Die Nachtwandler

Ein Schauspiel von Klabund

Erich Reiss Verlag Berlin

Dem Hause Vischer van Gasbeck in Basel, in welchem dieses Drama geschrieben werden durfte, dankbar zu eigen.

Basel, Weihnacht 1917

Personen:

Apollo

Erste — (Nymphe und Dryade)
Zweite — (Nymphe und Dryade)
Dritte — (Nymphe und Dryade)
Vierte — (Nymphe und Dryade)

Cornelia – ein Mädchen
Silvius – ein junger Mann
Der Herr in gelb
Leierkastenmann
Buben und Mädchen
Polizist
Zimmerkellner
Matrose

Der geheime Regierungsrat, Cornelias Vater
Die geheime Regierungsrätin, Cornelias Mutter
Dienstmädchen
Passant
Elegantes und halbelegantes Publikum
Schreibmaschinenfräulein
Herr

Erster Börsenmann
Zweiter Börsenmann

Kunstkritiker
Kunstkenner

Bruder – Im Zwischenspiel
Schwester – Im Zwischenspiel
Jemand – Im Zwischenspiel

Ein Herr und eine Dame auf dem Heimweg.

Der Korpsstudent, Cornelias Bruder
Der Tod als Kind
Hebamme
Invalide
Arzt
Erster Dienstmann
Zweiter Dienstmann
Bahnbeamter
Schaffner
Herr in Grau
Erscheinung einer Dame
Herr in Pelerine

Erste Szene
(Waldwiese)

Apollo (tritt auf): Ha der Sturm, durch den ich lief….. Wolken hingen an meinen Flanken … Ich schüttelte sie mit Gelächter ab … Sterne riss ich vom Himmel … Ich warf sie durch die Nacht … Der Himmel blutete … Mondherz zersprang … Die Menschen wünschten beim Sternfall ihr Liebstes … Der Regen rann … Wie Strähnen vom Haar der Cornelia floss er hernieder … mir sanft um meine Stirne hängend … Frauen!

Die Götter sehnen nach Euren Tod sich oft, damit sie fester Euch halten: Fester die Toten, denn die Lebenden … Der lebende entgleitet selbst einem Gott … Gott hält den Bergbach nicht, der über Felsen rauscht: Er rauscht: er rausch auch über ihn, zerschmettert am Abgrund selbst unsterblich scheinende. Aber die Toten: Bleiben. In den Armen der Götter liegen sie, ewige Kinder mit den wächsernen Totengesichtern. Wir schaukeln sie an unserm Busen; Sie hängen wie Früchte daran: Trauben am Rebstock: Ewig reifend unter den dunklen Fittichen der Vollkommenheit.

Mein Mantel klatscht mir am bloßen Leib. Zeus weichte mich neidisch ein. Regen tropfte selbst in meine Flöte. (er bläst einige Töne auf seiner Flöte). Selbst im Donner des Gewitters tönt Apollos Flöte noch. Zeus hört sie singen, wenn er schreit …

Ich tu den Mantel ab. Häng ihn an dies Gesträuch. Wind mag in trocknen, wenn er des Weges kommt. Ich schreite nackt in den Schlaf … (Er entschläft)

(Nymphen herbeieilend und Dryaden)

Erste Nymphe; Ein Mann … ganz nackt … kommt näher ihn zu beschauen … er schläft …

(Ihre Gefährtinnen huschen herbei, beugen sich im Kreise über ihn)

Zweite Nymphe: Wie süß sein Atem … Wie Lorbeerblüten im Herbst …

Dritte Nymphe: Die Brust fällt und steigt wie die Woge des Meeres …

Vierte Nymphe: Seine Hand streichelt den Bruder Traum.

Erste Nymphe: Sie ist schlank … ungeübt in mühseligen und harten Werken … zart …

Zweite Nymphe: Seine Füße pflegen nur leicht zu gehen … zu tanzen oder om Chor schreiten … vielleicht zur Jagd zu hüpfen …

Dritte Nymphe: Sähe ich seine Augen: Ich wüsste, welche Mutter ihn gebar, welcher Vater ihn zeugte …

Vierte Nymphe: (hüllt sich in Apollos Mantel) Hu wie nass … ich friere…

Erste Nymphe: Seht diese Flöte … wozu mag sie dienen … (Sie bläst darauf) Ah … welch holder Ton … aus meiner eigenen Brust … mir reißt’s das Herz entzwei … die Brüste wirft‘s mir auseinander … sie rollen … Bälle … klingend zum Mond …

Apollo (erwachend) Wer spielt mein Spiel? Wer singt meinen Gesang? Und stört des Gottes Schlaf … der heilig wie der Schlaf des Menschen … (entreißt der Dryade die Flöte und schlägt sie damit. Sie erstarrt zum Baum,) Goldenes Gesindel. Ich will euch lehren, wie Papageien die Stimmen der Götter nachzuahmen in leichtfertigen Mondnächten.

(Die Nymphen verwundert)

Zweite Nymphe: Ein Gott … Wer ist‘s?

Dritte Nymphe: Barmherzigkeit …

Vierte Nymphe: Apollo …

Zweite Nymphe: Gnade …

Dritte Nymphe: Vergib …

Vierte Nymphe: (Ihr Ohr auf den Boden legend): Ich höre Menschenschritt …

Zweite Nymphe: Ich höre Frauenschritt …

Dritte Nymphe: Schmerz schlurft ihr Gang …

Vierte Nymphe: Kummer kriecht Schnecken gleich …

Zweite Nymphe: Träne auf Träne tropft hart wie Stein zu Boden …

Dritte Nymphe: Sie legt die Hände vors Gesicht: Wie der besiegte Krieger den Schild nach der Schlacht …

Vierte Nymphe: Sie sucht die Einsamkeit …

Zweite Nymphe: Sucht einen Gott …

Apollo; Sucht mich! (Schwingt die Flöte) Entschwindet: Baum- und Blumenmädchen! Wasserkinder! Ich will allein mit einem Menschen sein …

(Gelächter der Nymphen, die entschwinden Verklingend:)

Mit einer Frau … mit einer Frau…

Zweite Szene
(Kirchhof. Dämmerung.)

Cornelia: (Mit Blumen an einem Grab beschäftigt) Mein Geliebter, ich bringe die Feldblumen, Mohn, Hahnenfuß, Pechnelke und Kornrade. Ich habe sie selbst gepflückt. Es sind einige Ähren darunter. Ich habe sie mit den Wurzeln ausgerissen und will sie in dein Grab pflanzen. Vielleicht, dass sie Körner tragen und ich Brot von deinem Leb esse.

(Sie weint)

Silvius: (Ist näher getreten, zieht den Hut) Sie weinen, mein Fräulein. Lassen sie mich mit ihnen weinen. Ich habe niemand, der meine Tränen ehrt. Stoßen sie mich nicht zurück.

(Er weint) 

Cornelia: Mein Herr –

Silvius: Nennen sie mich Silvius, denn dies ist mein Name.

Cornelia: Ich werde nach dem Friedhofswärter rufen.

Silvius: Tun sie es immerhin. Das Gebüsch fängt ihre Schreie auf. Klingelzüge sind an den Grabsteinen und Kreuzen nicht angebracht.

Cornelia: Sie sind ein Tier. Hilfe!

Silvius: Ich bin ein Mensch wie sie. Ja: Grad wie sie, und wie der, der hier unter dem Moose liegt.

Cornelia: O! Er war gut!

Silvius: Sie haben ihn geliebt – und darum war er gut“

Cornelia: Sie schänden sein Gedächtnis, wenn sie nur von ihm sprechen.

Silvius: Ich habe ihn gut gekannt. Wir besuchten zusammen die Universität und zogen an Sommerabend oft zusammen in die benachbarten Dörfer. Dort tranken wir Braunbier und tanzten mit den Bauernmädchen. Und dann sangen wir uns durch den Vollmond in die giebelige Stadt zurück.

Cornelia: Er tanzte mit Bauernmädchen? Das ist nicht wahr.

Silvius: Weinen Sie, Kleine, weinen sie! Es wird Ihnen, mir, uns allen besser, wenn Sie weinen!

Cornelia: Sie lügen. Er war mir niemals untreu!

Silvius: (streichelt ihr übers Haar) Nein, gewiss nicht. Er blieb Ihnen treu. Aber so ein harmloses Tänzchen – was tats? Wollten Sies ihm verwehren? Mit Ihnen, der Tochter des geheimen Regierungsrat durfte er doch nicht an Sommerabenden in den Schenken tanzen, Braunbier trinken, und sie um Ihre süßen, sanften Brüste fassen.

Cornelia: Sie sind entsetzlich! Ich fürchte Sie!

Silvius: Ich bin so entsetzlich anzusehen, weil ich mich heute nicht habe rasieren können. Mir fehlt es zur Zeit an Geld. Haben Sie vielleicht zufällig 5 Mark bei sich? Die sie mir bis übermorgen leihen können?

Cornelia: Aber Sie sind ja ein Räuber! O pfui! Da: nehmen Sie meine ganze Börse. Denn deshalb haben Sie mich ja nur angesprochen: um mir im geeigneten Augenblick das Portemonnaie zu stehlen. (schluchzt)

Silvius: (umschlingt sie): Mädchen! Liebes Mädchen ! Wie Sie in Ihrem Innersten wissen, dass Ihre schönen Lippen lügen, Aus Liebe – lügen …

Cornelia: Wie – aus Liebe? Was soll das heißen? Glauben Sie etwa, dass ich Sie liebe?

Silvius: Das eben glaube ich. Und was mich betrifft, so weiß ich: Dass ich Sie lieb

(er küsst sie)

Cornelia: Ich kenne Sie ja gar nicht –

Silvius: Sie werden mich kennen lernen.

Cornelia: Wollen Sie sich nicht wenigstens vorstellen? Ich finde, dass sind Sie einer jungen Dame der Gesellschaft schuldig:

Silvius: (verneigt sich): Silvius, ein junger Mann.

Cornelia (Knirrend): Cornelia, ein Mädchen.

Silvius: Meine Mädchen!

(Küsst sie)

Cornelia: Sind sie satisfaktionsfähig? Sind Sie in einer Studentenverbindung?

Silvius: Nein.

Cornelia: Um Gotteswillen! Wir müssen sehr vorsichtig sein. Mein Bruder darf nicht hinter unser Verhältnis kommen. Er würde Sie ohrfeigen.

Silvius: Und ich würde ihn totschlagen wie einen tollen Hund.

Cornelia: Sie haben Mut! Zeigen Sie (prüft seinen Arm:) Haben Sie Muskeln?

Silvius: Nein – ich habe überhaupt nichts. Nicht einmal mich. Und noch nicht einmal Sie.

Cornelia (küsst Ihn): Und rasiert sind Sie auch nicht: Ihr Schnurbart zerritzt mir das ganze Gesicht. Ich will keinen Wald küssen, sondern Mondwange oder Sonnenlippen. Wenn ich Sie das nächste mal treffe, haben Sie rasiert zu sein. Das müssen Sie mir versprechen!

Silvius: Ich verspreche es Ihnen – bei der Liebe, die ich zu diesem Toten empfinde, da Sie ihn einmal geliebt.

Cornelia: Schweigen wir von ihm. Er hatte es leicht. Er braucht nicht mehr darüber nachzudenken, wo ich mich mit íhm treffen könnte. Das Nachdenken ist nun an Ihnen. Wann werden wir uns das nächste Mal treffen?

Silvius: Das nächste Mal? Morgen!

Cornelia: Also morgen, aber wo?

Silvius: In der Vorstadt, draußen hinter den letzten Häusern – dort –

Cornelia: Gut.

Silvius: Mein süßes Mädchen!

Cornelia: Mein Silvius.

(Umarmung aus der sich Cornelia löst und leicht entläuft. Silvius bleibt auf dem Grabhügel des toten Liebhabers nachdenklich sitzen. Er wird Nacht. Ein paar Glühwürmchen leuchten. Eine Sternschnuppe fällt)

Dritte Szene
(Dachkammer des Silvius. Offenes Fenster. Vollmond)

Silvius: Ich habe kein Petroleum mehr. Aber der Mond scheint so hell, ich werde meine Gedichte bei himmlischer Beleuchtung schreiben,

(Er setzt sich auf das Fensterbrett. Schreibt:)

Wenn ich der holden Seligkeiten denke,
Die mir, Cornelia Dein Anblick schafft,
Bin ich von einem rauschenden Getränke
Benommen ganz und gar dahingerafft.

Das dünkt mich vortrefflich gelungen – bis auf das „rauschende Getränk“! Es müsste natürlich „berauschend“ heißen. Aber dann ist’s ein Versfuß zu viel. Lassen wir’s stehen: Das rauschende Getränk: Es zaubert Gedanken wie Meer, Gießbach, Sturmwind – und also ist’s gut.

(Ein Herr in gelbem Mantel, gelben Hosen, gelben Stiefeln, gelben Handschuhen, gelbem Zylinder, gelbem Spazierstock ist links durch die Tür getreten. Das Zimmer ist plötzlich ganz hell. Der Mond draußen verfinstert)

Herr: Sie lesen ein poetisches Colloquium – wem? Ihrer Einbildung? Glauben Sie, ein Dichter zu sein?

