Zwei Crossener Märchen von Klabund

Klabund und seine erste Ehefrau Brunhilde Heberle Quelle: Akademie der Künste (AdK) Berlin https://www.adk.de/

Aus Crossener Heimatgrüße Oktober 1960

Am 4. November 1890 wurde Alfred Henschke, der sich später Klabund nannte, in Crossen geboren. Der be­rühmte Sohn unserer Oderstadt wäre also demnächst 70 Jahre alt geworden, wenn der Tod ihn nicht bereits vor 32 Jahren in fast noch jugendlichem Alter hinweggerafft hätte. Über den Ablauf seines kurzen Lebensweges, über sein dichterisches Werk und über die Heimholung seiner Asche in die Vater­stadt, wo sie auf dem Bergfriedhof in ein Ehrengrab versenkt wurde, ist in den „Heimatgrüßen* mehrfach berich­tet worden. Deshalb seien als Erinnerungsblatt für ihn diesmal nur zwei Crossener Märchen wiedergegeben, die Klabund 1924 für den „Crossener Kreiskalender“ niederschrieb und die wohl nirgends anders sonst erschienen sind. Aus beiden leuchtet nach Sinn­gebung und Sprache echt Klabundscher Geist.

Die erste Schwalbe

Rauchschwalbe (Hirundo rustica) Von I, Malene, CC BY 2.5, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=20612

Als der alte Marienkirchturm noch in Crossen stand, da versah einmal das Amt eines Turmwächters ein jun­ger Bursche von kaum zwanzig Jah­ren, Er war erst zwanzig Jahre alt, aber niemand hätte ihm beim ersten Anblick diese zwanzig Jahre geglaubt. Furchen liefen durch sein Gesicht, seine Haare waren weiß, er ging ge­bückt, als trüge er einen Buckel. Er sah einem Greis von siebenzig so ähn­lich wie eine Grasmücke der andern. Sein Wesen war grimmig, mürrisch und verschlossen. Niemand fand den Schlüssel zu seinem Herzen, Niemand den Grund seines frühen Alterns. Sein Name war Schwelm. Aber wenn man ihn grüßte: „Guten Tag, Herr Schwalm*, so gab er keine Antwort und hob kaum den zittrigen Kopf.

Es war wieder einmal ein Winter ins Land gegangen. Der alte Schwalm – so hieß er trotz seiner ein- oder zweiundzwanzig Jahre – hatte im eisigen Nordwind auf steiler Höhe doppelt gefroren wie die Leute unten auf dem Markt. Das erste Grün spross auf der Aue. Die Weidenkätzchen knospeten. Bald würde auch die erste Schwalbe kommen. Der Tag der An­kunft der ersten Schwalbe galt dazu­mal als eigentlicher Frühlingsanfang und bedeutungsvoller, ja heiliger Tag. Damals achteten die Menschen noch auf Vögel, Wolken und Sterne und achteten sie. Die Natur war ihnen noch nicht ein Warenhaus, wo man den Anblick einer verkrüppelten Kiefer oder eines halbtoten Käfers in einem sogenannten Waldrestaurant für drei­ßig Pfennige bei einer Tasse Cichorien-kaffee ersteht. – Der Türmer war verpflichtet, die Ankunft der ersten Schwalbe durch sein Horn zu verkün­digen. Schwalm hatte schon tagelang nach Süden gelugt, aber keine Schwalbe machte sich bemerkbar. Eines Nachts war er im Lehnstuhl am Turmfenster eingeduselt, als ihn eine sanfte Stimme weckte: „Guten Abend, Herr Schwalm“. Er fuhr aus dem Halb­schlaf und sah ein junges, schönes, aber in armseliges Grau wie ein Bettlerkind gekleidetes Mädchen vor sich stehen. Er wollte grimmig drein­schauen, aber das Mädchen lächelte ihn so freundlich an, dass er sie nur erstaunt fragte: „Wo kommst du her, jetzt mitten in der Nacht?“

Das Mäd­chen lächelte wieder und wies auf das geöffnete Fenster: „Durch das Fenster bin ich gekommen.“ Schwalm verwun­derte sich immer mehr: „Durch das Fenster bis du gekommen? Ja, kannst du denn fliegen?“ Das Mädchen sprach leichthin, als verstände sich das von selbst: „Natürlich kann ich fliegen.* „Ja, wer bist du denn dann?* fragte Schwalm. Da lächelte das Mädchen wieder: „Ich bin die erste Schwalbe!“ Da wollte Schwalm das Horn erheben und den Leuten in der Stadt die end­liche Ankunft des Frühlings verkün­den. Das Mädchen aber entwand ihm das Horn und sprach: „Lass – das er­fahren die Menschen morgen früh noch zeitig genug,“ Und sie setzte sich auf seinen Schoß und streichelte seine Wangen. Da verschwanden all die Runzeln daraus und sie wurden die Wangen eines Jünglings von zwanzig Jahren. Und sie streichelte seine Haare, da wandelte sich ihr silbernes Weiß in goldenes Blond. Und sie strich über seinen Rücken. Da straffte er sich. Sie lächelte, und da lächelte auch er zum ersten Mal in seinem Leben. Sie küsste ihn und er küsste sie.

