Kurt Gerstein

aus Wikipedia

Kurt Gerstein – geboren am 11. August 1905 in Münster; gestorben am 25. Juli 1945 in Paris – war Hygienefachmann der Waffen-SS, zuletzt im Rang eines SS-Obersturmführers. In den Vernichtungslagern Belzec und Treblinka war er 1942 Augenzeuge des probeweisen Einsatzes von Motorabgasen bei Massenmorden; ebenso wusste er von der späteren Verwendung von Zyklon B für den gleichen Zweck. Noch während des Zweiten Weltkriegs versuchte Gerstein, das neutrale Ausland über seine Beobachtungen zu informieren. Nach Kriegsende legte er seine Erkenntnisse schriftlich nieder. Der Gerstein-Bericht wurde im Nürnberger Prozess gegen die Hauptkriegsverbrecher als Beleg für die Liefermengen von Zyklon B nach Auschwitz erwähnt.

Gersteins Persönlichkeit und Rolle sind in der Geschichtswissenschaft umstritten: Manche Historiker sehen ihn als einen der Bekennenden Kirche nahestehenden Christen, der in SS-Uniform versuchte, Informationen über NS-Unrecht zu erlangen und gegen das NS-Regime zu verwenden. Andere sehen in ihm den Mittäter, der sein Fachwissen zur „Verbesserung“ der Massenmordmethoden weitergab und erst nach der Kapitulation Deutschlands versuchte, sich als heimlichen Widerstandskämpfer darzustellen.

Biografie

Jugend und Ausbildung

Kurt Gerstein wurde als sechstes von sieben Kindern des Landgerichtspräsidenten Ludwig Emil Gerstein (1868–1954) geboren. Er galt seinen Eltern als das schwierigste ihrer Kinder und fiel seinen Lehrern als zwar intelligenter, aber aufsässiger Schüler durch viele Streiche auf. Nach dem Umzug seiner Familie nach Neuruppin 1921 fand er durch befreundete Familien Kontakt zur evangelischen Kirche und schloss sich nach dem Abitur 1925 dem Christlichen Verein Junger Männer (CVJM) an.

Von 1925 bis 1931 studierte Gerstein Bergbau in Aachen, Marburg und Berlin und schloss das Studium mit dem Grad eines Diplom-Ingenieurs ab. Danach ließ er sich bis 1935 zum Bergassessor ausbilden. Während des Studiums war er wie einige seiner männlichen Familienangehörigen Mitglied des Corps Teutonia Marburg, lehnte aber das Korporiertenwesen – besonders den Trinkzwang – als unvereinbar mit dem Christsein ab. Dies führte vorübergehend zum Ausschluss aus seiner Studentenverbindung. Als Mitarbeiter und Leiter von Schülerbibelkreisen setzte er sich für Alkoholikerfürsorge und gegen außereheliche Sexualität ein.

NSDAP-Mitglied

Nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten wurde er Bergassessor im Staatsdienst der nationalsozialistischen Regierung. Er war seit März 1933 Mitglied der NSDAP und seit 1934 auch Mitglied der SA. Als evangelischer Jugendführer, Mitglied der Bekennenden Kirche und des CVJM sowie Mitarbeiter in Bibelkreisen kam er in Konflikt mit der religionsfeindlichen Politik der NSDAP. Weil er im „Verein deutscher Bergleute“ Propaganda für die Bekennende Kirche machte, wurde er am 24. September 1936 das erste Mal in Saarbrücken verhaftet und saß bis zum 18. Oktober in Schutzhaft. Daraufhin wurde er aus der Partei ausgeschlossen, womit auch seine Betätigung im Staatsdienst ihr Ende fand. Den Parteiausschluss focht er auf Drängen seiner Familie an, worauf der Ausschluss in eine etwas ehrenvollere Entlassung aus der Partei umgewandelt wurde. Am 14. Juli 1938 wurde er in Tübingen ein zweites Mal verhaftet, kam ins Schutzhaftlager Welzheim, wurde aber sechs Wochen später, am 28. August, wieder freigelassen, weil man die gegen ihn erhobenen Anschuldigungen nicht aufrechterhalten konnte.

