnen hier oben nicht geglaubt; Sie haben so niederdrückende Sachen über die da gesagt – Sie sind ein Dyskolos.“ Ich nickte freundlich. Namen treffen nie, besonders nicht, wenn man selbst gemeint ist. „Ein Dyskolos“, sagte er. „Sie essen die Trübsalsuppe mit großen Löffeln – Ihnen ist nicht wohl, wenn Ihnen wohl ist – Sie müssen so eine Art bösen Gewissens haben, wenns Ihnen gut geht. Es hat mir übrigens wirklich nicht gefallen.“ Oben links ging die Erde auf, o du mein holder Abendstern!

„Sehen Sie das?“ sagte er. „Sehen Sie das? Geht es da armselig zu! Welcher Reichtum an Armut! Welcher Überfluß an Nutzlosem! Welch Schema des Eigenartigen! Ich war entsetzt. Dieses Mal bin ich nicht alt geworden.“ „Aber Sie hatten doch Freude, wieder da zu sein …?“ sagte ich vorsichtig.

„Es wird alles in Serien hergestellt“, sagte er. „Ich hatte Freude – eine Minute: die erste. Aber ich hatte vergessen, meine Rückerinnerung bei Ihnen zu lassen – ich wußte alles. Herr, ich wußte alles, was kam. Mein erstes Kinderschuhchen, Elternfreude und Mutterliebe und die kleine Schulmappe … Und die ersten Pubertätspickel und die Gedichte, die junge Liebe und die vernünftige Heirat. Ja. Aber am schlimmsten –“ „Am schlimmsten –?“ sagte ich.

„Am schlimmsten war es später“, sagte er. „Die Abgenutztheit des Originellen – die Tradition der Individualität – die Maschinerie des Außergewöhnlichen: es war nicht zum aushalten. Ah, ich bin nicht Phileas Pogg, der Exzentriks sucht – ich weiß, daß man nicht mit beiden Beinen auf einer Lampe sitzen kann – aber welche Armut! Welche Dürftigkeit in den Ausdrucksmöglichkeiten, in der Perversität noch, im Leiden selbst. Es ist immer dasselbe – es ist immer dasselbe. Und jeder tut so, als begegne einem das zum erstenmal, wenn es ihm zum erstenmal begegnet.“

„Sie sagten vorhin,“ sagte ich, „daß Sie so ins Leben hineingerutscht seien, wie manche herausgehen: aus Sehnsucht nach dem Tode. Gibt es das: Sehnsucht nach dem Tode –?“ „Nein“, sagte er. „Nein: nicht Sehnsucht nach dem Tode. Nur: Müdigkeit. Da liegen nun sechsunddreißig Kalender auf dem Tisch, jeder mit Neujahr, Hundstagen und Sylvester, und das muß alles noch gelebt werden – welche Aufgabe! Das mag man mitunter nicht. Wirst du ohne Hunger durchkommen? Ohne Syphilis? Ohne Kinderkatastrophen? Nur Blinde sind kräftig – Schwäche macht sehend. Die Chancen sind ungleich verteilt. Ich wußte zuviel. Und sehen Sie: da kleben sie und gehen nicht weg und gehen nicht weg. Was mag sie wohl halten –?“ Er sah auf die Erde.

Der kleine blitzende Punkt stand jetzt im Zenith, unter tausend andern, die leuchteten wie er.

Keiner leuchtete wie er.

SCHEINWERFER DURCH DIE NACHT

Der Deutsche fragt: Was ist der Mann? Der Amerikaner fragt: Wie viel ist der Mann wert? Der Franzose fragt: Aus welcher Familie ist er? Der Wiener fragt: Wo schreibt er?

Der Budapester fragt gar nicht: er kennt den Mann und ist ihm Geld schuldig.

*

Die Serbin ist ihrem Manne treu. Die Rumänin ist ihren Männern nicht treu. Die Französin macht ihren Mann anstandshalber zum cocu. Die Berlinerin will es ganz genau wissen. Die Sächsin wirtschaftet, daß das Bett kracht. Und die Bernerin versteht gar nicht, worum man sie gebeten hat.

*

Vier Männer hatten ein Gelübde abgelegt, am ersten Januar je hundert Mark in eine Wohltätigkeitskasse einzuzahlen: ein Hamburger, ein Berliner, ein Rheinländer und ein Sachse. Der Hamburger hielt das Gelübde. Der Rheinländer vergaß es. Der Berliner zahlte am 15. Juni eine Mark achtzig a conto, mit der Begründung, sein Sozius sei verreist. Der Sachse wußte ärschd gahrnischd von dr Sache, wurde verklagt, stellte vor der Urteilsverkündung einen Wechsel über die Summe aus, ließ ihn zu Protest gehen … Ich komme gelegentlich vorbei, um zu sehen, was aus der Geschichte geworden ist.

*

Mrs. Atkerson wurde an einem schönen Sommermorgen in den Rocky Mountains von einem wilden Räuber angefallen und etwas vergewaltigt. Sie beschwor ihn, von seinem Vorhaben abzustehen, da man am Sonntag keine Arbeit tun solle. „Wären Sie in die Kirche gegangen, Missis!“ entgegnete der Räuber und fuhr fort.

*

Über die Familie der Zukünftigen muß man sich erkundigen. Der Berliner fragt auf der Börse, der Engländer im Klub, der Franzose befragt ihre Concierge, der Wiener erkundigt sich im Caféhaus, und der Ungar haut auf alle Fälle seinem besten Freund ein paar hinter die Ohren.

*

Berlin S arbeitet, Berlin N jeht uff Arbeet, Berlin O schuftet, Berlin W hat zu tun.

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Ein Reverend ging einmal in ein schlechtes Londoner Haus. Nach einer halben Stunde kam er wieder heraus. „Nein,“ sagte er. „Da langweile ich mich lieber in einer Kirche.“

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In Wien sollte eine Kindesmörderin hingerichtet werden. Die Exekution verzögerte sich eine halbe Stunde, weil die Beamten den Strick vergessen hatten. Dann war alles aus. „Wie war es?“ fragte man sie im Fegefeuer. „Nicht schön“, antwortete die arme Seele. „Aber der Henker hat am End so lieb g’schaut!“

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Ein Fremder saß am Lido und blickte träumerisch in die glutenden Abendgluten der Lagunen. Gut. Da tippte ihm jemand von hinten auf die Schulter. Und als er sich jäh umwandte, da stand vor ihm ein herrlich schöner Jüngling, der deutete mit der Rechten auf das Wasser und sagte erklärend: „Il mare!“ Und hielt die Linke bittend hingestreckt.

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Einmal wurde ein besonders unanständiger, besonders kniffliger Witz erzählt. Der Tscheche verstand ihn sofort, der Italiener gleich, der Holländer nach einer halben Stunde und die Dame aus Hamburg nie. Der Grieche kannte ihn.

*

(Nur für Kenner.) Ein baltischer Baron schrieb an seinen Freund einen acht Seiten langen Brief, der handelte nur von der Jagd: von Schnepfen, Hühnern, Hasen und einem Fuchs. Nach der Unterschrift stand ein P.S.: „Habe ganz verjessen, Dir mitzutäilen, daß meine liebe Minna mit äinem Ausländer echappiert ist.“ Die liebe Minna war die Frau.

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In Ungarn lebte einmal ein Mann, der war dafür berühmt, daß er noch nie berühmt war.

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In Tokio wollte einst ein Europäer den heimischen Wein trinken. „Haben Sie auch französischen?“ fragte er den Wirt. „Oho!“ sagte der stolz. „Bei uns können Sie alles haben – so europäisch wie Sie sind wir schon lange!“ Und brachte eine Flasche.

Auf dem Etikett stand: „BORDEAUX FRERES.“

*

Ein Mann fiel vom Mond. Die Deutschen legten ihn auf die rechte Straßenseite; die Franzosen fragten: „Vous venez de la part de qui– ?“; die Italiener zogen sich scheu zurück, denn sie hielten ihn für einen Spitzel Mussolinis; die Dänin beschnupperte ihn und sagte: „Ist er nicht der geschiedene Mann von Frau Johannsen –?“ Hierauf begab sich der Mann wieder zum Mond zurück.

*

Die Engländer wollen etwas zum Lesen, die Franzosen etwas zum Schmecken, die Deutschen etwas zum Nachdenken.

*

Es gibt keine geborenen Großstädter.

Der Berliner sagt, er sei in Breslau geboren, stammt aber aus Posen; der Pariser ist aus Tunis und bestenfalls aus Frankfurt, der Wiener aus Czernowitz und der Newyorker aus Württemberg. Nur die Prager sind aus Prag, und das ist ihnen ganz recht.

*

Die Holländer wollen Frieden; der Franzose will keinen Krieg; der Engländer will unter Umständen keinen Frieden: und der Deutsche will, daß die andern mit ihm Krieg anfangen.

