Preußische Tugenden

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Als preußische Tugenden werden die von der protestantisch-calvinistischen Moral und der Aufklärung geprägten Tugenden bezeichnet, die seit Friedrich Wilhelm I. vom preußischen Staat propagiert und gefördert wurden. Von den preußischen Tugenden leiten sich auch die deutschen Tugenden ab, zu denen unter anderem Pünktlichkeit, Ordnung und Fleiß gehören.

Geschichte

Als Friedrich Wilhelm I. bei seiner Thronbesteigung als preußischer König einen überschuldeten Staatshaushalt vorfand, waren Ordnung, Fleiß, Bescheidenheit und Gottesfürchtigkeit seine Leitmotive für die anschließende Reformierung und Sanierung des Staatswesens. Seinen Beinamen „Soldatenkönig“ erwarb er sich, als er die schlagkräftige preußische Armee aufbaute.

Sein Sohn Friedrich der Große, der im Gegensatz zum Vater ein Schöngeist war, wurde als Führer des preußischen Heeres in zahlreichen Kriegen zum Sinnbild für Tapferkeit, Gerechtigkeit und Volksverbundenheit. Später, als Friedrich im hohen Alter zum sozial isolierten Mann geworden war, galt er immer noch als Vorbild für Härte, Pflichtbewusstsein und Disziplin.

Das preußische Staatsgebiet war über weite Landstriche verteilt, seine Einwohnerschaft heterogen strukturiert. So hing die Mehrheit der Preußen dem lutherischen, eine Minderheit dagegen, zu der aber auch das Herrscherhaus zählte, dem calvinistischen Protestantismus und eine weitere Minorität dem Katholizismus an. Nachdem Friedrich der Große Juden ins Land geholt hatte, existierten insgesamt vier größere Religionsgemeinschaften neben einigen kleineren Freikirchen in seinem Staat. Zudem existierten neben der deutschen Bevölkerungsmehrheit polnische, sorbische und kaschubische Minderheiten. Friedrich Wilhelm I. verstand sich als moralisches Vorbild all seiner Untertanen, sein Sohn nahm Vernunft und Toleranz als persönliche Verhaltensmaximen auf, um einen solch vielfältigen Staat lenken zu können.

Sie verschafften Preußen eine fortschrittliche Rechtsordnung und Verwaltung, ein der Krone gegenüber loyales Offizierskorps und einen „Vernunftpatriotismus“, der seinen Aufstieg vom herkömmlichen Barockstaat des Großen Kurfürsten zur modernen Großmacht trotz dessen ökonomisch kümmerlicher Voraussetzungen – sandige, magere Ackerböden (Preußen als „des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation Streusandbüchse“); große Verwüstungen und Menschenentleerungen im Dreißigjährigen Krieg – sehr förderte.

Prägenden Einfluss hatten auch die preußischen Reformen nach der militärischen Niederlage 1806 gegen Napoleon Bonaparte bis zum Wiener Kongress 1815 (Gemeinde-, Heeres-, Schul-, Universitäts- und Steuerreform, Preußisches Judenedikt von 1812). Besonders prägend wirkte sich die Heeresreform aus, die das Verhältnis zwischen König und Soldat nachhaltig veränderte und „aus dem Waffenrock das Ehrenkleid machte“.

Galten die Drill und Gehorsam fördernden preußischen Tugenden lange Zeit nur für das Militär, bestimmten sie mit der Reichsgründung 1871 die gesamte deutsche Zivilgesellschaft.

Rezeption

Die preußischen Tugenden werden in den ersten Zeilen von Ludwig Höltys „Der alte Landmann an seinen Sohn“ zusammengefasst. Das Gedicht wurde mit der Melodie von „Ein Mädchen oder Weibchen“ aus Mozarts Zauberflöte unterlegt und täglich durch das Glockenspiel der Hof- und Garnisonkirche zu Potsdam, in der Friedrich der Große ursprünglich begraben lag, dargeboten. Der Text lautet: „Üb’ immer Treu und Redlichkeit, / Bis an dein kühles Grab; / Und weiche keinen Fingerbreit / Von Gottes Wegen ab. / Dann wirst du, wie auf grünen Aun, / Durchs Pilgerleben gehn; / Dann kannst du, sonder Furcht und Graun, / Dem Tod’ ins Auge sehn.“

Tugenden

Die preußischen Tugenden sind weder in ihrer Anzahl noch in ihrer Qualität festgelegt und bilden deshalb keinen Kanon. Dabei gehen sie, mit Ausnahme des Gehorsams, auf die christlichen Kardinaltugenden zurück.

Beispiele vorwiegend militärischer Bedeutung

Ursprünglich galten die preußischen Tugenden lediglich für das Heer und wurden erst später von der preußischen Gesellschaft, die sich selbst zunehmend am Militär orientierte, übernommen. Charakteristisch für das preußische Gesellschaftssystem war eine strenge Hierarchie. So galten Treue, Selbstverleugnung zugunsten von Staat und König („Wer auf die preußische Fahne schwört, hat nichts mehr, was ihm selber gehört.“, Tapferkeit ohne Wehleidigkeit („Lerne leiden, ohne zu klagen“), Unterordnung, Mut und Gehorsam (jedoch nicht ohne Freimut) als erstrebenswert. (Selbst)disziplin, eine unerlässliche militärische Tugend, umfasste auch Härte, gegen sich noch mehr als gegen andere.

