Carola Neher – Dein Mund, der schön geschweifte

Kurt Wafner nennt dieses Kapitel: „Die Sphinx tritt auf“! War sie das?

Und die im letzten Kapitel erzählte Geschichte vom ersten Treffen mit Klabund griffen alle Chronisten auf.

Kurt Wafner:

„…Er trifft sie in der Straßenbahn. In München. In der Nähe vom ,Cafe Stefanie‘. Er schaut sie unentwegt an, bis sie ihm zuflüstert: „Wenn Sie mich ganz ungeniert anstarren wollen, müssen Sie ins The­ater kommen. Ich spiele heute in den Kammerspielen den Hugenberg in der „Büchse der Pandora“. So begann Klabunds Bekanntschaft mit der am 2.11.1900 in München geborenen Schauspielerin Carola Neher.“

Guido von Kaulla:

„…Und ähnlich kam ich auch zu meinem Manne. Auch ihn habe ich der Straßenbahn zu verdanken!

Zwei Jahre nach meiner Flucht fuhr ich durch die Mün­chener Theresienstraße in die Kammerspiele, wo ich „zweite Besetzung“ spielen durfte. Auf die fahrende Straßenbahn sprang beim „Cafe Stephanie“ ein junger Mann auf, der mich sofort unverschämt zu fixieren begann.

– „Wenn Sie mich ganz ungeniert betrachten wollen, müs­sen Sie ins Theater gehen“ – zischte ich ihn an, da sein Blick mich irritierte. „Ich spiele heute in den Kammerspielen den Hugenberg in der „Büchse der Pandora“. Der junge Mann lächelte. „Gewiss, ich werde gehen und Sie weiter ansehen!“

Und er hielt Wort und kam tatsächlich ins Theater. Und entdeckte hier offenbar zweierlei: eine Schauspielerin – und seine Frau. Der unverschämte junge Mann war nämlich Klabund.“

Guido von Kaulla zitiert, geschrieben hat diese Zeilen „die junge Schauspielerin Carola Neher“- im „Berliner Tageblatt“ vom 19. Dezember 1926.

Wahrscheinlich im gleichen Blatt erzählt sie von ihrer ersten „Straßenbahnflucht“:

„… „Ich bin genauso zum Theater gekommen, wie es in den Zehnpfennigromanen „vom Köhlerkind zur Brettldiva“ zu lesen steht. Ich wollte zur Bühne, mir war schon in Baden-Baden ein Engagement versprochen; und da meine Mutter davon nichts wissen wollte, bin ich eines Morgens von ihrer Seite frisch und frei weggelaufen. Nicht heimlich und bei Nacht, sondern am helllichten Tage; meine Mutter auf der Nymphenburger Straße in München immer hinter mir her.

Ich lief die Schienen entlang. Da kam – o Engel vom Himmel – eine Straßenbahn! Ich sprang auf … und meine Mutter blieb, verzweifelt winkend, zurück. Ich fuhr mit der Straßenbahn zum Bahnhof und vom Bahnhof nach Baden-Baden. Dort konnte ich für einen kranken Schauspieler ein­springen und spielte noch am gleichen Abend eine stumme Rolle. So kam ich zum Theater.“

Auch Matthias Wegner beschreibt dieses erste Treffen der beiden und auch bei ihm spielt die Straßenbahn die gleiche Rolle:

„… Als letzte Produktion der auslaufenden Spielzeit kommt im Juli des Jahres 1924 wieder einmal ein Stück von Frank Wedekind zur Aufführung: „Die Büchse der Pandora“. Un­ter der Regie des bewährten Hausregisseurs Robert Forster-Larrinaga spielt auch Tilly Wedekind mit, die Witwe des Dichters. Zu den noch unbekannten Darstellerinnen gehört eine selbstbewusste Vierundzwanzigjährige in der kleinen Hosenrolle des Gymnasiasten Hugenberg. Ein Jahr zuvor hat sie schon einmal an den Kammerspielen gespielt, ebenfalls in einem Stück von Frank Wedekind: der Pantomime „Die Kaiserin von Neufundland“. (…)

… Wollen wir ihren eigenen Worten Glauben schenken — was bei dieser Schauspielerin immer ein kleines Risiko birgt – so beschert ihr eines Tages eine Fahrt mit der Straßenbahn eine schicksalhafte Begegnung. Auf ihrem täglichen Weg mit der Linie 2 ins Theater fällt ihr ein junger Mann auf, der sich mit elegantem Sprung auf das Trittbrett des Wagens schwingt. Ihre Vorliebe für sensible und Künstlernaturen lässt sie ihn genau fixieren. In der Rolle der zurückhaltenden Dame, die mit gesenktem Blick auf die Flirtversuche der Männer war­tet, hat sich die hübsche junge Frau noch nie geübt. Was aber den eleganten Herrn betrifft, so muss ihn schon ein erster Blick auf sie elektrisiert haben. Jedenfalls gibt er sei­ner bereits reichlich erprobten Neigung zur galanten Kontaktanbahnung sogleich ungeniert nach: er beginnt, die Schöne, wie sie später behauptet hat, „ungeniert zu fixie­ren“.

Nach einer kurzen Unterhaltung weiß Fredi, was er wissen will: Auftritt am Abend in den „Münchner Kammerspielen“ – er wird sie dort „in Augenschein“ nehmen und sicher wird ihn die schau­spielerische Leistung seiner neuen und attraktiven Bekanntschaft nicht auf Anhieb beeindruckt haben – „Die kleine Hosenrolle bot ihr wenig Möglichkeiten zur Entfal­tung der Talente. Als Schauspielerin sei sie in München noch weniger aufgefallen denn als junge Schönheit, meinte ihr Bruder im Rückblick“.

Einerseits hat sich schon der damals noch ziemlich unbekannte Dramaturg Bert Brecht auf Anhieb für die junge Dame inter­essiert, Andererseits hält man sie in den Kammerspielen für „ziemlich unbegabt“ und den „Herrn Direktor“ Falckenberg stört ihr Mund, der sehe aus wie von „einer Leiche“.

Der österreichische Schriftsteller, Theaterautor und Regisseur Arnolt Bronnen – nennt sie eine „nette kleine Hur“ und Lion Feuchtwanger plante ein Rendezvous im Englischen Garten, „kniff“ aber und schickte Freund Bronnen an den verabredeten Treffpunkt.

Klabund aber ist von Carola Neher fasziniert. „Er erwartet sie am Bühnenausgang, überreicht ihr seine Visitenkarte und drängt auf ein abermaliges Zusam­mentreffen. Wie sehr ihn die erste Begegnung ins Herz ge­troffen hat, schreibt er ihr noch im August – nach einem Tete- ä-tete im Englischen Garten — in einem Gedicht. „Hinter den Schläfen donnert der Niagara meiner Sehnsucht“, ruft er ihr darin zu. Bei Betrachtung ihres Mundes ist er zu ganz anderen Empfindungen als der Direktor Falckenberg gekom­men: „Dein Mund springt manchmal auf wie eine rote, reife Feige“, schreibt Guido von Kaulla 

Matthias Wegner beschreibt die beiden nach ihrem „sich kennen lernen“:

„… Seit der Zeit (…) Anfang August 1924 in München werden sie sich „Carla“ und „Fred“ nennen (auch „Monilein“ und „Moni“). „Carla“, zierlich, hat schwarzes welliges Haar und dunkelbraune leuchtende Augen. „Fred“ bietet das Erscheinungsbild eines eher schmächtig wirkenden Mannes. Der Kopf, stets ein wenig zur Seite geneigt, erscheint groß und rund. Sein weicher Mund ist meist leicht geöffnet und gern zu einem Lächeln bereit. Seine schönen, ruhigen, hellen, blau-grauen Augen blicken immer etwas erstaunt. Er wirkt verträumt und doch sehr eindringlich.“

Verträumt und verliebt folgt dieses Gedicht, das er im Gedichtband der Harfenjule veröffentlichen wird:

Dein Mund, der schön geschweifte,
dein Lächeln, das mich streifte,
dein Blick, der mich umarmte,
dein Schoß, der mich erwärmte,
dein Arm, der mich umschlungen,
dein Wort, das mich umsungen,
dein Haar, darein ich tauchte,
dein Atem, der mich hauchte,
dein Herz, das wilde Fohlen,
die Seele unverhohlen,
die Füße, welche liefen,
als meine Lippen riefen –:
Gehört wohl mir, ist alles meins,
wüßt’ nicht, was mir das liebste wär’,
und gäb’ nicht Höll’ noch Himmel her:
eines und alles, all und eins.

Nochmal zurück zum „Rendezvous“ in der Straßenbahn und dieses bestreitet Guido von Kaulla wie schon geschrieben: „ Diese Begegnung – der nicht nur ein Rosengeschenk in der Gar­derobe folgte – findet keineswegs in Gegenwart und durch Vermittlung von Walter Mehring statt und keineswegs in der Linie 8.“

Aber auch nicht in der Linie 2

Carola Neher spielte in Baden-Baden, Darmstadt, Nürnberg und München und „dort ereilte sie das Schicksal. Es hieß Klabund. Für den Dichter war die Begegnung mit Karoline Neher (wie ihr richtiger Name lautete) von Beginn an mehr als ein flüchtiges Aben­teuer. Für den Kranken bedeutete sie das blühende Leben. Aber nicht nur ihre Schönheit und das etwas lasterhafte Image dieser Frau mag ihn angespornt haben, sondern wohl auch ihre talentvolle Liebe zu den Musen. Und für „die Neher“? Für sie war der 1924 bereits erfolgreiche Dichter eine Art Lehrmeister, sie erhoffte sich von ihm Unterstützung bei ihrem recht beschwerlichen Aufstieg zum Ruhm“, so Kurt Wafner.

Die Idylle in München dauert nicht allzu lange, Carola Neher spielt zwar noch an den Kammerspielen den Hugenberg in der „Büchse der Pandora“ von Frank Wedekind – Regie: Robert Forster-Larrinaga – mit Tilly Wedekind, Maria Koppenhöfer, Hans Schweikart, aber noch 1924 wird sie ein Engagement in Breslau annehmen.

Guido von Kaulla schreibt:

„… Carola Neher tritt Anfang September 1924 ihr Engagement in Breslau an. Klabund fährt nach Berlin, um die Zwischen­titel für den Stummfilm „Ein Sommernachtstraum“ zu schreiben. Er trifft mit Frau Dr. Eugenie Schwarzwald zu­sammen, einer Wiener Schuldirektorin, der er gleich nach der Stabilisierung der Währung (im November 1923) für die von ihr geleitete „Mittelstandsküche Berlin“ trotz großer ei­gener finanzieller Bedrängnis 200 Mark geschickt hatte (mit der Bedingung, dass sein Name nicht genannt werde).

Seine oft erwiesene stille Hilfsbereitschaft kommt aus der Mitte seines Wesens. Eugenie Schwarzwald über ihn: „Jede Begeg­nung mit ihm war ein Fest. Denn er suchte nicht das Seine. Der Narzissmus der Produktiven, ihm war er fremd. An dem Schicksal des Freundes, mit dem er gerade sprach, nahm er tiefen Anteil, der sein Wesen kennzeichnete.“ Aus seiner ge­planten Rückkehr in das milde Klima der Südschweiz wird nichts: es zieht ihn nach Breslau, wo er jedoch das Angebot .des Direktors Barnay nicht annimmt als Dramaturg am Lobe-Theater tätig zu sein. Auch die für den 8. November angesetzte Matinee-Aufführung seines Schwankes „Hannibals Brautfahrt“ mit Carla in der Rolle der „Miss“ ist nicht Magnet.“

Am 3. November erhält sein Mentor Unus eine Postkarte aus Breslau:

„… „Lie­ber Unus, Dank für die Herzogin. Ich will versuchen, was draus zu machen. – Ich bin noch immer in Breslau. Sie erse­hen, wie sehr ich attachiert bin. Zum Arbeiten komme ich nur sporadisch. Mit Geld haperts heftig. (Heute war der Gerichtsvollzieher da, ein ganz umgänglicher Herr.) – Schulden wie Heu, Stroh im Kopf, und nur ein brennendes Herz. Wie soll das enden? – Hoffentlich nicht mit einer Ka­tastrophe. Immer Ihr K.“

Diese Herzogin bezieht sich auf ein Drama des englischen Dramatikers John Webster (1580-1625) – sein Name „Die Herzogin von Malfi“ (d. i. Amalfi) und die ist ihm sehr wohl bekannt. Warum aber ausgerechnet John Webster und seine Herzogin? Mit seinem Gespür für außergewöhnliche Stoffe hatte er in seiner „Geschichte der Weltliteratur“ schon 1921 auf sie hingewiesen.

Wikipedia schreibt über ihn:

„… John Webster war Sohn eines wohlhabenden Kutschen- und Wagenmachers. Er wuchs behütet auf und besuchte die Merchant Taylor’s School in London. 1597 absolvierte er ein Rechtsstudium am Middle Temple. Daher rühren auch vermutlich die vielen Gerichtsszenen in seinen Werken. Ab 1602 arbeitete Webster mit Thomas Dekker, John Ford und Michael Drayton an diversen Theaterstücken. Um das Jahr 1604 begann Websters aktive Phase.

Seine Tragödien „Der weiße Teufel“ (1612) und „Die Herzogin von Malfi“ (1613, veröffentlicht 1623) werden häufig als Meisterwerke des frühen englischen 17. Jahrhundert angesehen.

Die beiden Hauptwerke Websters, die in England oft auf den Spielplänen stehen, basieren auf italienischen Quellen. (…)

In „The Duchess of Malfi“ ist die Titelheldin nicht Täterin, sondern Opfer. Dennoch macht Webster auch hier – für seine Zeit ungewöhnlich – eine starke Frau zur Heldin: Sie ist tapferer als ihre schurkischen Brüder und sieht stoisch dem Tod entgegen. Auch hier geht es um Grausamkeit, Korruption und Wahnsinn, aber Gut und Böse sind klarer getrennt und die Charakterisierung der Figuren ähnelt geradezu psychologischen Studien. Das Stück wurde wahrscheinlich vor einem gebildeteren Publikum im Blackfriars Theatre aufgeführt, wo der Innenraum, die Beleuchtung und musikalische Zwischenspiele zwischen den Akten für eine bessere Wirkung sorgten.

Webster gilt unter den Dramatikern seiner Zeit als der mit der düstersten Sicht des Menschen. Der Literaturnobelpreisträger T.S. Eliot sagt, dass Webster „vom Tod besessen war und den Totenschädel unter der Haut sah“. Die Werke waren im 18. und 19. Jahrhundert von den Spielplänen verschwunden, wurden aber im 20. Jahrhundert als brillante Stücke mit poetischer Qualität und finsteren Themen neu entdeckt – wahrscheinlich weil ihre verzweifelten Hauptfiguren erst nach den Schrecken der Weltkriege wieder verstanden wurden.

