Gegenwart-Forschung über Moses Calvary – Schüler des Gymnasiums schätzten den „Oberlehrer“
Ende März 1995 begann ein Briefwechsel zwischen Prof. Dr. Gerhard Schub (Tübingen) und dem Herausgeber der „Heimatgrüße“‚. Der Wissenschaftler, der in Sommerfeld geboren wurde und bis 1940 zur Schule ging, ist Emeritus (Ruheständler). Er wirkt aber noch als „Doktorvater“. In einer Dissertation über die Geschichte der Wandervogel-Bewegung, insbesondere über die Abspaltung und Neuformierung jüdischer, meist zionistischer Jugendgruppen, las er den Namen Moses Calvary eines Pädagogen, der eine Reihe von Jahren am Crossener Gymnasium wirkte.
Das veranlagte Prof. Dr. G. Schulz, nach Lebensdaten des „Oberlehrers“ zu fragen. Er teilte mit. dass nach seinen und seiner Doktoranden Erkenntnissen Calvary an der Bobermündung die Wandervogelgruppe geleitet habe und an der Gründung des Wanderbundes „Blau- Weiß“ beteiligt gewesen sei. Weiter führte der Wissenschaftler aus: „Calvary spielte bei der Schaffung von Jugendsiedlungen im britisch besetzten Palästina eine Rolle. Er hat das Erziehungswesen beeinflusst und ist sogar ein israelischer Pestalozzi genannt worden. Dies alles, bevor der Staat Israel ins Leben trat.“
Diese Informationen und Wertungen weckten beim Heimatblattmacher den journalistischen Ehrgeiz, den Lebensbildern Crossener Studienräte, zuletzt der „Professoren“ von Obstfelder und Lüddecke, ein Porträt ihres Zeitgenossen Calvary folgen zu lassen. Er erinnerte sich sogleich, dass der Name in den Erinnerungsplaudereien älterer ehemaliger Crossener Gymnasiasten wiederholt auftauchte. Die Leserdiskussion um das Sextaner-Foto mit dem jüdischen Lehrer in Guido von Kaullas Klabund- Biographie halle er nicht vergessen. Der personell statistische Teil der Festschrift zum 400jährigcn Bestehen des Realgymnasiums gab nur trockene Auskunft über die Crossener Zeit des Zionisten. Als zu befragender Schüler der fernen Zeit kam dem Redakteur lediglich Rechtsanwalt i. R. Wolfgang Egger in den Sinn. Was also tun. um zusätzliche handfeste Angaben zu erhalten?
Schließlich erinnerte sich der Journalist an einen Anfang der 70er Jahre gefühlten Briefwechsel mit dem verstorbenen Heimatfreund Ernst Zimmermann Der hatte nach Erscheinen des Kaulla-Buches 1971 mit dem Sohn Gideon Calvary des einstigen Crossener Studienrates korrespondiert und die Adresse mitgeteilt. Gesucht, gefunden und unverzagt trotz der vielen vergangenen Zeit via Kibbuz Hagoshrim in Obergalilea geschrieben. Binnen zwei Wochen brachte der Briefträger tatsächlich die freudig studierte kurze, aber doch inhaltsreiche Antwort aus Israel. Das folgende Lebensbild wurde möglich.
Moses Calvary erblickte am 1. Februar 1874 (nach Angabe des Sohnes. 1876 laut Crossener Schulakten) im Messingwerk bei Eberswalde das Licht der Welt Er war der Sohn jüdisch-orthodoxer Eltern. Zur Schule ging er in Eberswalde und in Halberstadt. Ein Jahr lang war er Schüler seines Großvaters E. Hildesheimer in einem Rabbiner Seminar in Berlin. An der Universität der deutschen Hauptstadt studierte klassische Philologie, also wohl mit Schwer punkt Latein und Griechisch.
Der junge Mann wurde Mitglied einer Wandervogelgruppe. Er gehörte zu den Gründern der zionistischen Jugendbewegung „Blau-Weiß“. m Schuljahr 1907/08, also mit 31 oder 33 Jahren kam er als wissenschaftlicher Hilfslehrer (Assessor) nach Crossen. Schon am 14. Mai 1918 wurde er als Oberlehrer (Studienrat) fest angestellt. Im Sommerhalbjahr 1914 ließ er sich beurlauben besuchte, bzw. erkundete als überzeugter Zionist Palästina. Er kehrte jedoch an die Oder zurück und lehrte hier weitere fünf, also insgesamt zwölf Jahre. Im Herbst (Michaelis) 1919. so hielt Direktor Dr. Hübetier in der Festschrift von 1927 fest, ging Moses Calvary nach Litauen. Sem Nachfolger in der Oderstadt wurde der Studienrat Max Roland.