Silvius: Wen geht das etwas an? Und wer sind Sie eigentlich? Und wie kommen Sie hier in mein Zimmer?

Herr: Gestatten Sie, Mond ist mein Name.

Silvius: Der meine kann Ihnen Gleichgültig sein; da Sie mir die Fähigkeiten und das Talent eines Dichters Abzusprechen gesonnen sind, haben Sie ja doch die Absicht, selbst wenn ich Ihnen meinen Namen nenne, ihn möglichst rasch zu -vergessen.

Herr: Warum so bitter? Warum meine Worte böse deuten? Warum jemand vor den Kopf stoßen, der Ihnen diesen seinen Kopf sozusagen zu Füßen legen möchte? Der angekommen ist, Ihnen zu helfen?

Silvius: Verzeihen Sie, ich bin ein wenig gereizt die letzten Tage. Eine heftige Leidenschaft – genährt allein durch dünnen Tee – das geht über meine Kräfte.

Herr: Sie lieben?

Silvius: Ewig, seit Ewigkeiten schon und ich werde ewig lieben –

Herr: Wen?

Silvius: Cornelia, mein Mädchen!

Herr: Ah! Die Tochter des geheimen Regierungsrates! Sie haben Geschmack! Ein hübsches Kind!

Silvius: Und jung wie die Jugend! 17 Jahre!

Herr: Das heißt: Grade so alt wie Sie!

Silvius: Bitte ich bin 17 dreiviertel!

Herr: Da sind freilich 9 Monate … Spielraum zwischen Ihnen! Grade soviel wie genügen, um ein Kind in die Welt zu setzen.

Silvius: (entsetzt) Wie?

Herr: Verstehen Sie mich nicht? Ich sagte: Wenn Cornelia nun ein Kind bekommt?

Silvius: Aber ist denn das möglich?

Herr: Natürlich ist das möglich! Sie lieben Cornelia doch?

Silvius: Gewiss … gewiss …

Herr: möchten Sie kein Kind haben? … einen Buben, einen Sohn, der Ihnen gleicht, mit blauen Augen, blonden Haaren – oder ein zweites Mädchen – ganz wie Cornelia?

Silvius: (breitet die Arme) Ein Kind! Ein Kind!

Herr: Freilich dürften Sie Cornelia nicht zur unehelichen Mutter machen. Sie stammt aus einer sehr vornehmen Familie, wo das nicht üblich. Sie müssten sie heiraten.

Silvius: Heiraten? Aber ich bin noch nicht volljährig und habe keinen Pfennig Geld.

Herr: Ich werde Ihnen so viel vorstrecken, wie Sie brauchen, um mit Cornelia nach England zu fahren. Dort bedarf man zur Eheschließung die Volljährigkeit der 21 Jahre nicht, und außerdem legt kein Mensch dort auf gültige Ausweispapiere irgend einen besonderen Wert. Sie lassen sich in London trauen und kehren dann als Mann und Frau zurück. Die >Familie steht vor einer vollendeten Tatsache. Sie wird sich damit abfinden müssen. Sie können Cornelia ewig lieben und dürfen ungestraft hundert Kinder haben.

Silvius: (Exaltiert): Mein Herr – woher kommen Sie?

Herr: Vom Himmel – wie Ihnen mein Name schon andeutete. Hier haben sie Tausend Mark und auf Wiedersehen!

Silvius: Wie soll ich Ihnen danken?

Herr: Durch die Tat! Immer tun, was man denkt! Hören sie! Durch ungetane Tat sich nicht das Hirn vergiften! Guten Abend mein Junge! (Durch die Tür links ab)

(Es wird wieder halbdunkel im Zimmer. Draußen der Mond tritt aus den Wolken)

Silvius. (Auf dem Fensterbrett):

Wenn ich der holden Seligkeit denke,
Die mir Cornelia, den Anblick schafft,
Wie ich von einem rauschenden Getränke
Benommen ganz und gar dahingerafft.

Der Mond ist unser freundlichster Genosse:
Er wünscht uns Diener und Prophet zu sein
Und führt auf seinem goldnen Zauberrosse
Uns in das Paradies der Seufzer ein.

Vierte Szene
(Vor den letzten Häusern der Vorstadt. Links große weiße Hinterwände. Rechts im Hintergrund Wald.) 

(Wenn der Vorhang hoch geht, spielt der Leierkastenmann, ein klappriges Gestell mit Totenkopf und einem Holzbein, einen Militärmarsch. Invalide. Viele Denkmünzen. Kinder: Buben und Mädchen umtanzen ihn. Der Leierkastenmann hört auf zu spielen. Er zieht den Hut. Von den Küchenbalkons der Hinterhäuser fliegen Kupferstücke in seinen Hut. Er verbeugt sich)

Ein Kind: Spiel weiter, Mann …

Leierkastenmann: Habe genug gespielt … Mit mir …mit Euch …

Kind: Bitte, Mann

Leierkastenmann; Mich ekelt mein Handwerk, Du weißt es nicht, Bist zu kleine.

Kind: Auch kleine Menschen … sind Menschen …

Leierkastenmann: Immer spielen … damit Kinder tanzen … immer den Kasten drehen, damit Dienstmädchen singen … Es wäre etwas, wenn ich mit meiner Musik zaubern könnte. Die Sonne hervor. Oder dass sie stille stünde. Dass Nacht nicht würde. Sieh, ich habe gespielt, und die Dämmerung hängt schon wie schmutzige Wäsche zwischen den Häusern.

Kind: Wenn unsre Augen glänzen, weil Du spielst: ist das kein Zauber? Freust Du dich nicht?

Leierkastenmann: Nein, es erbittert mich …

Kind: Es ärgert dich? Bist du ein böser Mann?

Leierkastenmann: Es … schmerzt mich …

Kind: Schmerzt dich?

Leierkastenmann: Schmerzt mich, dass ihr mir Gefolgschaft leistet … und wisst nicht wohin … Ich führe und verführe Euch.

Kind: Wozu? Wohin?

Leierkastenmann: Zum dunklen Tod, der dort im Walde wohnt, Einsiedler heißt, und bärtige Güte scheint.

Kind: Mutter erzählte von ihm: Nannte ihn heilig und fromm.

Leierkastenmann: Mütter lügen … Es ist ihr Hand- und Seelenwerk. Wozu gebären sie euch unter kindischen Schmerzen? Sie surren: Zum Licht, zur Lust, zum Leben. Ich sage Dir: Glaube deiner Mutter nicht. Sie hat einen Pakt mit dem Einsiedler im Walde dort. Alle Mütter haben einen Pakt mit ihm. Er schenkt ihnen Gold und Eitelkeit und eine viehische Lüsternheit der doppelbrüstigen Leiber. Dafür gebären sie ihm Kinder. Er reißt euch das Herz aus dem Bauch und trinkt euer Blut. Er redet euch vor, es sei groß, einen heldischen Tod zu sterben; Und ihr bietet die Brust jauchzend seinem Messer, verneinend die Unsterblichkeit zu ernten, wenn er goldne Gier in eure Wunden sät …

Kind: Ich begreife dich, Mann … Auch ich muss in den Krieg, wenn ich groß bin … dann marschiere ich unter der Fahne und töte den Feind …

Leierkastenmann: Du tötest dich … und deine unverständige Mutter … Ei wer sagt die denn, dass du in den Krieg musst? Wer heißt dich denn, mir zu folgen, wenn ich auf der Drehorgel die wilden Märsche spiele? Wahre dein Ahn, dass es an unreiner Flamme sich nicht entzünde! Mein Leben … und meinen Tod zu verdienen , bin ich gezwungen, diesen schwarzen Kasten zu drehen … Hütet euch! Ich kenne den Krieg! Er tönt Vernichtung, Er tönt Gewinsel. Er tönt Taubheit, Trägheit, Trübsal, Untreue, Feigheit, Tücke, Mord, Raub, Blutschande und jedes Laster. Seht meine Medaillen hier: Jede das prahlerisch blinkende Bildnis einer Schlacht. Einer verlorenen Schlacht … der Geister. Eine gewonnene Schlacht … der Götzen. Hütet euch … und eure Mütter!

(Er beginnt auf der Drehorgel den Radetzkymarsch zu spielen) 

Cornelia uns Silvius kommen des Weges, Hand in Hand

Silvius: (wirft ihm eine Münze zu) Spiel uns ein Hochzeitslied, Leierkastenmann.

Leierkastenmann: Zu Diensten gnädiger Herr … (Spielt: Schön ist die Jugend bei frohen Zeiten, schön ist die Jugend, sie kommt nicht mehr).

(Die Kinder tanzen um Silvius und Cornelia einen Reigen. Silvius und Cornelia Stehen ganz still, Cornelia den Kopf auf seine Schulter gelehnt. Der Reigen löst sich. Der Leierkastenmann dudelnd ab, ihm nach in einer bunten Schlange die Kinder)

Cornelia: Da stehen wir nun; allein und ganz verlassen.

Silvius: Sind wir uns nicht selbst genug?

Cornelia: (schaudernd); doch Liebster.

Silvius: Siehst du den Wald überm Horizont?

Cornelia: Ja; er droht so dunkel, wie unsere Zukunft.

Silvius: Wir müssen durch ihn hindurch.

Cornelia: Ich habe nur Halbschuhe … und ein Seidenkleid … Die Dornen werden es zerreißen … die Schuhe im Sumpfe stecken bleiben …

Silvius: Ich trage dich. Ich fühle mich so stark wie Christophorus, als er Christus über den Strom trug …

Cornelia: Bin ich dein Christus?

Silvius: Meine Christine! Meine Cornelia!

Cornelia: Was wird Mama sagen, wenn ich heute Abend nicht nach Hause komme? Sie wird weinen und Papa wird noch nachts auf die Polizeiwache gehen. Sie werden die Teiche absuchen, ob ich mich ertränkt, die Wälder, ob ich mich verlaufen habe …

Silvius: In den Herzen der Menschen können sie nicht suchen. Sonst würden sie dich finden – bei mir.

Cornelia: Wir schicken Papa und Mama ein Telegramm – aus England – meinst du nicht? Einfach so: Als Vermählte empfehlen sich: Cornelia und Silvius. Herzlichen Gruß aus Wiedersehen! (lachen beide)

Silvius: Mein Engel! Ich heb dich in den Himmel, wohin du gehörst!

Cornelia: hast du das Geld noch, welches die der fremde Herr gab? Sieh einmal nach!

Silvius: (Kramt in der Tasche. Zieht einen verknitterten Tausendmarkschein heraus). Da …

Cornelia: Du … Wir schlafen heut Nacht in einem ganz erstklassigen Hotel mit Himmelbetten, eigenem Bad, fließendem warmen und kalten Wasser, Lichtsignalen, Doppeltüren, einer rot befrackten Musikkapelle, einem kleinen Mohren als Liftboy. Wir lassen uns das Souper auf dem Zimmer servieren! Salm, Truthahn, Eis mit Früchten. Und wir trinken soviel Sekt, bis wir einschlafen, Wir lassen uns Sekt noch ans Bett stellen und trinken im Bett noch weiter, bis wir einfach nicht mehr können.

Silvius: Maßlose! Grenzenlos!

Cornelia: Wir spielen Mann und Frau und schlafen in einem Bett und schreiben uns ins Fremdenbuch: Silvius und Frau. Liebster (Küsst ihn)

Silvius: Freust du dich auf das Schiff, Mädchen? Wir werden das Neer sehen! Das Neer, das an keine Ufer schlägt.

Cornelia: Die Sonne, die nicht versinkt.

Silvius: Den Wind, der nicht verweht.

Cornelia: Den Leuchtturm, der besteht … und ewig leuchtet

(Ein Polizist kommt)

Polizist: es ist schon halbe Nacht. Was haben sie sich hier auf den Wiesen noch herumzutreiben? Sind sie obdachlos?

Cornelia: Was will der blaue Teufel?

Silvius: Sei ruhig, Liebste … wir sind weder obdachlos, Wachtmeister, noch treiben wir uns hier herum. Wir werden herumgetrieben auf dieser mathematischen Konstruktion, Erde genannt, in dieser Luftbewegung; welche Leben heißt. Verstehen sie?

Polizist: Schwatzen sie nicht und machen sie, dass sie in die Stadt kommen, sonst bringe ich sie zur Wache.

Silvius: Dazu haben sie keine Berechtigung.

Polizist: Sieh mal einer an: Keine Berechtigung. Die Polizei hat zu allem Berechtigung.

Silvius: Sie nimmt sich die Berechtigung. Abe sie hat nicht das Recht, sondern nur die Macht, und da ist etwas schimpfliches. Menschen erniedrigen: nichts ist niedriger.

Polizist: Ich wittere Widerstand gegen die Staatsgewalt. Leider begreife ich sie nicht.

Cornelia: Gute Nacht, blauer Mann. Ich hoffe, sie werden uns eben so viel Glück bringen, wie ein Schornsteinfeger oder wie ein Schimmel, der einem von links über den Weg läuft. Schimmel, die einem von links über den Weg laufen, sind sehr selten. Aber noch seltener ist ein freundlicher Schutzmann. Wachen sie so gut, wie wir schlafen werden im Bett unseres Himmels, in unserem Himmelbett.