Eintritt in die SS

Im Dezember 1936 begann Gerstein sein Medizinstudium in Tübingen. Anfang 1941 meldete er sich als Freiwilliger bei der SS und trat am 13. März 1941 in die Waffen-SS ein. Nach dem Krieg erklärte er seinen Eintritt folgendermaßen:

„Als ich von der beginnenden Umbringung der Geisteskranken in Grafeneck und Hadamar und andernorts hörte, beschloss ich, auf jeden Fall den Versuch zu machen, in diese Öfen und Kammern hineinzuschauen, um zu wissen, was dort geschieht.“

Seine militärische Ausbildung erhielt er in Hamburg-Langenhorn, Arnheim und Oranienburg. Aufgrund seiner medizinischen Kenntnisse kam er schließlich zum Hygiene-Institut der Waffen-SS. Dort wurde er im Januar 1942 Chef der Abteilung Gesundheitstechnik und war zuständig für den technischen Desinfektionsdienst. Damit hatte er für die Beschaffung von Zyklon B zu sorgen, das regelmäßig in großen Mengen zur Entwesung von Kleidung und Unterkünften benötigt wurde.

Zeuge des Holocaust

Im August 1942 erhielt Gerstein den Auftrag, in den Vernichtungslagern Belzec und Treblinka den Massenmord an Menschen mittels Abgasen zu beobachten und Verfahren für eine „Verbesserung“ zu entwickeln. Gemeinsam mit Rolf Günther und dem Hygieniker Wilhelm Pfannenstiel wurde er hierbei Zeuge, wie Menschen in Gaskammern mit Motorabgasen umgebracht wurden. Seine Aufgabe war es, zu prüfen, ob die Vergasungsanlagen auf Zyklon B umgerüstet werden könnten. Seiner späteren Darstellung (April 1945) zufolge war er über das, was er gesehen hatte, so erschüttert, dass er auf der Zugrückfahrt von Treblinka am 20. August 1942 dem schwedischen Gesandtschaftsrat Göran von Otter seine Erlebnisse erzählte mit der Bitte, diese an das Ausland weiterzugeben. Göran von Otter setzte daraufhin den evangelischen früheren Generalsuperintendenten und späteren Bischof Otto Dibelius und den katholischen Bischof Konrad Graf von Preysing in Kenntnis, jedoch ohne Folgen. Auch unternahm Gerstein einen Versuch, den Apostolischen Nuntius und die Schweizer Gesandtschaft in Berlin aufzusuchen, was jedoch scheiterte. Desgleichen gelang es ihm nicht, seinen Vater, einen pensionierten Richter, vom Ausmaß des Verbrechens zu überzeugen.

Als ihn im Februar 1943 sein niederländischer Freund Ubbink besuchte, erzählte er auch ihm, was er gesehen hatte, und drängte ihn, die Informationen über die Massentötungen in den Konzentrationslagern an „holländische Widerstandskreise“ weiterzugeben, damit sie per Funkspruch London erreichten, was auch geschah. Auch diese Aussage ist nach dem Krieg durch einen Zeitzeugen belegt.

Im Laufe der Zeit wurde Gerstein immer weiter in die Vernichtungsmaschinerie hineingezogen, da er im Rahmen seines Dienstes auch Zyklon B beschaffen musste, das für die Tötung von Menschen bestimmt war. Er forderte von der Degesch eine Sonderform des Zyklon B an, das keinen Warn- und Reizstoff enthielt. Allerdings will er diese Lieferungen dann als überlagert und verdorben erklärt oder nur zur Bekämpfung von Läusen verwendet haben.

Seine Verstrickung und das Wissen darum, was in den Konzentrationslagern geschah, führte ihn (nach eigenen Angaben) in immer tiefere Depression und Verzweiflung. Trotzdem versuchte er weiter, vom Regime bedrohten Menschen zu helfen. Zum Beispiel verteilte er gefälschte Ausweise, die den Träger als Angestellten der SS auswiesen, womit er sich selbst in Gefahr brachte.