Am 8. 10. 1923 er­hält Unus die Zeilen:

„Lieber Unus, ich war gestern bei Ihnen – wie verabredet! – Haben Sie noch eine Abschrift der „Herzogin von Amalfi“? – Bitte lassen Sie sie doch in meinem Namen abgeben bei Elisabeth Bergner, Margarethenstraße 13, ich sprach zu ihr davon.“

Die Schauspielerin Elisabeth Bergner erinnert sich in ihrer Selbstbiogra­phie „Bewundert viel und viel gescholten“ (1978):

„… Brecht und ich hatten angefangen, an einem Projekt zu arbeiten. Es handelte sich um die „Duchess of Malfi“ von Webster. Die Idee war mir ursprünglich von Edward Sheldon suggeriert worden.“

Und deshalb will Klabund 1924 mit der „Herzogin“ eine tragende Rolle für Carla vorschlagen doch daraus wird nichts.

Das „Vereinigte Lobe- und Thalia-Theater“ mit dem Intendanten Paul Barnay gilt als Sprungbrett für große Bühnen, aber die Stadt empfindet Klabund als unerträglich. Warten auf die Geliebte – Während sich der Dichter seine Tage und Nächte in Bres­lau um die Ohren schlagen muss und an seiner Gesundheit sündigt.

Carola Neher aber spielt in Breslau ab der Spielzeit 1924/25 bis April 1926 ein breites Repertoire und dazu gehören auch „Hannibals Brautfahrt“ und der Kreidekreis von Klabund.

Am 7. Mai 1925 heiraten Carola Neher und Klabund und diese Heirat hat eine Vorgeschichte – eine ziemlich dramatische.

Matthias Wegner:

„… Doch vorher nimmt das Geschick der beiden eine überra­schende und bedrohliche“ Wendung. Mitten in ihrer uner­müdlichen Theaterarbeit wird Karoline Neher 1925 von einer gefährlichen Erkrankung heimgesucht, die ungewohnterweise ihrem Geliebten die Rolle des „gesunden“ Helfers zuweist. Sie erleidet eine Blutvergiftung und muss ein Bres­lauer Sanatorium mit Klinikbetrieb aufsuchen. Zweimal muss sie sich einer Operation unterziehen. Zweimal steht das Leben der Fünfundzwanzigjährigen auf des Messers Schneide.“

Und Guido von Kaulla schreibt:

„… Im Frühjahr 1925 zwingt eine schwere Blutvergiftung Ca­rola Neher zu einem viele Wochen dauernden Aufenthalt im Breslauer Sanatorium Friederici, wo sie gleich nach der Ein­lieferung operiert werden muss.“

Sicher hat Fredi Erinnerungen an seine erste Frau und befürchtet das Schlimmste, aber seinem Naturell entsprechend verbringt er Tag und Nacht an ihrem Bett und versorgt sie aufopfernd. Am 30. April 1924 legt er ihr ein Gedicht auf die Bettdecke.

Der Frühling
Der weiße Blütenbaum,
Sieht glühend mit tausend Augen
Durchs Fenster
Süß singen die Vögel und
Ich liebe dich
Du braune Gazelle
Wie bald
Wirst du über die grünen Sommergipfel springen
Irdische Göttin Himmlische Tänzerin.

Tage später – die Erleichterung ist wohl groß – gehen diese Zeilen an Irene Heberle nach Passau:

„…Frl. Neher liegt noch im Sanatorium, noch immer schwer krank. Zum zweiten Mal operiert, aber hoffentlich ganz außer Lebensgefahr.“

Und am 6. Mai 1925 etwas ausführlicher:

„… Liebe Mutter, vielen Dank für Deine Karte. Ich würde Euch gerne einmal wiedersehen, und hoffentlich kann es bald gesehe­nen. Ich habe ein sehr aufregendes und aufgeregtes Jahr hinter mir. Zu guter oder böser Letzt lag der Mensch, um den es sich handelt, an einer schweren Blutvergiftung auch noch zum Sterben darnieder, und da hab‘ ich in meiner Herzensangst ein Gelöbnis getan, wenn er wieder gesund würde, würde ich ihn, d.h. sie heiraten. Frl. Neher ist jetzt auf dem Wege der Gesundung.

Ich lege Dir, damit Du sie kennen lernst, einige Bilder bei. Sie ist ein ungewöhnlich charmantes und liebenswürdiges Mädchen, auch eine höchst begabte Schauspielerin (sie hat jetzt 50 mal die Heilige Jo­hanna hier gespielt, auch die Hauptrolle im Hannibal: „die Miss“‘, und wird auch die Haitang spielen).

Die Bedenken, die ich gegen eine Ehe hatte – und die ja auch heute nicht zerstreut sind -, liegen erst einmal im Äußeren, Äußerlichen: eine Schauspielerin ist an die Stadt ihres Engagements ge­bunden, und das kann eine fürchterliche Stadt sein, die ihr weniger ausmachen wird, da sie ja ihre künstlerische Arbeit hat. Mir aber fällt z. B. eine Stadt wie Breslau ganz beträcht­lich auf die Nerven. Ich bin jetzt 6 Monate hier, und ich kann manchmal kaum mehr atmen. An sich hasse ich schon einen längeren Stadtaufenthalt – und dann noch dazu hier! Eine Stadt, die riesenhaft gewachsen ist seit dem Krieg, (größer als München), ohne jeden musischen Glanz, ohne jede, auch die geringste, landschaftliche Schönheit. Dazu ein scheußliches Klima: wenig diskutable Menschen: das ist Breslau. Andere Bedenken liegen in den beiden künstleri­schen Berufen (Keiner kann den seinen aufgeben). Und schließlich auch in der „Berufshysterie“ der Schauspielerin – so geh ich denn bei aller Liebe und Zuneigung mit gemisch­ten Gefühlen in diese Ehe. Aber es gibt ja Wunder. Ein Wunder hat ihr das Leben gerettet. Vielleicht wird ein Wun­der auch unsere Ehe retten.“

Klabunds Beweggründe für eine erneute Ehe sind geschildert, aber welche bewogen Carola Neher? Dazu Guido von Kaulla:

„… Die Beweggründe der Neher für diese Eheschließung? Die Begegnung im Sommer 1924 wäre für sie nur eine be­deutungslose Episode gewesen, wenn Klabunds Maßlosig­keit des Gefühls, seine hinreißend leidenschaftliche Hin­gabe nicht im Gegensatz zu ihren bisherigen Liebhabern ge­standen hätte. Vielleicht war es auch die ihr wie ihm wesent­liche innere Unruhe gewesen, die sie reizte, ihn zu halten. Außerdem verband beide die Unruhe zum Wort. Für sie als Schauspielerin war an sich zum Bekanntheit erfordernden beruflichen Fortkommen aus dem „Drecksleben“ ihre Ver­bindung zu Klabund schon Förderung genug. Gewiss aber hatte die Eheschließung für die kraftvolle Vierundzwanzigjährige eine andere Bedeutung als für den Vierunddreißigjährigen, der einem frühen Ende entgegenging – worüber beide sich schwerlich im unklaren waren.“

Dass er sich selbst überfordert hatte während Carola Nehers Erkrankung, verschweigt er in diesem Brief. Fredi muss sich wegen erneuter Lungenprobleme in dasselbe Sanatorium einweisen lassen. Dieses Versäumnis holt er am 8. Mai nach und schreibt nach Passau:

„… Es sind heute drei Wochen, dass ich die Blutung hatte, es geht aber schon wieder besser und ich hoffe, in 8 Tagen mit meiner Frau – wir haben uns gestern hier im Sa­natorium verheiratet – nach Davos zu fahren. Ich versichere Dir, dass ich mit der Mutter von Carla Neher weder Be­kanntschaft habe noch haben werde. Nur Du wirst mir – ne­ben meiner leiblichen Mutter – als „Mutter“ anredenswürdig sein. Du hast recht, mich haben die letzten Monate seelisch ungeheuer mitgenommen. Ich habe doch zweieinhalb Monate am Krankenbett eines lieben Menschen gesessen, früh und nachmittags, 8 Stunden, und bin zur Arbeit, die ich vertrag­lich abliefern musste, den Aiglon, immer erst nachts gekom­men. Ich habe einen Monat fünfzehnmal die Sonne am Schreibtisch aufgehen sehen. Dazu die ständige Sorge um einen ständig in Lebensgefahr schwebenden Menschen – es war zu viel für mich. Und so war der ganze Zusammenbruch viel mehr seelisch als körperlicher Art.“ –

Carola Neher berichtet am 13. Mai 1925 an Frau Poeschel in Davos, dass es ihr endlich wieder bessergehe und sie mit ihrem Geliebten demnächst wieder nach Davos kom­men werde: „Sehen Sie doch zu, dass wir die beiden oberen Zimmer bekommen, wir sind doch so gerne allein.“ Die Eheschließung erwähnt sie nicht.

Im Sommer 1925 taucht ein Besucher in der Pension Stolzenfels auf – Student im ersten Semester und „junger Dichter“, der aus Crossen stammende Herybert Menzel.

Menzel erzählt Guido von Kaulla:

„…. Ich sollte ihm von mir zu lesen geben. „Es interessiert mich immer, was junge Menschen schreiben – und Sie kommen aus Crossen!“ Aus Crossen, das ihn oft geschmäht hatte, früher, und in dem er sich vor den Menschen immer etwas beunruhigt fühlte. Er ist dort prüden Gemütern oft auch allzu frei. Ge­rade darum lag ihm so viel daran, seiner Heimat Ruhm zu schaffen. Darum freute ihn auch jede Anerkennung, die von der Heimat ausging.“

Das Paar ist inzwischen Prominenz der Weimarer Kulturszene, Zeitungen und Zeitschriften berichten. „Der Dichter und seine Schauspielerin sind ganz nach dem Geschmack der neuen Zeit und ihrer Medien: nach außen sorglos und vom Erfolg verwöhnt, stehen sie im Scheinwerferlicht und beflügeln die Träume des Pu­blikums von einer Romanze im Kunsthimmel“ (Guido von Kaulla). Flitterwochen wird es nicht geben, Klabund findet sich erst einmal in Davoser wieder. Die Erkrankung ist in Anbetracht der rück­sichtslosen Vernachlässigung inzwischen be­harrlich fortgeschritten.

Guido von Kaulla:

„… Der Besitzerstolz des zum zweiten Male verheirateten Dichters ist gewaltig, und die überwältigende Freude über die Überwindung von Carolas bedrohlicher Erkrankung be­flügelt ihn. An Hermann Hesse, den er seit den Tagen, die sie beide mit der jungen „Irene“ im Tessin verbracht haben, freundschaftlich verehrt, schickt er ein Foto seiner neuen Frau. Der Begleitbrief klingt beschwingt und glücklich — aber wieder einmal verraten ein paar ironische, aber unmissverständliche Worte, die die jüngsten Breslauer Erfahrungen an­klingen lassen, dass unter dem Glück ein Abgrund lauert: „Anbei muss ich Ihnen, eitel wie ich bin, einmal meine Frau vorstellen. Wie gefällt sie Ihnen. Sie ist so schön, so klug, so genial, dass sie, in ihrem Jargon gesprochen, mich völlig an die Wand gespielt hat und Sie von mir nicht mehr viel übrig finden werden. Einmal kommt ja die Frau, die uns unbewusst an allen anderen Frauen rächt und die uns radikal frisst. Mit Haut und Haaren, Leib und Seele. Auch nicht ein Seelenzipfelchen bleibt unverspeist. Denn die gesunde Sphinx hat einen guten Appetit. In dem angenehmen Zustand des Ge­fressenwerdens befindet sich momentan der ergebenst Unterzeichnete“.

Aber Klabund leidet schwer unter der Trennung und schreibt (leider nicht erhaltene) Briefe nach Breslau. „Im Sommer besucht die nach einer harten Bühnensaison er­schöpfte Carola Neher ihren Mann zum ersten Mal in seinem zweiten — beinahe schon: ersten — Zuhause. Für sie ist das landschaftlich so reizvolle und gesellschaftlich so amüsante Davos ein zauberhafter Ort der Entspannung, der das graue Breslau schnell vergessen lässt. So kommt sie den Bitten ihres Mannes nur allzu gerne nach, ihn wie einen Gesunden zu behandeln“ schreibt Matthias Wegner.

Dazu kommt immer wieder Klabunds Eifersucht, als z.B. in Davos der Schauspieler Alexander Moissi einen Urlaub verbringt. Guido von Kaulla berichtet, dass der verzweifelte Klabund nach einer bitteren Szene einmal ohne jede Rück­sicht auf seine Gesundheit ins Gebirge lief, um seiner Nerven wieder Herr zu werden. Klabunds Liebe zu seiner Frau und sein Stolz auf sie sorgen nach jedem „Krach“ für eine Versöhnung.

Klaus Mann erzählt in seiner Autobiogra­phie „Der Wendepunkt“ über seine Begegnungen mit dem Paar:

„… Mit Carola Neher ihn zu beob­achten, war beinahe beunruhigend, so sehr liebte er sie. Ich vergesse nie den werbenden, gedämpften, zarten Ton, den seine Stimme, sprach er zu ihr, hatte. Ich weiß noch, dass ich mit den beiden zusammen war in einer kleinen Münchner Bar, die Neher hatte vorher irgendeine Posse gespielt. Sie war kapriziös und mochte nicht essen, ich sehe Klabund, als sei es heute, wie er sich zu ihr neigte und besorgt scherzte: „Ich als dein Manager muss unbedingt darauf bestehen, dass du eine Kleinigkeit nimmst“ Ich glaube, sie bestellte trotz­dem nichts.“

Herbst 1925 und wieder Breslau, dem ungesunden Breslau. Carola Neher spielt wieder eine Hauptrolle nach der anderen und Klabund schreibt und wartet auf seine Frau. Im November gehen an Hermann Hesse diese Zeilen:

„… Ich lebe, vom Schicksal hierher verweht, noch immer in Breslau, dem (Bollwerk des Ostens), einem feuchten, unfreundlichen Ort im preußischen Sibirien. Wie oft sehne ich mich nach dem warmen, zärtlichen Tessin.“

Und nach Passau, dass ihm die Stadt ganz beträchtlich auf die Nerven falle. Er könne «manchmal kaum noch atmen.“

Wie sehr ihm die Abende in dieser Stadt auf die Nerven gehen zeigen diese Zeilen, die er in seiner Verzweiflung hinter die Bühne bringt:

„… Drei Stun­den warte ich schon auf Dich. Es ist kalt wie im späten Herbst. Auf der Dominsel fiel schon das Laub von den Kasta­nien. O lieber Stern! Wann erscheinst, wann scheinst Du? Ich gehe am Lobe -Theater vorbei. Die Vorstellung ist erst um 11 Uhr aus. Und es ist erst halb zehn Uhr. Noch immer eine Stunde. Welches Kleid wirst Du anhaben? Das schwarze, englische Jackenkleid? Oder über dem braunseidenen das Abendcape? Soll ich morgen abfahren? In medias res, das heißt mit dem Auto nach Italien? Du bist der einzige Lichtblick in dieser tristen Einöde, Mitteleuropa genannt. Leuchte ihr, leuchte mir weiter! Komm! Komm bald! Ich bin schon beim fünften Tee mit Rum und beginne eben mit einer Serie Grogs. Ich liebe. Ich liebe Dich. Ich liebe Dich.“

Ab dem 16. September 1925 steht im Vereinigten Lobe- und Thalia-Theater auch der Kreidekreis auf dem Spielplan. Regie: Renato Mordo. Carola Neher als Haitang. Mit Franz Lederer, Walter Gynt, Fritz Eßler, Cläre Kristl, Werner Rafael und wird bis Frühjahr 1926 aufgeführt.