(Beide lachen ab) 

Fünfte Szene
(Komfortabel eingerichtetes Zimmer in einem erstklassigen Hotel)

Zimmerkellner: (Mit den polizeilichen Anmeldeformularen): Wollen sie sich bitte einschreiben –

Cornelia: (An Silvius geschmiegt, welcher schreibt: Silvius und Frau. Sie klatscht in die Hände.)

Zimmerkellner: Haben die Herrschaften noch Gepäck?

Silvius: Das Gepäck trifft morgen ein. Es ist mit dem Zug nicht mehr mitgekommen.

Zimmerkellner (zieht die Stirn kraus): Gut … Gut … Haben die Herrschaften noch einen Befehl?

Silvius: (Zündet sich eine Zigarette an)

Cornelia: (Auf und nieder tanzend): Wir wohnen in einem Schloss! Wir sind Grafen! Königliche Hoheiten! Welch ein Abstand von dem Kirchhof, da wir uns kennen lernten! Dorr Efeu über feuchtem Moos! Hier seidene Decken über weißem Daunen! Dort der ewig unverwandelt scheinende Mond. Hier das elektrische Licht, das man auf- und abstellen kann, nach Beleieben (macht mehrmals hell und dunkel)

Silvius: (Stehend bleibend): Schilt mir den Mond nicht! Kind des Mondes!

Cornelia: Einst mussten wir auf Grabsteinen sitzen. Hier nehmen Ledersessel willig unsre Glieder auf. Ein marmorner Knabe, Abbild es Todes, die Fackel im Sand verlöschend, schien ehemals der Inbegriff, Aus- und Eindruck der Kunst. Sieh hier an den Wänden diese heiteren Bilder: Venus schwebt auf der Kugel des Glückes, von den gepanzerten Liebhabern auf schnaubenden Rappen verfolgt … Hier: Braune Haremsfrauen, von Opium, Näscherei und Liebe träge ganz betäubt … und hier: Nur Farbe und Linie: Violette rote, grüne, silberne Dreiecke, aus Papierschnitzeln übereinander geklebt, Kreise, sich schneidende Ellipsen … Parallelen, die sich in der Unendlichkeit treffen …

Silvius: In unserem Herzen …

Cornelia; (tritt links an eine Tür, knipst das Licht an): Silvius! Ein Badezimmer – ganz in weiß und blau! Meer und Sonne in eins.

Silvius: (Küsst sie): Liebes Mädchen – lass uns zusammen baden – gemeinsam uns von dem Staube reinigen, der von jener anderen Welt … der Friedhöfe, der Familienblattromane und der Warenhäuser noch an uns zurückblieb. (Er geht in das Badezimmer und lässt das Wasser einlaufen)

Cornelia: Silvius … du sahst mich noch niemals nackt … Glaubst du, dass ich schön bin?

Silvius: Schön wie die Statue der Artemis in ihrem Tempel in Corinth … schön wie die Nike von Samothrake … schön wie ein Holzschnitt eines chinesischen Meisters … Schöner, Mädchen, schöner … denn du lebst!

Cornelia: Silvius … ich schäme mich nicht vor dir …

Silvius: die wahre Liebe kennt keine Scham mehr, sie ist über alle Tugenden und Laster hinaus; über die Erde hinaus, in den dünnen Äther gelangt, wo gewöhnliche Sterbliche nicht mehr atmen können.

Cornelia: (Kniet vor ihm nieder): Lass mich dir die Schuhriemen lösen und dir die Schuhe ausziehen – bitte

Silvius: Ich bin‘s nicht wert –

Cornelia: Lass mich Maria Magdalena sein! (Sie knüpft an seinen Schnürsenkeln. Der Vorhang fällt.

Sechste Szene
(Auf dem Schiff)

Silvius und Cornelia im Bug

Silvius: Mir ist, ich wäre Columbus und entdecke Amerika … Es schrie heute Nacht im Traum; Heimat … Jemand schrie Heimat … Er soll die Heimat sehen … oben vom Heck … Zieht ihn am Mastbaum hoch…

Cornelia: Silvius … du fieberst…

Silvius: Mein Blut hinter der Stirne donnert. Eine Palme sprießt aus meinem Scheitel … Ein Affenpärchen schaukelt sich drin.

Cornelia: Silvius: Du weilst in fremden Ländern, die ich nicht kenne. Wo bist du? Hole mich! Nimm mich mit!

(Silvius auf- und abschreitend, bleibt dann stehn, die Hand über den Augen)

Silvius: Ich sehe einen schwarzen Streifen am Horizont …

Matrose: (Ist näher getreten): Sie leiden an Kurzsichtigkeit. Bedürfen einer Brille. Es ist ein Delphin.

Silvius: Ich sehe eine grüne Insel und entgegen schwimmen –

Matrose: Tang und Algen .

Silvius: Ein Vogel, naher Küste entflogen, schwirrt übers Deck.

Matrose: Es ist ein fliegender Fisch.

Silvius: (Aufstampfend): Was wollen sie? Haben sie das perpetuum mobile entdeckt? Beschäftigt sie die Quadratur des Zirkels? Habe ich sie um die Korrektur meiner Sehschärfe gebeten? Ich will mit meinen Augen sehen – nicht mit den Ihren. –

Matrose: Entschuldigen sie, wenn ich die Wahrheit sagte …

(Entschwindet) 

Cornelia: Was wollte der Mann?

Silvius: Dich wollte er mir rauben … dich, den Herrn im gelben Mantel, meinen Glauben, meinen Glanz, mein blondes Glück!

Cornelia: Hörst du? Die Schiffsmusik spielt. Wollen wir tanzen gehen?

Silvius: Tanzen am hellen Tag?

Cornelia: Nachts schweben wir mit den Sternen, tags mit den Möwen. Komm, das Schiff schwankt.

Silvius: Das Schiff – unser heiliges Bett – komm lieben, Cornelia …

Siebente Szene
(Bürgerliches Wohnzimmer beim geheimen Regierungsrat)

Regierungsrat: Ich habe alles versucht, auf die Spur von Cornelia zu kommen. Wie ein Jagdhund durchschoss ich die Stadt. Ich kann mir keine Vorwürfe machen. Die Polizei, die öffentliche und die geheime, ward alarmiert. Ausrufer klingelten in den Straßen. Radfahrer stoben nach allen Seiten. Plakate an den Anschlagsäulen schreien spinatgrün und protzig: Kehre zurück, Cornelia, es ist alles vergeben. – Ich tat, was sich tun ließ. (reibt sich die Hände) Es ist so kalt im Zimmer. Du hast nicht genug eingeheizt. Peinlich, diese Sparsamkeit, Ich werde mir Influenza holen, und der Arzt wird kommen müssen. Arzt kostet mehr als Kohlen. Bedenke dies! Lass heizen!

Regierungsrätin: Ich bitte dich, Paul, reg dich nicht auf. Danke Gott, dass du mich hast. Von deinen sechstausend Mark Gehalt kann man keine Kängurusprünge machen. Zur dürftigen Eleganz, zum sonntäglichen Kalbsbraten, zum Skatabend mit Punsch und Glühwein, aus chemischen Würfeln bereitet, reicht‘s allenfalls. Die Kohlen sind unerschwinglich im Preise gestiegen…

Regierungsrat: Verschone mich mit deiner Haushaltung. Ich friere. Dies sei konstatiert, Nichts weiter. Basta.

Regierungsrätin: Männchen!

Regierungsrat: Nun ja. – 

Regierungsrätin: Denk an Cornelia!

Regierungsrat: Denk ich nicht immer an sie? Bin ich vielleicht kein Vater?

Regierungsrätin: Mädchenhändler werden sie entführt haben — in ein Freudenhaus … nach Südamerika … man hat das jetzt viel. Man liest es täglich in der Zeitung. Ach mein armes Kind …

Regierungsrat: Weiber flennen, Der Mann schätzt die Tat. Mehr als tun – kann man nicht. Ich tat. 

Regierungsrätin: Telegrafier doch mal nach Hamburg … sie sollen den Hafen absperren …

Regierungsrat: Mädchenhandel geht via Marseille. 

Regierungsrätin: Ach Gott … Ach Gott 

Regierungsrat: Geh in die Kirche beten. Zuweilen gibt es Gott. Man sei getrost Atheist, doch glaube man im richtigen Augenblick an ihn … das wirkt … Wunder. 

Regierungsrätin: Du bist bedeutend! Verzeih, wenn ich dich manchmal nicht begreife. Bin dumm. Habe Nachsicht mit mir. 

Regierungsrat: Schon gut – aber was nun? 

Regierungsrätin: In acht Tagen sind wir 25 Jahre verheiratet. Silberne Hochzeit ohne unser Kind? Unser Goldenes? 

Regierungsrat: Die Feier wird abgesagt. Wir legen Trauer an. 

Regierungsrätin: (aufschreiend) Du glaubst? 

Regierungsrat: Gewiss nicht, beruhige dich, Mathilde .

Regierungsrätin: Du weißt? Du hast Anhalte? 

Regierungsrat: man muss auf alles gefasst sein: Nichts sonst. Schwarz eignet der Würde unseres Zustandes am besten. Lass dir ein schwarzes Seidenkleid machen.

Regierungsrätin: Wo schweifst du hin? Die Schneiderin stundet nicht mehr. Das Letzte ist noch nicht bezahlt.

Regierungsrat: So wechsle die Schneiderin! Ich bin eine königlicher Beamter! Wer darf es wagen, an meiner Kreditwürdigkeit zu zweifeln?

Regierungsrätin: (Schnurrend) Zum schwarzen Kleid gehört ein schwarzer Hut.

Regierungsrat: Er werde, erträumt kaum, Wirklichkeit!

Regierungsrätin: Schatzi!

(Es klingelt) 

Regierungsrat: Besuch um diese Stunde? Wer mag es ein?

Regierungsrätin: Tante Linchen?

Regierungsrat: (strafft sich): Meldung von der Polizei? 

(Das Dienstmädchen tritt auf) 

Dienstmädchen: (Verlegen mit der Schürze spielend) Herr Regierungsrat … 

Regierungsrat: Nun … Heraus mit der Sprache… 

Dienstmädchen: Herr Regierungsrat …

Regierungsrat: Nun … Wird’s bald? 

Regierungsrätin: Was ist mit Ihnen, Emma?

(Die Tür geht auf: Darin erscheinen Silvius und Cornelia)

Regierungsrätin: Nellychen!

(fliegt ihr entgegen. Umarmung – Silvius steht, ein wenig verlegen, im Hintergrund)

Regierungsrat: Was wünschen sie junger Mann? 

Silvius: Ich habe ihre Tochter begleitet. 

Regierungsrat: Fräulein Tochter!

Silvius: Frau Tochter!

Regierungsrat: Widersprechen sie nicht!

Silvius: Doch! 

Regierungsrat: Moderne Jugend!

Silvius: Ja! 

Regierungsrat: (stampft mit dem Fuß auf): Unerhört.

Silvius: Wahr … 

Regierungsrat: haben sie mein Fräulein Tochter gefunden? Wollen sie Finderlohn?

Silvius: Lohn? Nein. Ich habe meinen Lohn dahin. Gefunden? Ja, ich habe sie gefunden! Bei den Toten! Und habe sie zum Leben erweckt.

Regierungsrat: Reden sie klar und deutlich, präzise und bestimmt. Wer sind sie? 

Silvius: Der Gatte ihrer Tochter! 

Cornelia: Papa! 

Regierungsrat: Was soll das heißen? Unterlassen sie es, mit unangebrachten Späßen und Clownereien das Elternherz zu kränken und zu höhnen!

Silvius: Ich habe weder die Absicht, sie zu kränken oder zu beleidigen, noch sie zu höhnen. Ich habe Mitleid mit ihnen, Greis…

Regierungsrat: Ich verbitte mir ein für alle mal diese rüpelhafte Respektwidrigkeiten!

Cornelia: Mama … Papa… Silvius sagt die Wahrheit … er sit mein Gatte, mir rechtlich angetraut … in London …

Regierungsrätin: Komm zu dir, Nellychen, du bist verwirrt …

Silvius: Cornelia spricht die Wahrheit …

Regierungsrätin: Mein Gott … die Schande! … Es kann nicht sein! –

Regierungsrat: Wie alt sind Sie? 

Silvius: Siebzehndreiviertel. 

Regierungsrat: Vermögen?

Silvius: Keins.

Regierungsrat: Einkommen? 

Silvius: Ebenso wenig

Regierungsrat: Wovon wollen sie leben?

Silvius: Von ihnen, sie sind reich.

Regierungsrat: Reich? Ich? Erpressung! Ich kenne das. Bedachte es schon. Sie erhalten keinen Pfennig. Verlassen sie das Haus.

Silvius: Nicht ohne meine Gattin –

Regierungsrat: Bursche! Verbrecher! Mörder! Untergraben maulwurfsgleich den fest gestampften Boden der Familie …

Silvius: Festgestampft von Ochsen und Eseln. Jawohl.

Regierungsrat: Sie wagen es?-

Silvius: Wahr zu sein! 

Regierungsrätin: Nellychen! 

