Die letzten Aufsätze von Carola Neher – ein besonderer Fund

Im Jahre 2016 erscheint im Lukas Verlag Berlin „Carola Neher – gefeiert auf der Bühne – gestorben im Gulag“.

ISBN 978-3-86732-243-0

Herausgeber: Bettina Nir-Vered, Reinhard Müller, Irina Scherbakowa und Olga Reznikova.

Darin erstmals von Oktober 1935 bis zum März 1936 in der sowjetischen Zeitschrift „Ogonjok“ von Carola Neher veröffentlichte Artikel über Max Pallenberg, Alexander Granach, Erwin Piscator, Ernst Busch und Max Reinhardt unter dem Titel: „Theaterkünstler im Exil“.

In der gleichen Zeitschrift erschien ein von Alexander Granach geschriebener Artikel über Carola Neher.

Alle zusammen interessante und politisch wichtige Artikel – und alle sehr lesenswert.

Mit freundlicher Genehmigung des Lukas-Verlages übernehme ich diese Artikel und empfehle gleichzeitig dieses Buch den Besuchern dieser Seite. Denn es beleuchtet das: „außergewöhnlichen Schicksal dieser namhaften Schauspielerin der Weimarer Zeit, zugleich einem der prominentesten Opfer beider Diktaturen des 20. Jahrhunderts. (…)

Ihr kurzes, tragisches Leben, in dem sie zunächst zur Stilikone ihrer Zeit, zur Inspirationsfigur tonangebender Literaten der 1920 er Jahre wurde, bevor sie nach ihrer Emigration in die Sowjetunion den stalinistischen „Säuberungen“ zum Opfer fiel, erscheint als ein Kristallisationsmoment der Geschichte des 20. Jahrhunderts. Ihre Biografie eröffnet Zugänge zum „Zeitalter der Extreme“, das zutiefst geprägt war von der kommunistischen Bewegung in Europa sowie der Terrorherrschaft der nationalsozialistischen und der stalinistischen Diktaturen.

Dabei wird der (…) Schwerpunkt der Publikation auf Carola Nehers zweiter, bislang wenig erforschter Lebenshälfte liegen, auf dem Zeitraum, in dem die Zeug­nisse ihres Wirkens in Folge der das ganze Land umfassenden Massenrepressionen spärlicher und ungreifbarer werden, bis sie zuletzt verschwinden – und nur noch Akten bleiben, die ihren „Fall“, einen von hunderttausenden, ja Millionen Repressierter, dokumentieren.“

(Aus der Einführung von Bettina Nir-Vered)

Theaterkünstler im Exil –  Max Pallenberg erschienen am 10. Oktober 1935

Max-Pallenberg (1909) Quelle: Wikipedia

 Einer der unvergesslichsten Schauspieler des früheren Deutschlands (vor Hitler) war Max Pallenberg. Jahrzehntelang spielte er in Deutschland und in allen andern deutsch-sprachigen Ländern mit Riesenerfolg und hat unzähligen Menschen durch seinen satirischen Humor und seine große Schauspielkunst glückliche und frohe Stunden bereitet. Bei Beginn der Hitlerregierung musste er, wie so viele andere große Künstler, wegen seiner jüdischen Abstammung Deutschland verlassen.

Er war von auffallend kleiner Figur, hatte außergewöhnlich temperamentvolle Bewegungen, lebendige, intelligente Augen und rötliche Haare. Er war auch im per­sönlichen Leben ein sehr humorvoller und interessanter Mensch. Es gab sicher in Deutschland nicht die kleinste Stadt, in der man ihn nicht kannte. Zumindest hatten ihn alle am Theater interessierten Leute als „Zawadil“ in „Familie Schimek“ gesehen.