Matthias Wegner schreibt über diese Inszenierung:

„… Während Klabund mit der Stadt Carola zuliebe weiterhin seine Mühe und Not hat, entwickelt sich diese immer mehr zum Publikumsliebling des Lobe-Theaters. Im September spielt sie endlich auch die Haitang im „Kreidekreis“. Sie wird diese Rolle noch oft mit großem Erfolg spielen. Die Breslauer Kritik lobt sie in den höchsten Tönen, was dem Ehepaar umso mehr behagt, als der Kritiker Alfred Polgar die Darstellung Elisabeth Bergners in Berlin etwas einschränkend beurteilt hatte: sie verharre zu sehr auf ein und demselben Ton, „es klingt wie das Wimmern eines Kätz­chens, das in den Brunnen gefallen ist“. Dennoch attestiert Polgar der Bergner, dass sie in der Rolle „sehr rührend“ ge­wesen sei.“

In der Breslauer Zeitung ist hingegen nur lobendes zu lesen­:

„… Wie als heilige Johanna ergreift sie wieder durch Zartheit und Rein­heit des Umrisses, durch die innige Versunkenheit der seeli­schen Bewegung. Sie sieht bezaubernd aus. Wunderschön, auch körperlich zwingend, ihre Stille, ihre Verhaltenheit, die in sich gekehrte Stummheit…“

Und nochmal Matthias Wegner:

„… Das Lob lässt erkennen, dass der Kritiker den ganz und gar neuen, gegenüber der Bergner herberen und gewiss auch kühleren Ton der jungen Schauspielerin zu schätzen weiß. Ihr nun immer unver­wechselbarer, eigenwilliger Stil entwickelt eine verstörende Modernität, woran die „gläserne“ Stimme ihren besonderen Anteil hat. Noch gehört sie nicht zur ersten Garde deutscher Schauspielerinnen — aber sie ist auf dem Weg dorthin.“

Ein angenehmer Nebeneffekt des erfolgreichen Kreidekreises ist eine deutliche Verbesserung der finanziellen Situation. Carola Neher spielt Rolle um Rolle und Klabund kann sich die nötigen Aufenthalte in Davos leisten. „Der dortige Lungenarzt hält, un­ter der Bedingung, dass der Patient nun eisern Ruhe in der trockenen Höhenluft wahrt, einen Stillstand der Krankheit noch immer für möglich. Die Tuberkulose hat sich an den Oberlappen der beiden Lungenflügel lokalisiert. Mit viel Glück könnte es erst einmal dabei bleiben“ (Matthias Wegner).

Carola Neher hat zur Bühne zurückgefunden und ihre Gesundheit ist die alte, Fredi aber weiß die Merkmale seiner Krankheit richtig zu deuten, er schreibt:

… Man liest zu Hause meine Bücher,
Und mancher freut sich meiner Schrift.
Mich decken schon die schwarzen Tücher,
Und meine Lippen speien Gift.

Auch den Sommer 1925 verbringt Klabund zu einem großen Teil oben in Davos und dort kommt es zu einem letzten Treffen mit dem Dichter Carl Christian Bry, seinem alten Freund aus Münchner Studienzeiten:

Guido von Kaulla:

„… . kommt es zu einem Wiedersehen mit dem an Tuberkulose erkrankten Bry, der sein letztes Lebens­jahr in Davos verbringt, mit seiner Frau Helene, der Schwester von John R. v. Gorsleben, einem lieben Kollegen aus dem Vorkriegs-München. Als Klabund sich um elf Uhr morgens Brys Liegebalkon nähert, ist er in der sehr lauten, fast lärmenden Gesellschaft Carlas und einiger ihrer Bekannten, die zusammen weiterziehen. Klabund geht zu seinem Freund, der nur noch im Flüstertone sprechen kann. Neben Bry wird für Klabund ein Lager bereitet. Die Unterhaltung der Freunde ist sehr ruhig und führt mit wenigen Worten an den Kern ihres Lebens – an das Bleibende in dem, was sie geschaffen haben. Bry darf vor allem auf sein Buch „Verkappte Religionen“ blicken. Um sein Urteil nach Klabunds bester Leistung gefragt, sagt Bry offen: dass sein bestes Teil die Lyrik sei, besonders das „Wiegenlied für Irene“ sei nicht nur das Lyrischste und Sangbarste, sondern auch das Tiefste, was er je geschaffen habe. Klabund freut sich und liest darauf sofort das Gedicht vor. Bry bekommt nasse Augen. Auf Brys Bemerkung, dass nur eine einzige Zeile schwach sei und unbedingt gestrichen werden müsse, fängt Klabund an, das Ge­dicht nochmals zu lesen, und bei der Zeile „Die des Gottes Gnadenblut durchdrang“ hebt Bry seine Hand und bittet: „Las­sen Sie das Ganze ohne diese Zeile – Sie werden sie nicht mehr vermissen.“

Klabund gibt Bry bald recht, auch wenn er aus Erlebnisgründen die Zeile belässt. Noch sind Bry und Klabund zusammen auf dem Liegebalkon. Aber Klabund wird unruhig und nervös, als seine Frau mit dem lauten Schwärm ihrer Freunde zurückkommt, um ihn abzuholen. Carola tritt ihm wie einem ganz Gesunden gegenüber – das ist sein ausdrücklicher Wunsch. Er selbst sagt bei­spielsweise zu Besuchern: „Rauchen Sie nur!“ Sie hustet ihm etwa burschikos nach, als sei seine Krankheit nicht mehr als ein Schnupfen, öfter ist sie im Zusammensein mit Klabund auch gereizt – immer wieder kommt es auch in Gegenwart Anderer zu Reibereien. Sie nimmt keine rechte Rücksicht auf das für sein Schaffen nötige Ruhebedürfnis. Ihre eigene künst­lerische Arbeit als sehr ausdrucksstarke Schauspielerin steht für sie absolut im Vordergrund. Aber der unverhüllte Lebenstrieb dieser Frau, der er verfallen ist, bedeutet ihm gewünschte Not­wendigkeit.“

Carl Christian Bry stirbt am 9. Februar 1926 in Davos.

Im Sommer in Berlin verbring Fredi den Herbst und Winter abermals in Davos, schreibt Guido von Kaulla:

„… Noch ist es 1925. Sobald er reisefähig ist, tritt Klabund, begleitet von einer Krankenschwester, die Fahrt ins ret­tende Hochtal von Davos an. Ein Telegramm geht an Carla: „habe die Schwester gut nach Davos gebracht Grüße dein Fred“. Sein Arzt dort wird jetzt Dr. Hans Staub. Staub hält es damals für möglich, sagte er später zu Guido von Kaulla nach dem Befund und angesichts der starken Widerstandskraft und Zähigkeit der Natur des Patienten, dass sich durch strenges Einhalten der Kur das Leben verlängern ließe. Die Tuberkulose hat sich in den Oberlappen beider Lungen lo­kalisiert, und der Körper ist immun geworden gegen eine weitere Ausbreitung. Dagegen hat die Erkrankung zu gro­ßen Hohlräumen geführt: die Ursache für manchmal schwere Blutungen. Aber Klabund sagte schon als Student zu Julius Gebhardt: es käme ihm nicht darauf an, wie lange er lebe, sondern wie intensiv. (Und Aureomycin und Streptomycin sind noch nicht erfunden). Doch lebt Klabund ge­gen früher vorsichtiger und meidet zu große Anstrengun­gen.“

In der „Breslauer Zeit“ entsteht aber auch noch ein für mich sehr wichtiges Gedicht, „Die heiligen drei Könige“ (erschienen 1926), darin tritt Klabund beherzt in der „Weltbühne“ der „Nationalsozialistischen Freiheitspartei“ entgegen. So nannte sich die NSDAP während eines allerdings nur kurzen Verbotes nach dem so genannten „Hitler-Ludendorff-Putsch“ vom 8. und 9. November 1923.

Das „braune Gesindel“ hatte sich ereifert, diese „heiligen drei Könige“ verletzten „religiöse Gefühle“. Klabund antwortet:

„. .. Ich kann in dem fraglichen Gedicht weit und breit keine Gottes­lästerung finden, dagegen finde ich bei Ihnen, die sich so gern als Deutscheste der Deutschen bezeichnen, eine geradezu hanebüchene Unkenntnis deutscher Volksbräuche.“

Und er fügt in einer hinzu:

„… Mein Großvater hat als Erzieher des ehemaligen Kaisers sein Bestes dazu beigetra­gen, dass wir den Krieg verloren, aber stattdessen die Natio­nalsozialistische Freiheitspartei gewonnen haben. Das näch­ste Mal wird es uns hoffentlich umgekehrt gehen.“

Die heiligen drei Könige

                    (Bettelsingen)

Wir sind die drei Weisen aus dem Morgenland,
Die Sonne, die hat uns so schwarz gebrannt.
Unsere Haut ist schwarz, unsere Seel ist klar,
Doch unser Hemd ist besch… ganz und gar.
Kyrieeleis.

Der erste, der trägt eine lederne Hos‘,
Der zweite ist gar am A… bloß,
Der dritte hat einen spitzigen Hut,
Auf dem ein Stern sich drehen tut.
Kyrieeleis.

Der erste, der hat den Kopf voll Grind,
Der zweite ist ein unehlich‘ Kind.
Der dritte nicht Vater, nicht Mutter preist,
Ihn zeugte höchstselbst der heilige Geist.
Kyrieeleis.

Der erste hat einen Pfennig gespart,
Der zweite hat Läuse in seinem Bart,
Der dritte hat noch weniger als nichts,
Er steht im Strahl des göttlichen Lichts.
Kyrieeleis.

Wir sind die heiligen drei Könige,
Wir haben Wünsche nicht wenige.
Den ersten hungert, den zweiten dürst‘,
Der dritte wünscht sich gebratene Würst.
Kyrieeleis.

Ach, schenkt den armen drei Königen was.
Ein Schöpflöffel aus dem Heringsfaß –
Verschimmelt Brot, verfaulter Fisch,
Da setzen sie sich noch fröhlich zu Tisch.
Kyrieeleis.

Wir singen einen süßen Gesang
Den Weibern auf der Ofenbank.
Wir lassen an einem jeglichen Ort
Einen kleinen heiligen König zum Andenken dort.
Kyrieeleis.

Wir geben euch unseren Segen drein,
Gemischt aus Kuhdreck und Rosmarein.
Wir danken für Schnaps, wir danken für Bier.
Anders Jahr um die Zeit sind wir wieder hier.
Kyrieeleis.

Kurzer Zwischenstopp am 21. April 1926 in Frankfurt – Carola Neher spielt das Klabund Stück „Brennende Erde“, Regie: Richard Weichert. Carola Neher als Marusja, es werden neun Vorstellungen gegeben und dann endlich ist Breslau für Klabund und auch seine Frau Vergangenheit.

Wikipedia schreibt dazu:

„… Das Schauspiel „Brennende Erde“ des deutschen Schriftstellers Klabund (1890–1928) erlebt im Schauspielhaus in Frankfurt am Main seine Uraufführung. Angeregt wurde das Revolutionsdrama durch die Novelle „Inga“ des russischen Dichters Wladimir Lidin (1894–1979). Die mit Klabund liierte Schauspielerin Carola Neher (1900–1942), der das Stück gewidmet ist, spielt in der einzigen weiblichen Rolle der Marusja.“

„Brennende Erde“

 Klabund schreibt über die Entstehung des Stückes in der Zeitschrift „Die Szene“:

„… „Das Drama „Brennende Erde“ spielt in einem heutigen, legendä­ren Russland. Es treibt keine innere und äußere Politik und wird nicht von ihr getrieben. Es will Menschen auf die Bühne stellen, Herzen schlagen lassen, im Guten und im Bösen, sonst nichts. Die stoffliche Anregung gab mir die Novelle eines jungen russischen Dichters Wladimir Lidin „Inga“. Ich las sie im Dezember in Davos auf dem Liegestuhl. Aber die Inga wandelte sich zur Marusja, gewann ihr Eigenleben und ihr Eigenschicksal, trat aus der kleinen Geschichte ins Leben, und aus dem Leben auf die Bühne. Sie empfing von Anfang an ihr Blut von dem schauspielerischen Leben meiner Frau…“

Die Kritik jedoch beurteilt das Stück nicht gerade überschwänglich. Es fehle „die innerliche Dialektik“, die „poetische Gerechtigkeit“. Dieser Mangel verhindere den Charakter eines Problemstücks. Aber gelobt wird die Hauptdarstellerin, der Klabund die Rolle „auf den Leib geschrieben habe“. Sie wäre die „wahre Muse“ dieses Abends gewesen. Ihre „seltene Naivität und berückende Uninteressiertheit, das Gerade und Spontane ihres Wesens – strömten das poetische Fluidum über die Szene …“ Es klinge „nicht fertig und ausgelernt“, sondern „schön und gut, als wär’s ein Stück von Klabunds bester Lyrik“, urteilte die „Frankfurter Zeitung“.