Regierungsrat: Hinaus!

Silvius: Komm Cornelia.

(Cornelia löst sich aus der Umarmung ihrer Mutter) 

Cornelia: Ich bleibe bei dir, Silvius

Regierungsrätin: Nellychen, geh nicht von mir …

Cornelia: Ich kann nicht anders, Mama. Ich liebe Silvius, wie du Papa liebst. Wenn man dir sagte: Verlass Papa – würdest du es tun? Würdest du Papa verlassen?

Regierungsrätin: Was wird Arved, dein Bruder sagen, er ist Korpsstudent —

Regierungsrat: Auch ich war Korpsstudent. Bin alter Herr der Saxo-Thuringia. Entartete! Aus dem Haus!

Regierungsrätin: Mann! Sei barmherzig.

Regierungsrat: Bin’s. Oft heißt barmherzig, hart sein.

Regierungsrätin: Gott mit dir, Cornelia…

(schluchzend)

Achte Szene
(Straßenecke)

Silvius: (Ausrufend) Nationalzeitung – Abendblatt. Großes Grubenunglück in Schlesien – dreihundert Verschüttete – Nationalzeitung – Abendblatt –

Cornelia: Kaufen sie Streichhölzer – Kaufen sie Streichhölzer –

Ein eleganter Passant: Eine nette Kleine. Da (Kauft ihr eine Schachtel ab). Ich möchte mein Streichholz an ihnen anzünden – wann und wo kann ich sie treffen?

Cornelia: An dieser Ecke – sonst nirgends … Ich bin verheiratet …

Passant: Verheiratet? Das macht nichts. Ist ihr Mann auch eifersüchtig, wenn man ihm einen Grog und ein warmes Abendessen spendiert? Wie?

Cornelia: So gehen sie doch weiter …

Silvius: Nationalzeitung – Abendblatt – großes Grubenunglück in Schlesien – dreihundert Verschüttete – Raubmord in Schlachtensee – der Täter verhaftet –

Passant: Wer ist denn der hübsche Junge, der hier neben ihnen Zeitungen ausruft?

Cornelia: Mein … Mann …

Passant: Aber das ist ja nicht möglich … Sie sind ja zwei Kinder … das ist doch noch ein Knabe …

Cornelia: Dieser Knabe – ist mein Mann …

Passant: Behalten sie die zwanzig Mark – und die Streichhölzer dazu – Guten Abend (ab)

Cornelia: Silvius ….

Silvius: Hast du gut verkauft? Du hast ja fast alle Streichhölzer noch … Cornelia … wir werden heute Abend wieder nichts zu essen bekommen …

Cornelia: Doch, Silvius, sieh hier … zwanzig Mark

Silvius: Wie kamst du zu dem Reichtum?

Cornelia: Ein vornehmer Herr hat sie mir geschenkt … Erst sann er mir an … mich zu verkaufen … dann rührte ich ihn … er wurde gut – und gab sie so.

Silvius: (Zornig) Gib her (Cornelia gibt ihm den Zwanzigmarkschein. Er zerreißt ihn in keine Fetzen). Da … da …. Diese Geld Stinkt nach Kloake … es fasst sich schleimig an wie Gallert … Da … wie die Fetzen auf den feuchten Asphalt klatschen … lauter kleine Kakerlaken … andere laufen wie Wanzen davon …

Cornelia: (Dem Weinen nahe) Was tust du Silvius … wir hätten Holz und Kohle kaufen können … und Brot und Fleisch … und eine Woche zu leben gehabt …

Silvius: Ich will nicht von dem Kot der andern leben … Bin kein Kakophage. Will Früchte essen, die ich selber zog am Spalier, und ernten, wo ich säte. Will in meinem Zimmer leben, in meinem Bette schlafen, mit meinem Weib, – (rufend) Nationalzeitung – großes Grubenunglück in Schlesien – dreihundert Verschüttete – Raubmord ich Schlachtensee – der Täter verhaftet – in Treptow auf der Sternwarte ein Mondsüchtiger abgestürzt –

(Ein Herr im gelben Mantel, gelbem Zylinder, gelben Stiefeln, gelbem Handschuhen, einen gelben Spazierstock in der Hand, bleibt stehen)

Herr: Die Nationalzeitung bitte!

Silvius: Bitte sehr, mein Herr … Danke, mein Herr.

Herr: Kommen sie hier unter die Laterne! Kenne ich sie nicht? Kennen sie mich nicht?

Silvius: (erkennend) Mein Wohltäter!

Herr: Finde ich sie so wieder? Ich bin betrübt, sie in diesen Umständen zu sehen. Sie erzählten mir bei unserer ersten Begegnung von ihrem Mädchen. Wie geht es ihr?

Silvius: Dieses Mädchen ist meine Frau. Dort am Rinnstein steht sie und verkauft Streichhölzer.

Herr: Verkauft Streichhölzer? Die Tochter des wohlhabenden Regierungsrates? Verkauft Streichhölzer?

Silvius: Der Regierungsrat hat uns die Tür gewiesen, als wir aus England kamen und verheiratet vor ihn traten. Wir sind zu stolz und unserer gerechten Sache zu gewiss, um seine Zustimmung oder sein Wohlwollen von ihm – zu erbetteln.

Herr: Und die Dichtkunst, mein junger Freund, wie steht es damit? Schreiben sie noch Gedichte?

Silvius: (den Kopf senkend) Seit unserer Rückkehr aus dem Inselland habe ich kein Gedicht mehr geschrieben. Ich muss nur immer daran denken, das Notwendigste an Kleidung Und Unterhalt herbeizuschaffen. Da bleibt keine Zeit zu Gedichten. Und selbst – zur Liebe ist die Zeit so kurz bemessen –

Herr: Sie spielen irgendein Musikinstrument? Geige? Flöte?

Silvius: Ich spiele Klavier.

Herr: Ausgezeichnet. Cornelia singt? Hat Befähigung zur Atrice? Tanzt!

Silvius: Wie ein Stern. Wie eine Libelle. Wie eine Möwe.

Herr: Vortrefflich. Ich leite zur Zeit ein kleines Kabarett in meinem exzentrischen Weinhaus. Folgen sie mir. Ich engagiere sie als Klavierspieler! Cornelia als Sängerin … Schauspielerin … Tänzerin … als die hüpfende. Schluchzende, singende, leibhaftige Dreieinigkeit.

Cornelia: (ruft) Streichhölzer … Streichhölzer … kaufen sie Streichhölzer …

Silvius: Cornelia …

Cornelia: Mein Silvius!

Silvius: Darf ich dir unsern Wohltäter vorstellen? Verzeihen sie, ich habe ihren Namen vergessen, aber es klang wie Himmel oder Licht …

Herr: Namen tun nichts zur Sache. Nichts zur Idee. Ich bin entzückt, gnädige Frau, ihre Bekanntschaft zu machen. Ihr Gatte, den vor ihrer Hochzeit zu kennen, ich schon das Vergnügen hatte, hat mir in einsamer Mondnacht viel von ihnen vorgeschwärmt. Ja: geschwärmt wie ein Nachtschmetterling, der in einem fort um dieselbe Flamme schwirrt. Sie haben bezaubernde Beine, gnädige Frau, einen Heitern Gang, melancholische Augen! Eine äußerst schmackhafte Mischung aus Rotwein, Sekt und kandierten Früchten. Das Publikum wird rasen. Wir können einen Einakter von ihnen spielen, Silvius. Ein expressionistisches Volkslied – Gleichsam als Sketch dargestellt. Wir werden donnernden Applaus ernten. Wir werden Erfolg haben. Kommen sie, meine Kinder.

Neunte Szene
(Exzentrisches Kabarett. Schräg rechts kleine Bühne mit Vorhang. Links Zuschauerraum; an Tischen und in Logen viele elegantes und halbelegantes Publikum)

Cornelia (auf der Bühne, im Flitterröckchen, singende, Silvius am an Klavier):

Guter Mond du stehst so stille
Zwischen Wolken auf der Wacht.
Deines Schöpfers weiser Wille
Stellte dich in unsre Nacht.
Leuchte freundlich jedem Müden
Ins gequälte Herz hinein.
Und dein Schimmer gieße Frieden
Über Feld und Wald und Rain.

Guter Mond, du wandelst leise
An dem blauen Himmelszelt,
Wo dich Gott zu seinem Preise
Hat als Leuchter hingestellt.
Blicke traulich zu uns nieder
Durch die Nacht aufs Erdenrund:
Als ein neuer Menschenhüter
Tust du Gottes Liebe kund.

Guter Mond, so sanft und milde
Glänzest du im Sternenmeer.
Wallest in dem Lichtgebilde
Hehr und feierlich einher.
Menschentröster, Gottesbote,
Der auf Friedenswolken thront,
Zu dem schönsten Morgenrote
Führe uns, du guter Mond.

(Bravo und Händeklatschen des Publikums. Selbst der Herr in gelb ist sichtbar gerührt. Er fährt sich mit einem gelben Taschentuch über die erhitzte Stirn. Cornelia tanzt als Zugabe einen Walzer von Chopin. Erneute Beifälle. Als er sich gelegt, springt der)

Herr in Gelb: (auf die Bühne und konferiert): Meine verehrten Damen und Herren! – Nachdem sie Fräulein Cornelia, der Star unseres Ensembles, mit ihren Gesangs- und Tanzkünsten erfreut hat, folgt ein dramatischer Einakter neusten Stils – wir bringen stets nur das Neueste – betitelt: “Die Drei“, verfasst von Silvius Lang, einem aufstrebenden Talent. Erheben sie sich, Silvius! (Zum Publikum) Es ist der junge Mann am Klavier. (Händeklatschen) >die Rolle der Schwester wird von Cornelia, dem Stern unserer Truppe, die des Bruders von meiner Wenigkeit, die des Fremdem vom Autor selber – dargestellt. Ich bitte um größte Ruhe und Aufmerksamkeit. Die freundlichst geladenen Herren von der Presse sind um ihre besondere Teilnahme gebeten. Fünf Minuten Pause zur Vorbereitung des stilistischen Ausstattungsstückes. Die Einleitungsmusik ist von Mozart.

(Er springt von der Bühne)

(Unterhaltung im Publikum, aus der folgende Gesprächsfetzen vernehmlich aufklingen):

Schreibmaschinenfräulein: Seine Gedichte sind überhaupt von mir … Ich glaube sie getippt, und er hat eine Nacht bei mir geschlafen …

Herr: Tippen sie sich lieber mal an die Stirn, Fräulein!

Erster Börsenmann: Werfen sie sich auf Granatenfabrikation. Das ist eine Bombensache! Ein Bombengeschäft! ich rate ihnen gut…

Zweiter Börsenmann: Ich bitte sie, wer will noch was mit dem Krieg zu tun haben. Friedensware muss geliefert werden!

Erster Börsenmann Sie sind gut: Friedensware! Woher nehmen, wenn nicht stehlen?
Zweiter Börsenmann: Also stehlen …

Kunstkritiker: Die Malerei wird auch immer verrückter. Jetzt nageln sie einfach Bretter übereinander und fotografieren sie. Das ist dann ein Gemälde.

Kunstkenner: Ich bitte sie, warum soll das keine Kunst sein – wo viele Leute Bretter vor dem Kopf haben, die sie nicht einmal fotografieren – und sich dennoch Künstler titulieren …

Cornelia: (Bietet im Zuschauerraum Ansichtskarten feil): Kaufen sie eine Ansichtskarte von mir? Mit Autogramm eine Mark…

Passant: Ich kenne sie, schönes Kind.-

Cornelia: Nicht dass ich wüsste. –

Passant: Erinnern sie sich der Straßenecke, an der sie Streichhölzer verkauften. Haben sie ihren Sinn jetzt geändert? Fünfzig Mark?

Cornelia: Sie irren sich: Mit so billigen Mitteln, um so billiges Geld betrüge ich meinen Schmerz nicht …

Passant: Schmerz also heißt ihr Anbeter? Ihr Gatte?

Cornelia: … Träne meine Schwester, Seufzer mein Bruder … (entschwindet in die Garderobe)

(Die Kapelle spielt einige Takte der Titusouvertüre von Mozart. Dann Klingelzeichen)

 Zehnte Szene
(Der Bruder mit dem Fischnetz kommt den Gartenweg herauf)
 

Bruder: Ich fischte nichts. Zu viel Himmel lag im Wasser. Wolken hingen über den Karpfen und Hechten. Ein einsamer Stern strahlte im Auge des Stichlings. Fliegende Wasserkäfer deuchten sich Adler. Meine Stirn fliegt aus der Tiefe wie ein versunkener Mond.

Jemand: (hat sich über den Grenzzaun gebeugt): Sie angeln?

Bruder: man sieht es. 

Jemand: Locken zum Tod? 

Bruder: Tat will Tod. 

Jemand: Geist will Glück, 

Bruder: Faust packt Ferne.

Jemand: Liebe will Leben. 

Bruder: Sie reden von Liebe? 

Jemand: Ich schaffe Liebe.

Bruder: Sind sie ein Götze? 

Jemand: Gottes Geschöpf. 

Bruder: Treten sie näher. 

Jemand: Nähe verwandelt. 