Der „Zawadil“ in „Familie Schimek“, ein an sich ziemlich belangloser Schwank (von Gustav Kadelburg), der erst durch Pallenberg bekannt geworden war und Bedeutung bekommen hatte, hatte Pallenbergs Karriere begründet. Der „Zawadil“ war irgendein hergelaufenes Subjekt, im Volksmund ein Haderlump, der durch eine konsequente Bejahung aller bestehenden Gesetze und Verhältnisse am Ende allen Sinn in Unsinn, allen Ernst in Lächerlichkeit verwandelt. Er stellt allein durch seine Existenz alle Beziehungen der Familie Schimek in Frage und bringt alle Menschen ununterbrochen in die komischsten und heikelsten Situationen. Das Publikum kam jedenfalls den ganzen Theaterabend aus dem Lachen nicht heraus. Angefangen von seiner Maske und seiner Kostümierung bis zu seinen groteskesten Bewegungen und Extempores war der ganze „Zawadil“ zum Schreien komisch. Borstenartige grellrote Haare, zusammengekniffene, misstrauisch schielende Augen und die Körperhaltung: ein personifiziertes Fragezeichen.

Ein Hut, der mehr einem alten verbogenen Ofenrohr denn einer Kopfbedeckung glich, ein gräuliches, viel zu enges und kurzes Jackett, verschmierte, zerrissene Hosen, armselige Stiefeletten und ein Unikum von einem Regenschirm, den er in keiner Situation aus der Hand ließ und immer vor sich hertrug wie ein Gewehr, vervollständigten seine grotesk-komische Erscheinung. Er hat die Rolle völlig neu geschaffen, und sein Extemporetalent entwickelte sich an ihr bis ins Clownhafte. Viele Jahre war er Mitglied der Max Reinhardt-Bühnen. Er spielte in Reinhardts klassischen Operetteninszenierungen „Die Fledermaus“ von Strauss, „Orpheus in der Unterwelt“ und in der „Schönen Helena“ von Offenbach den Menelaus mit dem von ihm mit unvergesslicher Musikalität vorgetragenen „Bachstelzenlied“.

Der „Eingebildete Kranke von Moliere“ und „Liliom“, eine Vorstadtlegende von Franz Molnar, waren seine Glanzleistungen unter Reinhardts Regie. Pallenberg war ein Meister der Maske. Er veränderte sich bis zur Unkenntlichkeit. Selbst wenn der Grundcharakter seiner schauspielerischen Gestalten im Wesentlichen immer ähnlich war, im Typ war er sehr veränderlich. Im Gegensatz zu Charlie Chaplin, mit dem et gewiss viel Verwandtes hatte und den et besonders liebte und verehrte.

Er beherrschte die Bühne, die Sprache und sein Können. Er erfand neue, nie dagewesene Worte und Sprachbilder.

Er spricht z.B. über die Verschwiegenheit eines Freundes und findet als höchsten Ausdruck: „Er ist stumm wie ein Fischgrab“.

Er empfängt einen ihm sehr unangenehmen Gast mit den Worten: „Essen Sie gern Käse?“ Der Gast bejaht. Darauf er: „Gibt’s bei mir nicht!“.

Er sitzt in einem Restaurant, ist unzufrieden mit dem Essen und der Bedienung. Er ruft den Kellner und fragt: „Erinnern Sie sich, wann ich das letzte Mal hier war?“ Der Kellner verneint. Darauf er: „Heute“.

Max Pallenberg Quelle: https://austria-forum.org/af/Bilder_und_Videos/Historische_Bilder_IMAGNO/Reinhardt%2C_Max/00624228

Er sprühte von schauspielerischen und sprachlichen Einfällen und schuf jede Rolle neu.

Zur vollsten Entfaltung seiner wunderbaten Kunst kam Max Pallenberg in der ausgezeichneten Inszenierung von Piscators „Schwejk“ nach dem bekannten Roman Jaroslav Haseks. Niemals früher konnte sein Humor, die Beweglichkeit seiner Phantasie in Wort und Geste so ausgenützt werden. Die ganze Rolle spielte er im Fahren, Gehen und Laufen. Der brave Soldat Schwejk, Prototyp der Gutmütigkeit, verschlagenen Trottelhaftigkeit und Weltfremdheit, jenseits aller bürgerlich-klein­bürgerlichen Konvention, der in den Krieg mit all seiner Unnatur des Massenmordes mit offenen Augen „hineinrutscht“. Das laufende Band, das Piscator eigens zu dieser Satire erfunden hatte, gab Pallenberg-Schwejk die Möglichkeit, „in den Krieg zu marschieren“. George Grosz‘ wunderbare Trickfilmzeichnungen begleiteten ihn, wurden ihm zu Mitspielern. Alles an dieser Inszenierung war Lebendigkeit und Bewegung und ergänzte die suggestive Wirkung, die von ihm ausging. Er wiederum fügte sich mit der ihm eigenen künstlerischen Feinfühligkeit in die für ihn szenisch, technisch und politisch völlig neuartige Umgebung.