Die Premiere ist also ein Misserfolg für Kla­bund, aber ein Erfolg für Carola Neher. Der Kritiker Bernhard Diebold zum Inhalt:

„… „Die siebzehnjährige Marusja ist als Findling von den frommen Vätern eines Klosters aufgezo­gen worden, wird aber von dem russischen Revolutionshauptmann Rjurik brutal geraubt und aus dem Frieden ihrer Jugend verschleppt. (…) In ihrer frommen Reinheit wünscht sie nun, gleich einer zweiten Maria einen Erlöser zu gebä­ren. Aber Klabund wird mit dieser Symbolik nicht fertig. Von einer rohen Soldateska vergewaltigt, geschah an Ma­rusja wohl die Zeugung, aber die Gewalt erbringt keine le­bendige Frucht! Nur eine Kinderpuppe hält die Sterbende in Händen: das Symbol der symbolischen Fehlgeburt.“

Eine Kritik äußert: „Es ist reaktio­när vor allem, weil die poetische Gerechtigkeit fehlt. (…) Dieser Mangel an innerlicher Dialektik bringt das Drama um den Charakter eines Problemstückes, den es offenbar haben sollte.“

Und der Kritiker Hans Georg Brenner (da­mals „rechts“, später „links“) beurteilt Klabund:

„Nur dem [Individualitätstrottel wird die Notwendigkeit nicht aufsto­ßen können, zwischen zwei sich hart gegenüberstehenden Weltanschauungen wählen zu müssen.“

In der „Volksbühne“ wehrt sich Klabund: „Ich muss auch gegen die Auffassung energisch protestieren, als ob es sich in meinem Drama um „pseudopazifistische und antibolschewistische Ideen“ handle.“

Der Schauspieler Ernst Kiefer berichtet Jahre später aus seiner Erinnerung zu „Brennende Erde“:

„…Bei den Proben zu .Brennende Erde‘ war es, dass ich Klabund zum ersten Mal sah und Carola Neher. Sie war eine bildschöne Frau, die mein junges Herz mit allerlei Sehnsüchten erfüllte und schon damals das war, was man wenig später einen „Star y“ nannte, wenigstens in der Art wie sie auftrat und sich benahm. Und hier erinnere ich mich deutlich an einen Satz Hilperts, der ja im Stück die Hauptrolle spielte. Auf der Treppe des Garderobentrakts von irgendjemand gefragt, wie er sich in seiner Rolle fühle, antwortete er: „Det war alles jut, wenn meine Partnerin nich war“ und klemmte seine „Scherbe“ fester ins Auge. Klabund sehe ich recht deutlich vor mir. Ein überschlanker Mann mit einer dicken Horn­brille. Sehr schweigsam, sehr verschlossen. Ich erinnere mich nicht, jemals seine Stimme gehört zu haben. Natürlich habe ich ihn auch nur aus der Distanz des von der Persön­lichkeit faszinierten jungen Schauspielers gesehen. Wahr­haftig kein schöner Mann, um mich vorsichtig auszudrücken, aber von einer unerhört sympathischen Ausstrahlung. Mehr noch – und ich übertreibe nicht – umgeben von einer Aura von Liebenswürdigkeit. Geste und Gang waren äu­ßerst lebhaft. Wenn er sich in Bewegung setzte, so geschah das fast immer ruckartig. Treppen flog er fast hinunter; wenn er sich verabschiedet hatte, war er blitzartig ver­schwunden, ohne ein rasches grüßendes Kopfnicken an ir­gendwelche Vorübergehende zu vergessen.“

Endlich in Berlin

Und endlich kann sich die Schauspielerin in die „Welthauptstadt der Kunst“, Berlin, aufmachen. Alles was Rang und Namen in der Theaterwelt hat, oder noch bekommen wird, ist dort versammelt. Carola Nehers erstes Engagement führt sie an das Theater in der Königgrätzer Straße, wo sie auf die künftigen Stars wie Elisabeth Bergner, Tilla Durieux, Renate Müller, Alexander Moissi und Albert Steinrück stößt.

Erstes Engagement im Theater in der Königgrätzer Straße am 10. Juni 1926 – „Gefallene Engel“ von Noel Coward mit Carola Neher als Jane Banbury, einer Komödie in drei Akten und am 26. August 1926 folgt im Berliner Lustspielhaus „Kukuli“, ein Lustspiel von V. A. Jager-Schmidt. Regie: Eugen Burg. Carola Neher in der Titelrolle einer farbigen Samoanerin. Mit Olga Limburg, Camilla Spira, Wolfgang Zilzer, Eugen Burg, Hans Sternberg.

Und er wäre nicht Klabund, wenn er nicht auch hier zum Ariosen (liedhaft, gesanglich, melodiös) käme:

Kleiner Vogel Kukuli
flieh den grauen Norden, flieh,
flieg nach Indien, nach Ägypten,
über Gräber, über Krypten,
über Länder, über Meere,
Kleiner Vogel, laß die schwere
Erde unter dir und wiege
dich im Himmelsäther – fliege
zwischen Monden, zwischen Sternen
bis zum Sonnenthron, dem Fernen
flieg zum Flammengott der Schmerzen
und verbrenn‘ in seinem Herzen!

Bevor aber Carola Neher ihre erste Rolle in Berlin übernimmt, können die beiden noch einige Wochen erholsamen Urlaubs verbringen.

Gut Zeesen

Ganz von fern wie ferner Krieg
Rollen
Auf der Königswusterhausener Bahn die Güterzüge.

Und ich sitze nackt auf der Veranda
Wie des Sommers Gott
Sitz ich nackt und faul auf der Veranda
Violett umblühen mich Bethulien
Mich umtanzen
Dicke Fliegen Filigran von Mücken
Pfauenauge und Zitronenfalter
Und ich hock und freß wie ein Kaninchen
Frischen mildesten Salat
Kohlrabi
Auch gezuckerte Johannisbeeren
Und danach ein Glas
Erdbeerbowle
Wie ein Mensch
Wie ein Gott
Und ich sitz und schwitz und freß und sauf
Und ich denk und träume
Nichts
Träum und denk das Nichts vom Nichts des Nichtses
Bin am Ende meiner Kräfte
Und am Anfang aller Seeligkeit.

(„Ode an Zeesen“, Auszug)

Mai 1926 – Klabund und Carola Neher lernen im Berliner Restaurant „Mutzbauer“ einen Verwandten von Carl Zuckmayer kennen, den Berliner Bankier Dr. Ernst Goldschmidt. Man plaudert und Klabund erzählt, er wolle mit seiner Frau demnächst nach Italien zu reisen.

Matthias Wegner über diese Begegnung:

„… Zwischen dem Dichter und dem kunstinteressierten Geschäftsmann entwickelt sich eine freundliche Beziehung, die dem Ehepaar eine verlockende Einladung einbringt. Goldschmidt besitzt ein malerisches Gut mit einem feudalen Herrenhaus bei Königs Wusterhau­sen, südlich von Berlin in der Mark Brandenburg an einem herrlichen Park und einem unberührten See gelegen. Da er selbst nur gelegentlich dort anwesend sein kann, lädt er die beiden ein, vor dem strapaziösen Neubeginn in Berlin einige Urlaubswochen auf dem Gut zu verbringen. Sie willigen be­geistert ein und erleben von Mai bis Juli einen glühendheißen und, nach allem, was wir darüber wissen, außergewöhnlich glücklichen Sommer.“

Und dieser Urlaub dauert von der zweiten Hälfte Mai bis Ende Juli – für Klabund nur durch eine Reise nach Wien unterbrochen. Übrigens, Zuckmayer hatte hier sein Erfolgsstück „Der fröhliche Weinberg“ geschrieben.

Carola Neher breitete sich auf ihre neuen Rollen in Berlin vor und Klabund schrieb sein Drama über Oliver Cromwell und hier entsteht auch „Die Ode an Zeesen“. Als Privatdruck aufgelegt übergeben sie die Ode an Dr. Ernst Goldschmidt als Gastgeschenk für den Aufenthalt zusammen mit einem Faltboot, das in Anspielung auf Carola Nehers neue Rolle „Kukuli“ getauft wurde, und ein weiteres Geschenk

Klabund schreibt an Goldschmidt:

„…Lieber Herr Doktor Goldschmidt, ich bin Ihnen für Ihre liebenswürdige Gastfreundschaft zu großem Dank verpflichtet. Sie hat mir ermöglicht, einen Plan, den ich lange mit mir herumtrug, aus- und zu Ende zu führen. Ich habe gestern die erste Niederschrift meines Cromwell-Dramas beendet. Gestatten Sie mir, als ein Zeichen der Er­innerung und Dankbarkeit, Ihnen das Manuskript zu vereh­ren. Es ist zwar wie alle meine ersten Niederschriften für andere so gut wie unleserlich, aber Sie sollen ja auch nur meine Dankbarkeit daraus lesen.“

Die Urlaubsunterbrechung, also die Fahrt nach Wien liest sich so: „Ich bleibe zehn Tage in Wien, um mit Martin das Szenarium unserer Wedekind-Revue fertig zu stellen. Wir wol­len Frank Wedekinds teure Gestalt auf die Bühne bringen, doch er wird kein Wort sprechen, das er nicht in seinen bekann­ten Werken und in seinem unbekannten Nachlass niedergelegt hat. Ich denke auch daran, noch lebende Personen aus Wede­kinds Welt auftreten zu lassen.“

Frau Wedekind erhält ein 18 seitiges Exposé vorgelegt, dessen offizieller Titel Klabund nicht nennt: „Inhalt der Revue „Wedekind“ von Karl Heinz Martin“.

Martin hatte bisher gute Wedekind-Inszenierungen geliefert. Das Manuskript gliedert die Revue in zwei Teile und diese wieder in je zwei Intermezzi. In ihr kommen zwei Gestal­ten aus dem Orchesterraum herauf – beide stellen Frank Wede­kind dar: die linke den clownhaften Dichter des Veit Kunz (aus “Franziska“), die rechte den philosophierenden Sexualethiker und pervertierten Moralprofessor (aus der „Hidalla“-Dichtung). Die beiden Wedekindteile äußern nun ihre Einstellung zur Gesamtpersönlichkeit des Dichters. Ein blonder Herr mit Brille als „Dozenturkandidat“ (es ist die Gestalt Artur Kutschers) erwägt, an wen er sich halten solle: an den Moralisten oder an den Harlekin. Beide Wesenheiten werden praktisch demon­striert, so etwa mit Szenen von der Elendskirchweih in „König Nikolo“, mit Teilen von „Mine Haha“ usw. Gegen Ende des zweiten Teiles hebt sich, alledem entrückt, – Lulu – „das ewig Weibliche“ – feierlich gegen den Himmel empor, während in der Mitte der Bühne der Professor Wedekind betend verharrt, wie der Stifter auf einem Madonnenbild. Auf einem Schleier erscheint die riesenhafte Totenmaske, die den ganzen Schauplatz der Bühne ausfüllt. Im Verlauf der Revue erschießt der Profes­sor den Clown — also einen Teil seines Selbst – mit der Behaup­tung: der Moralist genüge durchaus! Aber der Dozenturkan­didat widerspricht ihm erregt -: dann kenne der Herr Wede­kind sein eigenes Werk nicht! Aber er (Dr. Kutscher also) kenne es – das dürfe Wedekind ihm glauben -, denn er habe es länger studiert als der Autor! –

Natürlich kommt es anders, als man denkt, Guido von Kaulla kommentiert süffisant:

„In Wien ist also „Knallfred“ mächtig am Wirken, macht die Rechnung aber ohne die Wirtin! – Als später Tilly Wedekind mit dem Biographen das Revuemanuskript durchgeht, erzählt sie (die natürlich dem Vorhaben nicht zugestimmt hatte): wie sehr sich die Neher und sie im Berliner Lokal Maenz über die an ihrem Tisch sitzenden allzu vorschnell gewesenen Martin und Klabund amüsiert hätten, die sich nur schwer in die Rollen der Verlierer fügen konnten!“

In einem Interview mimt Klabund ein wenig den smarten Schriftsteller, der Geld verdient und verdienen will und nur hofft „noch manches anständige Buch zu schreiben“ – das wird dann der „Borgia“-Roman. Ein politisches Schauspiel soll der in Zeesen niedergeschriebene „Cromwell“ sein. Davor hatte Kla­bund schon seinen Beitritt zur „Gruppe 1925“ erklärt, einer Schriftstellergemeinschaft; sie (lt. Ankündigung) „sammelt um sich Schriftsteller von Belang“ (das Modewort damals!), „die mit der geistesrevolutionären Bewegung unserer Zeit verbunden sind“, (…) Die Gruppe erweist ihr (sehr kurzes) „Leben in (…) Stellungnahmen zu Dingen, die ihr wichtig erscheinen.“ Zur Gruppe gehören u. a. Johannes R. Becher, Willy Haas, Ludwig Marcuse, Bertolt Brecht, Walther von Hollander und Ernst Toller.

Und in Wien „gibt er einer Theaterzeitung ein Interview, das in den Angaben über den äußeren Ablauf seines Lebens ein von Unwahrheiten strotzender großer (wienerisch gesprochen:) „Schmäh“ ist: Klabund gibt dem Reklameaffen überreichlich Zucker“ (Guido von Kaulla).

Bei der Frage nach seinem Alter antwortet Klabund: „Ja, ich bin, warten Sie mal… ich bin 34 Jahre alt“.

Das Drei-Punkte-Zögern ist die Folge eines Datumschwindels, den durchzuhalten kurzes Nachdenken er­fordert: in der „Literaturgeschichte“ hat Klabund als Geburts­jahr 1891 beim Korrekturlesen stehen lassen – und behält das nun bei allen Gelegenheiten bei. An faustdicken Unwahrheiten liest man u.a.: „1914 wurde ich eingezogen, dann wieder als dienstuntauglich freigelassen. […] In Locarno lernte ich meine erste Frau kennen, […] ging 1919 nach Bayern. Ich wurde sofort verhaftet und musste vier Wochen im Zuchthaus und im Mili­tärgefängnis sitzen. Den Grund meiner Verhaftung habe ich nie erfahren. Der Kriegsgerichtsrat verriet mir nur: „Gegen Sie schwebt ja auch noch ein Verfahren wegen Majestätsbeleidi­gung!) Das war 1919, in der bayerischen Republik.“

So wenigstens berichtet es Guido von Kaulla.

Sicher aber diente dieser Aufenthalt in Wien auch der Vorbereitung eines Gastspieles seiner Frau in der Donaustadt. Anfang April 1927 treffen die beiden dort ein und am 22. April steht Carola Neher im Burgtheater mit „Cäsar und Cleopatra“ von Bernard Shaw auf der Bühne, weitere Inszenierungen folgen bis zum Oktober des gleichen Jahres.

Seine Eindrücke über Wien schreibt er Max Heberle:

„…Ihr liebt Wien ja sehr. Ich habe noch einen zwiespältigen Eindruck, und weiß noch nicht, ob es mir gefallen soll oder nicht. Die Leute sind teils unverschämt liebenswürdig (Journalisten), teils unverschämt frech (Chauffeure und Kellner). Theater wird ganz schlecht gespielt, schlechter als die durchschnittliche deutsche Provinz. Überragend nur das Theater in der Josefstadt, wo ich Euch rate, „Die Gefangene“ anzusehn mit Helene Thimig und Ernst Deutsch in den Hauptrollen. Das ist allerbestes Theater. Interviewt bin ich alle Augenblick worden. Der Wiener interessiert sich scheinbar mehr für den Menschen als für das Werk. Diese Sucht nach Indiskretionen, der Mangel an Sachlichkeit, das langsame Tempo, das sind alles mir nicht sympathische Züge im Bild des Wieners. Aber wenn man eine Weile hier ist, dann schläft man vielleicht auch ein und passt sich der romantischen Schlamperei an.