Bruder: Nähe bezaubert. 

Jemand: Brüderlichkeit. 

Bruder: Sie erinnern mich 

Jemand: An wen? 

Bruder: Sie sagen nicht: Was. Lächeln wenn … 

Jemand: Erkenntnis beglückt.

Bruder: Erkannt werden: Schmerzt …

Jemand: Öffne dein Herz! Brich auf die Scheuer! Blühe Gebüsch!

Bruder: Sehn sie dort auf dem See? – 

Jemand: Das weiße?

Bruder: Den Glanz? 

Jemand: Ein Schwan? 

Bruder: Eine Libelle? 

Jemand: Sie höhnen!

Bruder: Strahlendes Kleid im Boot! 

Jemand: Ein Wesen! Ein Weib!

Bruder: Die Ruder singen. 

Jemand: Im Takte der Sonne.

Bruder: Die Bucht liegt im Schatten. 

Jemand: Ihr Haar weiß noch: Licht

Bruder: Jetzt naht eine Wolke 

Jemand: Sie fröstelt in Feindschaft

Bruder: Der greuliche Geier – 

Jemand: Frisst Funken. Pickt Tag. 

Bruder: Der Diener entzündet,
im traulichen Hause
Den goldnen Kamin

Jemand: Ich warte verdüstert.
Das Weiße wird Weisheit.
Der Tag ist zerronnen,
Die Nacht nicht begonnen,
So zwischen den Zeiten
Erharr ich die Heimat
Und finde wohl … heim.

(Das Boot hat angelegt. Ihm entspringt die)

Schwester: Mein Bruder! Da bin ich!
Umarme die Kleine
Du Großer!
Du Guter!
Ich schwebe, ich lebe,
ich lache, ich wache, Ich träume, ich bin.

Bruder: Schon leuchtet die Venus –
Dich hungert?

Schwester: Nach Liebe –
Nach Lampe im Abend,
Nach Mutter im Traum
Du fischtest  –

Bruder: Vergebens

Schwester: Es sie dir vergeben -.
Die Fische auch freu‘n sich –
Der hüpfenden Flut.

Bruder: Gestatte – Ein Fremdling –

Jemand: So fremd ich nur scheine – Bart hindert das Lächeln
Maskiert mich als Mönchlein.
Ich sah sie von weitem –
Und wünschte sie nah!

Schwester: Ein Mann – wie mein Bruder,
Doch milder bedient.
Sie sind mir willkommen.
Sebastian, der Alte
Wird rüsten die Kammer
Wir decken für drei.

Bruder: Zu dicht süße Schwalbe
Schwirrt über dem Boden –
Deutet auf Sturm –

Schwester: Lass lieber Bruder –
Der Fremde ist freundlich. Du hast ihn geladen

Bruder: Er lud sich von selbst –

Jemand: Ich kam. Weil ich musste.
Das Haus stand am Wege
Der Flieder stand brennen und duftete – weit-
Bis hinter die Wälder dort
Roch in den Garten –
Dieses japanische Blumengebet
Einte mit meiner
Bitte im Licht sich,
Und die Katze
Schrie am Staket.
Und die Birnen
Klangen wie Glocken,
Und die Grillen
Geigten am Stahl.
Jenes Boot dort
Bot sich mir eigen.
Dieses Wesen –
Eignet mir zu –

Schwester: Bruder – ich rief ihn –
Dass ich’s gestehe-
Durch die Nächte
Rief ich zu ihm.
Geier vergehe,
Schleier verwehe,
Blick in sein Auge, Herz ich sein Herz.

Bruder: Gaukler und Räuber:
Mir aus dem Auge,
Mir aus dem Wege
Oder ich hetze die
Hunde auf dich.

Schwester: Bruder: Er füllt in
Leere Schalen
Blut und Erfüllung,
Glück und Gesang.
Lass uns zu dreien Schlagen die Harfe
Stimmen himmlischen
Dreigesang-

Jemand: Lass uns zu dreien
Leuchten im Äther.
Leuchten himmlisches
Dreigestirn.

Bruder: Bin ich verraten?
Bebt nicht der Boden?
Zuckt nicht die Erde?
Bellt nicht der Hund?
Langhin heult er –
Gilt‘s einem Toten? –
Bin ich der Tote?
Gaukler – du seist’s!

Schwester: Bruder sag: Bruder
Ich begreife,
seit ich ihn greife
Besser auch dich.

Jemand: Hab ich die Schwester?
Halt ich den Bruder?
Durch die Wälder-
Ging ich umsonst?
Ich gewann in
Geißlung und Güte
Die Vollendung.
Bin ich am Ende?
Bin ich zu end?

Schwester: Bruder – wir lieben-

Jemand: Bruder – wir leben.

Schwester: Lass uns am Leben!

Bruder: Nacht ist gekommen.
Fisch ist verschwommen.
Totenwurm pickt schon
Sonn fiel vom Dach
Wie ein Bündel
Brennendes Stroh.
Kröte schleicht durch
Küche und Keller,
Und die Eule
Jubelt so.

Schwester: Mein Bruder – du redest im Fieber-
Nachtluft schadet der schwächlichen Lunge.
Komm ins Haus – der Teekessel summt.
Auf dem Tisch stehn Eier und Schinken,
Post liegt unter der Serviette.
Asien und China
Senden dir Märchen,
senden dir Abenteuer und Gruß.

Jemand: Gerne helf ich bei Ihrer Arbeit –
Falter stechen und Käfer ordnen,
Die verpuppten Raupen behüten
Und die Molche füttern ins Glas.

Schwester: Gerne hilft er dir – hilf du auch ihm-
Er ist besser als jeglicher Mensch.
Wolle ihn lieben! Wolle den Willen!
Und die Götter segnen uns drei!

Bruder: Zwei bleibt zwei und werden nicht Dreiheit.

Jemand: Gott ist drei und eines zugleich.

Bruder: Meine Liebe fühlt sich verraten.

Schwester: Deine Liebe – liebt nur dich selbst.

Bruder: Ha: Ich hasse  – (ein Echo ich liebe)
Welches Echo? Welche Verfälschung!
Gott erniedrigt zum Wunder sich!

Jemand: Bist du selbst nicht ewiges Wunder?
Wunderlicher fiebriger Herr.

Bruder: Taschenspieler! Taschendieb! Dich
Sandte Gott, der ewige Stümper,
Mich zu reizen. Doch er reizt mich – nur zum Gelächter (lacht).
fahre zum Himmel, der dich gebar.

(Stürzt auf ihn zu und erwürgt ihn mit seinen Händen.)

Schwester: Bruder! Mörder! Brudermörder!

(Stürzt sich auf die Leiche nieder)

Bruder: (Nimmt seine Angel zurück): Ich gehe jetzt … Fische Angeln … Es ist Vollmond … da beißen die Fische gut an … wenn sie den Köder … so gut sehen … Ich werde das Boot nehmen … und ein wenig auf den See hinausfahren … Ich werde mir die Augen aus dem Kopf reißen … und damit angeln. Denn wozu habe ich es noch nötig, zu sehen?

Ich werde mir das Herz aus dem Leibe schneiden. Denn wozu brauche ich noch zu leben? Guter Mond – bist du auch wirklich gut? Und bist du auch … wirklich?

Elfte Szene
(Straße im Mondschein)

Silvius: (Mondsüchtig auf dem Dache tanzend): Sehr geehrter Herr — Was heißt das: Sehr geehrter Herr? Ich verstehe eure Anrede nicht ganz. Wenn ich so wäre, wie ihr mich darstellt … auseinandergefallen und eurer selbst nicht mächtig: Es wäre nicht viel an mir zu ehren, und ihr hättet mich, da ihr mich nun einmal als Theaterbösewicht seht, gleich: Schurke! Drüber schreiben sollen. Diese ein wenig leicht gesagten Worte mögen euch nicht darüber wegtäuschen. Dass ich mich als der fühle, an dem es wäre zu verachten … Es steht Schwankenden und Taumendeln nicht zu, einen, der mit beiden Beinen auf der Erde steht, einen Haltlosen zu nennen. Cornelia … wenn es dir möglich wäre, einen schlechten Menschen zu lieben – wie schlecht müsstest du selber sein. Warum bist du mir in diesem Augenblick so weltenfern wie der Sirius? Du bist eines jener Gestirne, deren Strahlen wir armen Menschen noch immer sehen – obgleich sie sie schon Jahrtausende erkaltet … Cornelia: schließe die Augen! Erinnere dich jedes meiner Worte … jedes meiner Blicke … aller unserer Umarmungen … aller meiner Gedichte … Und dann dies! … Ich bin außer mir … und mir scheint, als ob ich niemals in mir war … Ich habe nie eine Frau geschlagen. Würdest du es aber wagen, mir dies ins Gesicht zu sagen: Dass ich dich nicht geleibt – es könnte mir beikommen, dir mit einem Schlag meiner Hand die Fratze zu zerspalten … Richtet nicht, auf dass ihr nicht gerichtet werdet. Ich bin es, der, falls er euch einmal begegnen sollte, das Richterschwert schwingen wird.

(Ein Herr und eine Dame auf dem Heimweg)

Herr: Da oben wandelt ein Mondsüchtiger.

Dame: wo?

Herr: Da – über dem Giebel dort –

Dame: Um Gotteswillen nicht so laut, sonst fällt er herunter…

Herr: Gott bewahre …

Dame: Ja: Gott bewahre ihn …

Herr: Heda: Du: Goldener Kranich! Lichttrunkenbold! Mittelsmann zwischen Erd und Mond, lollender Engel, Kometenschwanz, Kugelblitz, fixer Ideenstern – wach auf.

(Silvius entschwebt in den Kulissen)

Dame: Er fällt nicht …

Herr: Geht grade aus wie ein Rekrut auf dem Exerzierplatz.

Dame: Wie ein enthusiastischer Freier, der um die Hand einer Dame anhält.

Herr: Er hat eine gute Konstitution.

Zwölfte Szene
(Dachkammer)

Cornelia: (Im Bett): Ich träume jede Nacht von zuhause. Mama trägt ein neues schwarzes Seidenkleid, auf dem lauter Tränen eingestickt sind. Papa geht immer im Zylinder umher, Arwed, der Bruder fordert in einem fort Satisfaktion von dir.

Silvius: erträgst du mich nicht mehr? Elend zerfranst das Herz. Zermürbt den Felsen. Die Hände werden zittrig. Ich glaube, mir fallen schon die Haare aus.

Cornelia: Trage ich dich nicht immer mit mir herum – unter dem Herzen- ach, ich spüre, jetzt hüpft das Kind wie ein Tänzer. Wird es ein Bube oder ein Mädchen werden?

Silvius: Das ist Tragik: Wenn man fliegen will – und man wird von seiner eigenen Schwere zu Boden gedrückt. Wenn man, sobald man in die Sonne blickt, erblindet.

Cornelia: (Fasst mit beiden Händen an den Kopf): Ich sehe dich – und bin geblendet, aber – Gott will‘s – erblindet nicht.

Silvius: (Heftig sich losreißend): Sage die Wahrheit, Mädchen.

Cornelia: stets sage und b in ich die Wahrheit.

Silvius: Sage die Wahrheit( Tippt auf die Bettdecke) Ist dieses Kind wahrhaftig von mir? O, ich begreife, was es heißt, Vater zu werden. Ich hämmerte mir manchmal den Schädel mit meinen Fäusten entzwei und schreie zum Himmel: Hilf, dass das Kind von mir ist …

Cornelia: (hat sich aufgerichtet) Silvius – habe ich je einen anderen geliebt als Dich?

Silvius: (Brüllend): Der Tote! Du hast den Toten geliebt! Kann das Kind nicht von dem Toten sein? Jede Nacht steigt er aus dem Grabe mit seinen klappernden Knochen, die wie Kastagnetten klingen, und legt sich schamlos zwischen dir und mir ins Bett. Sein Kiefer klappert auf und nieder – er schwört dir ewige Treue – übers Grab hinaus – erst wenn der Morgen grün durch die Scheiben glotzt wie das übernächtige Gesicht eines Trunkenboldes, geht er von dannen – und nimmt einen Seufzer von dir – einen Fluch von mir mit auf den Weg. Wie ich ihn hasse; den Toten: Seit du dich Mutter fühlst (er schüttelt sie) Sprich: Ist das Kind von dem Toten? Wie grauenvoll, dass man die Toten nicht noch einmal tot schlagen kann. Sie leben, die Toten, immer und ewig. Sie gehen durch einen hindurch, als sei man Glas, und sie wären Strahlen. Man kann sie nicht packen, man kann sie nicht halten: sind schwebender Rauch und Schmetterling.

Ich liebe dich, weil ich vom Mond komme . und du meine Sonne bist. Warum müssen wir beide es dulden, dass schwarze Wolken uns verfinstern. Sprich; Wirst du einen Jupiter gebären? Wird es mein Sohn sein?

Cornelia: Es ist dein Kind, so wahr ich lebe.