Er marschiert als Schwejk auf dem laufenden Band, um sein verlorenes Regiment zu suchen, und singt Lieder mit einer Stimme, die etwas unendlich Trauriges hat. Mit dem Ausdruck eines unschuldigen Tieres, das nicht weiß, warum ihm so viel Leid zustößt.

Es begegnen ihm auf der Landstraße verschiedene Leute. Kilometersteine, ein Baum – der Baum fällt um – Pallenberg alias Schwejk stellt den Baum einfach wieder auf und geht auf dem parallellaufenden Band weitet, läuft aber ein Stück des Weges ganz rasch, „um die verlorengegangene Zeit wieder einzuholen“. Oder der Unteroffizier lässt Schwejk nachexerzieren: „Marsch, marsch…, rührt euch!“ etc. Schwejk murmelt dauernd etwas vor sich hin: „Die Zahl 14682“, der Unteroffizier schnauzt ihn an, was er da vor sich hinplappere. Er antwortet ihm mit dem unschuldigen Blick eines Kindes: „Herr Unteroffizier, wie behält man eine Zahl? Da war einmal ein Zugführer, der sollte sich die Nummer 14682 merken, denn es war die einer Lokomotive, die et fahren sollte. Er merkte sie sich folgendermaßen: „Eins und eins ist zwei. Da habe ich schon einmal die zwei.“ Und nun geht das also endlos weiter in dieser Art, bis der Unteroffizier vollkommen erschöpft von Schwejks Argumenten zu Boden sinkt. Darauf schließt Schwejk seine Erzählung mit den Worten: „Der Zugführer hat die Zahl dann leidet doch vergessen.“

Schwejk, der alle Befehle konsequent aufs Wort ausführte, fährt mit seinem Oberleutnant im Eisenbahnzuge zum Kriegsschauplatz: Der Oberleutnant sagt ihm: „Mensch, Schwejk, ich will dich nicht mehr sehen.“ Pallenberg-Schwejk zieht sofort die Notbremse und steigt aus dem Zuge aus, „damit ihn der Oberleutnant nicht mehr sehe.“

Man kann sich die schon sagenhaft gewordene Figur nicht idealer dargestellt denken als von Max Pallenberg.

Max Pallenberg, von seinen Freunden und Verehrern kurz „Pally“ genannt, stürzte vor 1 Jahren mit einem Flugzeug tödlich ab, als er zu einem Gastspiel nach Karlsbad in die Tschechoslowakei fliegen wollte.

Theaterkünstler im Exil – Alexander Granach erschienen am 30. Oktober 1935

Alexander Granach und Klabund Quelle: Akademie der Künste (AdK) Berlin https://www.adk.de/

Alexander Granach stammt aus einer armen jüdischen Familie. Er ist in Galizien geboren.

Eines schönen Morgens brannte der Reichstag, und „daran waren die Juden schuld“. Der berühmte Komiker Karl Valentin erklärt auf der Bühne: „Schuld sind nicht die Juden, sondern die Radfahrer.“ Stimme aus dem Publikum: „Warum die Radfahrer?“ Darauf Valentin: „Und warum die Juden?“