Der Oberlehrer war ein guter Pädagoge, der sich offensichtlich seiner Schüler vielfältig annahm. Der in Frankfurt (Oder) verstorbene langjährige „Heimatgrüße“ Mitarbeiter Friedrich Waschinsky erzählte einst: „In der Schlossstraße, im Haus von Kaufman Gloege hatte im I. Stock Moses Calvary seine bescheidene Bleibe. Bei ihm konnten wir schon in der Quarta Caesars „Bell um Gallium“ übersetzen. In seiner Wohnung bauten wir eine von Caesar beschriebene Brücke mit großem Eifer nach.“
Später zog der Studienrat in eins der Beamtenhäuser an der Lochwitzer Straße um. An dieses Domizil erinnerte sich Rechtsanwalt und Notar im Ruhestand Wolfgang Egget (Wiesbaden). den der Redakteur jüngst befragte: „Als ich 1914 aus der 3. Vorschulklasse in die Sexta kam, wurde Calvary mein Klassenlehrer. Er fand gut und schnell Kontakt zu uns 18 bis 20 Sextanern. Er lud uns in der Woche einmal oder sogar zweimal in seine Wohnung gegenüber der Molkerei an der Lochwitzer Straße ein.
Wir lasen mit ihm das Buch über Nils Holgersson von Selma Lagerlöf. Dadurch bekamen wir untereinander und mit dem Lehrer guten Kontakt Wir hatten damals Latein als erste Fremdsprache, in der uns Calvary ebenfalls unterrichtete. Als er sich für eine Palästina-Reise beurlauben ließ, erhielten wir für die restlichen Monate Professor Lüddecke als Klassenlehrer.“
Der mittlerweile nun 42jährige heiratete 1916 Ester-Hadassa. geb. Perlmann. Diese muss einige Jahre mit ihm in Crossen gelebt haben. Denn Friedrich Waschinsky schrieb: „Er heiratete die bildhübsche Tochter eines Zionistenführers.“ Michaelis 1919 verließ nach den Schulakten Moses Calvary Crossen Richtung Litauen. Im gleichen Jahr wurde der Sohn Gideon geboren. Dieser teilte über einen Aufenthalts seines Vaters im Baltikum nichts mit. Er berichtete lediglich, dass die Familie 1922. also erst drei Jahre nach der Zeit an der Oder, nach Palästina auswanderte.
„In Palästina“, so heißt es im Brief von Gideon Calvary, „fand meines Vaters pädagogische Arbeit ihren besonderen Weg. Er lehrte in Kinder- und Jugendheimen: Zuerst im Kinderheim Schefeya am südlichen Teil des Carmel-Berges, dann im Jugendheim Ben-Schemen nicht weit von Tel-Aviv. Letztens im Kinderheim Ahava bei Haifa. Ahava war 1934 von Berlin mit organisierter Kinderverwaltung und Erziehern nach Palästina übergesiedelt. Außerdem unterrichtete mein Vater an drei Gymnasien in Jerusalem, Tel-Aviv und Haifa.“
Gut zwei Jahrzehnte wirkte Moses Calvary unter britischem Regime im Heiligen Land. Er starb am 22 Januar 1944 in Haifa, erlebte also die Gründung des Staates Israel nicht mehr.
Der jüdische Pädagoge wartete im Verlauf seines Lebens mit zahlreichen schriftlichen Veröffentlichungen auf. 1907, dem Jahr seines Dienstantritts in Crossen, wurde eine Rede, die er zu Kaisers Geburtstag (26. Januar) vor Gymnasiasten gehalten hatte, in den „Neuen Jahrbüchern“ (XX. Band. 3. Heft) abgedruckt. In deutscher Sprache erschien ferner 1930 sein Buch „Das neue Judentum“ im Schockenverlag in Berlin. 1988 publizierte der Piperverlag (München und Zürich) einen ins Deutsche übersetzten Aufsatz von ihm mit dem Titel: „Lust an der Erkenntnis-Jüdische Theologie im 20. Jahrhundert“. Prof Dr. Gerhard Schulz, hat inzwischen schon einige der Arbeiten von Moses Calvary in deutschen Bibliotheken ausfindig gemacht. Der „Heimatgrüße“ Redakteur bekam Ablichtungen wichtiger Passagen zugesagt Sollten diese eintreffen und aussagekräftiges über den Verfasser enthalten, werden die Leser dieser Zeitschrift mit einem das Lebensbild eventuell ergänzenden Artikel bedacht. Es dürfte ja z.B. recht interessant sein, wie der jüdisch-orthodoxe Crossener Oberlehrer von 1907 bis1919 das Deutsche Kaiserreich mit dem damals regierenden Wilhelm II. sah.