Silvius: (schreiend): Du lügst! Du lebst nicht mehr! Du stirbst! Ich seh dich sterben, ich fühle dich sterben, Gesteigerte Qual, sich verdoppelt, ja verdreifacht zu haben und jeden Schmerz dreifach zu erdulden. Durch dich, durch mich, durch das Kind – Aber du weißt nicht, ob es mein Kind ist. Kann die Mutter, die offenkundig zwei Liebhaber hatte, einen lebenden und einen toten, wissen, von welchem von beiden das Kind ist? Sie kann es nicht wissen … sie kann nur hoffen, dass es – vom lebenden sei …

Cornelia: Es klopft an der Tür.

Silvius: Es ist der Totenwurm, der im Holz pocht.

Cornelia: (schaudernd) Wach auf, es steht jemand an der Tür. Ich sehe seinen Schatten.

Silvius: Der Tote …(geht an die Tür öffnet, herein tritt ein Korpsstudent, sehr elegant gekleidet, angetan mit seinen Farben).

Student: Gestatten – Rebbach.

Silvius: Und? – Sie wünschen?

Cornelia: Arwed! Bruder!

Student: Ich komme im Auftrag meiner Familie, um mit ihnen über meine von ihnen entführte Schwester Cornelia zu verhandeln.

Silvius: Was wollen sie damit sagen: Verhandeln? Bin ich ein Delikatessenhändler?

Student: Sie sind nicht satisfaktionsfähig. Wir bieten ihnen deshalb zehntausend Mark in bar auf den Tisch gezahlt, wenn sie sich eidlich verpflichten – ein Ehrenwort steht ihnen nicht zu. Sich ihres Einflusses auf Cornelia völlig zu begeben, Cornelia unangefochten nach Hause zurückkehren zu lassen, und niemals wieder den geringsten Versuch zu machen, sich ihr zu nähern. Die so genannte Ehe wird für ungültig erklärt.

Silvius: Sie sind ein amüsanter junger Mann und könnten, wie sie sind, auf dem Drahtseil auftreten. Aber ich will sie nicht beleidigen. Ich bin ja nicht satisfaktionsfähig. Ich will ihnen auch nicht – seelisch – vorausgesetzt, dass sie eine Seele haben –wehe tun. Die Frage ist nur, ob in dem von ihnen angeschnittenen – nicht: Schinken, obgleich dies logisch bildlich gedacht wäre – sondern: Falle: Will sagen: Ob Cornelia nicht vielleicht auch – satisfaktionsfähig ist.

Student: Ich bitte um Erläuterung. Ersuche um Klärung der Lage.

Silvius: die Lage Cornelias ist, je nachdem man sie betrachtet: Horizontal oder vertikal. Darin liegt auch der Zwiespalt ihres und meines Wesens begründet. Wir können eben von oben und von unten betrachtet werden. Wir kranken am Parallelismus aller menschlichen und irdischen Erscheinung. Dass niemals einer da ist, sondern immer zwei, oder drei. Verstehen sie?

Student: Ich habe bei Professor Dessauer Logik belegt und zuweilen auch besucht. Ich verstehe sie nicht. Sie scheinen irrsinnig.

Silvius: Ich scheine irrsinnig. Legen sie die Betonung auf das erste Wort,: Auf das Scheinen, Flimmern, Funkeln, Leuchten.

Student: Wir kommen vom Wesentlichen ab –

Silvius: Nein: Wir kommen zum Wesentlichen hin. –

Student: Also kurz: Meine Zeit drängt, ich muss zum Frühschoppen – was wollen sie damit sagen, dass meine Schwester nicht satisfaktionsfähig sei? Und welchen Bescheid soll ich dem Familienrate überbringen?

Cornelia: Arwed! Sei gut zu mir …

Silvius: Ich will damit sagen, dass ihre Schwester einer Niederkunft entgegensieht …

Student: (zuckt zusammen): Das ändert die Sachlage bedeutend … wir werden also erst auf offizielle staatliche Trauung im deutschen Stil drängen müssen … um dann sofort die Scheidung einzuleiten.

Silvius: Wie aber, wenn dieses Kind, das Cornelia bekommt, nicht von mir ist?

Cornelia: (schreit auf):

Student: Ich – verstehe – sie – wohl – nicht – recht?

Silvius: Doch: Sie verstehen mich ganz recht. Das Kind, dass >Cornelia bekommt, ist nicht von mir …

Student: Sondern? –

Silvius: Von ihrem zweiten Liebhaber –

Student: (korrekt): Cornelia hat noch einen zweiten Liebhaber?

Silvius: So wahr ich hier stehe …

Cornelia: Liebster, du tötest mich –

Silvius: So wirst du nur umso eher mit deinem Liebhaber ganz vereint sein …

Student: Ich habe hier nichts mehr zu suchen. Meine Mission ist erfüllt. ((tritt an das Bett Cornelias.) Dirne! (verneigt sich kurz vor Silvius) Mein Herr (ab).

Dreizehnte Szene
(Unter einem Brückenbogen. Berlin. Früh gegen 5 Uhr. Leichte rosa und gelbe Wolken, die auch die Spree ein wenig mit Licht bestreuen. Häuser in der Ferne)

Silvius: (sitzt am Bollwerk und angelt): Ein neuer Tag steigt über die Berge der Häuser. Wie Nachtigallen zwitschern die ersten Straßenbahnen. Vom gestrigen Regen liegen an allen Ecken faule Pfützen. Teiche der Wehmut. Schwarze Augen im Pflaster. Ach … ich bin müde, 18 Jahre machen müde. Kaum bin ich aus den Betten, überfällt mich der Wunsch nach Vergangenheit. Nach Gestrigem, nach Gestern. Nach der Dämmerung eines Abends , den ich nicht mehr zu verlassen brauche, um meine armen Arme auseinandergerissen vor dem Gefühl der Gottheit, dunkel in ein neues Licht zu stürzen. Mich schmerzt der Atem. Wenn ich Frühluft atme. Der graue Tau wie Ruß einen befällt. Warum bin ich nicht hirn- und stadtlos, ein treues Tier, im Walde geboren, mit dem einzigen Gedanken der Sterne nachts im offenen Auge? Ein metallischer Käfer, sich an den Grashalm ehrlich klammernd? Befähigt und gewillt, mein eigenes Grab zu graben, und ohne Leid und Mitleid einsam wie eine Wolke am blauen, sonst wolkenlosen Himmel zu vergehen?

Ich Mensch. Ich schwacher Mensch. Ruft mich die Einsamkeit gleich mit donnernder Trompete: Ich habe Furcht vor ihr. Sie schreckt mich.

Ich bin ein Mensch. Es ist kein Weg so weit, wie zwischen Augenblick und Augenblich, Firmamente drehen sich zwischen zwei Augen, die sich zu finden trachten. Eine Mauer von Himmeln ragt zwischen ihnen. Ein lichter, undurchdringbarer goldener Schleier von Gestirnen verhüllt eines jeden Gemach vor dem anderen. Gepanzerte Lügen stehen an ihren Pforten. Türhüter ist die Unvollkommenheit. Die Mäuse der Niedertracht unterwühlen den Boden. Die Adler des Hochmuts nisten auf den Zinnen.

Wo ist ein Mensch, dass ich in seiner Brust versinke. Im Strome seines Herzens ertrinke? Heilig brüderlich seine Hände ergreife? 18 Jahre bin ich alt geworden, und weiß so wenig von der Welt, dass die Morgenröte mir jedesmal wie Scham über die Wangen läuft. Flog ich nicht viele Jahre mit einem Schiff, „Möwe“ genannt, über tausend Flüsse? Ich rollte die Trossen. Ich band die Segel. Ich kochte das kärgliche Mahl, das ewig aus toten Fischen bestand. Dann gab man mir das Steuer in die Hand: Tressen zierten meinen blauen Ärmel, und ich wurde genannt: Herr Steuermann. Ich lenkte das Schiff, an großen und kleinen Städten vorbei, Wiesen wogten am Ufer, Dörfer liefen bunt ein Stück des Weges wie Kinder, Mädchen winkten mit blutroten Tüchern, >>Tücher, die sie in ihrem Blut gebadet – Ich sehe sie nahen, stehen und entschwinden, und noch heute weiß ich nicht, wohin ich das Schiff lenke.

(Die Sonne ist aufgegangen. Im Moment, wo sie zu strahlen beginnt, geht langsamen Schrittes eine schöne weibliche Erscheinung über die Brücke; in einem violetten Gewand, das gegen den blassblauen Hintergrund des Himmels funkelt. Sie ähnelt Cornelia. Sie bleibt einen Augenblick stehen, beugt sich über das Geländer der Brücke hinab und betrachtet Silvius. Dann entführt ein Gedanke sie, plötzlich: Silvius blickt empor, sieht sie einen Augenblick, ehe sie entschwindet)

Silvius: Cornelia

(Von rechts tritt hastig ein eleganter junger Mann auf. Zylinder, Abendpelerine. Ein wenig überrascht. Sie sieht aufmerksam über die Brücke. Bemerkt Silvius zu seinen Füßen: )

Der junge Herr: Haben sie nicht soeben eine junge Dame bemerkt?

Silvius: Die Sonne ist soeben aufgegangen.

Herr: Ich fragte nach einer Dame, verstehen sie schlecht?

Silvius: Ich verstehe nichts. Mich selbst am wenigsten.

Herr: So hören sie mich doch an: Ich suche eine Frau –

Silvius: Wer sucht sie nicht!

Herr: Die vielleicht über diese Brücke gegangen ist –

Silvius: Wir müssen alle über diese Brücke. Sie führt nach einem anderen Ufer, dort soll selbst der Efeu tellergroße Blüten tragen. Die Myrte und der Lorbeer wird um das geringste Haupt gewunden. Einem ewigen Schmerz gebührt wohl ewiger Ruhm. Und welcher Mensch litt nicht immer und immerdar?

Herr: Ich leide, dass sie mir nicht Antwort geben.

Silvius: So fragen sie falsch. Zu möglicher Auskunft bin ich herzlich bereit. Fragen sie!

Herr: Die Dame?

Silvius: Kam von Osten und ging nach Westen.

Herr: Über die Brücke?

Silvius: Über die Brücke!

Herr: So kenne ich den Weg. Er führt zu ihr. Ich folge ihm (will sich entfernen)

Silvius: Bleiben sie. Ich gab ihnen Auskunft. Helfen sie nun mir. Ich frage. Stelle die Fragen wie Vogelruten. Sie antworten, wenn es ihnen beliebt.

Herr: Was wollen sie?

Silvius: Ihre Hilfe. Woher kommen sie?

Herr: Aus der Nacht. Vergnügen bestrahlte mich elektrisch. Künstliches Licht floss in meine Augen. Aufgeblasene Gummipuppen saßen an meinen Seiten. Ihre falschen Haare aus Seegras rochen nach faulem Fisch. Ihre Hände klebten wie Quallen. Eine nur lächelte – menschlich bewegte sie sich unter Instrumenten. Sie trug ein violettes Kleid: Und ihre Blondheit schien vorweggenommene Sonne. Sie tanzte mit niemand. Ich schickte ihr durch den Kellner ein Glas Champagner. Sie berührte es nicht. Aber sie lächelte – Vergebung. Ich fiel im Ballsaal in die Knie. Alles lachte. Wie im Theater ein Gewitter aus Blech gemacht wird. Aber ich schämte mich nicht.

Silvius: Wohin gehen sie?

Herr: In den Tag. In den Traum. Über die Brücke des verlangenden Herzens.

Silvius: Sie schreiten ins Leben?

Herr: Ins Leben. Ich bin erwacht.

Silvius: Was ist dies: Leben? Ein Fisch, der sich nicht fangen lässt, weil man keinen Köder kennt, auf die er anbeißt?

Herr: Leben heißt: Die Sonne erkennen.

Silvius: Ich habe eine Bitte an sie.

Herr: Reden sie.

Silvius: Nehmen sie mich mit.

Herr: Wohin?

Silvius: In ihr Leben. Ich packe meine Angelgeräte zusammen. Schon pfeifen die Fabriken. Arbeiter eilen gespenstisch durch die noch öden Gassen. Wie Mohn sprießen die Ladenmädchen aus dem Asphalt. Verheißend wölbt sich die Brücke. Lassen sie uns die Dame suchen: Vielleicht. Dass sie ihre Geliebte, dass sie die meine sei.

(Beide langsam über die Brücke ab)

Vierzehnte Szene
(Dachkammer.)

Cornelia (allein): Blau blüht ein Blümelein … das heißt vergiss nicht mein … wie süß das Lied, das die Dienstmädchen sangen. Der Brunnen im Hofe rauscht. Fliegen summen über mein Haupt. Ich muss immer an den Mond denken. Guter Mond! Silvius, streichle meine Stirn … ach … ich habe keine Stirn mehr. Wo meine Stirn war, steht eine Stadt im Abendrot – und brennt. Warum verließ ich unsre fest gefügte Wohnung und ging in ein Haus, das keine Wände hat? Wo der Wind überall hineinpfeift? Kein Schattendach vor praller Mittagssonne schützt? Jemand spielt auf meinen Rippen Harfe. Ich töne sanft. War immer fromm. Ging immer in die Kirche: Kniete vor der hölzernen Madonna. Beichtete jährlich zu Ostern so kleine Sünden, dass der Priester lächelte und sagte: Mein liebes Kind, dir sei vergeben … Wollte Gott, es gäbe nichts Schlimmeres zu beichten, Als Spottwort auf der Gasse … Trotzkopf gegen Mutter … Neckerei der schwarzen Katze (hat sich aufgerichtet) Mich schaudert‘s. Ich höre eine Eule schreien. Die Luft zittert. Ich atme fremden Geruch. Es ist jemand im Zimmer. Er geht auf mich zu. Auf leisen Sohlen. Jetzt steht er an meinem Bett. Wer bist du? Ach, ein kleines Kind? Wer bist du, Bub?