*

Die Nationen wurden aufgefordert, einen Kreis zu zeichnen.

Der Amerikaner trat mit einer Kreiszeichnungsmaschine an, the biggest of the world; der Engländer zeichnete freihändig einen fast einwandfreien Kreis; der Franzose ein reichgeschmücktes Oval; der Österreicher sagte: „Gehns – mir wern uns do net herstelln!“ und pauste den englischen Kreis durch. Die Deutschen lieferten ein Tausendundsechsundneunzig-Eck, das fast wie ein Kreis aussah; es war aber keiner.

*

Ein Kommunist war eingekerkert worden, und die ersten europäischen Schriftsteller wurden gebeten, sich dazu zu äußern.

Der Franzose schrieb einen blendenden Aufruf, gebrauchte hierbei die Form „que vous doutassiez“ und entfesselte damit eine bewegte Diskussion in seinem Vaterlande; G. B. Shaw verfaßte ein außerordentlich ironisches Drama, worin er sich über seine Landsleute derart schonungslos lustig machte, daß auf Wochen hinaus kein Billett zu haben war, von dem Gefangenen war übrigens in dem Stück nicht die Rede; der Deutsche unterzeichnete den Protest nicht, weil er mit dem Verhafteten nicht in allen Punkten übereinstimmte. Zwei aber drangen tatkräftig in das Gefängnis ein. Als erster kam der Russe in die Zelle. Da lag der Gefangene und war tot: der Faschist hatte ihn schon erschossen.

*

Nach dem Sündenfall vergißt der Franzose eine Frau, der Engländer heiratet sie, der Rumäne verschafft ihr einen Mann, der Deutsche fängt einen Prozeß mit ihr an, und der Amerikaner heiratet sie vorher.

*

Die Engländer sind die Römer der Neuzeit. Die Franzosen sind die Chinesen des Westens. Die Japaner sind die Engländer des Ostens. Die Belgier sind die Polen des Westens. Nur was die Bayern eigentlich für ein Volksstamm sind – das hat noch kein Mensch herausbekommen.

*

Die Dänen sind geiziger als die Italiener. Die spanischen Frauen geben sich leichter der verbotenen Liebe hin als die deutschen. Alle Letten stehlen. Alle Bulgaren riechen schlecht. Rumänen sind tapferer als Franzosen. Russen unterschlagen Geld. Das ist alles nicht wahr – wird aber im nächsten Kriege gedruckt zu lesen sein.

*

Man kann sich einen Franzosen vorstellen, der englisch spricht. Man kann sich auch einen Amerikaner vorstellen, der richtig englisch spricht. Man kann sich zur Not einen Engländer vorstellen, der Französisch spricht. Ja, man kann sich sogar einen Eskimo vorstellen, der italienische Arien singt. Aber einen Neger, der sächselt: das kann man sich nicht vorstellen.

*

Der Deutsche denkt sichs aus; der Italiener erfindets; der Engländer setzt es in die Praxis um; der Amerikaner kauft das Patent; der Japaner machts nach; der Spanier wills gar nicht haben; bei dem Norweger spricht sichs langsam herum – und der Franzose ernennt alle Beteiligten zu Mitgliedern der Akademie Réaumur. Hierauf schreibt der erstaunte Deutsche eine Bibliographie des Vorfalls.

*

Das deutsche Schicksal: vor einem Schalter zu stehn.

Das deutsche Ideal: hinter einem Schalter zu sitzen.

*

Man ist in Europa einmal Staatsbürger und zweiundzwanzigmal Ausländer. Wer weise ist: dreiundzwanzigmal.

*

Als Gott der Herr die Trompete des Jüngsten Gerichts hatte erschallen lassen: da standen die Deutschen ausgerichtet in zwei Reihen, mit einem besonders zuwidern Kerl vor der Front; die Engländer kamen pünktlich und gelassen angestelzt, ihre Köpfe trieben sie mit Golfschlägern vor sich her; aus der Ecke der Franzosen hörte man gar fröhliches Hämmerklopfen: sie schlugen sich kleine Löcher in die dritte Querrippe, um ihre Bändchen darin unterzubringen; die Schweizer brummelten, aufgeweckt seien sie noch nie gewesen; die Spanier blieben liegen und sagten: „Mañana! Morgen!“ und die amerikanische Abteilung des Friedhofs hatte illuminiert:

Heute Jüngstes Gericht!
Das jüngste der Welt!
Von Pastor Higgins von der Chicagoer Sonntagsschule vorausgesagt!
Pastor Higgins und lieber Gott persönlich anwesend!

Als Gott der Herr dies aber alles mit ansah, da jammerte ihn der Affenstall, und er vertagte die Sitzung auf unbestimmte Zeit.

Wenn der alte Motor wieder tackt …

An Lukianos

Freund! Vetter! Bruder! Kampfgenosse!
Zweitausend Jahre – welche Zeit!
Du wandeltest im Fürstentrosse,
du kanntest die Athenergosse
und pfiffst auf alle Ehrbarkeit.
Du strichst beschwingt, graziös und eilig
durch euern kleinen Erdenrund –
Und Gott sei Dank: nichts war dir heilig,
du frecher Hund!

Du lebst, Lucian! Was da: Kulissen!
Wir haben zwar die Schwebebahn –
doch auch dieselben Hurenkissen,
dieselbe Seele, jäh zerrissen
von Geld und Geist – du lebst, Lucian!
Noch heut: das Pathos als Gewerbe
verdeckt die Flecke auf dem Kleid.
Wir brauchen dich. Und ist dein Erbe
noch frei, wirfs in die große Zeit!

Du warst nicht von den sanften Schreibern.
Du zogst sie splitternackend aus
und zeigtest flink an ihren Leibern:
es sieht bei Göttern und bei Weibern
noch allemal der Bürger raus.
Weil der, Lucian, weil der sie machte.

So schenk mir deinen Spöttermund!
Die Flamme gib, die sturmentfachte!
Heiß ich auch, weil ich immer lachte,
ein frecher Hund!

Die arme Frau

Mein Mann? mein dicker Mann, der Dichter?
Du lieber Gott, da seid mir still!
Ein Don Juan? Ein braver, schlichter
Bourgeois – wie Gott ihn haben will.

Da steht in seinen schmalen Büchern,
wieviele Frauen er geküßt;
von seidenen Haaren, seidenen Tüchern,
Begehren, Kitzel, Brunst, Gelüst …

Liebwerte Schwestern, laßt die Briefe,
den anonymen Veilchenstrauß!
Es könnt ihn stören, wenn er schliefe.
Denn meist ruht sich der Dicke aus.

Und faul und fett und so gefräßig
ist er und immer indigniert,
Und dabei gluckert er unmäßig
vom Rotwein, den er temperiert.

Ich sah euch wilder und erpichter
von Tag zu Tag – ach! laßt das sein!
Mein Mann? mein dicker Mann, der Dichter?
In Büchern ja.
Im Leben: nein.

Sehnsucht nach der Sehnsucht

Erst wollte ich mich dir in Keuschheit nahn.
Die Kette schmolz.
Ich bin doch schließlich, schließlich auch ein Mann,
und nicht von Holz.

Der Mai ist da. Der Vogel Pirol pfeift.
Es geht was um.
Und wer sich dies und wer sich das verkneift,
der ist schön dumm.

Denn mit der Seelenfreundschaft – liebste Frau,
hier dies Gedicht
zeigt mir und Ihnen treffend und genau:
es geht ja nicht.

Es geht nicht, wenn die linde Luft weht und
die Amsel singt –
wir brauchen alle einen roten Mund,
der uns beschwingt.

Wir brauchen alle etwas, das das Blut
rasch vorwärtstreibt –
es dichtet sich doch noch einmal so gut,
wenn man beweibt.

Doch heller noch tönt meiner Leier Klang,
wenn du versagst,
was ich entbehrte öde Jahre lang –
wenn du nicht magst.
So süß ist keine Liebesmelodie,
so frisch kein Bad,

so freundlich keine kleine Brust wie die,
die man nicht hat.

Die Wirklichkeit hat es noch nie gekonnt,
weil sie nichts hält.
Und strahlend überschleiert mir dein Blond
die ganze Welt.

Wider die Liebe

Die brave Hausfrau liest im Blättchen
von Lastern selten dustrer Art,
vom Marktpreis fleißiger Erzkokettchen,
vom Lustgreis auch mit Fußsackbart.

Mein Gott, denkt sich die junge Gattin,
mein Gott! welch ein Spektakulum!
„Das schlanke Frauenzimmer hat ihn …“
Ja was? Sie bringt sich reinweg um.

O Frau! Die Phantasie hat Grenzen,
sie ist so eng – es gibt nicht viel.
Nach wenigen Touren, wenigen Tänzen
ists stets das alte, gleiche Spiel.

Der liebt die Knaben. Dieser Ziegen.
Die will die Männer laut und fett.
Die mag bei Seeoffizieren liegen.
Und der geht nur mit sich ins Bett.