Seid herzlichst gegrüßt und umarmt von Euerem Fred“

An Irene Brunhilde Heberle, unmittelbar nach dem Eintreffen in Wien am 2. April 1927

Liebste Mutter, herzlichen Gruß aus Wien! (Parkhotel Schönbrunn.) Wien präsentiert sich nicht freundlich. Sturm, Regen, April. – In den nächsten Wochen erscheinen 2 neue Bücher von mir, die Du sofort erhältst – die „Romane der Leidenschaft“ und „Die Harfenjule“. – Ich bin sehr müde, abgespannt, erschöpft. Beifolgende Karte für Deine Autographensammlung ist von Arco, dem großen Radioingenieur. – Hast Du nicht in Davos Hans Adler gekannt? Er hat einen bezaubernden, österreichischen Roman geschrieben „Das Städtchen“ (Verlag Ed. Strache Wien). Ich finde ihn jedenfalls (abgesehen vom Titel) prachtvoll.

Seid beide umarmt von Eurem Fred

Zurück nach Berlin und in die Jahre 1926 bis 1928.

Im Sommer 1927 erscheint „Die Silberfüchsin“, Matthias Wegner schreibt:

„… Die Geschichte, in vier Fortsetzungen der Zeitschrift „Sport im Bild“. Das Blatt der guten Gesell­schaft“ veröffentlicht, ist — Wie fast alle Dichtungen Klabunds — eine nur geringfügig verfremdete Rollenprosa: aus der Perspektive der Frau werden die Liebe und ihre Gefah­ren, die Hoffnungen und Bedenken eines Ehepaares, in knappen Dialogen vorgeführt. Kein anderer Prosatext des Dich­ters ist von so schonungsloser Selbstkritik und biographi­scher Genauigkeit wie diese Erzählung. Von der Zeitungsredaktion einigermaßen willkürlich mit seltsam unpassenden Zeichnungen von Orlik bis Picasso illustriert, sorgt sie bei den Lesern für einige Spannung: der Text bietet vielerlei Anlass zu Literaten- und Gesellschaftsklatsch. Was uns an au­thentischen Dokumenten über das tägliche und nächtliche Zusammensein des Paares fehlt – in der „Silberfüchsin“ (einer Geschichte, die Klabund in keines seiner Bücher auf­genommen hat) treten die gegenseitige Attraktion des Ehe­paares ebenso wie ihre explosiven Konflikte offen zutage. (…)

Das Motiv der „Silberfüchsin“, einen zornigen Lukas zu heiraten, war auch das Motiv des Dichters Klabund für die Eheschließung mit Carola Neher: „Die Ehe erst wird mir den wahren Frieden geben.“ Und mit zwei Sätzen formu­liert die „Silberfüchsin“ auch, wie der Autor sich selbst gesehen haben möchte: „Wie schön sind seine Gedanken! Wie schön sind seine Blumen!“ — womit vor allem seine Ge­dichte gemeint waren. Als Verfasser von Liebesgedichten hat Klabund es inzwischen zu einiger Meisterschaft gebracht.“

Matthias Wegner nennt die Liebe Klabunds zu seiner Frau „beinahe masochistisch“. Und: „Mochte ihn auch die Eifersucht peit­schen, Herz und Hand fanden immer wieder Worte, mit denen er Caro­las Lebensgier nur auf sich zu ziehen suchte.“ Ein Beispiel

Als sie zur Mittagsstunde noch schlief – für Carola

Zwar ist es schon Mittagszeit,
Sonne steht schon hell am Himmel –
In den Straßen: welch Gewimmel,
In den Herzen: welches Leid –
Manche Segel bauscht der Wind, –
Mancher Kutter bleibt im Hafen –
Du sollst schlafen, du sollst schlafen,
Du sollst schlafen, liebes Kind.

Siebzig Mal littst du, Haitang,
Fünfzig Mal starbst du, Johanna –
Schmecktest Süßigkeit und Manna,
Wenn der Quell der Qualen sprang.
Süßes, junges Blut – es rinnt –
Küsse, Dolche flammten, trafen –
Du sollst schlafen, du sollst schlafen,
Du sollst schlafen, liebes Kind.

Einmal endet sich das Spiel,
Einmal endet sich das Grausen,
Und die Ewigkeit wird kühl
Dir um Brust und Schläfen sausen.
Sand deckt dich wie Wolle lind,
Und der Hirte bläst den Schafen –
Du sollst schlafen, du sollst schlafen,
Du sollst schlafen, liebes Kind.

Genau datiert – erhält Carola Neher aus Zürich dieses Gedicht, geschrieben am 30. Oktober 1925 um 11 Uhr:

Da ich einsam bin
Nur ein Same bin
Samenkorn gesät in Eis und Schnee
Werd‘ ich weitergehen
Auf der Leiter stehen
Die zur Hölle ihre Wege weiß.
Gestern liebt ich noch
Gestern stiebt ich noch
Ein Raketenregen, Feuerregen, rinn!
Heute bin ich nur
Eine Wagenspur
Denn dein Sichelwagen rollte über mich dahin.
Weil du Böses glaubst
Guten Gutes raubst
Ward ich böse, böser noch als die, die dich gebar.
Auch im Traume stand Steil in meiner Hand
Schon ein Dolch, der nach dir lüstern war.
Süßes Satanskind ‚
Schnee fällt auf uns lind,
Der November reckt den weißen Schild!
Gib mir deine Brust – , f
Unser Leid und Lust .
Über alle Ufer bis zum Everest schwillt.

Und dieses Gedicht zeigt wieder einmal, wie sehr die Trennung ihn schmerzte. „Sie stand irgendwo auf der Bühne, umgeben vom Applaus der Menge, während er in Davos auf dem Krankenbett lag“. Guido von Kaulla schreibt: „Er braucht seine „,Hexe“‘! Selbst dann, wenn sie Kilometer weit von ihm entfernt ist! Und seine dichterische Begabung verhilft ihm zu jeder Stunde da­zu, mit ihr Zwiesprache zu halten. So entstand folgendes Gedicht:

Lieber Engel, laß den Unmut fahren.
Du bist jung. Dein Licht steht im Zenit.
Laß uns werden, was wir waren.
Streich die trübe Träne aus dem Lid.
Unsere Augen werden wieder tauchen
Ineinander auf den tiefsten Grund.
Unsere Höhenfeuer werden rauchen,
Und es wird sich wiederfinden Mund zu Mund.
Bist du einsam, bin ich’s doch nicht minder.
Aber ich bin dort, und du bist hier.
Durch die Linden weht ein erster
linder Frühlingshauch, er weht mich bald zu dir.

Über die Trennung schreibt Fredi:

„…Gewiss möchte ich immer um sie sein, aber ich wohne nicht mit ihr, seitdem ich so krank bin … Ich kann doch nicht plakatieren: Ja, ich bin Carolas Gatte, aber ich habe mich dazu gebracht, mich phy­sisch fern, sehr fern von ihr aufzuhalten. Je länger, je unerwartet länger ich lebe, desto mehr bin ich mit ihr vermählt, aber zwischen meinem Davos und ihrem Berlin liegen Hunderte von Kilometern, und diese Distanz wird größer, wenn es mich nach Berlin reißt…“

Wie diese Distanz aussieht, beschreibt der Journalist Fred Hildenbrandt in seinem Buch „Ich soll dich grüßen von Berlin“:

„… Ich kannte ihn ganz gut. Er wusste, dass ich ihn liebte. Und obwohl wir niemals länger miteinander gesprochen hatten, empfanden wir beide stets ein Gefühl der Vertrautheit und er Freundschaft. Er gehörte zu jenen Schriftstellern, von denen ich unentwegt glaubte, ich müsse irgendetwas für sie tun. Er gehörte zu den Lebensuntüchtigen. Ihm wurde nur Bitternis zuteil.

Und weil ich das wusste, geriet ich einmal völlig außer mir. Das war in grauer Vorzeit auf einem der großen Winterlichen Kostümfeste. Da traf ich ihn, wie hei­matlos durch das bunte Gewühl streifend. Er war im Smo­king, der um seinen abgemagerten Leib schlotterte. Hinter seinen dicken Brillengläsern irrten seine Blicke suchend um­her. Er trug eine kleine kostbare Damenhandtasche an sich gepresst, Schweißtropfen standen auf seiner Stirn. Er atmete kurz und heftig. Er suchte seine Frau, Carola Neher. (…) Ich nahm ihn am Arm. „Klabund! Sie sind in diesem eiskal­ten Winter noch in Berlin?“ Er sah mich zerstreut und unru­hig an. „Haben Sie meine Frau gesehen?“ Er sucht seine Frau, dachte ich und war leicht beunruhigt. Denn Carola, diese schwarze hübsche Menschenfresserin, konnte, soweit ich Frauen dieses verhängnisvollen Typs kannte, an einem schwachen Mann wie Klabund kein Genüge finden. Wahr­scheinlich hatte sie sein Name gelockt. Es konnte auch sein, dass sie nach Art von Hexen zuerst Mitgefühl mit diesem be­rühmten kranken Jüngling empfunden und ihn geliebt hatte. Dann aber konnte man sich an den Fingern abzählen, was passieren würde. Nur Klabund zählte es sich nicht an den Fingern ab.

„Ich suche meine Frau schon die ganze Zeit“, sagte er müde, „ich finde sie nicht. Ich möchte gerne nach Hause ge­hen. Sie kann ja hierbleiben, wissen Sie. Ich müsste ihr nur ihr Handtäschchen geben.“ Mein Herz wurde schwer vor Mitleid. Warum, du Idiot, dachte ich, warum hast du eine Hexe geheiratet?

Was Carola betrifft, so mochte ich sie sehr gerne. Ich hätte sie nur niemals geheiratet. Das ist wieder ei­ner meiner hyperklugen Sprüche, die ich stets sofort bereit hatte, nur mir selber gegenüber hatte ich sie nicht bereit. Hol’s der Satan! Carola war nicht nur hübsch und nicht nur klug, sondern auch sehr begabt. Das war eine Übermacht. (…) Ich stand eine Weile ratlos und blickte in das er­schöpfte Gesicht vor mir. Natürlich amüsierte sich Carola in diesen Augenblicken anderswo, indem sie von einem Arm in den anderen flog. Natürlich hatte sie ihren stillen Mann völ­lig vergessen. Und .wenn mich der Anblick seiner geduldi­gen, nachsichtigen, demütigen Gestalt nicht so ergriffen hätte, würde ich ihn wahrscheinlich angebrüllt haben: „Mann, lassen Sie Ihre Gemahlin laufen. Stopfen Sie ihr ver­dammtes Handtäschchen in die Smokingjacke, fahren Sie heim oder suchen Sie sich eine nette Frau, es sind genügend da.“

Ich verstand beide. Das ist die ewige Kalamität in sol­chen Konstellationen. Man versteht beide Teile. Deshalb vermag man auch keinem beizustehen. Ich sagte nichts. Aber es war Klabund, der vor mir stand. Und er war krank. Und ich beschloss, mich auf seine Seite zu schlagen, was auch herauskäme. Ich brachte ihn bei meinen Freunden an einem Tisch unter. Ich feuerte das Handtäschchen auf einen Stuhl. Ich versorgte ihn mit Sekt. Dann sagte ich: „Bleiben Sie hier sitzen. Rühren Sie sich nicht von der Stelle. Ich su­che sie.“

Selbstverständlich fand ich sie sofort. (…) Sie tanzte mit einem windigen, hübschen Burschen, der sich als Hambur­ger Zimmermann kostümiert hatte. Er sah, ich muss das sagen, sehr gut aus. „Hau ab, Bruder“, sagte ich zu dem Zimmermann. „Wat denn, wat denn?“ sagte der Zimmermann. „Wat willste? Wat bist du denn für eine Nulpe?“ Carola stand atemlos vom Tanz neben uns. Ich warf einen flüchti­gen Blick auf die klinische Gesamterscheinung des Hambur­ger Zimmermanns und gewann den Eindruck, dass er, wenn es sein musste, sofort k. o. gehen würde. „Hau ab, Genosse“, wiederholte ich und zog Carola weg von ihm. Bevor er et­was äußern konnte, sagte ich: „Hören Sie zu. Ihr Mann sitzt an meinem Tisch. Er ist hundemüde. Er ist krank.“ Sie sah mich unschlüssig an und blies die feuchten Strähnen aus dem Gesicht, das erhitzt, braun und sehr schön aussah. „Ich komme dann“, sagte sie leichthin. „Wo ist Ihr Tisch?“ „Sie kommen nicht dann‘, sagte ich, „Sie kommen sofort mit mir.“

Der Hamburger Zimmermann hatte sich inzwischen in Wut versetzt, er fasste mich an der Schulter und sagte: „Hör mal zu, du Nulpe, ich …“. Weiter kam er nicht, denn ich hatte in dem Institut des ehemaligen Gardehauptmanns von Beerfelde barbarische Lektionen im Boxen und nachher noch im Jiu-Jitsu genommen, und ich hatte es heraus, einen Mann umzukrempeln, wenn er nicht auch Lektionen im Bo­xen und Jiu-Jitsu genommen hatte. Ich faßte den erbosten Zimmermann am Oberarm. Das genügte. „Oh verflucht“, sagte er, „lassen Sie mich los!“ Ich nahm Frau Klabund eben­falls am Arm, mit einer zarteren Variation, und steuerte sie durch das Treiben bis zu meinem Tisch. Wir sprachen kein Wort unterwegs. Die beiden brachen sofort auf. Auch sie sprachen kein Wort zusammen. Sie sagten auch nicht adieu. (…) Carola ist, wie ich nach Jahren las, in Russland hinge­richtet worden. Warum, weiß ich nicht. Es wird ihr in der Ewigkeit angerechnet werden müssen, dass sie Klabund glücklich gemacht hat, solange es ihm und ihr beschieden gewesen ist. Es ist nicht leicht, auf die Dauer einen Dichter glücklich zu machen. In diesem Fall war es für beide nicht leicht. Denn beide wanderten auf einem schmalen Grat.“

Im Dezember 1926 finden sich Klabund/Neher in Wien wieder, Carola Nehers Gastspiel im Burgtheater muss vorbereitet werden.

