Zum 80. Geburtstag Klabunds

Autobiographie des 18jährigen Dichters

Guido von Kaulla berichtet über ein der Öffentlichkeit unbekanntes Manuskript

Crossener Heimatgrüße Oktober 1970/5

Am 4. November 1970 jährt sich zum 80. Mal der Tag, an dem Alfred Hensch­ke, der Dichter Klabund. in Crossen ge­boren wurde. Anlässlich dieses Datum hat Herr Guido von Kaulla freundlicher­weise für die „Heimatgrüße“ den nachfolgenden Artikel geschrieben. Der Ver­fasser stammt aus einer Familie von Offizieren und Gutsbesitzern und ge­hört dem Jahrgang 1909 an. Er fand schon als Gymnasiast den Weg zu Kla­bund. Folgerichtig widmete er sich als Student einer Doktorarbeit über die Ly­rik „seines“ Dichters. Ais er unmittelbar nach Klabunds Tod mit dem Auf­bau seines inzwischen sehr umfangrei­chen Klabund-Archivs begann, unter­stützten Ihn sofort nicht nur Klabunds Eltern und Bruder, sondern auch Frau Heberle (die erste Schwiegermutter) und Carola Neher (die Witwe des Dichters). Guido von Kaulla ging 1932 zum Thea­ter (Schauspieler, Spielleiter, Drama­turg). Er war u. a. in Leipzig, Erfurt. Berlin, Stettin und Rostock engagiert, bevor er 1941 eingezogen wurde. 1946 kam er aus russischer Kriegsgefangen­schaft zurück und lebt seitdem als Schauspieler in Konstanz. Er arbeitet zur Zeit an einem Buch-Manuskript über Klabund.

„Die Fahrt ins Leben (Roman) –Begonnen am 29. XI. 1908 Beendigt am 7. XII. 1908″ steht über der – bisher unveröffentlichten Handschrift, in der Georg Hermann Alfred Henschke seine Kindheit und Schulzeit erzählt. Dieser Kurz-Roman war als I. Teil einer Selbstbiographie gedacht und umfasst in der Abschrift 28 Schreibmaschinen­seiten. Bis zur Seite 20 spielt die Hand­lung in Crossen, danach in Frankfurt/ Oder. Als „Held“ nennt der Verfasser sich „Georg Rasenack“.

Das kleine Werk in seiner auch Einzelheiten charakterisierenden Zeich­nung der Verhältnisse des Hauses und der heimatlichen Umwelt beginnt mit der Sicht auf die verschneite Stadt. Ehe der Verfasser aber auf diesen Win­termorgen – und da auf die Schilde­rung seiner eigenen Geburt näher eingeht, lässt er uns einen Blick zu­rück tun in die Geschichte der hier „Kleinberg“ genannten Stadt Crossen, vom 30jährigen Krieg bis zum großen Wirbelsturm von 1886. Erst dann be­ginnt das Gespräch zwischen der jun­gen Frau, die ihre Wehen herannahen fühlt, und dem verschlafenen Apotheker-Gatten, der zum Sanitätsrat laufen wird, während das Dienstmädchen schnell die Hebamme holt.

Es folgen viele ausführlich beschriebene Statio­nen des jungen Lebens, u. a. ein Ge­burtstag des Vaters mit dem Ständ­chen der Feuerwehr und dem einer Kapelle aus dem Bekanntenkreis, der gereimten Rede des befreundeten Pa­stors, der Kochfrau, die schon am Nachmittag erscheint, dem Müdewer­den, dem Gebet vor dem Einschlafen und den vielen Träumen. Erzählt wird von den Kinderkrankheiten ebenso wie von den Knabenfreundschaften, so von der Freundschaft mit dem Sohn des nachbarlichen Drogisten. Diese beiden – Vater und Sohn — tauchen später noch in den Schriften Klabunds auf.

Die erste Verliebtheit fehlt nicht. Der Elfjährige Findet anlässlich eines Besuches bei den Eltern des Vaters in Frankfurt/Oder Gefallen an der kleinen Spielgefährtin. Auch die erste bewusste Lüge (in Marburg, wo man den Vater der Mutter besucht) wird nicht ausge­lassen. Es erschüttert ihn die erste Berührung mit dem Tode, als das Brü­derchen Werner stirbt. Er ist hingerissen vom ersten Theaterbesuch bei einer Wanderbühnen-Vorstellung, die im Schützenhaus stattfindet. Das erste eigene „Theaterstück“ entsteht. Die Erkrankung wird geschildert, zu Be­ginn eines Ferienaufenthaltes in Schrei­berhau,‘ die dem Heranwachsenden zum Schicksal werden soll.