Hausbacken schminkt sich selbst das Laster.
Sieh hin – und Illusionen fliehn.
Es gründen noch die Päderaster
„Verein für Unzucht, Sitz Berlin“.

Was kann der Mensch denn mit sich machen!
Wie er sich anstellt und verrenkt:
Was Neues kann er nicht entfachen.
Es sind doch stets dieselben Sachen …
Geschenkt! Geschenkt!

 Confessio

Wir Männer aus Berlin und Neukölln,
wir wissen leider nicht, was wir wölln.
Mal …

Mal konzentrieren wir uns auf die eine,
spielen mit ihr: die oder keine,
legen uns fest, ohne Bedenken,
wollen auch einem Söhnlein das Leben schenken,
verlegen den Sitz der Seele, als Gatte,
oberhalb des Tisches Platte –
Und sind überhaupt sehr monogam.

Wie das so kam …

Da lockten die andern. Ihrer sind viele.
Sie lockten zu kindlichem Zimmerspiele
– Bewegung lächerlich, Preis bedeutend –
15
Immer nur eine Glocke läutend?
Immer an eine Frau gebunden?
So sollen uns alle Lebensstunden
verrinnen? Ohne boshafte Feste?
Liegt nicht draußen das Allerbeste?
Mädchen? Freiheit? Frauen nach Wahl –?

Gesagt, getan.
Mal …

Mal trudeln wir durch bläuliche Stunden,
tun scheinbar an fröhlichem Wechsel gesunden;
können es manchmal gar nicht fassen,
welch feine Damen bei uns arbeiten lassen.
Und jede Seele, die eine hatte,
liegt unterhalb des Tisches Platte.
Und sind überhaupt sehr polygam.
Wie das so kam …

So herumwirtschaften? Lebenslänglich?
Plötzlich werden wir recht bedenklich.
Sehnen uns beinah fiebrig zurück
nach Einsamkeit und Familienglück.
Und fangen als ein ganzer Mann
die Geschichte wieder von vorne an.

Wir Männer aus Berlin und Neukölln,
wir wissen leider nicht, was wir wölln.
Wir pisacken uns und unsre Fraun;
uns sollten sie mal den Hintern aushaun.
Bileams Esel, ich und du.
Gott schenke uns allen die ewige Ruh.
Amen.

 Psychoanalyse

Drei Irre gingen in den Garten
und wollten auf die Antwort warten.

Der erste Irre sprach:
„O Freud!
Hat dich noch niemals nicht gereut,
daß du Schüler hast? Und was für welche –?
Sie gehen an keinem vorüber, die Kelche.
Ich kenne ja wirklich allerhand
als Mitglied vom Deutschen Reichsirrenverband –
aber die alten Doktoren sind mir beinah lieber
als das Getue dieser
Ja.“
Der zweite Irre sprach:
„Schmecks.

Ich habe hinten einen Komplex.
Den hab ich nicht richtig abreagiert,
jetzt ist mir die Unterhose fixiert.
Und ich verspüre mit großer Beklemmung
rechte eine Hemmung und links eine Hemmung.
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Vorn hängt meine ältere Schwester und
in der Mitte bin ich ziemlich gesund.
Ja.“
Der dritte Irre sprach:
„Wenn
heut einer mal muß, dann sagt ers nicht, denn
er umwickelt sich mit düstern Neurosen,
mit Analfunktionen und Stumpfdiagnosen –“
(„Ha! – Stumpf!“ riefen die beiden andern Irren,
konnten den dritten aber nicht verwirren.

Der fuhr fort:)
„Vorlust, Nachlust und nächtliches Zaudern –
es macht so viel Spaß, darüber zu plaudern!
Die Fachdebatte – welch ein Genuß! –
ist beinah so schön wie ein
Ja.“
Die drei Irren sangen nun im Verein:
„Wir wollen keine Freudisten sein!

Die jungen Leute, die davon kohlen,
denen sollte man kräftig das Fell versohlen.
Erreichen sie jemals das Genie?
O na nie –!

Jeder Jüngling von etwas guten Manieren
geht heute mal Muttern deflorieren.
Jede Frau, die in die Epoche paßt,
hat schon mal ihren Vater gehaßt.
Und die ganze Geschichte stammt aus Wien,
und darum ist sie besonders schien –!

Wir drei Irre sehen, wie Liebespaare
sich gegenseitig die schönsten Haare
spalten – und rufen jetzt rund und nett:
Rein ins Bett oder raus aus dem Bett!

Keine Tischkante ohne Symbol und kein Loch …
Wie lange noch –? Wie lange noch –?“

Drei Irre standen in dem Garten
und täten auf die Antwort warten.

Frauen von Freunden

Frauen von Freunden zerstören die Freundschaft.
Schüchtern erst besetzen sie einen Teil des Freundes,
nisten sich in ihm ein,
warten,
beobachten,
und nehmen scheinbar teil am Freundesbund.
Dies Stück des Freundes hat uns nie gehört –
wir merken nichts.
Aber bald ändert sich das:
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Sie nehmen einen Hausflügel nach dem andern,
dringen tiefer ein,
haben bald den ganzen Freund.

Der ist verändert; es ist, als schäme er sich seiner Freundschaft.
So, wie er sich früher der Liebe vor uns geschämt hat,
schämt er sich jetzt der Freundschaft vor ihr.
Er gehört uns nicht mehr.
Sie steht nicht zwischen uns – sie hat ihn weggezogen.

Er ist nicht mehr unser Freund:
er ist ihr Mann.
Eine leise Verletzlichkeit bleibt übrig.
Traurig blicken wir ihm nach.

Die im Bett behält immer recht.

Auf ein Frollein

Gott Amor zieht die Pfeile aus dem Köcher.
Er schießt. Ich bleib betroffen stehn.
Und du machst so verliebte Nasenlöcher …
Da muß ich wohl zum Angriff übergehn.

„Gestatten Sie …!“ Du kokettierst verständig.
Dein Auge prüft den dicken Knaben stumm.
Der ganze Kino wird in dir lebendig,
du wackelst vorn und wackelst hinten rum.

In deinem Blick sind alle Bumskapellen
der Sonnabendabende, wo was geschieht.
Ich hör dich Butterbrot zum Aal bestellen –
Gott segne deinen lieben Appetit!

Ich führ dich durch Theater und Lokale,
durch Paradiese in der Liebe Land;
du gibst im Auto mir mit einem Male
die manikürte, kleine, dicke Hand.

Aus weiten Hosen seh ich dich entblättern,
halb keusche Jungfrau noch und halb Madame.
Ich laß dich sachte auf die Walstatt klettern …
Du liebst gediegen, fest und preußisch-stramm.

Und hinterher bereden wir im Dunkeln
die kleinen Kümmernisse vom Bureau.
Durch Jalousien die Bogenlampen funkeln …
Du mußt nach Haus. Das ist nun einmal so.
Ich weiß. Ich weiß. Schon will ich weiterschieben –
Ich weiß, wie die Berliner Venus labt.
Und doch: noch einmal laß mich lieben
dich.
Wie gehabt.

 An die Berlinerin

Mädchen, kein Casanova
hätte dir je imponiert.
Glaubst du vielleicht, was ein dofer
Schwärmer von dir phantasiert?

Sänge mit wogenden Nüstern
Romeo, liebesbesiegt,

würdest du leise flüstern:
„Woll mit die Pauke jepiekt –?“
Willst du romantische Feste,

gehst du beis Kino hin …
Du bist doch Mutterns Beste,
du, die Berlinerin –!

Venus der Spree – wie so fleißig
liebst du, wie pünktlich dabei!
Zieren bis zwölf Uhr dreißig,
Küssen bis nachts um zwei.
Alles erledigst du fachlich,
bleibst noch im Liebesschwur
ordentlich, sauber und sachlich:
Lebende Registratur!
Wie dich sein Arm auch preßte:
gibst dich nur her und nicht hin.
Bist ja doch Mutterns Beste,
du, die Berlinerin –!

Wochentags führst du ja gerne
Nadel und Lineal.
Sonntags leuchten die Sterne
preußisch-sentimental.
Denkst du der Maulwurfstola,
die dir dein Freund spendiert?
Leuchtendes Vorbild der Pola!
Wackle wie sie geziert.
Älter wirst du. Die Reste
gehn mit den Jahren dahin.
Laß die mondäne Geste!
Bist ja doch Mutterns Beste,
du süße Berlinerin –!

Chanson

Aus dem Ungarischen
Gesungen von Gussy Holl

Da ist ein Land – ein ganz kleines Land –
Japan heißt es mit Namen.
Zierlich die Häuser und zierlich der Strand,
zierlich die Liliputdamen.