Am 7. Dezember 1926 schreibt Fredi nach Passau:

„…Liebe Mutter, tausend Dank für Deinen Brief. Ach, ich bin gar nicht gesellschaftswütig, meine Frau auch nicht, da und dorthin geht sie wohl aus Gründen der Repräsentation‘, was ein Schauspieler in gewissen Grenzen ja nötig hat, aber im allgemeinen schminken wir uns das alles ab. Ein Schau­spieler, der ernsthaft arbeitet, und sie arbeitet fanatisch an ihren Rollen, hat ja dazu auch gar keine Zeit. Es ist eigent­lich ein schrecklicher Beruf, ein schrecklich schöner, Probe von 11-4, Essen, Schlafen, 7 Uhr im Theater, 8 Uhr spielen, halb 12 abgeschminkt, Essen, 1 Uhr Schlafen. Ich glaube, nur die Bergleute haben’s ähnlich angestrengt. Ich jedenfalls bin dagegen faul, oberfaul. Ich tue überhaupt nichts mehr. –

Nach Wien „übersiedeln“ wollen wir nicht. Meine Frau hat zwar einen Antrag, ganz ans Burgtheater zu gehen, aber sie traut diesem verkalkten Etablissement nicht ganz, und will nur als Gast ein paar Monate hin. Sie ist eine derart mo­derne, aggressive, irritierende Schauspielerin, dass ich mir in der Tat nicht ganz klar bin, wie das Wiener Publikum und die Wiener Kritik auf sie reagieren werden. Die schwärmen doch so für geistige Mehlspeis, Schmarrn und Gugelhupf. Seid beide umarmt von Eurem Fred. Thomas Mann: Unord­nung und frühes Leid – reizend.“

Am 22. April ist mit „Cäsar und Cleopatra“ von Bernard Shaw Carola Nehers Premiere an der Donau – Klabund schickt aus dem Parkhotel in Hietzing an Frau Heberle, die ihm die Erkrankung ihres Gatten mitgeteilt hatte diese Zeilen:

„…Liebe Mutter, ich freue mich, dass es dem lieben Va­ter scholl besser geht, hoffentlich hält diese Besserung an. Ich weiß nicht, welche Indikation für Vaters Leiden an der jugoslawischen Küste gegeben ist, aber ich höre so viel von dem paradiesischen Klima, der herrlichen Landschaft und der außerordentlichen Billigkeit etwa der Insel Rab oder von Dubrownik, Crikvenica etc. –

Meine Frau hat einen starken Erfolg hier gehabt, beim Publikum und in der Presse – Tagblatt, Journal, Morgen (Polgar), Allgemeine usw. – mit Ausnahme der „Stunde“, was allerdings einen ganz privaten Hintergrund hat. In Wien ist ja alles so schrecklich privat und persönlich und unsachlich. Liebstöckl gilt ja als absolut korrupter Bursche. Wenn auch nicht durch Geld, so doch erotisch-bestechlich. Wenigstens hat man mir das sofort erzählt. Ich selber war ja von vorneherein von der Eignung fürs Burgtheater nicht ganz überzeugt. Sie ist doch eine zu moderne Schauspielerin. Und in Cleopatra schaut es aus, wie wenn wirklich eine Katze mit einer Ratte (Caesar) und einer Anzahl Mäusen spielt. Sie spielt so herrlich aggressiv, so gar nicht gemütlich, den üblichen Wiener „Charme“ hat sie gar nicht. Ende August gastiert sie auch in München. Hoffentlich könnt Ihr sie dann mal sehen. – Herzlichen Gruß Euch beiden Euer Fred.“

Fredi sieht seine „Cleopatra“ als Erfolg, Alfred Polgar (geboren am 17. Oktober 1873 in Wien; gestorben am 24. April 1955 in Zürich; eigentlich Alfred Polak; Pseudonyme Archibald Douglas, L. A. Terne), ein österreichischer Schriftsteller, Aphoristiker, Kritiker und Übersetzer sieht den Auftritt ganz anders:

„… In einer verwahrlosten Aufführung von Shaws „Caesar und Cleopatra“, beschämend schon durch die Sprechunkultur, die sie offenbart – Caesar redet Kau­gummi, Ruffio bellt, laut und deutlich spricht nur der Souf­fleur, im ägyptischen Verein geht es zu, dass man’s verstehen würde, wenn der Nil sofort austräte – in dieser Aufführung des Burgtheaters also, für die im Wiederholungsfalle, dem Fremdenverkehr zuliebe, hoffentlich gelten wird: Fremden ist der Eintritt verboten, erschien als Cleopatra Frau Carola Neher aus Berlin, eigentlich aus München, ganz eigentlich aber aus Graz.

Jung, hübsch, sehr apart, schlank wie die be­liebte (in solchem Fall zum Vergleich unvergleichlich tau­gende) Gerte und biegsam wie diese, mit einem nervösen von lebhaft rundfunkenden Augen belichteten, von einer kleinen frechen Nase pointierten Katzengesicht. Carola Ne­her hat die Begabung, fraulichen Reiz als künstlerische Be­gabung geltend zu machen („enharmonische Verwechslung“, wie die Musiker sagen“). Der Cleopatra gibt sie vieles, was der Figur taugt: das Ungezähmte, das Kindlich-Heitere und – Gefährliche, Temperament als Rassezeichen, das Quell­kühle und Grausame eines naturnahen Geschöpfes. Auch das Herrische geht ihr leicht von Herz und Lippe. Das Spiel der Frau Neher rückt die kleine Königin gleichsam in ein ungedämpftes Licht, das Linien und Züge der Figur über­schärft. So bekommt diese manchmal etwas Hartes, Nüchternes (das man hier als „berlinerisch“ empfindet).

Darüber hilft die geschmeidige Anmut der Darstellerin, ihre Klugheit, ihr körperlicher Humor, sozusagen: der Mutterwitz ih­rer Bewegung allemal hinweg. Die Stimme splittert im Af­fekt, aber Carola Neher spricht sehr klar, kultiviert, unter­stützt die Rede durch ausdrucksvolle Mimik und freies Ge­bärdenspiel. Ob sie viel Herz hat, weiß ich nicht; in den Vordergrund drängt sich dieses Organ keinesfalls. Ihre Drolerien sind reizend, zuweilen nur scheinen sie wie be­wusste Zutat. Dass Carola Neher eine echteste Theaterbega­bung ist, dass ihr Spiel Geist hat und Grazie, war gerade an diesem, von beidem sonst völlig verlassenen Shaw-Abend nicht zu übersehen. Sie wird es beim Theater in Wien trotz­dem, oder besser ebendeshalb nicht leicht haben.“

Der Kritiker hat unrecht und Fredi als „neutraler Experte“ kann das natürlich besser beurteilen, die Cleopatra war ein Erfolg. Basta! Aber „dass sie „ganz eigentlich aus Graz“ komme, das muss geklärt werden – schon den Münchnern zuliebe. Guido von Kaulla kann das und er fügt gleich noch eine ganz andere Kritik ein, Fredi hat eben doch recht:

„… Diese Falschmeldung hat Carola Neher selbst in Umlauf gebracht. Man hatte ihr dazu geraten und zu verstehen gegeben – weil sie doch zum ersten Male in Wien gastiere -, nur dadurch (als in Österreich geborene Schauspielerin) bei der Presse Erfolg haben zu können.

In Graz war ehedem ein berühm­ter Schauspieler Neher, mit dem sie aber nicht verwandt ist. Im „Neuen Wiener Tagblatt“: „Auch das Burgtheater hatte sein Sensationsgastspiel. In Shaws historischer Komödie „Caesar und Cleopatra“ erschien eine neue Cleopatra. Ca­rola Neher: junge Dame mit Etonkopf, kluges, modernes Gesicht. Sie hatte erst ein paar Worte gesprochen und schon einen Eroberungszug begonnen. Es gibt Schauspielerinnen, denen (das Publikum sofort Kredit gibt, und solche, die schwer darum zu ringen haben. Carola Neher ist ein Glückskind, und ihr Talent darum nicht geringer, weil es so­fort verstanden wird. Das Ohr freut sich ihrer raspeligen Knabenstimme, die weithin trägt, das Auge ihrer gertigen Gestalt. Auch in Cleopatra lauert – wie in Turandot – ein animalisches Wesen: grausam, primitiv, verschlagen, gefähr­lich; aber reizend in der Nettigkeit ihres Blutdurstes, süß in der Entwicklung vom unbewussten 16 jährigen Balg zur be­wussten Königin Ägyptens. Wenn der kleine Unband Anspielungen dreht: wunderschön, frauenhaft leuchtet dann Carolas dunkles Auge, wenn sie von Marc Anton schwärmt, der viel jünger, auch stärker ist als Caesar, vielleicht ein berauschender Gatte. (…) Umso stärker das verhaltene Pathos der Dichtung, wenn Caesar zuletzt geistig so hoch wächst, dass die kleine Cleopatra, beugt sie den Nacken noch so tief zurück, den Gipfel nicht erblicken kann. Er ist wie die Memnonsäule, sein Ich durchdringt geheimnisvoll die Wüste der Welt …

Bei Herrn Heine entwickelt sich dieser Caesar allmählich. (…) Und die kleine Carola-Cleopatra als notwendiger Kon­trapunkt, der die Hauptstimme durch sein Dasein erst hör- und fühlbar macht! Das Beste aber, was Frau Neher dem Burgtheater mitbringt, ist ihre Jugend: Jugend ist schon an sich ein Talent, zumal wenn sie Kraft und Höhe bedeutet. Carola Neher steht durchaus auf dem Niveau des Burgtheaters. Sie hat auch die Nerven einer modernen Nervenschauspielerin und wird als köstliches kleines Reptil durch Strindbergszenen schlüpfen. Cleopatra war ein kleines Vorspiel. Das Kind mit der Krone auf dem Kopf machte den Ein­druck, den Shaw wünschte: sie sah nicht aus wie die Tochter eines Oxforder Professors, durchaus nicht, man glaubte an den Flötenbläser, der ihr Vater war, zumal wenn sie die al­ten und jungen Caesars im Parterre mit köstlichen leisen Flötentönen verwirrte …“

Bevor das Ehepaar in den Sommerurlaub verschwindet, macht Klabund Station in München (wieder bei seinen alten Wirtsleuten, den Thens, in der Herzog­straße). Von dort schreibt er an Unus:

„…Ich bin nach München gefahren, auf „Eheurlaub“. Ich will versu­chen, hier einen Film zu schreiben, der mir angeboten ist. -Ja, Aufregung gab‘s zuerst viel in Wien. Das alte Burgtheater hat gewackelt, als dieser moderne junge Mensch auf seine Bretter sprang. Zuerst war Wien verblüfft, endlich bezwungen. Sie spielte Cleopatra (für mein Gefühl besonders reiz­voll) und ein englisches Lustspiel „Weiberfeinde“ (das Stück Clischee, die Rolle dürftig).“

Brioni

Wikipedia schreibt:

„… Brijuni (italienisch Brioni) ist eine kleine Inselgruppe in der kroatischen Adria. Sie liegt vor der Küste der historischen Region Istrien nur wenige Kilometer vom Zentrum der Küstenstadt Pula entfernt, zu deren Stadtgebiet sie gehört.

Die Inselgruppe besteht aus 14 einzelnen Inseln und steht insgesamt unter Naturschutz. Die Gesamtfläche des Parks, der im Jahre 1983 gegründet wurde, beträgt inklusive der umgebenden Wasserflächen 33,9 km². Nur die größte Insel, Veliki Brijun, kann besucht werden, allerdings nur entweder als Besucher auf einer geführten Ausflugstour oder als Hotelgast. Das altösterreichische Fort auf Brioni Minore (Mali Brijun) war schon in den vergangenen Jahren im Sommer Kulisse für Theateraufführungen und konnte zu diesen Anlässen besichtigt werden. (…)

Die Inselgruppe Brijuni kann über Schiffsverbindungen von Fažana oder von Pula aus erreicht werden. Das Anlegen mit privaten Booten ist nur im Hafen der Hauptinsel gestattet. Außerdem ist Tauchen im Nationalpark nur von lizenzierten Tauchzentren aus erlaubt.

Am 30. Mai 1928 treten Carola Neher und Klabund von Gottfried Benns Wohnung aus die Reise nach Brioni an. Es ist für Carola Neher ein Urlaub von anderthalb Monaten vor Beginn der Probenar­beit für die „Polly“ in der Uraufführung der „Dreigroschenoper“ von Brecht und für beide der letzte gemeinsame Urlaub, schreiben die Chronisten. Leider schreiben sie aber nicht, auf welcher der zahlreichen Inseln. Zu vermuten ist es war die größte der Inseln – Veliki Brijun.

Eigentlich wollten sich die beiden in München trennen, Klabund sollte zurück nach Davos, Carola Neher aber alleine in den Süden reisen.

Matthias Wegner schreibt:

„… Klabund will daher nicht von seiner Frau weichen, er spürt, dass es die letzten gemeinsamen Wochen sind. Seine Gefühle sind die Motive seines Handelns, nicht die Vernunft – die hat über sein Handeln und den Umgang mit seiner Krankheit am wenigsten vermocht.

 „Plötzlich vor unserer Abreise aus Zü­rich, (Matthias Wegner) stehen seine Koffer mit dabei, und er sagte, er führe auch nach Brioni. Was konnte ich machen?“ berichtet Carola Neher an Frau Poeschel. Und Klabund liefert den Grund dafür nach, dass er seine Frau nicht alleine weiterrei­sen lassen wollte und konnte: „Wir haben die ganze Saison so wenig voneinander, dass ich mich nicht trennen mochte … Ich will momentan absolut nicht krank sein.“ Er kündigt seine Wiederkehr nach Davos für „nächsten Winter“ an und macht sich mit seiner Frau auf den Weg in den sonnigen Sü­den. Noch einmal, so hofft er, wird er mit ihr die schönen Sommermonate des Vorjahres aufleben lassen, in der Sonne liegen, Carolas Nähe genießen — und schreiben. Doch es ist eine Illusion. Mit Klabunds Konstitution ist es in diesem einen Jahr so sehr bergab gegangen, dass an einen behaglichen Erholungsurlaub nicht zu denken ist. Zwar weicht das Fie­ber, zwar übt auf ihn „Brioni auch wieder den gleichen Zau­ber aus wie im vorigen Jahr“, aber an Baden ist so wenig zu denken wie an das vergnügliche Herumspazieren. Die meiste Zeit verbringt er, wie in Davos, auf dem Balkon seines Hotels im Liegestuhl. Carola Neher ist verzweifelt: „Ich finde doch, dass es ihm schon längere Zeit nicht besonders geht. Ich will auch unbedingt, dass er die ganze nächste Saison wegbleibt von Berlin, er geht nachts raus, rennt den ganzen Tag herum, telefoniert den ganzen Tag.“ Sie selbst treibt in Brioni gera­dezu fanatisch Sport, angeblich nur, «um schlank zu sein. Ich habe nämlich 10 Pfund zugenommen und bin eine „ ausgespro­chen dicke Nudel“ geworden.“

Matthias Wegner: „Hier fühlte sich das Paar für einige Wochen, wie aus einer Postkarte Carola Nehers an die Mutter von „Irene“ hervorgeht, „im Para­dies“. Klabund arbeitet am Drehbuch zum Film „Rasputin“, einer gut dotierte Auftragsarbeit der Firma Metro-Goldwyn-Meyer, es wir nie verwendet, erscheint aber als “Roman eines Dämons“.