Nicht zuletzt aber gelten viele Sei­ten seiner scheu angebetenen ersten Flamme“. Man liest da, dass (1904) die Eltern in die Schweiz fahren, weil der Vater sich in Graubünden von einer schweren Krankheit erholen muss Eine Tante führt den Haushalt. Wäh­rend dieser Zeit verliebt sich Georg. Bisher hat er sich abgestoßen gefühlt von dem Treiben der Klassenkame­raden mit den Mädchen. Er selbst wagt es kaum, ihnen in die Augen zu sehen. Jetzt also betet er seine heimlich Ge­liebte von weitem an. Sein ganzes bis­heriges Leben ist er ihr Nachbar gewesen, ohne ihre Anmut und Schönheit zu bemerken. Es ergreift ihn ganz plötzlich, als sie sich begegnen und ihre Augenpaare – ihre dunklen und seine blauen – sich zufällig treffen. Beherrscht von seiner Sehnsucht wird er krank, wenn er sie einen Tag nicht gesehen hat. Seine Liebe ist fast wunschlos: Er will sie nur sehen. Mit ihr zu sprechen, kommt ihm aberwitzig vor, so sehr ihm dies höchstes Glück wäre.

Erst nach einem Jahr beschäftigt ihn der Gedanke, ob sie ihn auch wiederliebe. Bei einem Fest, an dem beide teilnehmen, sitzt Georg scheu in einer Ecke des großen Saales, als sie auf ihn zukommt und sich ohne Feier­lichkeit neben ihn setzt. Sie wartet -und erwartet, dass er ein Gespräch beginne. Doch Georg wird blass und kann kein Wort hervorbringen. Trotzig – spöttisch steht sie auf und geht. Er verwünscht sich innerlich, seine Ver­legenheit, seine Unbeholfenheit! Als er später allein ist, macht sich sein Kummer in lautlosem Weinen Luft. Er gibt – die Hoffnung auf, ihr jemals zeigen zu können, wie ihm ums Herz ist.

Im Sommer 1905 trifft ein Tanzmeister aus Guben ein, um einen Tanz- und Anstandskurs zu geben Das Mädchen hat schon früher daran teilgenommen. Georg hat keine Lust dazu, aber sein Vater besteht auf der Tanzstunde und so findet er sich wider Willen jeden Dienstag und Freitag von 1/2 8 bis 10 1 Uhr im Saal des „Reichsadler“ ein. Manches Mädchen ermuntert ihn, doch Georg mag mit keiner von ihnen anbbändeln, denn er trägt noch unverrückt das Bild der Dunkeläugigen im Herzen.

Im Herbst 1906 kommt Georg in eine Schülerpension nach Frankfurt/Oder. Ein Bändchen Gedichte beglei­tet ihn. Um die Jahreswende melde: sich seine Krankheit wieder, so stark, dass er im Frühjahr den Süden aufsu­chen muss: Er fährt nach Locarno. Den Zurückgekehrten trifft die Nachricht von der Verlobung seiner Angebeteten. Seine Gedanken sind schwer: Diese Verlobung sei vielleicht nur zustande gekommen, weil er der Geliebten nie von seiner Liebe gesprochen.

Trost findet er nur in seinen Liebesliedern, in der Beschäftigung, viele davon in Mu­sik zu setzen . .. .“Noch lange bildet diese Crossener Liebe für ihn eine seelische Sperre, bis endlich bei einer Geburtstagsfeier den Oberprimaner ein neues Erlebnis davon befreit. Aber das ist schon nicht mehr in Crossen. Fredi Henschke hängt an „Die Fahrt ins Leben“ eine vorauseilende Abitur-Schlussbemerkung und schließt dieses Kapitel seines Lebens ab.

Wer war die Crossenerin? „Nachbarin“? „Dunkle Augen“! Sie heiratet am 27. Mai 1910 in St. Marien den sieben Jahre älteren Bremer Pastor Robert Leonhardt und wird von Pastor Dibelius (dem nachmaligen Bischof) getraut. Und dann – 1910 in einer Erzählung – wird Alfred Henschke etwas deutlicher: Jetzt nennt er sie „Hanni Beckenhöver“ und bezeichnet sie als „Verwandte des Druckereibesitzers“. In einem Gedicht schildert er, wie er das Taschentuch der Angebete­ten errötend – ihrem Bruder – zurück­gibt. Und ein Heftchen mit Gedichten noch aus der Crossener Zeit trägt den Sammeltitel „Hannah“. Die erste Liebe des Dichters ist also Hanna Zeidler, geboren am 16. September 1890, Rudolf Zeidlers ältere Schwester, die später zwei Söhnen das Leben schenkt und schon als Dreiunddreißigjährige starb.