Am nächsten Tag wurde Alexander Granach zur Direktion des Berliner Staatstheaters bestellt. Der damalige Theaterintendant, Ulbrich, forderte ihn auf, sein Engagement aufzugeben. Granach reagierte verdutzt. Ulbrich, der kurz zuvor aus Ulm (einer kleinen Stadt an der Donau) nach Berlin geholt worden war, sagte ungeduldig: „Herr Granach, ich habe gestern Ihren Mephisto gesehen, er hat mit überhaupt nicht gefallen.“ Darauf erwiderte Granach in leicht belehrendem Ton: „Herr Intendant, manche mögen Kaviar und Austern, manche Spätzle. Das ist eine Frage des Geschmacks. Dem Berliner Publikum und der Berliner Presse hat mein Mephisto seht gut gefallen.“ In diesem Moment mischte sich der gerade anwesende Dramatiker des Staatstheaters, Hanns Johst, in das Gespräch ein: „Herr Granach, Ihr Mephisto gefällt mir sehr gut. Aber es geht ja gar nicht darum. Wir haben eine nationale Revolution!“ „Das weiß ich, ich war ja an der Front“, erwiderte Granach. „Aber“, antwortete Johst, „wir bitten Sie trotzdem, unser Theater zu verlassen. Wir bezahlen Ihnen die Hälfte Ihres Jahresgehalts. Ist das für Sie in Ordnung?“ „Ja“, sagte Granach, „ich bin zwar Jude, aber ich handele nicht.“

Nach seiner Ausweisung aus Deutschland gastierte Granach mit Riesenerfolg in Wien. In Polen spielte er mit seinem Ensemble 300 Mal Friedrich Wolfs Stück „Professor Mamlock“. Das Publikum und auch die Presse bereiteten dem Schauspielet einen sehr warmen Empfang.

„Was mich nicht umbringt, macht mich stärker“, ist Alexander Granachs Lieblingssatz. Mit 20 Jahren wurde er Reinhardt-Schüler und Amateurschauspieler. „Ich sehe nicht schlecht aus“, dachte er, in den Spiegel schauend: nicht groß, breite Schultern, pechschwarzer Schopf, noch schwärzere, leuchtende, fröhliche Augen und ein breitet lachendet Mund, lebendige Bewegungen und ein elastischer Gang. Das Einzige, was ihn noch störte, waren seine krummen Beine. Bevor er zum Theater kam, hatte er als Bäckerlehrling in der Bäckerei seines Vaters gearbeitet. Auch als Schüler bei Reinhardt musste er noch nebenbei in der Bäckerei arbeiten, um sich seinen Lebensunterhalt zu verdienen. Möglich ist, dass diese Arbeit seine Beine gekrümmt hat. Doch Granach fürchtete, dass er mit diesen Beinen niemals Erfolg haben würde. Daher ging er zu einem der besten Berliner Chirurgen und fragte, was man in diesem Fall machen könne. „Nichts kann man da machen“, antwortete der Chirurg, „absolut nichts. Wir machen solche Operationen nur bei Kindern. Um die Beine gerade biegen zu können, müssen wir die Knochen brechen. Aber bei einem Erwachsenen ist das unmöglich, weil die Knochen nicht mehr so gut zusammenwachsen können.“ Doch Alexander Granach verlangte nach dieser Operation: „Das wird ein Experiment sein. Ich stelle mich Ihnen für dieses Experiment zur Verfügung.“ Und schon nach einem halben Jahr trat Granach mit perfekten Beinen in der Rolle des Zimentes im Tolstoi-Stück „Der lebende Leichnam“ auf. Das war eine von Alexanders ersten Rollen.

Alexander Granach (rechts) und Greta Garbo Quelle: https://www.cinema.de/stars/star/alexander-granach,1569233,ApplicationStar.html

Mit großem Erfolg trat er in unterschiedlichen Berliner Theatern auf und machte Tourneen durch ganz Deutschland. Er spielte bei Reinhardt, bei Bamowsky und am Staatstheater. Granach war an der Gründung des Piscator-Theaters beteiligt und spielte einen einzigartigen Lenin in Piscators Inszenierung des „Rasputin“. 

Granachs brillant ausgearbeitete Figuren sind: Shylock in Shakespeares Schauspiel „Der Kaufmann von Venedig“, Wurm in Schillers „Kabale und Liebe“ und Wedekinds „Hidalla“. Seinerzeit wurde über Hidalla im „Völkischen Beobachtet“ geschrieben: „Granach spielt die Rolle mit wahrem künstlerischem Geschick und umgeht die verborgenen Klippen mit solchem Talent, dass der Zuschauer sie nicht einmal bemerkt.“ Die heutige Rezension im „Völkischen Beobachter“ klänge bestimmt ganz anders!