Bäume so groß wie Radieschen im Mai.
Turm der Pagode so hoch wie ein Ei –
Hügel und Berg
klein wie ein Zwerg.
Trippeln die zarten Gestalten im Moos,
fragt man sich: Was mag das sein?
In Europa ist alles so groß, so groß –
und in Japan ist alles so klein!

Da sitzt die Geisha. Ihr Haar glänzt wie Lack.
Leise duftet die Rose.
Vor ihr steht plaudernd im strahlenden Tag
kräftig der junge Matrose.
Und er erzählt diesem seidenen Kind
davon, wie groß seine Landsleute sind.
Straße und Saal
pyramidal.
Sieh, und die Kleine wundert sich bloß –
denkt sich: Wie mag das wohl sein?
In Europa ist alles so groß, so groß –
und in Japan ist alles so klein!

Da ist ein Wald – ein ganz kleiner Wald –
abendlich dämmern die Stunden.
Horch! wie das Vogelgezwitscher verhallt …
Geisha und er sind verschwunden.

Abendland – Morgenland – Mund an Mund –
welch ein natürlicher Völkerschaftsbund!
Tauber, der girrt,
Schwalbe, die flirrt.
Und eine Geisha streichelt das Moos,
in den Augen ein Flämmchen, ein Schein …
In Europa ist alles so groß, so groß –
und in Japan ist alles so klein.

 Letzte Fahrt

An meinem Todestag – ich werd ihn nicht erleben –
da soll es mittags rote Grütze geben,
mit einer fetten, weißen Sahneschicht …
Von wegen: Leibgericht.

Mein Kind, der Ludolf, bohrt sich kleine Dinger
aus seiner Nase – niemand haut ihm auf die Finger.
Er strahlt, als einziger, im Trauerhaus.
Und ich lieg da und denk: „Ach, polk dich aus!“

Dann tragen Männer mich vors Haus hinunter.
Nun faßt der Karlchen die Blondine unter,
die mir zuletzt noch dies und jenes lieh …
Sie findet: Trauer kleidet sie.

Der Zug ruckt an. Und alle Damen,
die jemals, wenn was fehlte, zu mir kamen:
vollzählig sind sie heut noch einmal da …
Und vorne rollt Papa.

Da fährt die erste, die ich damals ohne
die leiseste Erfahrung küßte; die Matrone
sitzt schlicht im Fond, mit kleinem Trauerhut.
Altmodisch war sie – aber sie war gut.

Und Lotte! Lottchen mit dem kleinen Jungen!
Briefträger jetzt! Wie ist mir der gelungen?
Ich sah ihn nie. Doch wo er immer schritt:
mein Postscheck ging durch sechzehn Jahre mit.

Auf rotem samtnen Kissen, im Spaliere,
da tragen feierlich zwei Reichswehroffiziere
die Orden durch die ganze Stadt,
die mir mein Kaiser einst verliehen hat.

Und hinterm Sarg mit seinen Silberputten,
da schreiten zwoundzwonzig Nutten –
sie schluchzen innig und mit viel System.
Ich war zuletzt als Kunde sehr bequem …

Das Ganze halt! Jetzt wird es dionysisch!
Nun singt ein Chor: Ich lächle metaphysisch.
Wie wird die schwarzgestrichne Kiste groß!
Ich schweige tief.
Und bin mich endlich los.

 Häuser

Mittleres Haus in der Köpenicker Straße, in der Avenue des Ternes, am Harvestehuderweg – du bist vollgelebt.

Hinter deinen Tapeten hat sich Angelebtes versammelt,
nachts knistert es,
tagsüber dünsten dort hundert Leben aus,
mittleres Haus.

Kotdurchrieselt stehst du,
von Drähten durchzuckt,
ein lebendiger Leib;
oben fassen die Gabeln deiner Antennen in die Luft und ziehen die Musik heran, die Helferin der Gemeinheit;
mit Recht spannen sich die Radiotrapeze, auf denen die Ätherwellen turnen, auf dem Dach aus,
neben den Hypotheken –
denn wer könnte Hypotheken handeln,
ohne die abendliche Hilfe Beethovens!

Du bist nicht wie jene Hausgreise,
in denen das Mauerleben längst abgestorben ist;
tot ruht der Kalk,
die Wanzen weinen
und beißen, angefüllt mit Verzweiflung der Isoliertheit;
nichts mehr sagt die Treppe,
schweigsam ist die Tür wie ein gefalteter Greisenmund.
So alte Leute sagen nichts mehr –
sie haben zu viel gesehn.

Du bist ein mittleres Haus.
Du bist nicht wie die Neubauten, die Gefäße des Unglücks,
in deren weißgetünchte Schubschachteln der Mensch hineinfällt,
hier seine Scheidung, seine neugebornen Kinder, seine Malheurbriefe zu erwarten;
kindisch gluckert die Badewanne, das junge Ding,
albern blitzen die Klinken,

und tapsig stuckert der eben konfirmierte Fahrstuhl in die Höhe und macht sich mausig –
wie mühsam ist es, ein so funkelnagelneues Behältnis vollzuwohnen!
So junge Leute sagen nicht viel –
sie haben noch zu wenig gesehn.
In ihnen vergeben die Mieter ihre Kraft – seelische Trockenwohner.
Du bist ein mittleres Haus.

Du hast schon viel in dir gehabt, Mutter der Möbel,
aber noch nicht genug.
Empfang, schlürf ein, spei aus:
Jeder Umzug eine kleine Geburt.
Du bist grade dabei, zu leben.
Deine Rohre rauschen, es kocht in den Ausgüssen, es brodelt im Badeofen.
Durch deine Steine sickert Weinen,
deine Ziegel schwitzen Elend aus
und gerinnendes Stöhnen der Komödien der Nacht.
Kalkiger Querschnitt!
Durchbrüllt vom Lärm der Wirtschaften,
vom sinnlosen Klingeln
und vom Quäken näselnder Phonographen!

Mancher wohnt oben in dir,
mittleres Haus.
Und abends,
wenn der Film der Geschäftigkeiten ruht,
steckt ein Hund seinen Kopf zum Fenster heraus,

ernsthaft wie Gottvater die Straßenwürmer betrachtend,
seine Pfote hat er aufs Fensterbrett gestellt –
das ist für ihn eine zweite Erde.

Mittleres Haus.

Gefühle

Kennen Sie das Gefühl: „déjà vu“ –?
Sie gehen zum Beispiel morgens früh,
auf der Reise, in einem fremden Ort
von der kleinen Hotelterrasse fort,
wo die andern alle noch Zeitungen lesen.
Sie sind niemals in dem Dorf gewesen.
Da gackert ein Huhn, da steht eine Leiter,
und Sie fragen – denn Sie wissen nicht weiter –
eine Bauersfrau mit riesiger Schute …
Und plötzlich ist Ihnen so zumute
– wie Erinnerung, die leise entschwebt –:

Das habe ich alles schon mal erlebt.

Kennen Sie das Hotelgefühl –?
Sie sitzen zu Hause. Das Zimmer ist kühl.
Der Tee ist warm. Die Reihen der Bücher
schimmern matt. Das sind Ihre Leinentücher,
Ihre Tassen, Ihre Kronen –
Sie wissen genau, daß Sie hier wohnen.
Da sind Ihre Kinder, Ihre Alte, die gute –
Und plötzlich ist Ihnen so fremd zumute:

Das gehört ja alles gar nicht mir …
Ich bin nur vorübergehend hier.

Kennen Sie … das ist schwer zu sagen.
Nicht das Hungergefühl. Nicht den leeren Magen.
Sie haben ja eben erst Frühstück gegessen.
Sie dürfen arbeiten, für die Interessen
des andern, um sich Brot zu kaufen
und wieder ins Bureau zu laufen.
Hunger nicht.
Aber ein tiefes Hungern
nach allem, was schön ist: nicht immer so lungern –
auch einmal ausschlafen – reisen können –
sich auch einmal Überflüssiges gönnen.
Nicht immer nur Tag-für-Tag-Arbeiter,
ein bißchen mehr, ein bißchen weiter …
Sein Auskommen haben, jahraus, jahrein …?
Es ist alles eine Nummer zu klein.
Hunger nach Farben, nach der Welt, die so weit –
Kurz: das Gefühl der Popligkeit.
Eine alte, ewig böse Geschichte.
Aber darüber macht man keine Gedichte.