Ende Juni be­richtet er Otto Zarek, dass er nun endlich ein bisschen Sonne habe, dass die Arbeit am „Borgia“ abgeschlossen sei und das Berliner Staatstheater sein neues Stück („Die Liebe auf dem Lande“) geben werde. Der Brief schließt: „Ich spiele auch mit dem Gedanken, ein ganzes Jahr nicht nach Berlin zurückzu­kommen. Na, wir werden sehen“ …

Guido von Kaulla beschreibt diesen Urlaub so:

„… Dann Brioni: Es bedeutet für Klabund das gleiche pau­senlose Arbeiten wie immer, aber eben unter günstigen kli­matischen Bedingungen. Carola folgt ihm, als in Wien die Stücke abgespielt sind. Auf die Rückseite einer Postkarte mit ihrem Foto schreibt sie an Frau Heberle (deren Gatte am 18.6.1927 in Karlsbad verstarb): „Verehrte gnädige Frau, ich freue mich, dass ich Ihnen eine Freude machte mit den Blumen. Ich war nicht in Passau, sonst hätte ich Sie, gnädige Frau, besucht. Wie geht es Ihnen? Fred und ich sind in Brioni – das ist ein Paradies. Gehen Sie doch auch hierher – man wird hier so ruhig und zufrieden – es ist wunderschön! Viele liebe Grüße und Wünsche Ihrer Carola Neher-Klabund.“

Leider fehlen uns nähere Beschreibungen über den Verlauf dieses Aufenthaltes, aber ein wenig später geschrie­benes, trauriges Gedicht, das Klabund seiner Carola in den Mund gelegt hat, lässt ahnen, was der Urlaub den beiden be­deutet haben muss:

Alle Frauen
Die dich früher liebten,
Hatten so viel Zeit für dich.
Ich hab gar keine Zeit –
Nicht für dich
Kaum für mich.
Ich habe nie Zeit
Zu einem flüchtigen Kuß
Und einer verwehenden oder bösen Zärtlichkeit.
Je nachdem rich gelaunt bin.
Ich habe den ganzen Tag Probe.
Abends spiele ich Theater.
Dazwischen Masseure, Friseure, Photographen –
Wann soll ich dich lieben?
Nachts nach der Vorstellung bin ich todmüde.
Verzeih mir, daß ich dich nicht lieben kann.
Vielleicht im Sommer
In Interlaken oder Brioni
Aber bis dahin wirst du nicht warten wollen.
Schade.

An das Ehepaar Poeschel geht ein Brief, er habe keine Temperatur mehr und es gehe ihm wieder gut: „… Ich fühle mich eigentlich relativ recht wohl jetzt. Vor allem ist es warm und immer Sonne. Der Berliner Winter dauerte noch bis Anfang Juni, als wir wegfuhren, immer eiskalt. Ich bin so froh, ein bisschen Sommer zu haben. Ich denke, es wird mir weiter gut gehen. Ich bin sehr vor­sichtig, bade nicht, gehe kaum spazieren, habe einen schönen Balkon mit gutem Liegestuhl. Ich glaube, dass meine Berliner Wohnung (par­terre, im Norden, sehr kalt) mir nicht bekommen ist… Brioni übt wieder den gleichen Zauber aus wie voriges Jahr“.

Die Tage in Brioni, die ein Ausruhen vom Berliner Pflaster bewirken sollten, entwickeln sich zur Tragödie. Im Juli fie­bert Klabund schon wieder, er muss jetzt wirklich sofort zu­rück nach Davos, wo der Patient, krank auf den Tod, Mitte des Monats erschöpft eintrifft. Der Arzt diagnostiziert wie­der einmal eine Lungenentzündung.

Am 21. Juli schreibt Klabund – wieder in Davos – aus seinem gewohnten Eckzimmer im Haus Stol­zenfels nach Crossen:

„… Liebste Mutti, vielleicht können wir uns Ende August in Oberbayern treffen. Eher kann ich hier nicht fort. – Carla ist in Berlin. Ihre Proben beginnen im August.“

Am 23. Juli an Frau Heberle:

„… Ja, bitte schick‘ mir die Zeitungsausschnitte vom Gefängnis-Tagebuch. – Ich bin nach Davos gegangen, weil die Hitzewelle, die über Europa gekommen war, ja in Italien besonders stark sich auswirkte. Hier oben ist es natürlich kühl dagegen. Ich will etwa vier Wochen bleiben. Dann will ich noch ein paar Wochen nach München und hoffe bestimmt, Dich um diese Zeit in Dach­au zu finden. Das russische Lustspiel, das ich Euch“ (Guido von Kaulla: das ist Frau Heberle und ihr adoptierter Neffe – der Opernsänger Ernst Bernhardin-Ade, der später ein treuer Bewahrer von Klabunds Dachauer Nachlass wird) „- immer ein wenig vorlas, ist vom Berliner Staatstheater angenommen.“ Das russi­sche Lustspiel ist „Die Liebe auf dem Lande“ und ein Stück mit nur einer Frauenrolle … der Kommissarin, die alle Männer am Narrenseil führt.

Am 27. Juli an Frau Heberle:

„… Liebste Mutter, (…) Ich liege im Bett, ich bekam plötzlich wieder Fieber, über 38°, wie leider so oft die letzte Zeit. (…) Ja, das Amperbad muss herrlich sein, die schönsten Freuden des Lebens sind die ein­fachsten. Wir waren ungefähr zwei Monate in Brioni. (…) Meine Frau ist schon wieder in Berlin. Die Proben zur neuen Saison beginnen im August. (…) Umarmung Deines Fred.“

Guido von Kaulla:

„… Auf der Rückfahrt amüsiert sich Carola bei einer Episode am Bärenzwinger in Bern: sie und Klabund waren gespannt, was für ein Gesicht wohl so ein „Berner Mutz“ mache, wenn er zufällig an den Abzug eines im Zwinger liegenden Spielzeuggewehres gerate und dann der Korken herausflöge …! In Zürich trennen sich die Wege der beiden. Sie muss nach Wien zur „Burg“, vielmehr zu deren Nebenbühne: dem „Akademie-Theater“.

Urlaub vorbei und an Fritz Heyder schreibt er am 16. August 1927 – wieder in München:

„Lieber Herr Heyder, herzlichen Dank für Ihre freundli­chen Briefe. Ich freute mich, wieder einmal von Ihnen und den Ihren zu hören. Ich war zwei Monate auf der Insel Brioni im adriatischen Meer. Es war einer der schönsten Sommeraufenthalte, die ich gehabt habe. 2 Monate Sonne, Meer, Wald, Ruhe. Der einzige Nachteil war, dass es dieses Jahr für Deutsche wegen des hohen Standes der Lira sehr teuer war. – Gearbeitet habe ich allerlei. Ich habe ein Lustspiel für meine Frau geschrieben, „,XYZ“ betitelt. Zum ersten Mal auch ein Filmdrama „Der Mann Gottes“, das von einer amerikanischen Filmfirma, der Metrogoldwyn, akzeptiert wurde. Für den Winter steht ein zweites Drama in Aussicht. Alles Gute Ihnen und den Ihren Ihr Klabund. Grüßen Sie Lieberrnann herzlichst.“

XYZ“ – Spiel zu Dreien in drei Aufzügen erschienen bei Reclam in Leipzig

Kurt Wafner: „Klabunds Schreibeifer peitschte ihn selbst im Krankenbett zu lite­rarischen Ausbrüchen. Er liegt dann – so beschreibt es Guido von Kaulla – „und hält wie gewohnt einen Abriss-Schreibblock mit der linken Hand über sein Gesicht. Die rechte Hand mit dem Bleistift streckt er vor sich hin. Er schreibt in seiner flüchtigen zarten Schrift Zeile für Zeile. Nur bei längerem Nachdenken lässt er die Hände auf die Brust sinken. … Ist eine Seite vollgeschrieben, so reißt Klabund das Blatt ab und lässt es zu Boden sinken. Wenn er dann aufsteht und das Zimmer verlässt, schenkt er dem Geschriebenen keine Beachtung …“ Aber Frau Heberle sammelt die Seiten liebevoll auf. Manchmal gefiel ihm ein Wort nicht und er suchte angestrengt nach einem besseren.“

Und so etwa entstanden Klabunds letzte Werke, der Lyrikband „Die Harfenjule“, der Roman „Borgia“ und das Schauspiel „XYZ“. „Zu erwähnen sind allerdings auch einige unvollendete Arbeiten, Manuskripte, die meist verschollen sind.“ (Wafner)

„XYZ“ – Am 24. September 1927 in Wien erstaufgeführt zählt nicht zu den „größeren Würfen“, aber Klabund kann darauf verweisen, dass es in der Reclam-Bücherei erschienen ist. In der Zeitschrift „Die Bühne“ vom 14. 9. 1927 steht seine Glosse:

„… „Wer beim Theater A sagt, der muss auch B sagen und schließlich XYZ sagen. Wer einmal eine kleine, scheinbar zu nichts verpflichtende Liaison mit dem Theater beginnt, – der steht bald, ehe er sich’s ver­sieht, lichterloh in Flammen. Er vernarrt sich in den ganzen Komplex „Bühne“: Er schlürft die staubgeschwängerte Luft des halberleuchteten Probenraumes mit einer Wollust ein, als wäre es der Ozon des Engadins. Er verliebt sich in Stücke, Regisseure, Schauspieler – und Schau­spielerinnen. Und kann es nicht lassen, dieser verehrten und geliebten Frau Stücke auf den Leib, auf die Seele zu schreiben; nur damit er Gelegenheit hat, sie seine Worte sprechen zu hören, sie lächeln und weinen zu sehen aus seinem Herzen …“

Guido von Kaulla fügt hinzu:

„… Sie, die anmutigsten, aber widerspenstigsten Geschöpfe der Natur, gehorchen plötz­herrlich diszipliniert, seinen herrischen Wünschen und Befehlen. Er schrieb „Kreidekreis“, „Brennende Erde“, „Der junge Aar“ dem Schauspieler und damit sich zuliebe. Er schrieb „XYZ“ für drei Schauspieler und eine Schauspielerin: Carola Neher, deren Gestalt über die Bühne nur gehen zu sehen für ihn Freude und Glück bedeutet.“

In der Premiere am 24. 9. 1927 spielen Carola Neher, Raoul Aslan, Otto Tressler und Josef Moser. Eugenie Schwarzwald berichtet von dieser:

„… Des Dichters sonst blasses Knabengesicht ist in heiße Glut ge­taucht. Die Hände, mit denen er die meinen umklammert, sind Eisklumpen. Er ist trotz aller Selbstbeherrschung in ei­ner verzweifelten Aufregung. Kaum wagt man zu sagen: „Aber Sie haben doch schon so viel Erfolg gehabt.“ – „Aber nicht in Wien“, flüstert er, „denken Sie doch, Wien, das ist doch wichtig.“ Man sieht, ihm ist nicht zu helfen. Aber dann kommt sie auf die Bühne, sie, der jeder Gedanke, jeder Atemzug gilt. Jetzt weiß er nicht mehr, dass das Stück von ihm und dass Wien wichtig ist. Jeder seiner Sätze, die sie spricht, ist von ihm gedichtet. Jede Betonung, jede Bewe­gung geht ihm durch und durch. Der Vorhang fällt. Man klatscht freundlich und erheitert. „Sind die Leute zufrie­den?“ fragt er bang wie ein Schulkind. „Ja“, sage ich froh er­leichtert: „Sie haben einen großen Erfolg.“ – „Ich, nein, nicht ich, Carola!“ sagt er. Und dabei sieht er aus wie eine treue Mutter, die ihr Kind wiegt: Du sollst schlafen, du sollst schlafen, du sollst schlafen, liebes Kind.“

Das eilig „hervorkarnickelte“ (Gottfried Benn) Stück löst bei den Kritikern keine Begeisterungsstürme aus.

Fredi ficht das nicht an, er meint, „er könne es nicht lassen, der geliebten Frau Stücke auf den Leib, auf die Seele zu schreiben, nur um sie seine Worte spre­chen zu hören.“

Der Begriff „hervorkarnickeln“ stammt von Klabunds Arzt und älterem Freund, dem Dichter Gottfried Benn, der schreibt am 4.9.1926 an die Freundin Gertrud Zenzes: „Ich wollte, ich wäre so fingerfertig wie Klabund, der ja heute Abend schon wieder einen ,Cromwell‘ im Lessingthea­ter hervorkarnickelt.“

Der Kritiker Alfred Polgar:

„… Ein Spiel en trois. Personen: Frl. Y, Herr X, Graf 2. („Der eine hieß Gribl-Grabl, der andere aber hatte keinen Namen, und das war das Feine an ihm!“ H. C. Andersen.) Fräulein Y, die tun kann, was sie will – sie ist nämlich von Beruf Komtesse und hat keine anderen Sorgen als erotische -, heiratet erst den Proleten, der ihr vortäuscht, Graf, dann den Grafen, der ihr vortäuscht, Diener zu sein. Schließlich, da der Graf ihr zu dumm ist, wieder den Proleten. Der Wechsel, hin und zurück, vollzieht sich leicht, im Wortumdrehen. Die Ereignisse treten ein wie Marquis Posa künftig zu König Philipp: unangemeldet. Die Situationen machen sich nicht breit, sondern schmal, und holde Abkür­zung waltet. Das Spiel verlächelt die Schwerfälligkeiten des Lebens, zumal in Liebes- und Heiratssachen; es ist voll Iro­nie gegen die Wichtigtuereien der Kausalität. Wenn Kla­bund sagt, Frl. Y „heiratet“, so hat das Wort kein bürgerli­ches Gewicht. „Nimmt“ wäre richtiger. Es geht in diesem unbeschwerten Spiel gar nicht um Heirat und Liebe oder derlei, obgleich an diese Vokabeln im Zwiegespräch oft gerührt wird. Es geht lediglich um Partnerschaften. Um eine zweite Stimme im Duo, um einen Kameraden fürs Vierhän­dige. Frl. Y braucht mehrere. Heute den, morgen jenen, übermorgen beide. Liebt sie den X, den Z? Sie liebt, glaube ich, das Alphabet. Viele Spiele sind in ihr, wollen den rech­ten Gegenspieler. Und einer kann nicht alles.