Zum ersten Mal besuchte er als Jugendlicher in Lwow ein Theater und spürte sofort, dass er für die Bühne geboren war. Er wurde ein Dauergast der Galerie. Nach der Vorstellung gab er eine Sonderdarbietung für die Zuschauer der Galerie: Er erklärte ihnen das Stück, imitierte die Schauspieler, improvisierte, kritisierte das Spiel, und schon bald hatte et eine Gruppe von Anhängern, die seine Zukunftsperspektiven besprachen. Er wurde „der Hausherr der Galerie“ genannt.

Erst in der Schule Max Reinhardts erlernte Alexander Granach die deutsche Sprache. Da die Bäckerarbeit ihm zu wenig Zeit für das Theater ließ, wechselte er den Beruf und wurde Grabpolierer. Er arbeitete im Akkord, und das verschaffte ihm mehr freie Zeit, ohne hungern zu müssen.

Nach dem Krieg kam Granach zum zweiten Mal nach Berlin. In dieser Zeit begann seine große Karriere. Er trat mit großem Erfolg im Staatstheater auf: in der Rolle des Franz Moor in „Die Räuber“ von Schiller, spielte im „Faust“ sowie in Brechts „Trommeln in der Nacht“ und „Mann ist Mann“.

Alexander Granach Quelle: https://www.imdb.com/name/nm0334603/

 Alexander Granach war in erster Linie ein Schauspieler der expressionistischen Richtung, die sich als Reaktion auf Naturalismus und Realismus entwickelt hatte. Alles wird übertrieben dargestellt, Mimik und Stimme werden bis zur letzten Spannung gesteigert. Aber diese Strömung war für Granach wie auch für das ganze deutsche Theater nur eine vorübergehende. Und Alexander Granach fand leicht einen Weg vom Expressionismus zur zeitgenössischen Kunst. Ein zeitgenössischer Schauspieler konnte seiner Meinung nach nur der sein, der seine Rolle in Bezug auf ihren inneren Gehalt durcharbeitet.

Seine besten Rollen in Georg Kaisers Stücken „Bürger Schippel“ und „Von morgens bis mitternachts“ kennt und schätzt man im Ausland leider kaum. Und das obwohl Kaisers Theaterstücke „Die Bürger von Calais“ und „Der gerettete Alkibiades“ doch Meisterwerke der Wort- und Inszenierungskunst sind.

Als Leitet eines Studios (November Studio) brachte Granach auf außergewöhnliche Weise Erich Mühsams Stück „Sacco und Vanzetti“ heraus. Die ganze Berliner Presse schrieb begeistert über diese Inszenierung. So zum Beispiel die „Berliner Zeitung“:Eine Flut von Talenten erschien auf der Bühne. Dutzende Unbekannte, die sich eifrig der Kunst hingeben. Wie viele Begabungen blieben in Berlin bislang vollkommen unbe­kannt und verborgen! Alexander Granach, der diese ganze Jugend versammelte, tat für die Entdeckung der Talente mehr, als alle ständig miteinander konkurierenden Berliner Intendanten zusammen.“

Das Theater nahm für Berlin in dieser Zeit eine sehr wichtige Rolle und einen besonderen Stellenwert ein. Erfolgreiche Schauspieler wurden zu Presse- und Publikums­lieblingen. Aber auch der Kampf um den Erhalt der erreichten Position war besonders hart. An den Theatern wurde viel experimentiert, das Leben sprudelte, besondere für die, die das Glück hatten, Erfolg zu haben.