Die fünf Sinne

Fünf Sinne hat mir Gott, der Herr, verliehen, mit denen ich mich zurechtfinden darf hienieden:
Fünf blanke Laternen, die mir den dunkeln Weg beleuchten;
bald leuchtet die eine, bald die andre –
niemals sind alle fünf auf dasselbe Ding gerichtet …
Gebt Licht, Laternen –!
Was siehst du, Walt Wrobel –?
Ich sehe die entsetzliche obere Häuserfront der Berliner Straßen, unerbittlich, scharf liniiert, schwärzlich kasernenhaft;
ich sehe neben dem unfreundlichen Mann am Schalter die kleine schmutzige Kaffeekanne, aus der er ab und zu einen Zivilschluck genehmigt;
ich sehe das Skelett des Tauchers, ausgestreckt auf dem Meeresgrund, der Taucherhelm ist aufgeplatzt, und durch die Luken des untergegangenen Schiffs fliegt ein Schwarm Fische an die ehemalige Bar, sie rufen: „Sherry-Cobler –!“;
ich sehe den ehrenwerten Herrn Appleton aus Janesville (Wisconsin) auf der Terrasse des Boulevard-Cafés sitzen, lachende Kokotten bewerfen ihn mit Bällchen, er aber steckt seinen hölzernen Unterkiefer hart in die Luft;
ich sehe das blonde Gesicht des jungen Diplomaten, der mit nachlässigem Monokel erzählt: „Seinerzeit, während der sojenannten Revolution …“;
ich sehe den kleinen Jungen vor der Obsthandlung stehen und sein Pipichen machen, nachher stippt er den Finger hinein und malt Männerchen aufs Trottoir, das ist nicht hübsch von dem Kind –
Das sieht mein Gesicht.
Was hörst du, Walt Wrobel –?
Ich höre den Küchenchef in der französischen Restaurantküche rufen: „Ils marchent: deux bifteks aux pommes! Une sole meunière!“ Und vier Stimmen unter den hohen weißen Mützen antworten: „Et c’est bon!“;
ich höre einen Ton in meinen Ohren klingen, mitten im Gespräch, wie eine Mahnung, wie eine Erinnerung, wie einen Trost;
ich höre vor den Fenstern des deutschen Stammtischlokals unterirdisch dumpf die Kegelbahnen donnern;
ich höre nachts die Lokomotiven pfeifen, sehnsüchtig schreit die Ferne, und ich drehe mich im Bett herum und denke: „Reisen …“;
ich höre, wie über mir die Hausfrau, die Megäre, trampelt, sie macht die Wohnung rein und sich schmutzig, sie führt Krieg mit den Polstern;
ich höre, wie in Mitan Claire Waldoff aus dem Grammophon herausknarrte:
Als das Pauline hörte,
da rief sie überlaut:
„Viktoria! Viktoria!
Meine Mutter ist schon Braut –!“
Das hört mein Gehör.
Was schmeckst du, Walt Wrobel –?
Ich schmecke die untere Kruste der Obsttorte, die meine Tante gebacken hat; was die Torte anbetrifft, so hat sie unten ein paar schwarze Plättchen, da ist der Teig angebrannt, das knirscht im Mund wie Sand;
ich schmecke den kalten Tabak der Zigarre, die ausgegangen ist, und an der ich herumzutsche, weil ich es nicht weiß – die Zigarre lacht sich einen;
ich schmecke den Satz des türkischen Kaffees, die pulverdünn gemahlenen Körner bleiben zwischen den Zähnen sitzen;
ich schmecke den scharfen Geschmack von Kressenblättern; der preußische Kunstreferent im Ministerium kann das nicht schmecken, denn er hat keinen Geschmack;
ich schmecke die rauchige Würze alten Viktoria-Whiskys –
Das schmeckt mein Geschmack.

Was riechst du, Walt Wrobel –?
Ich rieche die warme, wassergeschwängerte Luft der öffentlichen Schwimmhallen, untermischt mit der Ausdünstung von nackten Leibern;
ich rieche an mir selbst und finde mich durchaus sympathisch riechend;
ich rieche die frische Stube im Gebirge, es riecht nach Sonne, Holz und Thymian;
ich rieche die kräftige Mannesatmosphäre des Kaufmanns, der es gut meint, mir aber zu nahe auf den Hals rückt;
ich rieche den Teer- und Wassergeruch im Hafen von Rostock, das Wasser steht still, und die Luft spricht plattdeutsch;
ich rieche den realpolitischen Redner in der Deutschen Demokratischen Gesellschaft, aber ich kann ihn nicht riechen –
Das riecht mein Geruch.
Was fühlst du, Walt Wrobel –?
Ich fühle in meinem Nabel eine kleine Wollkugel, die sich da weiß und dick aufhält, liebevoll grabe ich sie hervor;
ich fühle ein neues Gefühl an ungeahnten Orten, wenn mir der witzige Nasenarzt mit einer Stricknadel ins Ohr fährt;
ich fühle im Unterfutter einen Bleistift, den ich lange verloren wähnte, ein rundes Geldstück und ein unbekanntes Ding;
ich fühle den vertrauten Widerstand einer alten, bekannten Klinke;
ich fühle das harte Messingteil des Strumpfbandes meiner Geliebten auf meiner Backe, die ich daran gepreßt habe, als das Band auf dem Tisch lag;
ich fühle die Wollust, aber ich kann sie nicht beschreiben, denn in meinem Konversationslexikon steht: „Wollust (siehe Zeugung), nicht näher zu beschreibendes Gefühl …“ –
Dies fühlt mein Gefühl.
Fünf Sinne hat mir Gott, der Herr, verliehen, mit denen ich mich zurechtfinden darf hienieden:
Gesicht, Gehör, Geschmack, Geruch, Gefühl.
Fünf Sinne für die Unermeßlichkeit aller Erscheinungen.
Unvollkommen ist diese Welt, unvollkommen ihre Beleuchtung.
Bei dem einen blakt die eine Laterne, bei dem andern die andere.
Sieht ein Maulwurf? Hört ein Dackel? Schmeckt ein Sachse? Riecht eine Schlange? Fühlt ein preußischer Richter?
Gebt Licht, Laternen!
Stolpernd sucht mein Fuß den Weg, es blitzen die Laternen.
Mit allen fünf Sinnen nehme ich auf, sie können nichts dafür: meist ist es
Schmerz.

In Weißensee

Da, wo Chamottefabriken stehn
– Motorgebrumm –
da kannst du einen Friedhof sehn,
mit Mauern drum.
Jedweder hat hier seine Welt:
ein Feld.
Und so ein Feld heißt irgendwie:
O oder I …
Sie kamen hierher aus den Betten,
aus Kellern, Wagen und Toiletten,
und manche aus der Charité
nach Weißensee,
nach Weißensee.

Wird einer frisch dort eingepflanzt
nach frommem Brauch,
dann kommen viele angetanzt –
das muß man auch.
Harmonium singt Adagio
– Feld O –
das Auto wartet – Taxe drei –
Feld Ei –
Ein Geistlicher kann seins nicht lesen.
Und was er für ein Herz gewesen,
hört stolz im Sarge der Bankier
in Weißensee,
in Weißensee.

Da, wo ich oft gewesen bin,
zwecks Trauerei,
da kommst du hin, da komm ich hin,
wenns mal vorbei.
Du liebst. Du reist. Du freust dich, du –
Feld U –
Es wartet in absentia
Feld A.

Es tickt die Uhr. Dein Grab hat Zeit,
drei Meter lang, ein Meter breit.
Du siehst noch drei, vier fremde Städte,
du siehst noch eine nackte Grete,
noch zwanzig-, dreißigmal den Schnee –
Und dann:
Feld P – in Weißensee –
in Weißensee.

Monolog mit Chören

Ich bin so menschenmüde und wie ohne Haut.
Die andern mag ich nicht – sie tun mir wehe.
Wenn ich nur fremde Menschen sehe,
lauf ich davon – wie sind sie derb und laut!
Ich bin so müde und wie ohne Haut!
(Chor der Arbeitslosen): Das ist ja hervorragend interessant, Herr Tiger!

Ich spinn mich selig in die Schönheit ein.
Schönheit ist Einsamkeit. Ein stiller Morgen
im feuchten Park, allein und ohne Sorgen,
durchs Blattgrün schimmert eine Mauer, grau im Stein.
Ich spinn mich selig in die Schönheit ein …
(Chor der Proletariermütter): Wir wüßten nicht, was uns mehr zu Herzen ginge, Herr Tiger!

Ich dichte leis und sachte vor mich hin.
Wie fein analysier ich Seelenfäden,
zart psychologisch schildere ich jeden
und leg in die Nuance letzten Sinn …
(Chor der Tuberkulösen): Sie glauben nicht, wie wohl Sie uns damit tun, Herr Tiger!

Ich dichte leis und sachte vor mich hin …

(Alle Chöre): Wir haben keine Zeit, Nuancen zu betrachten!
Wir müssen in muffigen Löchern und Gasröhren übernachten!
Wir haben keine Lust, zu warten und immer zu warten!
Unsre Not schafft erst deine Einsamkeit, deine Stille und deinen Garten!

Wir: Arbeitslose, welke Mütter, Tuberkelkranke wollen heraus
aus euerm Dreck in unser neues Haus!

Wir singen auch ein Lied. Das ist nicht fein.
Darauf kommts auch gar nicht an. Und wir stampfen es euch in die Ohren hinein:

Völker, hört die Signale!
Auf zum letzten Gefecht!
Die Internationale
Erkämpft das Menschenrecht –!