Kind: Ich bin dein Kind … der Tod …

Cornelia: Wo kommst du her?

Kind: Vom Himmel … von Gott …

Cornelia: du bist schön, wie ich nie ein Kind sah, Lass mich deinen Blondkopf küssen. Wie wird Silvius sich freuen, wenn er dich sieht …

Kind: er wird mich niemals sehen … denn er ist blind gegen mich…

Cornelia: Was schwätzes du da, Kind? Silvius, dein Vater sollte blind gegen sein Kind sein? Er wird dich lieben und dich küssen. Er wird dich Hoppereiter machen lassen und wird dir Spielzeug kaufen: Ein Schaukelpferd, eine Armbrust und eine Dampfmaschine, die richtigen Dampf macht …

Kind: Ich höre ihn stöhnen – draußen vor der Tür …

Cornelia: er träumt von dir … von deiner Zukunft Donnergang … Sprich gut von ihm! Bleibe bei mir! Mich fröstelt … Zieh mir die Decke etwas hinauf … ich friere …

Fünfzehnte Szene
(Treppenhaus vor Silvius Kammer)

(Silvius sitzt auf einer Treppenstufe. Durch eine Bodenlucke pfeift der Wind)

Silvius: Mich fröstelt. Der Wind fährt einen an heiß wie der Atem der Hölle. Es ist Föhn … Mir tut der Magen weh wie einem Kind, das zu viel Grießbrei gefressen hat. Ich muss mit den Händen den Kopf festhalten, sonst fällt er mir noch herunter und kugelt die Treppe herab wie eine Kartoffel, die aus der übervollen Kiepe der der Marktfrau fällt. du lieber Gott, es gibt so viele Kartoffeln. So viele Köpfe. Aber der Instinkt sagt einem; Nur nicht den Kopf verlieren! Nur nicht kopflos werden! Ha! Der Wind! Er versengt einem fast die Haare (Ein Schrei aus der Kammer) Warum habe ich sie nicht vergiftet, sie und mich von unsern Qualen zu erlösen? (Holt ein kleines Fläschchen aus der Tasche, streichelt es) Liebes Gift (Steckt es wieder ein)

(Die Tür geht auf Er erscheint die)

Hebamme: Bst … junger Mann…

Silvius: (Fährt erschreckt herum): Was soll‘s?

Hebamme: Na man nicht so misepetrig! Kopf hoch! Nur nicht den Kopf verlieren!

Silvius: Sie denken mit meinen Gedanken, liebe Frau, sie sind eine Philosophin, man sollte ihnen einen Lehrstuhl anbieten, um ihren Klienten den Stuhlgang zu erleichtern.

Hebamme: Quasseln sie nicht! Reißen sie sich zusammen:

Silvius: Ihr Gesicht ähnelt ein bisschen dem abnehmenden Mond. Der sagte mir auch einmal: Sich nicht das Hirn mit ungetaner Tat vergiften! Wie recht sie haben, fette Parze!

Hebamme: Haben sie Geld, einen Arzt herzuzuziehen? Allein schaff ich das kaum mehr. Ihr Weibchen leidet schwer. Ich habe noch nie eine so junge Mutter gesehen, die zugleich auch verheiratet ist. Es ist einen Schande –

Silvius: Wie?

Hebamme: So jung zu heiraten … wenn man kein Geld hat. Lieber uneheliche Kinder. Immer noch praktischer. Immer noch billiger. Kostet in ihrem Stande 20 Mark den Monat.

Silvius: Sehen sie, das wäre eine Idee – könnte man das eheliche Kind nicht künstlich – unehelich machen? Es gleichsam außerhalb der Ehe, ganz für sich bestehend, erklären? Unbefleckte Empfängnis? Von einem Toten?

(Ein Schrei in der Kammer)

Hebamme: Ich komme schon … Sie sind übermüdet! Schlafen sie! Ich habe Leute schon auf härterem Holz schlafen sehen als das auf der Treppe hier!

Silvius: Ja … im Sarge.

Hebamme: Warum legen sie sich nicht drein auf den Diwan?

Silvius: (schüttelt fanatisch den Kopf): Ich kann Leute streben sehen – aber wie Kinder auf die Welt – das mitanzusehen, geht über meine Kraft…

(Langgezogene Schreie in der Kammer)

(Die Hebamme hinein) (nach einer kleinen Weile wieder heraus, aufgeregt)

Hebamme: Sie müssen den Arzt holen … es hilft nichts … Es geht um Leben und Tod…

Silvius: Das wusste ich längst, dass es auf der Welt um Leben und Tod geht.

Hebamme: (schüttelt ihn): So hören sie … Waschlappen … wie ein Bündel alter Kleider fällt er in sich zusammen … Gleich hier um die Ecke wohnt der Arzt … laufen sie, laufen sie …

Silvius: (weinerlich): Ich kann nicht … ich kann nicht … meine Füße sind mit Blei ausgegossen. Durch meine Arme laufen Holzstangen wie bei einer Vogelscheuche. Mein Herz schlägt Hammer und Amboss.

Hebamme: (Verächtlich): Und so etwas will ein Mann sein – (Läuft die Treppe hinunter). Ich bin in zwei Sekunden wieder da –ich hole den Arzt selbst … (ab)

Silvius: Ich will gar kein Mann sein … (strafft sich plötzlich zusammen, sieh die Treppe hinunter, lauscht, greift nach dem Giftfläschchen in seiner Tasche und stürzt in die Kammer. Nach einer kleinen Weile stürmt er wieder heraus und fällt in seiner früheren Stellung an der Treppe zusammen)

Sie hatte Durst … Ich habe ihr einen Schluck Wasser zu trinken gegeben …

(Jemand stapft die Treppe herauf. Es ist ein Invalide mit einem Holzbein und einer Handharmonika)

Invalide: Ein armer im Kriege für Kaiser und Reich zusammengeschossener Vaterlandsverteidiger bittet um eine milde Gabe.

Silvius: (auffahrend) Was heißt das: Vaterlandsverteidiger Was haben sie verteidigt? Das Vaterland? War es überhaupt in Gefahr: Das Vaterland – und bedurfte es ihrer Verteidigung?

Invalide: Ich habe nie darüber nachgedacht, denn ich bin ein Patriot.

Silvius: Dann bin ich kein Patriot, denn ich denke erst darüber nach, ob mein Vaterland eine gute Sache zu verteidigen hat – und dann verteidige ich diese gute Sache. Gesetzt, mein Vaterland diente und opferte nach meiner Überzeugung einer schlechten Idee – so würde ich meinem Vaterland die Gefolgschaft verweigern, desertieren, so genannten Landesverrat verüben und gegen mein eigenes Vaterland kämpfen – der guten Idee zu liebe.

Invalide: Ich weiß nicht, was das ist, eine gute Idee, das Vaterland ist so gut zu mir, als es wohl sein kann. Es zahlt mir eine kleine monatliche Pension und es gibt mir mit einem Gewerbeschein die Erlaubnis, in den Häusern Harmonika zu spielen.

Silvius: So spielen sie … hier mein letztes Markstück…

(aus dem Zimmer Schreie)

Invalide: (Spielt: Schön ist die Jugend bei frohen Zeiten…) 

(Die Hebamme und der Arzt stürzen die Treppe herauf)

Arzt: was soll dieses Gedudel? Hier liegt jemand sterbenskrank.

Silvius: Lebenskrank meine sie, Herr, lebenskrank.

Arzt: Sind sie der Mann?

Silvius: Jawohl, Herr Doktor.

Arzt: Feigling! (zur Hebamme) Kommen sie! (beide ab ins Zimmer)

Invalide: (Hat die Handharmonika erstaunt abgesetzt) Das ist mal ein energischer Herr.

(Der Herr in Gelb erscheint plötzlich auf der Treppe)

Herr: Hier finde ich sie endlich … Seit vorgestern Abend haben sie sich im Kabarett nicht blicken lassen. Ist dies ihre Dankbarkeit gegen mich? Bewahren sie so Prinzipien? Sie sind kontraktbrüchig geworden. Man erfüllt die einmal eingegangenen Verpflichtungen bis zu Äußersten – unter der Gefahr selbst des Zusammenbruchs. Das hießt: Pflicht, Ethik, Standpunkt: Fragen sie den Vaterlandsverteidiger hier. Er musste solange im feindlichen Feuer aushalten, bis der Befehl zum Abbruch des Feuers oder zum Rückzug erteilt war.

Invalide: Jawohl

Herr: habe ich ihnen den Befehl zum Rückzug gegeben?

Silvius: (Aufspringend) Ich war Wachs in ihrer Hand. Sie wollten mich kneten, Aber nun bin ich erstarrt zu Stein, – in einer entsetzlichen Pose . und nicht mehr zu formen. Ewig muss ich dieses steinerne Lächeln, diese marmornen Tränen, diese Korallenaugen durch die Welt tragen. Ich wollte, selbst noch ein Kind, in meinem Kinde unsterblich sein. Dieses Kind sollte wieder ein Kind haben! Großvater! Urgroßvater wollte ich sein! Nun hat der Tod aus Rache, wegen Widersetzlichkeit gegen ihn, wegen meines erbitterten Ringens mit ihm – mit meinem Mädchen ein Kind gezeugt: (Letzter Schrei aus der Kammer) Oh ich weiß, man braucht es mir nicht erst zu sagen: Das Kind, dass meine Frau eben gebärt, ist ein totes Kind. Und dieses tote Kind ist nicht mein Kind. Denn wäre es mein Kind – es wäre am Leben! (Bricht zusammen)

(Der Arzt tritt, Ärmel aufgekrempelt, im Operationsrock aus dem Zimmer)

Arzt: Ich muss ihnen die bedauerliche Mitteilung machen – nach Gottes unerforschlichem Ratschluss –

(Der Herr in Gelb und der Invalide nahmen die Hüte ab.) – Wo steckt der Mann – (erblickt ihn am Boden) – zusammengeklappt – Nervenschock – moderne Jugend – (die Hebamme kommt. Zur Hebamme:) Schon gut – ich schreibe sofort den Totenschein für Mutter und Kind.

Sechszehnte Szene
(Dachkammer)

(Silvius steht am Fenster und sieht in den trüben Tag. Der regen klatscht an die Scheiben. Zwei Dienstmänner sind in der Mitte des Zimmers damit beschäftigt, die ärmlichen Särge – Armensärge – von Cornelia und ihrem Kind zuzunageln)

Erster Dienstmann: (Schlägt einen Nagel ein): So, … jetzt haben sie gegenseitig Ruhe voreinander … Die kommt ihnen nicht mehr aus … Der Nagel hält … Der Sarg ist wasserdicht … Das kann ich ihnen versichern … Wenn‘s auch bloß ein Armensarg ist … lumpen lässt sich unsere Stadtverwaltung nicht.

Zweiter Dienstmann: es hat nicht jeder arme Mann das Glück, dass ihm Weib und Kind an einem Tage sterben. Seien sie froh, jetzt brauchen sie bloß noch für sich zu sorgen. Es sind schwere Zeiten. Das Pfund Rindfleisch kostet vier Mark. Wo soll unsereiner vier Mark hernehmen. Sogar Leichen vernageln und transportieren muss man schon auf Kredit. Es sind schwere Zeiten.

Erster Dienstmann: Ein Glück, dass wir diese schweren Zeiten nicht auch auf unsern Handwagen verladen müssen. So eine schwere Zeit wiegt gut ihre tausend Kilo. Denke ich mir.

Zweiter Dienstmann: Fünf Treppen! Alle Achtung! Sie wohnen ziemlich weit oben! Lieben die freie Aussicht, was? Sind ein ziemlich hochmütiger Herr, wie?

Erster Dienstmann: Keine Bange, wir werden‘s schon schaffen … Welche Leiche nehmen wir nun zuerst?

Zweiter Dienstmann: Mach die Tür auf … So … ich schnalle die kleine Leiche auf den Rücken … Hilf mir einmal … Hupp … So geht’s schon … so … und nun packen wir zusammen die große … sachte … so … nicht anstoßen … dass sie sich nicht weh tut in der harten Kommode … Immer langsam, Achtung, Glas … nicht stürzen … nur nicht übereilen … wir kommen noch früh genug auf den Kirchhof … in die Leichenhalle … Es eilt nicht so mit dem begraben werden. (Sind draußen)

(Die Tür fällt zu. Silvius ist allein im Zimmer. Er wendet sich um. Reibt sich die Augen.)