Über Granachs Spiel in „Bürger Schippel“ sprach ganz Berlin. Sein Erfolg wurde noch gesteigert durch die umgehenden Gerüchte, Reinhardt habe ihn einfach auf der Straße entdeckt. Als er einen Proletarier auf der Straße gesehen habe, wie er eben stark gestikulierend eine Rede hielt, habe Reinhardt ihn gefragt: „Möchten Sie bei mir spielen?“ Darauf hätte Granach geantwortet: „Ja, aber wen soll ich denn spielen?“ „Sich selbst“, habe Reinhardt erwidert. „Was muss ich dafür anziehen?“, soll Granach gefragt haben. „Das, was Sie gerade anhaben“, habe Reinhardt erwidert. Ein zerlumpter kleiner Mann mit roten zerzausten Haaren — das war sein Erscheinungsbild in der Rolle des Schippel. Frechheit und Selbstsicherheit waren seine markantesten Charakterzüge. Als Kostüm suchte et sich eines aus, das ein Lumpenproletarier nehmen würde, um „elegant“ auszusehen: hautenge, karierte Hosen und ein Hemd mit grellen blauen und grünen Streifen. Alles musste so bunt wie möglich aussehen. Besonders effektvoll war sein Kostüm, wenn Schippel am Sonntag dazu einen Frack und knallgelbe Schuhe anzog.

Alexander Granach lebt schon seit einiger Zeit in der Sowjetunion und arbeitet an einem Film über das Zigeunerleben. Er ist von seiner Arbeit hingerissen. Er spielt einen Zigeuner. Eine romantische Rolle – genau nach seinem Geschmack!

Er ist glücklich, die Sowjetunion als Arbeiter und nicht als Tourist kennenzulernen. Die neue Arbeitsauffassung und das neue Menschenbild überraschten ihn hier angenehm. Er hofft, dass seine Alt zu arbeiten hier Anklang finden wird und dass die sowjetischen Zuschauet seine Arbeit mögen werden.

Theaterkünstler im Exil III Erwin Piscator erschienen am 10. Oktober 1935

Erwin Piscator steht für 14 Jahre politisches Theater.

Erwin Piscator (um 1927) Quelle: Wikipedia

Erwin Piscator war der Leiter des einzigen kommunistischen Theaters außerhalb der Sowjetunion.

Erwin Piscator ist ein Künstler des Intellekts, der sich von den ersten Tagen seiner Tätigkeit an bewusst in den Dienst des Proletariats gestellt hat.

„Seine Programmatik ist zu stark von der Parteipolitik durchdrungen“, fanden die Sozialdemokraten.

„Nicht radikal genug“, bemängelten die Demokraten, und die Nationalsozialisten behaupteten, dass sie ein solches politisches Theater selbst benötigten.

So widersprüchlich wie die politische Bewertung seiner Arbeit war auch die Kritik seiner Kunst. In der Zeit, als Lutz Weltmann in „Das Blaue Heft“ schreibt: „Piscator aber hat aus seiner Weltanschauung heraus die Grundlagen einer neuen Theaterkunst erschaffen“, wurde seine Arbeit in „Der Tag“ stark kritisiert und behauptet, „dass hier von Kunst keine Rede sein kann“. Und neben der Aussage von Alfred Kerr, dass Pis­cator die richtige Kunst mit einer guten Schule vereint habe, steht die Befürchtung der „Deutschen Tageszeitung“, dass Piscator das Leben in Deutschland „vollkommen vernichten“ werde.

Erwin Piscator erhielt seine Theaterausbildung in München, wo er vor dem Krieg an der Universität Kunstgeschichte, Philosophie und Germanistik studierte. Gleichzeitig trat er dort bereits als Amateur im damaligen Hoftheater – nunmehr Staatstheater auf. Dort erlebte et den interessanten Kampf zwischen dem alten klassischen Theater der Schule Ernst von Possarts und der neuartigen Schule Albert Steinrücks, der einen starken Eindruck bei ihm hinterließ. Albert Steinrück, der meisterhafte Charakterdarstellet, sollte Zeit seines Lebens Piscators Lieblingsschauspieler bleiben.

Erwin Piscator stolperte und stotterte als Amateur mehr auf der Bühne, als dass er lief und sprach. Während seines ersten Auftritts, als er einen Edelmann in irgend­einem klassischen Drama verkörperte, musste er erzählen, wie der König, der gleich kommen solle, aussehe. Am Abend der Aufführung, als er auf der hell erleuchteten Bühne vor den Augen der alten Routiniers (der Schauspieler des Hoftheaters) stand, die alle mindestens schon fünftausend Mal im Theater aufgetreten waren, geriet er in Panik, murmelte etwas wie „er kommt gleich“, und rannte Hals über Kopf von der Bühne.