Parc Monceau

Hier ist es hübsch. Hier kann ich ruhig träumen.
Hier bin ich Mensch – und nicht nur Zivilist.
Hier darf ich links gehn. Unter grünen Bäumen
sagt keine Tafel, was verboten ist.
Ein dicker Kullerball liegt auf dem Rasen.
Ein Vogel zupft an einem hellen Blatt.
Ein kleiner Junge gräbt sich in der Nasen
und freut sich, wenn er was gefunden hat.

Es prüfen vier Amerikanerinnen,
ob Cook auch recht hat und hier Bäume stehn.
Paris von außen und Paris von innen:
sie sehen nichts und müssen alles sehn.

Die Kinder lärmen auf den bunten Steinen.
Die Sonne scheint und glitzert auf ein Haus.
Ich sitze still und lasse mich bescheinen
und ruh von meinem Vaterlande aus.

Olle Germanen

Papa ist Oberförster,
Mama ist pinselblond;
Georg ist Klassen-Oerster,
Johann steht an der Front
der Burschenschaft
„Teutonenkraft“.
Bezahlen tut der Olle.
Was Wotan weihen wolle!

Verjudet sind die Wälder,
verjudet Jesus Christ.
Wir singen über die Felder,
wie das so üblich ist,
in Reih und Glied
das Deutschland-Lied.
Nachts funkelt durch das Dunkel
Frau Friggas Frost-Furunkel.

Die Vorhaut die soll wachsen,
in Köln und Halberstadt;
wir achten selbst in Sachsen,
daß jeder eine hat.
Ganz zudenrein
muß Deutschland sein.
Und haben wir zu saufen:
Laß Loki luhig laufen!
Wer uns verlacht, der irrt sich.
Uns bildet früh und spät
für 1940
die Universität.

Wer waren unsre Ahnen?
Kaschubische Germanen.
Die zeugten zur Erfrischung
uns Promenadenmischung.
Drum drehten wir
zum Beten hier
die nationale Rolle.
Was Wotan weihen wolle –!

Mal singen, Leute –!

Für Kate Kühl

Der Seemann schifft ins Meer hinaus,
ihm ist so leicht zu Sinn.
Marie weint sich die Augen aus –
er segelt rasch dahin.
Er sitzt in der Kombüse
und stochert im Gemüse
und denkt sich: Wenns Marie nicht ist, na, dann ists eine Negerin …
Der hat
in jeder Stadt ’ne Braut –!
Die erste für die Seele,
die zweite fürs Gemüt;
die dritte wegen Hoppeldibopp –
auf Nacht, wenns keiner sieht!

Mein Freund, daß du geheirat hast,
das will mir gar nicht ein.
Dein Stück Malheur ist eine Last!
Komm, wirf sie in den Rhein!
Er sagt: „Ich wünscht, ich kann es!

Wem sagst du das, Johannes!
Ich denk so oft, wenn die Alte schnarcht: Ach, wär ich jetzt allein!
Ich hätt
in jeder Stadt ’ne Braut –!
Die erste für die Seele,
die zweite fürs Gemüt;
die dritte für das Hoppeldibopp –
auf Nacht, wenns keiner sieht!

Mensch, unser Gustav Stresemann
das ist wohl ein Filou!
Er meiert sich bei jedem an
und singt was Schöns dazu.
Er steht am Wasserglase
und redet durch die Nase,
mal rechts durchs Loch, mal links durchs Loch – der Junge ist atout!
Der hat
in jeder Stadt ’ne Braut –!
Die erste für die Seele,
die zweite fürs Gemüt;
die dritte für das Hoppeldibopp –
auf Nacht, wenns keiner sieht!

Das macht der Reiz seines Angesichts!
Und die eine weiß von der andern nichts,
daß er ihr Programm geklaut!
In jeder Stadt
in jeder Stadt

in jeder Stadt ’ne Braut –!

 Träume

Vorgestern nacht habe ich von zwei Mädchen geträumt,
die waren furchtbar kregel und aufgeräumt.
Die eine hatte einen schwarzen Bubikopf und die andre einen braunen,
und sie hatten einander so lieb, das war einfach zum Staunen.
Sie waren leicht gekleidet – glatt zum Erkälten,
und sie taten einander immer Gleiches mit Gleichem vergelten.
Ich erwachte. Was war das gewesen?
In meinem großen ägyptischen Traumbuch steht zu lesen:
„Glückliches Familienleben.“
Gestern habe ich von lauter Umhängebärten geträumt.
Die hatten alle ein Glas, mit etwas, das schäumt.
Darauf stand: „Kochende Volksseele“ – aber sie machten niemand naß,
und der Sturm blieb im Wasserglas.
Darauf kam ein Reichswehrgeneral mit einem Wehrpflichtprogramm;
da rissen sie alle die Knochen vor ihm zusamm’.
Ich erwachte. Was war das gewesen?
In meinem großen ägyptischen Traumbuch ist zu lesen:
„Ihnen steht eine Republik ins Haus.“

Heute Nacht habe ich von einem Mann geträumt,
der hatte sich seinen Talar schwarzweißrot umsäumt.
Er rollte seine kleinen Kalmückenaugen und hackte auf mir herum –
ich stand hinter einer Schranke, und er redete laut und dumm.
Er sagte: „Was? Sie wollen über einen Generalfeldmarschall etwas dichten?

Über diesen großen Mann hat nur die Geschichte zu richten!
Ich lasse den Saal räumen! Ruhe! Sind Sie Kommunist? Jetzt rede ich!
Ich nehme Sie in eine Ordnungsstrafe! Was denken Sie sich eigentlich –?“

Und da wollte ich meine Meinung nicht länger verstecken.
Ich sage:
„Herr“, sage ich „… …… …. .. …… ……!“
Aber wie das so ist in der Welten Lauf –:
grade, wenns am schönsten wird, dann wacht man auf.

Haben Sie schon mal …?

Für Ernst Toller

Haben Sie schon mal, Herr Landgerichtsdirektor,
als Gefangener eine Nacht durchwacht?
Haben Sie schon mal vom Herrn Inspektor
einen Tritt bekommen, daß es kracht?
Standen Sie schon mal, total verschüchtert,
vor dem Tisch, wo einer untersuchungsrichtert?
Ihnen ist das bis zum Ruhestand
dienstlich nicht bekannt.

Haben Sie schon mal acht heiße Stunden
ein Verhör bestanden, das Sie nicht verstehn?
Haben Sie schon mal die Nachtsekunden
an der Zellenwand vorüberlaufen sehn?
Oben dämmert ein Quadrat mit Gittern;
unten liegt ein Tier und darf nur zittern …
Diese kleinen Züge sind in Ihrem Stand
dienstlich nicht bekannt.

Aber Kommunistenjungen jagen,
wegen Hochverrat ins Loch gesperrt;
vor Gericht die Spitzel mild befragen,
Saal geräumt, wenn eine Mutter plärrt;
Fememörder sanft verschoben,
mit dem leisen Schleierblick nach oben;
Existenzen glatt vernichtet,
die von Waffenplätzen was berichtet …
Unglück rings verbreitet, Not und Qual –:
Ja, das haben Sie schon mal –!

Wo bleiben deine Steuern –?

Wenn einer keine Arbeit hat,
ist kein Geld da.
Wenn einer schuftet und wird nicht satt,
ist kein Geld da.
Aber für Reichswehroffiziere
und für andre hohe Tiere,
für Obereisenbahndirektionen
und schwarze Reichswehrformationen,
für den Heimatdienst in der Heimat Berlin
und für abgetakelte Monarchien –
dafür ist Geld da.

Für Krankenhaus und Arbeiterquartier
ist kein Geld da.
Für den IV. Klasse-Passagier
ist kein Geld da.
Aber für Wilhelms seidne Hosen,
für prinzliche Zigarettendosen,

für Kleinkaliberschützenvereine,
für Moltkezimmer und Ehrenhaine,
für höhere Justizsubalterne
und noch eine, noch eine Reichswehrkaserne –
dafür ist Geld da.

Wenn ein Kumpel Blut aus der Lunge spuckt,
ist kein Geld da.
Wenn der Schlafbursche bei den Wirten zuguckt,
ist kein Geld da.
Aber für Anschlußreisen nach Wien,
für die notleidenden Industrien
und für die Landwirtschaft, die hungert,
und für jeden Uniformierten, der lungert,
und für Marinekreuzer und Geistlichkeiten
und für tausend Überflüssigkeiten –
da gibts Zaster, Pinke, Moneten, Kies.
Von deinen Steuern.
Dafür ist Geld da.

Das Mitglied

In mein’ Verein bin ich hineingetreten,
weil mich ein alter Freund darum gebeten,
ich war allein.
Jetzt bin ich Mitglied, Kamerad, Kollege –
das kleine Band, das ich ins Knopfloch lege,
ist der Verein.

