Klabund Miszellen
Und was ist eine Miszelle? Wikipedia schreibt:
Eine Miszelle (von lat. miscella ‚Gemischtes‘) ist generell ein Kurztext beliebigen Inhalts. Im heutigen Sprachgebrauch bezeichnet der Begriff Miszelle meist einen kurzen Beitrag in einer geisteswissenschaftlichen Zeitschrift, der nicht den Umfang eines Aufsatzes erreicht und oft aktuelle Informationen über ein Forschungsprojekt enthält.
Die Miszelle kann jedoch auch eine einzelne Information bekannt machen, die einerseits ein Detail betrifft, das keinen eigenen Aufsatz lohnen würde, andererseits aber doch so bedeutend ist, dass sie veröffentlicht werden sollte. Dies kann z. B. ein neu entdecktes Werk eines Künstlers sein oder ein Archivale, das Aufschlussreiches über eine Person enthält.
Klabund – Der schreckliche Garten
Frühere Jahrhunderte liebten bekanntlich allerlei sonderbare Scherze. Man machte sich über Armut, Not, Tod und Verwesung genau so lustig wie über einen Spaß Arlecchinos oder über ein leicht begonnenes, leichtfertiges Liebesabenteuer. Bei Boccaccio findet man einen Kavalier, der seine Dame auf der Plattform eines Turmes im heißesten italienischen Sonnenbrand nackt braten läßt, bis ihr die Haut in Fetzen vom Leibe fällt, und dabei eine unschuldige Freude empfindet wie unsereiner bei gebratenen Rebhühnern. Er antizipierte gewissermaßen den Marquis de Sade, der ein liebenswürdiges Mädchen, wie Justine, in seiner Phantasie Torturen aussetzt, gegen deren geringste eine Umarmung der eisernen Jungfrau von Nürnberg als zärtliche Liebkosung betrachtet werden muß. Der schönen und sanften Gärten im englischen und französischen Stil wurde man allmählich überdrüssig. Um seine Gäste zu erheitern und zu erfreuen, verwandelte man die Parks in sogenannte »schreckliche Gärten«. Darin war alles angelegt, einen zu erschrecken, einem Pein und Widerwillen zu bereiten und alle Ängste bis zur Todesqual einzujagen. Felsen stürzten über den Weg, den man ging. Brücken brachen unter einem zusammen. An Stelle der Pavillons und Lusthäuser stieß man auf Ruinen und künstlich niedergebrannte Villen. Einen einsamen Waldpfad schmückte der Leichnam eines von Räubern Überfallenen in Gips. Ein zerschossenes und in Asche gelegtes Dorf zeigte täuschend wahr die Verwüstungen und Schrecknisse des Krieges. Erschlagene und Erschossene an den Straßenrändern. Ein Wahnsinniger hebt seine steinernen Arme flehend zum Himmel. Wenige Minuten weiter entzückte den bewundernden Beschauer die treffliche Nachbildung eines feuerspeienden Berges. Glückliches siebzehntes Jahrhundert! Wie bist du beneidenswert. Dir war alles Schreckliche nur ein kindliches und kindisches Spiel, was im zwanzigsten Jahrhundert teuflischer Ernst geworden ist. Die ganze Erde ist heute ein schrecklicher Garten. Aber die Leichen, die an den Wegen liegen, sind nicht aus Gips. Die Ruinen sind echt, wie die Qual derer war, die unter ihren Trümmern faulen. Die Irrenhäuser sind überfüllt. Zehn Millionen schlug der Krieg zu Boden. Drei Millionen das Urbild eines feuerspeienden Berges. Und dieser grauenvolle »Friede«: Wieviel Blut und Tränen hat er gekostet? Welche Hungersund Seelennot hervorgerufen? Welcher Teufel hat diesen schrecklichen Garten sich zum Pläsier angelegt und geht, ach einem guten Essen fröhlich darin spazieren? Vielleicht, daß er dann in einem Gebüsch seitab des Weges auf den christlichen Gott stößt, der nichts ahnend unter einem Holunderbaum, in Schlaf versunken, von Zucker-bretzeln, vom Mondschaf und von der Muhme Sonne räumt.
Ganz leise, auf Zehenspitzen, wird der Teufel vorbeischleichen, daß er ihn ja nicht aufwecke. Wenn Gott aus seinem Traum vom Paradies erwacht: es wird ein trauriges Erwachen geben.