Am nächsten Morgen verkündete er mit seinem Horn beim ersten Sonnen­strahl den Crossenern die Ankunft der ersten Schwalbe. Mittags aber stieg er trällernd vom Turm und ging zum Pfarrer von Sankt Marien. Der wunderte sich nicht wenig, statt des alten grämlichen Schwalm einen jun­gen heiteren Schwalm vor sich zu sehen.   .Hochwürden*   sprach der junge Schwalm, „ich komme, ein Aufgebot zu bestellen.“ .Und wer ge­denkt in den heiligen Stand der Ehe zu treten?“ Der Pfarrer nahm seine Stahlbrille ab. „Der ehrenwerte Jung­geselle Schwalm mit der tugendsamen Jungfrau Schwalbe aus Ahrenfeld.“ „Das ist mal eine Überraschung“ sagte der würdige Pfarrherr. .Ja, ja, der Frühling – und tunkte den Gänse­kiel ins Tintenfass und schrieb mit zierlichen Buchstaben das Aufgebot.

Der Himmelsbaum

Der Baum im Himmel – Leinwandbild

Es war einmal in Crossen ein armer Tagelöhner, der hatte kein Geld, um für seine vielen Kinder Brot zu kau­fen. Ab sie Hunger hatten und schrien, gab er ihnen Eicheln, wie man sie den Schweinen vorwirft. Eine Eichel aber behielt er, steckte sie in die Erde; als­bald entspross ihr ein Eichbaum, der Eichbaum wuchs immer höher, bis seine Krone in den Himmel reichte. Da stieg der arme Mann von Ast zu Ast bis zum Himmel. Er klopfte an das Himmelstor. Sankt Petrus fragte „Wer ist da?“ „Ein armer Mann mit zwölf Kindern.“ Da sprach der Herr­gott zum Sankt Peter: „In der Speise­kammer liegen noch einige übrig ge­bliebene Brote, gib sie ihm.“ Und Pe­trus gab sie ihm. Der Mann kletterte wieder zur Erde herunter, und seine Kinder waren selig, dass sie sich wie­der einmal satt essen konnten. Als sie sich satt gegessen hatten, kroch der Mann wieder zum Himmel empor und dachte bei sich: „Wenn du Glück hast, bekommst du heute vielleicht Semmeln. Er klopfte an das Himmels­tor. Sankt Petrus fragte: „Wer ist da?“ „Ein armer Mann mit zwölf Kindern.“ Da sprach der Herrgott zum Petrus: „In der Speisekammer liegen noch einige übrig gebliebene Semmeln, gib sie ihm.“ Und Petrus gab sie ihm. – Der Mann kletterte jetzt alle Augen­blicke auf dem Himmelsbaum in den Himmel, Und immer bekam er, was er dachte: Kuchen, Fleisch, endlich sogar Silber, Gold, Edelsteine, Als er aber ein   reicher   Mann   geworden war, wurde er ein böser, habgieriger und hartherziger Mann. Er gab den Armen nicht einen roten Heller. Nachdem er sich alles schon vom Himmel, erbeten hatte, was es nur an weltlichen Gü­tern gibt, und es war ihm stets gewährt worden, stieg er eines Tages wieder in den Himmel   hinauf. Er klopfte an das Himmelstor. Sankt Petrus fragte: „Wer ist da?“ .Ein reicher Mann mit zwölf Kindern.“ „Was ist dein Begehr?* „Ich möchte das himmli­sche Zepter, mit dem Gott die Welt regiert.* Er dachte aber, dass dieses Zepter reich mit Smaragden, Rubinen, Saphiren, Perlen, Brillanten besetzt und gewiss aus purstem Gold sein müsse. Der Herrgott sprach: „Gib ihm das Zepter.“ Und Petrus gab ihm das Zepter. — Es war eine weiße Lilie. Da bekam der reiche Mann vor Wut einen roten Kopf, da er glaubte, man hätte ihn betrogen. Er traute Gott einen Be­trug zu, so schlecht war er geworden. Er verlor in seinem Zorn das Gleich­gewicht, stürzte von der Krone des Eichbaums hinunter in die tiefste Tiefe und stürzte bis in die Hölle. Und da ist er noch heute. Den Himmelsbaum aber ließ Gott von Josef, der ja ein Holzfäller und Zimmermann gewesen, fällen, damit niemand mehr auf ihm in den Himmel hinaufstiege. Heute kommt man nicht mehr auf den Zwei­gen des Himmelsbaumes, sondern nur mehr auf der Himmelsleiter in den Himmel, deren Sprossen gute Gedan­ken und gute Taten sind.