Wir haben einen Vorstandspräsidenten
und einen Kassenwart und Referenten
und obendrein

den mächtigen Krach der oppositionellen
Minorität, doch die wird glatt zerschellen
in mein’ Verein.

Ich bin Verwaltungsbeirat seit drei Wochen.
Ich will ja nicht auf meine Würde pochen –
ich bild mir gar nichts ein …
Und doch ist das Gefühl so schön, zu wissen:
sie können mich ja gar nicht missen
in mein’ Verein.

Da draußen bin ich nur ein armes Luder.
Hier bin ich ich – und Mann und Bundesbruder
in vollen Reihn.
Hoch über uns, da schweben die Statuten.
Die Abendstunden schwinden wie Minuten
in mein’ Verein.
In mein’ Verein werd ich erst richtig munter.
Auf die, wo nicht drin sind, seh ich hinunter –
was kann mit denen sein?
Stolz weht die Fahne, die wir mutig tragen.
Auf mich könn’ Sie ja ruhig „Ochse“ sagen,
da werd ich mich bestimmt nicht erst verteidigen.
Doch wenn Sie mich als Mitglied so beleidigen …!
Dann steigt mein deutscher Gruppenstolz!
Hoch Stolze-Schrey! Freiheil! Gut Holz!
Hier lebe ich.
Und will auch einst begraben sein
in mein’ Verein.

 Angestellte

Auf jeden Drehsitz im Bureau
da warten hundert Leute;
man nimmt, was kommt – nur irgendwo
und heute, heute, heute.
Drin schuften sie
wies liebe Vieh,
sie hörn vom Chef die Schritte.
Und murren sie, so höhnt er sie:
„Wenns Ihnen nicht paßt – bitte!“
Mensch, duck dich. Muck dich nicht zu laut!
Sie zahln dich nicht zum Spaße!
Halts Maul – sonst wirst du abgebaut,
dann liegst du auf der Straße.
Acht Stunden nur?
Was ist die Uhr?
Das ist bei uns so Sitte:
Mach bis um zehne Inventur …
„Wenns Ihnen nicht paßt – bitte!“

Durch eure Schuld.
Ihr habt euch nie
geeint und nie vereinigt.
Durch Jammern wird die Industrie
und Börse nicht gereinigt.
Doch tut Ihr was,
dann wirds auch was.
Und ists soweit,
dann kommt die Zeit,
wo Ihr mit heftigem Tritte

und ungeahnter Schnelligkeit
herauswerft eure Obrigkeit:
„Wenns Ihnen nicht paßt –: bitte!“

 Der Geschlechtslose

Ich habe keine Zeugungsglieder.
Ich bin kein Mann – das steht mal fest.
Mir ist der Umsturz sehr zuwider –
ich hasse Lenin wie die Pest.
Was auch geschieht, ich respektiere
die Uniform voll Bürgersinn.
Und treten mich die Untroffziere,
so schmerzt mich nur, daß ich es bin.

Mich zieren keine runden Brüste.
Ich bin kein Weib – das ist mal klar.
Wer mich im Kompromiß auch küßte:
noch nie geschahs, daß ich gebar.

An alle hab ich mich verloren,
ich gab mich allen einmal hin.
Wie kommts, daß die zum Sieg erkoren,
und daß ich stets der Dumme bin?

Was ist es nur –?
Ich seh mein Leibchen
im Spiegel an, und in der Tat:
Ich bin kein Männchen und kein Weibchen –
ich bin ein deutscher Demokrat.

Feldfrüchte

Sinnend geh ich durch den Garten,
still gedeiht er hinterm Haus;
Suppenkräuter, hundert Arten,
Bauernblumen, bunter Strauß.
Petersilie und Tomaten,
eine Bohnengalerie,
ganz besonders ist geraten
der beliebte Sellerie.
Ja, und hier –? Ein kleines Wieschen?
Da wächst in der Erde leis
das bescheidene Radieschen:
außen rot und innen weiß.

Sinnend geh ich durch den Garten
unsrer deutschen Politik;
Suppenkohl in allen Arten
im Kompost der Republik.
Bonzen, Brillen, Gehberockte,
Parlamentsroutinendreh …
Ja, und hier –? Die ganz verbockte
liebe gute S. P. D.
Hermann Müller, Hilferlieschen
blühn so harmlos, dof und leis
wie bescheidene Radieschen:
außen rot und innen weiß.

 An einen Bonzen

Einmal waren wir beide gleich.
Beide: Proleten im deutschen Kaiserreich.
Beide in derselben Luft,
beide in gleicher verschwitzter Kluft;
dieselbe Werkstatt – derselbe Lohn –
derselbe Meister – dieselbe Fron –
beide dasselbe elende Küchenloch …
Genosse, erinnerst du dich noch?

Aber du, Genosse, warst flinker als ich.
Dich drehen – das konntest du meisterlich.
Wir mußten leiden, ohne zu klagen,
aber du – du konntest es sagen.
Kanntest die Bücher und die Broschüren,
wußtest besser die Feder zu führen.
Treue um Treue – wir glaubten dir doch!
Genosse, erinnerst du dich noch?

Heute ist das alles vergangen.
Man kann nur durchs Vorzimmer zu dir gelangen.
Du rauchst nach Tisch die dicken Zigarren,
lachst über Straßenhetzer und Narren.
Weißt nichts mehr von alten Kameraden,
wirst aber überall eingeladen.
Du zuckst die Achseln beim Hennessy
und vertrittst die deutsche Sozialdemokratie.
Du hast mit der Welt deinen Frieden gemacht.

Hörst du nicht manchmal in dunkler Nacht
eine leise Stimme, die mahnend spricht:
„Genosse, schämst du dich nicht –?“

Sozialdemokratischer Parteitag

Wir saßen einst im Zuchthaus und in Ketten,
wir opferten, um die Partei zu retten,
Geld, Freiheit, Stellung und Bequemlichkeit.
Wir waren die Gefahr der Eisenwerke,
wir hatten Glut im Herzen – unsre Stärke
war unsre Sehnsucht, rein und erdenweit.
Uns haßten Kaiser, Landrat und die Richter:
Idee wird Macht – das fühlte das Gelichter …
Long long ago –
Das ist nun heute alles nicht mehr so.

Wir sehn blasiert auf den Ideennebel.
Wir husten auf den alten, starken Bebel –
Wir schmunzeln, wenn die Jugend revoltiert.
Und während man in hundert Konventikeln
mit Lohnsatz uns bekämpft und Leitartikeln,
sind wir realpolitisch orientiert.
Ein Klassenkampf ist gut für Bolschewisten.
Einst pfiffen wir auf die Ministerlisten …
Long long ago –
Das ist nun heute alles nicht mehr so.

Uns imponieren schrecklich die enormen
Zigarren, Autos und die Umgangsformen –
Man ist ja schließlich doch kein Bolschewist.
Wir geben uns auch ohne jede Freite.
Und unser Scheidemann hat keine Seite,
nach der er nicht schon umgefallen ist.
Herr Weismann grinst, und alle Englein lachen.
Wir sehen nicht, was sie da mit uns machen,
nicht die Gefahren all …

Skatbrüder sind wir, die den Marx gelesen.
Wir sind noch nie so weit entfernt gewesen,
von jener Bahn, die uns geführt Lassall’!

 Nach der Schlacht

Wenns mir mal schlecht geht, wird mich keiner kennen.
Ein fremder Hunger langweilt fürchterlich.
Und mancher sagt, hört er den Namen nennen:
„Ja, ich erinnre mich …“
An allen Türen klingle ich vergebens.
Ich schlucke so, wenn ich da draußen steh.
Es bleibt als Fazit eines ganzen Lebens:
„Mein Gott, das ist passé –!“

Es kommt ein Freund aus frühern bessern Tagen,
der spricht mit mir ein gutes Männerwort
und spricht und schenkt mir einen alten Kragen
und macht rasch wieder fort.

Wenns mir mal schlecht geht, will ich mich verstecken.
Da sind ja andre noch viel schlimmer dran:
Da gibt es welche bettelnd an den Ecken.
Die stehen Mann für Mann.

Was klag denn ich, wenn ich einst nicht mehr tauge?
Den andern ward, nach blutigem Höllentanz,
mit Holzbein und mit ausgelaufnem Auge
der Dank des Vaterlands.

Rote Melodie

Für Erich Ludendorff
Gesungen von Rosa Valetti

Die Frau singt:

Ich bin allein.
Es soll nicht sein.
Mein Sohn stand bei den Russen.
Da fuhr man sie,
wie’s liebe Vieh,
zur Front – in Omnibussen.
Und da – da blieb die Feldpost weg –
Haho! Er lag im Dreck.
Die Jahre, die Jahre,
sie gingen träg und stumm.
Die Haare, die Haare
sind grau vom Baltikum …
General! General!
Wag es nur nicht noch einmal!
Es schrein die Toten!
Denk an die Roten!
Sieh dich vor! Sieh dich vor!
Hör den brausend dumpfen Chor!
Wir rücken näher ran – Kanonenmann!
Vom Grab – Schieb ab –!