Silvius: Meine Augen sind entzündet … ich habe sieben Nächte nicht geschlafen .. ich glaube, ich kann überhaupt nicht mehr schlafen … (tritt an den Spiegel, der in der Mitte des Hintergrundes steht.), ist dies ein Menschenantlitz Widerliche Pickel wuchern auf der Stirn. Läuse beherbergt mein verfilzter Kopf. Wenn ich atme – wie das schmerzt! Wenn ich schlucke – rollt eine eiserne Kugel im Schlunde. Ich scheine mit Kehlkopftuberkulose behaftet. Ich huste wie ein Rabe und winsele mit der Sprachtechnik eines Schmierenschauspielers. Lass sehen, ob ich weinen kann, wenn ich will (Künstliches Weinen, dass stoßweise in echte Tränen mündet) Ein wie schlechter Schauspieler bin ich, dass mich meine Rolle ergreift … und künstliche Tränen echte Tränen zeugen … Was bleibt noch zu tun?

(Greift in die Tasche, zieht einen Revolver heraus.)

Aha … das Objekt aus dem gestrigen Einbruch in das Waffengeschäft. Ich drückte die Scheibe der Auslage ein … wie ein gelernter schwerer Junge … Ist nicht allen Substantiven heutzutage das Adjektiv „schwer“ zugeordnet? Scherer Junge … schwere Zeit … schwere Not … Mir ist so schwer ums Herz … Wie eine alltägliche Phrase einen zuweilen … tätlich … mit Fäusten packt … Wie das Wort Tat wird … Die Sehnsucht Handlung … der Rausch … Ruhe … Ruhe haben … schlafen können. Frieden haben … (packt sich an den Kopf, reißt sich an den Haaren) Könnte man sich seinen Kopf herunterreißen – es wäre eine Wohltat, sein eigenes Blut aus dem Halse schießen zu sehen … ewig müsste es fließen … und die ganze Welt sollte darin ersäufen … in meinem Blut … das wäre eine rote Sintflut … über der sollte schweben Cornelia, meine Taube (lauscht). Was ist das für ein Geräusch? Ach, es regnet. Es regnet Tag und Nacht, Nacht und Tag. Seitdem Cornelia … fort ist, habe ich die Sonne nicht mehr gesehen am Tage, und nachts nicht mehr den Mond …Ob ich meinen Eltern die Nachricht von meinem Ableben mitteile? Telegraphisch vielleicht? Es ist ihnen wohl gleichgültig. Es ist besser, sie nicht an mein Dasein zu erinnern, in dem Augenblick, wo ich aufhöre da zu sein. Sie haben mich verstoßen. Es war ihr gutes Recht, wie es mein gutes Recht war, sie zu verachten. – (Legt den Revolver an die Stirn.). Mein stählerner Freund … Dein Mund ruht kalt an meiner Stirn, noch der heißen Küsse Cornelia’s eingedenk. (Legt den Revolver ab. Blickt in den Spiegel.) Wer bist du? Ich erkenne dich, mein wilder Widerpart, mein taumelnder Doppelgänger! Schwanke ich, schwankst du. Grinse ich, so grinsest du! Ich umarme Cornelia, Und alsbald erhobst auch du die schillernden Arme. Ich stieg auf den Berg. Du keuchtest – unhörbar – neben mir. Ich sah in den Mond – und sah mein eigenes zerfurchtes Ackergesicht. Ich Männchen der Erde! Ich Mann im Mond! Verflucht zu beiderseitigem Sein. Ich schrieb ein Gedicht. Da fand ich es in deinen Werken schon gedruckt. Ich liebte Cornelia. Da hattest du sie schon befruchtet. Ich wollte ein Kind – da ward es dein Sohn. Der einzige Unterschied zwischen uns ist, dass du in der Fläche lebst – und ich im Raum. Du bist der Tote. Ich bin der lebende. Das ist alles. Und Nichts. Ich will zu mir selber kommen. Hebe ich die Waffe (tut es), so hebst du sie auch. Wir wollen uns gegenseitig vernichten, denn mich beseelt ein maßloser Hass gegen dich. Schieß zu! (Drückt den Revolver ab. Knall. Die Scherben des Spiegels zersplittert)

(Der Herr in Gelb ist von links eingetreten, mit einem Kranz, an dem eine Schleife hängt. Er legt Silvius die Hand auf die Schulter. Ein exaltiertes Gesicht wendet sich ihm zu.)

Herr: Kommen sie zu sich! Knabe! Irdischer! Ich liebe sie und glänze ihnen ewig mild! Sehe sie: Sie können nicht sterben (nimmt ihm den Revolver aus der Hand)- Wie sehr sie auch gegen sich und ihre Bestimmung wüten! Wie sehr sie bemüht sind, sich zu erniedrigen. Wie sehr sie ihre Seele in den Staub ziehen: Sehe sie: Sie erhöht sich, sie schwebt dahin wie ein silberner Vogel zu den >Gestirnen, ihren Geschwistern.

Silvius: Cornelia ist tot … ich tat, was ich dachte – ich dachte, sie soll nicht leiden … wie ich — War dieser Gedanke … schlecht?

Herr: Ich weihe Cornelia diesen Kranz.

Silvius: Das Kind … ist tot …

Herr: Lassen sie’s mich ihnen sagen – und glauben sie mir: Es war ihr Kind – und nicht das Kind des andern.

Silvius: (Schluchzt).

Herr: Aber sie waren … ihres Kindes … der Unsterblichkeit … noch nicht wert … und deshalb starb das Kind, weil sie der Tote übermannte. Sie haben gekämpft – unrühmlich nicht … und sind dem Tode, dem Toten unterlegen. Kämpfen sie jetzt um ihr Leben! Legen sie ab den Trotz des Knaben: Werden sie demütig – wie ein Mann. Wer so gehasst sich selbst, wie sie – wie muss der lieben können!

Silvius: Ich liebte Cornelia …

Herr: Aber ihre Liebe war dumpf – und tötete sie … Werden sie klar … wie der Mond in blauen Herbstnächten … werden sie bewusst … unterwerfen sie sich der Gemeinschaft! Schelten sie den Invaliden nicht: Er fühlt sich als Glied in einer Reihe, als Stein in einem Gebäude – und diente. Lernen sie dienen – nicht als Soldat mit der Waffe, sondern dienen als Mensch mit dem Herzen.

Silvius: Was soll ich tun?

Herr: Ihr buntes Treiben ist beendet. Sie werden dem Kabarett und dem flammenden Elend den Rücken kehren. Ich habe eine Stelle als Diener für sie – auf einem herrschaftlichen Gute der Umgegend. Untergeordnet dem Prinzip mögen sie duldend den Widerglanz des Glückes empfangen. Sie werden um 5 Uhr aufstehen, die Rollladen empor ziehen, wenn die Sonne aufging, Licht und Luft den Weg bereiten, das Arbeitszimmer des gnädigen Herrn aufräumen, seine Bibliothek, seine Bücher, seine kostbaren Vasen abstauben. Um 6 Uhr ihm das Frühstück ans Bett bringen. Um 7 Uhr das Pferd zum Morgenritt zäumen. Mittags bei Tisch die silbernen Platten servieren. Nach Tisch die Livree ausbessern, die Reitstiefel bürsten. Am Nachmittag neben dem Kutscher auf dem Wagenbock sitzen, dann: die Mütze in der Hand, den Schlag aufreißen, dem gnädigen Herrn, der gnädigen Frau bei Aussteigen behilflich sein. Abends wieder servieren und um 10 Uhr traumlos und tief in den seligen Schlaf der erfüllten Pflicht sinken, Haben sie dieses Wort bisher gekannt: Pflicht? Sie haben eine Mission. Es genügt nicht, Mensch zu sein. Sie müssen es sich verdienen. Das Werk, nicht der Traum, ist des Menschen Ziel, bestimmt seinen Wert. Vielleicht sollte ich sie erst in eine Dienerakademie stecken, Aber ich hoffe, sie werden sich meiner Empfehlung nicht unwert zweigen. Packen sie das Notwendigste in einen kleinen Koffer zusammen. Kommen sie.

Letzte Szene
Vorortbahnhof. Patrouillierender Bahnbeamter. Silvius mit einem kleinen Koffer und der Herr in Gelb auf- und abschreitend.

Herr: (Zieht seine Uhr): der Zug wird gleich einlaufen. Hier haben sie ihr Billet. Verlieren sie es nicht!

Silvius: Wie soll ich ihnen danken!

Herr: Durch ein guten Dienst- und Leumundszeugnis, da sie von ihrer ersten Stelle heimbringen.

Silvius: Ich werde mich sehr ungeschickt aufführen.

Herr: Sie werden sich die größte Mühe geben, und der Graf wird mit ihnen zufrieden sein.

Silvius: (Sieht den Schienenstrang entlang): Hier vorn will es einem scheinen, als müssten diese schimmernden Schienen ewig neben einander herlaufen, immer im gleichen Abstand. Dort hinten aber, vor der Krümmung, an der Kurve treffen sie sich flammend und vereinigen sich zu einem Strahl. (Halb für sich). Ich werde Cornelia wieder sehen. Ich werde wieder ein Kind haben und es wird – ich weiß es, ahne es jubelnd – am Leben bleiben.

Herr: In jener Richtung fahren sie – dorthin – wo sich die beiden Parallelen treffen … in die Unendlichkeit.

Silvius: (In die Ferne blickend): Ja … die Unendlichkeit liegt vor mir, die große Ebene … Meer und Erde in eins.

Herr: In einer Stunde werden sie am Ziel sein. Der Kutscher des Grafen wird sie an der bahn erwarten. Empfehlen sie mich dem Grafen. Wir verbrachten einen entzückenden Winter in Kopenhagen. Seine Tochter kannte ich schon, als sie noch in den Windeln lag. Später, bei einem kurzen Besuch durfte ich die Fünfzehnjährige, die halb Erwachsene bewundern. Ich habe mich insie verliebt. Sie hat sich gewiss zu einem bezaubernden Geschöpf entwickelt. Wie alt wird sie jetzt sein? – Warten sie – etwa 18 Jahre.

Silvius: (Den Atem anhaltend): Und wie ist ihr Name?

Herr: (einfach): Cornelia.

Silvius: (Tief atmend): Ich wusste es.

Herr: Achtung … Aufpassen … nicht zu nahe an die Gleise heran … ihr Zug läuft ein …

(Der Zug läuft ein: Nur ein gespensterhafter Schatten, niemand steigt aus)

Schaffner: Einsteigen … bitte einsteigen … eine Minute Aufenthalt…

Silvius: (Hat den Koffer nieder gestellt, umarmt den Herrn in Gelb): Mein väterlicher Freund!

(Aus der Unterführung stürzen sich ein Herr in grauem Anzug und ein Polizist in Uniform herauf)

Grauer Herr: (Zum Schaffner): Halt … nicht abfahren lassen. Der Zug hat zu warten, bis ich das Zeichen gebe … Dienstlicher Befehl des Polizeikommisssärs (tritt auf Silvius zu,) Sind sie Silvius Lang?

Silvius: Jawohl.

Grauer Herr: Im Auftrag des geheimen Regierungsrates Rebbach wurde der Sarg seiner verschiedenen Tochter Cornelia, ihrer ehemaligen Frau, von Amts wegen geöffnet. Der gerichtsähnliche Untersuchung der Leiche ergab die Feststellung, dass ihre Frau bei der Entbindung nicht eines natürlichen Todes verstorben ist. In ihrem Körper wurden die Reste eines tödlich wirkenden Giftes vorgefunden. Ich erkläre sie, als des Giftmordes an ihrer Frau dringend verdächtig, für Verhaftet.

Gelber Herr: (Tritt auf den grauen Herrn zu): Sie irren sich. Dieser junge Mann ist unschuldig. Er ist das Opfer meiner Experimente. Ich ersuche sie, mir Handschellen anzulegen. Ich bin es gewesen, der Cornelia … vergiftet hat. Führen sie mich ab!

Grauer Herr: Ihr Name?

Gelber Herr: Sie werden ihn auf der Wache zu Protokoll nehmen.

Grauer Herr: (zu Silvius): So lasse ich sie frei … fahren sie wohin sie wollen …

Silvius: (erschüttert): Sie opfern sich … für mich …

Herr in Gelb: Ich opfere mich weder für sie, noch für mich. Ich will nur Gerechtigkeit! Gehen sie mit Gott!

Silvius: Man beraubt sie ihrer Freiheit!

Gelber Herr: Meiner Freiheit kann mich niemand berauben. Ich trage sie in mir. Aber sie sollen sich die ihre erst noch erobern. Dazu – ebne ich ihnen den Weg. Räume Ihnen die Steine … des Gefängnisses aus dem Weg. Fürchten sie nichts! Sie werden mir auf ihrer Wanderung wieder begegnen!

Schaffner: Einsteigen … einsteigen

Silvius: (Küsst dem gelben Herr die Hand): Ich werde danch trachten, ihrer wert zu werden! Leben sie wohl!

Gelber Herr: Werden sie ihres eigenen Daseins wert! Leben sie wohl! Und sterben sie wohl! Mondsüchtiger! Nachtwandler! Auf! In den Tag! In die Sonne!

(Silvius stürzt ab, steigt ein, der Zug setzt sich in Bewegung. Der graue Herr und der Polizist führen den Herrn in Gelb ab.)

© Hartmut Deckert – geschrieben nach Klabund