Zeugenaussage und Tod

Am 22. April 1945 stellte sich Gerstein in Reutlingen der französischen Armee und wurde interniert. Er bot sich als Zeuge an und händigte dem amerikanischen „Field Team“ am 5. Mai 1945 in Rottweil mehrere Dokumente und Schriftstücke aus, darunter eine auf Französisch abgefasste und auf den 26. April datierte sechsseitige Fassung seines Lebenslaufes, seiner Tätigkeit und Erlebnisse sowie eine zweiseitige Kurzfassung in englischer Sprache. Ein Jahr später wurde eine auf den 4. Mai datierte deutsche Parallelfassung in Rottweil sichergestellt, die sprachlich klarer ist, keine verallgemeinernde Schätzung der Opferzahl enthält und in dieser Form heute als „Gerstein-Bericht“ zitiert wird. Der Wert des Berichts besteht in der Schilderung der Vorgänge in Belzec. An seiner Authentizität und Gersteins subjektivem Willen zur Genauigkeit und Wahrhaftigkeit besteht kein Zweifel.

Gerstein war zunächst in einer Art Ehrenhaft und konnte sich zwischen Tübingen und Rottweil frei bewegen. Dann wurde er verhaftet, nach Paris gebracht und dort als Angeklagter vernommen. Am 25. Juli 1945 wurde er in seiner Zelle im Pariser Militärgefängnis Cherche-Midi erhängt aufgefunden. Es ist umstritten, ob er durch Suizid starb oder von Mitgefangenen ermordet wurde. Gerstein wurde auf dem Pariser Friedhof Cimetière parisien de Thiais in Thiais, südlich der Hauptstadt, beerdigt. Sein Grab ist heute nicht mehr auffindbar.

Rehabilitierung

Gersteins Rolle wurde im Prozess gegen Gerhard Peters von der Deutschen Gesellschaft für Schädlingsbekämpfung durchleuchtet. Das Gericht hielt es nicht für erwiesen, dass das von Gerstein angeforderte Zyklon B ohne Warnstoff zur Ermordung verwendet wurde, schloss dies aber auch nicht aus. Gerstein wurde im Nachkriegsdeutschland als „belastet“ eingestuft. Im Spruch der Entnazifizierungskammer hieß es, Gerstein sei auf seinem Posten zwangsläufig zum Handlanger des organisierten Massenmordes geworden und hätte sich von dort wegmelden müssen. Auch in einem Revisionsverfahren kam es zu keinem günstigeren Urteil. Den Hinterbliebenen wurde die Auszahlung einer Erbschaft in Höhe von 3000 US-Dollar versagt. Die Witwe sollte Verfahrenskosten in Höhe von 24.000 Reichsmark begleichen.

Eine Intervention von Hermann Ehlers und ein Gnadengesuch beim Ministerpräsidenten von Baden-Württemberg Gebhard Müller blieben in der Sache erfolglos; der Witwe wurden jedoch die Kosten des Verfahrens erlassen. Ein Antrag auf „Kriegshinterbliebenenrente“ nach dem Bundesversorgungsgesetz wurde 1962 letztinstanzlich abgewiesen. Erst 1963 begann das Umdenken. Issy Wygoda setzte sich für Gersteins Rehabilitierung ein; auch der Zentralrat der Juden würdigte Gerstein. Mit der Uraufführung von Rolf Hochhuths Der Stellvertreter wurde das Schicksal Kurt Gersteins einer breiteren Öffentlichkeit bekannt. 1965 schließlich stufte Ministerpräsident Kurt Georg Kiesinger Gerstein in die Gruppe der „Entlasteten“ um. 1969 erhielt die Witwe eine Rente nach dem Bundesergänzungsgesetz zugesprochen.

In den letzten Jahren hat die Auseinandersetzung um die Neubewertung der Person Gersteins erneut begonnen. Die erste große Biografie erschien nicht in Deutschland, sondern in Frankreich. Neuerlich haben Hermann Kaienburg und Andrej Angrick genauere Überprüfung zur Bewertung eingefordert.