Ich sah durchs Land
im Weltenbrand –
da weinten tausend Frauen.
Der Mäher schnitt.
Sie litten mit
mit hunderttausend Grauen.
Und wozu Todesangst und Schreck?

Haho! Für einen Dreck!
Die Leiber – die Leiber –
sie liegen in der Erd.
Wir Weiber – wir Weiber –
wir sind nun nichts mehr wert …
General! General!
Wag es nur nicht noch einmal!
Es schrein die Toten!
Denk an die Roten!
Sieh dich vor! Sieh dich vor!
Hör den brausend dumpfen Chor!
Wir rücken näher ran, Kanonenmann,
Zum Grab! – Schieb ab –!

In dunkler Nacht,
wenn keiner wacht –:
dann steigen aus dem Graben
der Füselier,
der Musketier,
die keine Ruhe haben.
Das Totenbataillon entschwebt –
Haho! zu dem, der lebt.
Verschwommen, verschwommen
hörst dus im Windgebraus.
Sie kommen! Sie kommen!
und wehen um sein Haus …
General! General!
Wag es nur nicht noch einmal!
Es schrein die Toten!
Denk an die Roten!
Sieh dich vor! Sieh dich vor!
Hör den unterirdischen Chor!

Wir rücken näher ran – du Knochenmann! –
im Schritt!
Komm mit –!

Gebet nach dem Schlachten

Kopf ab zum Gebet!

Herrgott! Wir alten vermoderten Knochen
sind aus den Kalkgräbern noch einmal hervorgekrochen.
Wir treten zum Beten vor dich und bleiben nicht stumm.
Und fragen dich, Gott:
Warum –?
Warum haben wir unser rotes Herzblut dahingegeben?
Bei unserm Kaiser blieben alle sechs am Leben.
Wir haben einmal geglaubt… Wir waren schön dumm…!
Uns haben sie besoffen gemacht …
Warum –?
Einer hat noch sechs Monate im Lazarett geschrien.
Erst das Dörrgemüse und zwei Stabsärzte erledigten ihn.
Einer wurde blind und nahm heimlich Opium.
Drei von uns haben zusammen nur einen Arm …
Warum –?
Wir haben Glauben, Krieg, Leben und alles verloren.
Uns trieben sie hinein wie im Kino die Gladiatoren.
Wir hatten das allerbeste Publikum.
Das starb aber nicht mit …
Warum –? Warum –?
Herrgott!
Wenn du wirklich der bist, als den wir dich lernten:
Steig herunter von deinem Himmel dem besternten!

Fahr hernieder oder schick deinen Sohn!
Reiß ab die Fahnen, die Helme, die Ordensdekoration!
Verkünde den Staaten der Erde, wie wir gelitten,
wie uns Hunger, Läuse, Schrapnells und Lügen den Leib zerschnitten!
Feldprediger haben uns in deinem Namen zu Grabe getragen.
Erkläre, daß sie gelogen haben! Läßt du dir das sagen?
Jag uns zurück in unsre Gräber, aber antworte zuvor!
Soweit wir das noch können, knien wir vor dir – aber leih uns dein Ohr!
Wenn unser Sterben nicht völlig sinnlos war,
verhüte wie 1914 ein Jahr!
Sag es den Menschen! Treib sie zur Desertion!

Wir stehen vor dir: ein Totenbataillon.
Dies blieb uns: zu dir kommen und beten!
Weggetreten.

Drei Minuten Gehör!

Drei Minuten Gehör will ich von euch, die ihr arbeitet –!

*

Von euch, die ihr den Hammer schwingt,
von euch, die ihr auf Krücken hinkt,
von euch, die ihr die Feder führt,
von euch, die ihr die Kessel schürt,
von euch, die mit den treuen Händen
dem Manne ihre Liebe spenden –
von euch, den Jungen und den Alten –:
Ihr sollt drei Minuten innehalten.

Wir sind ja nicht unter Kriegsgewinnern.
Wir wollen uns einmal erinnern.

*

Die erste Minute gehöre dem Mann.
Wer trat vor Jahren in Feldgrau an?
Zu Hause die Kinder – zu Hause weint Mutter …
Ihr: feldgraues Kanonenfutter –!
Ihr zogt in den lehmigen Ackergraben.
Da saht ihr keinen Fürstenknaben:
der soff sich einen in der Etappe
und ging mit den Damen in die Klappe.
Ihr wurdet geschliffen. Ihr wurdet gedrillt.
Wart ihr noch Gottes Ebenbild?
In der Kaserne – im Schilderhaus
wart ihr niedriger als die schmutzigste Laus.
Der Offizier war eine Perle,
aber ihr wart nur „Kerle“!
Ein elender Schieß- und Grüßautomat.
„Sie Schwein! Hände an die Hosennaht –!“
Verwundete mochten sich krümmen und biegen:
kam ein Prinz, dann hattet ihr stramm zu liegen.
Und noch im Massengrab wart ihr die Schweine:
Die Offiziere lagen alleine!
Ihr wart des Todes billige Ware …
So ging das vier lange blutige Jahre.
Erinnert ihr euch –?

*
Die zweite Minute gehöre der Frau.
Wem wurden zu Haus die Haare grau?

Wer schreckte, wenn der Tag vorbei,
in den Nächten auf mit einem Schrei?
Wer ist es vier Jahre hindurch gewesen,
der anstand in langen Polonaisen,
indessen Prinzessinnen und ihre Gatten
alles, alles, alles hatten – –?
Wem schrieben sie einen kurzen Brief,
daß wieder einer in Flandern schlief?
Dazu ein Formular mit zwei Zetteln…
wer mußte hier um die Renten betteln?
Tränen und Krämpfe und wildes Schrein.
Er hatte Ruhe. Ihr wart allein.
Oder sie schickten ihn, hinkend am Knüppel,
euch in die Arme zurück als Krüppel.
So sah sie aus, die wunderbare
große Zeit – vier lange Jahre …
Erinnert ihr euch –?

*

Die dritte Minute gehört den Jungen!
Euch haben sie nicht in die Jacken gezwungen!
Ihr wart noch frei! Ihr seid heute frei!
Sorgt dafür, daß es immer so sei!
An euch hängt die Hoffnung. An euch das Vertraun
von Millionen deutschen Männern und Fraun.
sollt nicht stramm stehn. Ihr sollt nicht dienen!
Ihr sollt frei sein! Zeigt es ihnen!
Und wenn sie euch kommen und drohn mit Pistolen –:
Geht nicht! Sie sollen euch erst mal holen!
Keine Wehrpflicht! Keine Soldaten!
Keine Monokel-Potentaten!

Keine Orden! Keine Spaliere!
Keine Reserveoffiziere!
Ihr seid die Zukunft!
Euer das Land!
Schüttelt es ab, das Knechtschaftsband!
Wenn ihr nur wollt, seid ihr alle frei!
Euer Wille geschehe! Seid nicht mehr dabei!
Wenn ihr nur wollt: bei euch steht der Sieg!
– Nie wieder Krieg –!

FINISH

Früher, wenn mal etwas Komisches war:
ein Rednerschwupper an Thron und Altar,
der Kindermund eines Generals,
der Duft eines Reichsgerichtsskandals,
Adele Sandrocks herrlicher Baß,
ein dämlicher Kabinettserlaß;
wenn mit Recht ein Verleger Pleite gemacht,
wenn ein Tisch sich mit Literaten zerkracht –
dann tat eine innere Stimme befehlen:
Das mußt du gleich S. J. erzählen!

Dahin.
Jetzt sitz ich ganz allein.
Keinen hör ich vor Beifall schrein;
hör nie mehr das schmetternde Gelach,
nie mehr die Herzensfreude mit Krach …
Doch dreimal am Tage, wenn was passiert,
wenn die Filmzensur sich selbst parodiert;
wenn Deutschland mit Polen zusammenschliddert,
wenn ein Parteivorstand um die Ämter zittert –:
dann denk ich: Das darf er nicht verfehlen –
das mußt du gleich S. J. erzählen!

Das machen wir noch so dreißig Jahr.
Dann ist alles nicht mehr wahr.
Dann pflanzen sie uns mit Chorälen ein,
wir liegen still und ziemlich allein …

und die Seele steigt aus dem engen Verließ
mit der Pressekarte ins Paradies.
Dann will ich ihn wiedersehn.
Und alles, was bis dahin geschehn:
deine Arbeit und meine Malheure,
den letzten Radau der Regisseure,
eure Treue und unsre Mühn
und die besten Witze aus ganz Berlin,
Manna für die unsterblichen Seelen –:
Das will ich dann alles S. J. erzählen.