Beispiele gesamtgesellschaftlicher Bedeutung

Aufrichtigkeit – Bescheidenheit – Ehrlichkeit – Fleiß – Geradlinigkeit – Gerechtigkeitssinn (Suum cuique = Jedem das Seine) – Gewissenhaftigkeit – Ordnungssinn – Pflichtbewusstsein – Pünktlichkeit – Redlichkeit – Sauberkeit – Sparsamkeit – Toleranz – Unbestechlichkeit – Zurückhaltung („Mehr sein als scheinen!“) – Zielstrebigkeit – Zuverlässigkeit

Auf diese Tugenden führt man bisweilen auch die veraltete Redensart zurück, jemand täte etwas pour le Roi de Prusse (wörtlich „für den König von Preußen“, d. h. umsonst, ohne etwas dafür zu nehmen).

Weltanschauliche Tugenden

Gottesfurcht galt spätestens seit Friedrich Wilhelm I. als preußische Tugend. Auch unter seinem Sohn wurde ihr weiterhin ein hoher Stellenwert eingeräumt, jedoch unter dem Aspekt der religiösen Toleranz. „Jeder soll nach seiner Façon selig werden“ wurde zum Leitmotiv Friedrichs des Großen. Diese staatlich geförderte Weltoffenheit hatte nicht zuletzt auch wirtschaftliche Gründe. Als Friedrich Juden ins Land ließ, verpflichtete er sie zugleich zu hohen Sondersteuern.

Deutsche Tugenden

Noch heute gelten Höflichkeit, Pünktlichkeit, Fleiß und Ordnung als Tugenden und Toleranz und Gerechtigkeit als Werte der Deutschen.

Typische Zitate

 Üb’ immer Treu und Redlichkeit“ – Glockenspiel der Potsdamer Garnisonkirche

Theodor Fontane lässt in seinem Roman Der Stechlin einen Offizier sagen: „Dienst ist alles, und Schneidigkeit ist nur Renommisterei. Und das ist alles, was bei uns am niedrigsten gilt. Die wirklich Vornehmen gehorchen nicht einem Machthaber, sondern einem Gefühl der Pflicht. Was uns obliegt, ist nicht die Lust des Lebens, auch nicht einmal die Liebe, die wirkliche, sondern lediglich die Pflicht. Es ist dies außerdem etwas speziell Preußisches. Wir sind dadurch vor anderen Nationen ausgezeichnet, und selbst bei denen, die es nicht begreifen und übel wollen, dämmert die Vorstellung von unserer daraus entspringenden Überlegenheit.“

„Wählte Ungnade, wo Gehorsam nicht Ehre brachte“ (Inschrift auf dem Grabstein des Johann Friedrich Adolf von der Marwitz in Friedersdorf, der während des Siebenjährigen Krieges den Befehl des Königs, Schloss Hubertusburg zu plündern, verweigerte)

Être Prussien est un honneur, mais pas plaisir. („Preuße zu sein ist eine Ehre, aber kein Vergnügen.“ – Französisches Sprichwort)

Kritik

Die „preußischen Tugenden“ wurden stets auch kritisiert, so etwa im Bürgertum wegen ihrer ursprünglichen Wissenschafts- und Kunstferne, staatswirtschaftlichen und soldatischen Ausprägung – „Befehl und Gehorsam“ und Demokratiefeindlichkeit. Auch die Arbeiterbewegung wandte sich vor allem gegen die beiden letztgenannten Züge. In der 68er-Bewegung wurden sie, weil insbesondere die Treue- und Gehorsamspflicht zumeist auch gegenüber der nationalsozialistischen Regierung geübt worden war, äußerst misstrauisch angesehen und als „Sekundärtugenden“ gegenüber deren Konzept emanzipatorischer „Primärtugenden“ (auch: Kardinaltugenden) abgewertet.

In seiner 1919 erschienenen Streitschrift Preußentum und Sozialismus beurteilte der Geschichtsphilosoph Oswald Spengler das Preußentum als Grundlage einer spezifisch deutschen, dem Wesen nach illiberalen, antidemokratischen und antirevolutionären Denkschule des Sozialismus: „Der deutsche, genauer preußische Instinkt war: die Macht gehört dem Ganzen. Der einzelne dient ihm. Das Ganze ist souverän. Der König ist nur der erste Diener seines Staates (Friedrich der Große). Jeder erhält seinen Platz. Es wird befohlen und gehorcht.“

„Preußische Tugenden“ werden auch heute noch gelegentlich in der politischen Debatte thematisiert. So forderte beispielsweise Anfang Januar 2006 der brandenburgische Ministerpräsident Matthias Platzeck in einem dpa-Gespräch die Rückbesinnung auf positive preußische Tugenden und sprach „bewährte Grundeigenschaften wie Anständigkeit, Verlässlichkeit und Pflichterfüllung“ an.

Der US-Amerikaner Richard Rhodes sieht bei Heinrich Himmler das Prinzip preußischer „Härte“ als Voraussetzung dafür an, dass hunderttausende Deutsche die Judenvernichtung willig exekutierten:

„Himmler bemühte sich jedoch, die abstoßende Aufgabe der Abschlachtung unbewaffneter Zivilisten zu einem Teil des SS-Nimbus zu machen. Bei seinen Bemühungen konnte er auf die preußische Militärtradition zurückgreifen, nach der moralisch verwerfliche und psychisch belastende Erlebnisse in eine Tugend umgemünzt wurde: ‚Härte‘.

Die Tugend der ‚Härte‘ beschwor Himmler auch im Herbst 1940, als er vor SS-Offizieren ausführte, die SS habe in Polen bei Wetter mit 40 °C unter Null Hunderttausende fortschaffen und ‚die Härte haben‘ müssen, Tausende führender Polen zu erschießen.
Es muss immer so sein, dass eine solche Exekution für unsere Männer das Schwerste sein muss. Und es muss trotzdem immer so sein, dass sie niemals weich werden, sondern dass sie das mit zusammengebissenen Lippen machen.“