Klabund gibt einen Beitrag zur Biologie der neuen Frau. Sie lebt in einer dünneren Luft als ihre Mütter, viele Meter überm Sentimentalen. Sie macht kein Wesens aus dem Zeit­vertreib, den pathetischere Jahrhunderte Liebe nannten (und mein alter Freund Gustav Schönaich: Nervenscherze). Machen wir Männer auch keines! ruft der Dichter. Er ist milde, spöttisch, überlegen. Er toleriert, was er nicht än­dern kann. Der Schwächere gibt nach. Sein kleines Spiel hat Witz und Witze. Schaum aus des Theaters vollem Glase, der dramatische Nährwert also gering. Zum Be­schluss seiner Komödie zieht Klabund einen verbindenden Schnörkel um sie und das Leben. Ein Blumensteg aus Wor­ten, gewissermaßen, hebt die Trennung zwischen Bühne und Parkett auf. Oben gehupft, wie unten gesprungen. Wenn ich nicht irre, ist das schon einmal oder tausendmal dagewesen. Herr Aslan bewährt sich, im Wiener Akademietheater, als Lustspieler in Moll; sein Humor ist weich ge­füttert. Herr Tressler nimmt die Sache gradaus so ulkig, wie sie gemeint ist.

Carola Neher, Ursache und Wirkung des Abends, bezau­bert durch ihr Temperament, ihre Grazie in allen Lagen und Lebenslagen. Das Voraussetzungslose, Unbedingte der Figur trifft sie mühelos. Es scheint, sie hat es. Miene, Ge­bärde, Tonfall spiegeln die Freiheit, in der solche Jugend erwuchs. Vielleicht ist Fräulein Y großer Gefühle, Gefühle von ewiger Dauer nicht fähig. Aber wie lang dauert denn schon die Ewigkeit? Ein paar Jahre, wenn’s hoch geht. Frau Neher tanzen zu sehen, ist ein Vergnügen. Auf wei­chem Lager, zwischen Kissen von überzeugend symboli­scher Form, turnt sie behende und possierlich. (Der Dialog ist Springschnur: anmutig-flink über ihn weg und unter ihm durch.) Mit der Liebe spielt sie furchtlos wie das Kind mit dem bösen Hund; siehe, er tut ihm nichts! Sie ist leich­ter als das Leben: es trägt sie.“

Klabund hat so seine Vorahnungen:

„… Samstag findet in München die Premiere zu „XYZ“ statt, das Stück, in dem meine Frau am Wiener Burgtheater die Hauptrolle gespielt. Die Münchener Besetzung ragt nicht entfernt an die Wiener heran (ich habe auch das Gefühl, die eine Hauptrolle sei mit Rühmann falsch besetzt: denn das Stück muss komisch wir­ken durch die Dialoge, Charaktere, Situationen. Aber es darf nicht auf komisch gespielt werden. Dann wird es zur Posse. Das fürchte ich fast von Rühmann, der sonst ein trefflicher Schauspieler ist, aber eben ein Komiker.)“

Seine Meinung über Rühmann teile ich, aber ich halte Rühmann eben für noch schlechter, als Fredi annimmt. Der schreibt am 14. Januar 1928 nach Passau:

„… Liebe Mutter, Tausend Dank für Deinen Brief. Er bestätigt mir, dass (trotz allem) das Stück mit Rühmann der Hauptrolle falsch besetzt ist. Es ist eine leichte com-dia dell’arte. XYZ: das sind ja Arlecchino, Colombine, ntalone: nur in unsere Zeit transponiert. Alle drei müssen liebenswürdig bleiben, immer und in jeder Situation: ich glaube, das Stück hat durch Rühmann eine Schärfe bekommen, die es nicht hat. Tausend Grüße, ich sende es Dir, wenn es gedruckt ist.“

An Unus nach Berlin geht am 9 Januar 1928 ein Brief:

„… Ich bin in Davos-Dorf, Stolzenfels, und bleibe vorläu­fig hier. Herrliche Sonne, man kann stundenlang von 11-4 ohne Decken im Freien liegen – meine Frau wohnt jetzt Kö­nigsweg 25b/Wichmann, also ein paar Häuser von Ihnen. Sie hat auch Telefon (weiß ich leider nicht). Schreiben Sie ihr mal eine Zeile, sie wird sich freuen. – Ich fand sie in „Coeurbube“ besonders gut, weil besonders einfach. Soviel ich höre, spielt sie Ende April im Staatlichen Schauspielhaus in: „Die Katalaunische Schlacht“. (Ein Stück, wie prädisponiert zu einem Theaterskandal!) Mein Lustspiel XYZ scheint in München durchgefallen zu sein. Ob infolge der (unglückli­chen) Besetzung oder überhaupt?: ich weiß es nicht. Sehr peinlich für mich hinsichtlich der Berliner Aspekte.“

Die letzten Werke

Klabund schreibt Vor- und Nachwort zum „Romanfilm“ „Rasputin„, ge­dacht für den amerikanischen Charakterdarsteller Lon Chaney.

Ebenfalls in diese „letzte Periode“ fällt „Das Kirschblütenfest (nach Izumo) geschrieben 1925 – Uraufführung 1927 Spiel nach dem japanischen. Klabund hat die Knaben-Hauptrolle in die Rolle eines Mädchens abgewandelt. Eine Besetzungsanmerkung: „Kotaro ist von einer zarten, aber glühenden jungen Schauspielerin zu spielen“ – und somit ist ein neues Rollenangebot für Carla geschaffen (das aber nicht auf den Bühnen, an denen sie arbeitet, verwirklicht werden wird).

Und zur Bühnenaufführung kommt auch seine Bearbeitung des Stückes „Der Hofmeister“ von Jakob Michael Reinhold Lenz (1751-1792), die dessen Bear­beitung durch Bert Brecht vorangeht.

Ist Klabund in Berlin – und dort wohnt er jetzt im „Hotel am Zoo“ zieht er wieder unruhig und lebenshungrig mit Li­teratenfreunden durch die Berliner Cafes und er arbeitet jetzt auch für den Berliner Rundfunk, für den er Hörspielfassungen von Grabbes „Herzog Theodor von Gothland“ und „Der junge Aar“ von Edmond Rostand einrichtet. Letztere kommt auch in die Theater.

Matthias Wegner zu dieser Periode:

„… Sein Arbeitstempo ist atemberaubend. Seit seinen beiden „Literaturgeschichten in einer Stunde“ („Deutsche Literatur“ und „Weltliteratur“) versteht er sich auf eilige, oft erfrischend unbekümmerte Ritte durch den abendländischen und asiatischen Bildungs­vorrat.

Aufträge nimmt er an, wo immer sie sich bieten. Sein unbekümmerter Umgang mit großen Namen und Tradi­tionen bewahrt ihn vor jeder falschen Feierlichkeit. Seine Sprache bleibt immer unverkennbar spontan, ob schwär­merisch oder ironisch, frech oder trauernd. «Wo der ismus aufhört, da fängt der Dichter erst an, denn letzten Grun­des macht die Einzelseele, nicht die Massenpsyche oder -psychose erst den Dichter zum Dichter.“ — „Ein guter naturalistischer Roman ist mir lieber als ein schlechter expres­sionistischer und umgekehrt.“

„Heinrich Laube … schlug die dramatische Pauke, dass einem Hören und Sehen ver­ging“ — solche Sätze mussten die ehrwürdige Tradition deut­scher Literatur-Geschichtsschreibung provozieren. Aber für ein „Fachpublikum“ hat Klabund nie schreiben wollen.“

Resignation gestattet er sich trotzdem nicht, Einer Zeitung gegenüber meint er:

„… Die Gestalten meiner historischen Ro­mane … sind Projektionen meiner selbst. Ich liebe in meiner Dichtung die starken Charaktere. Ich selbst, in kleinen Din­gen sehr konziliant, lasse mich von nichts abbringen, was ich als richtig erkannt habe. Ich habe mich auch durch Not von meinen Plänen nicht ablenken lassen, ich habe immer inten­siv gearbeitet, zu allen Zeiten des Jahres und des Tages, ob ich gesund war oder krank … ich war immer sicher meiner selbst. Noch ehe ich begann, wusste ich meinen Weg.“

„Ehrli­che Worte — was daran eher selbstauferlegte Entschlossen­heit als Gewissheit ist, das hat Klabund seit der Erkenntnis seiner tödlichen Gefährdung stets mit sich alleine abgemacht“, so Matthias Wegner.

Klabunds letztes Werk ist der Roman der verbrecherischen Renaissance-Familie „Borgia“.

Kurt Wafner:

„… Das Buch, das noch zu seinen Lebzeiten erschien, wurde in viele Sprachen übersetzt. Der Stoff hatte den Dichter bereits seit langem beschäftigt, aber seine Krankheitsanfälle und Kuraufenthalte die Edition immer wieder ver­hindert.“

Nach einer Neuausgabe seiner Romane schrieb die Presse am 3. November 1998:

„… Mit List und stilistischer Tücke hat Klabund einen Weg zwischen zwei Erfolgsgenres der zwanziger Jahre gefun­den, den weit ausladenden Roman auf der einen und die Biographie auf der anderen Seite. Die Kürze seines Romans und sein federnder Stil bedingen einander. Auf jede historiographische Anstrengung ist de­monstrativ von vornherein verzichtet … Der Papst sitzt in einem Spiegelkabinett der Bosheit und der Lust, von dem aus keine Türen in die Realgeschichte führen.“

„Mitte Juli 1928 plagte ihn hohes Fieber. Wo anders würde er Linderung finden als in Davos? Also trat er seine letzte Reise an – zum Haus Stol­zenfels, zur Familie Poeschel. Der Arzt stellte eine schwere Lungen­entzündung, aber auch eine Hirnhautentzündung fest.“ (Wafner)

Nachts

Von Da Ich bin erwacht in weißer Nacht,
Der weiße Mond, der weiße Schnee,
Und habe sacht an dich gedacht,
Du Höllenkind, du Himmelsfee.

In welchem Traum, in welchem Raum,
Schwebst du wohl jetzt, du Herzliche,
Und führst im Zaum am Erdensaum
Die Seele, ach, die schmerzliche –?

Die Jour­nalistin Martha Maria Gehrke (damals Ehefrau von Harry Kahn, Journalist und Freund Klabunds aus dessen Studentenzeit berichtet über ein Treffen:

„… Er ist völlig von dieser Frau be­sessen und scheint überhaupt nichts anderes mehr zu sehen, zu hören und zu denken. Er liest auch zusammen mit Ca­rola „im Radio“, und als er das Funkhaus verlässt, bezaubert er wieder durch die höfliche Art, mit der er trotz rascher Gangart doch jeden Anwesenden im Vorbeigehen zu grüßen versteht. Seine Natürlichkeit, Liebenswürdigkeit, sein Hu­mor und sein völliger Mangel an Selbstgefälligkeit machen seine Gesellschaft zu der denkbar angenehmsten. Harry Kahn sagte einmal zu ihm: ,Wann wirst du endlich dreißig werden und anfangen wie zwanzig auszusehen!‘ Damit cha­rakterisierte er sein Äußeres, aber auch seine Art des ewi­gen Gymnasiasten‘: das Sekundanergesicht mit den immer wieder tieferstaunten Augen. Der Schwung und das Feuer kommen aber durch, wenn er seine Gedichte spricht, sei es auf der Kabarettbühne, sei es bei einer Vorlesung, im Vor­tragssaal oder im Hörfunk.“

Als sie meine Stimme im Radio hörte –

Du hörtest meine Stimme wie von fern.
Sprach ich von einem andern Stern?
Du griffst mit deinen Händen in das Leere,
Ob dort ein Leib nicht und ein Lächeln wäre.
Kein Leib. Nur Stimme. Lippe nicht. Nur Wort.
Und leise legtest – du den Hörer fort.

Am 9. März 1928 klagt Klabund in einem Brief an Irene Heberle:

„…Ja, es ging mir die letzten acht Tage nicht gut. Ich fühlte mich schrecklich deprimiert; ich bin allen möglichen praktischen Anforderungen des Lebens manchmal gar nicht gewachsen, trotzdem es so aussieht.“

Ihm folgt ein mehrwöchiger Besuch in Dachau, dann fährt er nach Berlin und Crossen und. an Unus schreibt er:

„… Lieber Unus, ich hatte Ihnen eine Karte zur hundertsten Auffüh­rung von „Coeurbube“ schicken wollen! – Meine Frau spielt demnächst im Deutschen Theater Pygmalion von Shaw. Wollen Sie hineingehen? Premiere ist am 14. IV. – Sie kann vorläufig keine Zeit erübrigen, da sie am Tage probt und abends spielt, aber wir werden uns doch mal sehen. Ich rufe Sie bald an. Meine Adresse: Schillerstr. 2/part. Telefon (ab 1 Uhr): Steinplatz 6177. Herzlichen Gruß, auch von meiner Frau, auch an Herrn Krüger Ihr Klabund.“

Die letzten Tage von Klabund beschreibt Guido von Kaulla:

„… Als keine spürbare Besserung in seinem Zustand eintritt, befragt Klabund den Besitzer von „Haus Stolzenfels“, Dr. Poeschel, ganz allgemein nach den Symptomen einer Meningitis: er brauche diese Auskünfte für eine ihn beschäftigende Arbeit. Erst nachträglich wird sich Poeschel darüber klar, dass sein Gast bei sich selbst Hirnhautentzündung ver­mutet und mit dem herannahenden Ende rechnet.

Das be­stätigen auch Briefe dieser Tage.

„Liebste Eltern, herzlich­sten Gruß aus Davos! Ist es Euch nicht möglich, sagen wir innerhalb acht bis zehn Tagen nach Davos zu kommen? Ihr sitzt von Berlin bis Landquart (1 Stunde nach Davos) im sel­ben Wagen (Schlafwagen). Ich lade Euch herzlichst ein. Euer Fredi.“

Carola Neher studiert in Berlin die Rolle der Polly für die Uraufführung von Brechts „Dreigroschenoper“ ein und Klabunds Zustand verschlechtert sich so sehr, dass sie zum Ärger von Brecht die Proben unterbricht und nach Davos fährt. …“ich bekam plötzlich wieder Fieber, über 380, wie leider so oft die letzte Zeit. Ich liege so ungern im Bett, d. h. gezwungen, freiwillig sehr gern“«, schreibt er in seinem letzten Brief an Frau Heberle.

Ich würde sterben, hätt ich nicht das Wort,

Das meine flüchtigen Gedanken hält,
Das sie bewahrt für die und jene Welt;
Es schützt mich, daß mein Lebensbaum verdorrt,
Es reißt den Schreitenden zum Schweben fort.
Ich würde sterben, hätt ich nicht das Wort.