Klabund – Mäuse und Menschen
Der russische Physiologe Pawlow dressierte Mäuse, daß sie ihre Nahrung nur nahmen, wenn ein bestimmtes Glockenzeichen ertönte. Dreihundert Übungen waren nötig, der ersten Generation die Assoziation Glockenton-Nahrungsaufnahme beizubringen. Die dressierten Tiere wurden zur Zucht verwendet, und es stellte sich heraus, daß bei der nächsten Generation nur noch hundert Übungen, bei der ritten dreißig, der vierten zehn, der fünften gar nur fünf Übungen nötig waren, um den Sinn des Glockenzeichens u begreifen. Die geistigen Leistungen der Mäuse erfüllen ich, einen sogenannten Menschen, mit Neid und Bewunderung. Wie dumm, borniert, wie unterkietig benimmt sich doch der stupide homo sapiens. Keine Generation lernt aus der anderen, jede braucht die dreihundert Übungen, he sie den Sinn des Glockenzeichens kapiert hat. Jede macht dieselben zweihundertneunundneunzig Dummheiten wie die vorhergehende Generation. Keine Erfahrung vererbt sich von Mensch zu Mensch. Die vorige Generation hat den Weltkrieg verloren. Die jetzige hat nichts eiligeres zu tun, als dafür zu sorgen, daß auch sie ihren Weltkrieg kriegt — und verliert. Und so fort: ad infinitum — ad absurdum. — Man sollte Herrn Pawlow als Erzieher des Menschengeschlechts engagieren. Er müßte aber mit der Erziehung der Erzieher beginnen. Hunderttausend Universitätsprofessoren, Schul- und Studienräte, Ober- und Unterlehrer müßten wie die Mäuse dressiert werden, daß das Klingelzeichen, mit dem ihre Stunden beginnen, nicht zum Weltkrieg, sondern zum Weltfrieden ruft. Nach 300 Übungen werden sie das reichlich begriffen haben: daß der Menschheit ein einziges Heldenleben wichtiger ist als ein Heldentod von Tausenden. Dann werden in der fünften Generation vielleicht Lehrer geboren werden, die von sich aus, aus ererbter Vernunft, auch ihre Schüler zu der einfachen, simplen und doch so tiefen Weisheit führen: Liebe deinen Nächsten wie dich selbst.
Klabund – Lobpreisung einer hässlichen Landschaft
Nach monatelangem Trip durch Landschaften, die im Baedeker sämtlich mit ein bis drei Sternen geziert und gepriesen sind: nach Genua, der Riviera, dem Comersee, Bellagio, Locarno, Lugano, dem Centovallital, Montreux und dem Genfer See: nach tausend landschaftlichen Wundern und Herrlichkeiten — wie entzückend, beruhigend, erhebend, endlich durch eine hässliche Landschaft zu fahren. Keine Schneegipfel, keine Palmen, kein südliches Meer, kein nördlicher Wasserfall – nichts als langweilige, kaum gewellte, eben gemähte Wiesen, graugrüne, stoppelige Wiesen, so daß einem auch der etwaige Anblick blumenbestreuter, sommerlicher Flur erspart bleibt. Zwischen den Wiesen da und dort ein prächtig geschmackloses, neuerbautes Bauernhaus, dessen der Bahn zugekehrte Wand erfreulicherweise mit albernen Reklametafeln beklebt ist. Die Bäume, die wir passieren, sehen alle höchst dürftig aus: wie ungewaschene Rasierpinsel. Ein räudiger Hund läuft ein paar Meter bläffend neben den Gleisen. Auf kleinen roten Bahnhöfen stehen Menschen, die mit idiotischen Augen dem Schnellzug wie einem Wunder Gottes nachstarren. Und über allem ein himmlisch grauer Himmel, aus dem trotz seiner Graue ein schweres, bleiernes Licht tropft, das lähmt und blendet. Alles ist in schönster Harmonie vereinigt, um den Inbegriff einer scheußlichen Landschaft hervorzurufen, die höchlich gepriesen sei nach all den Schönheiten, die wir sahen. Bald wird der Zug in die erste Großstadt eindonnern. Ich werde zwischen widerlichen Mietskasernen schreiten und mich von den Palazzi und sonstigen Kulturdenkmälern erholen, ich werde keinen Ozon, ich werde berauscht die benzingeschwängerte Luft einatmen, eine Luft, die mir keineswegs gut tut, ich werde eine Lawinen mehr zu Tal stürzen, aber ich werde Ban-n und Theater zusammenkrachen sehen, und ich werde feststellen: Gott sei Dank, daß ich wieder in Berlin bin.
(aus: Das Stachelschwein 23, 1925)
Die Zeitschrift „Das Stachelschwein“
Sie war eine Illustrierte Humor- und Satire-Zeitschrift und erschien ab Dezember 1924 – von Hans Reimann gegründet – im Berliner Verlag „Die Schmiede“. Bekannte Autoren waren Max Herrmann-Neisse, Walter Mehring, Karl Schnog, sowie Alexander Friedrich Ladislaus Roda Roda und Erich Weinert. Bekannte Zeichner waren George Grosz, Rudolf Schlichter.
Die Zeitschrift wurde von 1924 bis 1929 von Hans Reimann als Chefredakteur geleitet, der Erich Kästner als Autor entdeckte und für die Zeitschrift gewann.
Im Herbst 1949 gründete sich im Künstler- und Studentenlokal Badewanne unweit der Berliner Gedächtniskirche das bekannte Kabarett „Das Stachelschwein“, benannt nach der Zeitschrift „Das Stachelschwein.