Nachdem er den Krieg überlebt hatte, erkannte Piscator, dass die Kunst um der Kunst Willen sinnlos war, dass sie aber im Dienste der Politik zu einer brillanten Waffe werden konnte. Dieser Erkenntnis blieb et treu. „Das Wort hat eine Bedeutung, und in der Farce „Lissi, die Kokotte“ ist diese Bedeutung eine andere als in „Hoppla, wir leben!“ bei Ernst Toller“, sagte er einmal.

Er inszenierte „Feinde“ von Maxim Gorki, Die „Macht der Finsternis“ von Tolstoi und „Die Zeit wird kommen“ von Romain Rolland, aber auch Rote Revuen, Strindberg, Wedekind, Sternheim und Toller; teils mit professionellen Schauspielern, teils mit Arbeitern.

Seine nächststehenden Kollegen waren George Grosz und John Heartfield. Mit ihnen und später auch mit Erich Mühsam, Walter Mehring, Ernst Toller und Bertolt Brecht entstand ein beispielhaftes Kollektiv von Autoren, Regisseuren, Künstlern und Schauspielern. George Grosz rief junge Künstler mit folgenden Worten dazu auf, sich diesem Kollektiv anzuschließen: „Hier, junger Künstler, zu deinen Diensten stehen die Leinwände (bei den Inszenierungen von Piscator). Wenn du etwas zu sagen hast, benutze sie!“

Die Inszenierungen von Piscator waren Sensationen. Das liegt vor allem an ihrer besonderen Lebendigkeit: Musik, Gesang, Kino, Drehbühne — alles wird genutzt. Gelegentlich werden in die Haupthandlung Nebenerzählungen eingebaut oder auch umgekehrt. So entstehen szenische Bilder von erstaunlicher ästhetischer Kraft: längere Bewegungen mithilfe von Lichteffekten, Bewegung nach vorne. Das ist das Theater der konzentrierten Wirklichkeit.

Seine Gegner sagen, dass er den Schauspieler nicht wertschätze. Das stimmt nicht. Die besten Schauspieler Deutschlands wie Max Pallenberg, Albert Steintück, Alexander Granach, Fritz Kortner, Tilla Durieux waren begeistert von der Zusammen­arbeit mit Piscator, sie bewunderten seine Fähigkeit, unterschiedliche Wege zu jedem Einzelnen zu finden, und sein Können, schöpferisch auf jeden Schauspieler Einfluss zu nehmen. Piscator braucht Schau­spiele! des Intellekts statt Schauspielet des Gefühls der alten Schule.

Erwin Piscator (zweiter von links) und seine Mutter Antonie Piscator (Mitte) in Dillenburg, 1906 Quelle: Wikipedia

Er trat vor sehr unterschiedlichem Publikum auf. In seinem Theater saßen sowohl seriöse Herrschaften in Frack und Smoking wie Damen, eingehüllt in teure Pelze, und Menschen, die während der Theatervorführung ihre Butterbrote kauten, Jugendliche in Sportsachen und Pfadfinderkleidung sowie junge Frauen in Baumwollkleidern mit gebräunten Gesichtern. Reiche Zuschauet zahlten oft mehrere Hundert Mark für einen Platz im Theater, und natürlich waren sie sprachlos, wenn am Ende der Auf­führung die proletarische Jugend anfing, die „Internationale“ zu singen. Rubin­stein, der Genetalkonsul des zaristischen Russland, ging einen ganzen Monat lang täglich zu jeder Aufführung des Schau­spiels „Rasputin“. An einem Tag kam er zu Piscator und beschwerte sich stotternd bei ihm, das sei alles Lüge, et habe ihn ganz falsch auf der Bühne abgebildet. Er sei kein Spion gewesen, er habe dem Zaren wiederholt gesagt, dass der Krieg ein Wahnsinn sei. Aber der Zar habe ihm geantwortet: „Misch‘ dich nicht in fremde Angelegenheiten ein, Rubinstein!“ Dann fuhr er fort: „Ich bin einfach ein Geschäftsmann, ich war noch nie ein Politiker. Und wie soll ich mit Frankreich Geschäfte machen, wenn ihr mich als deutschen Spion darstellt? Nennen Sie mich, wie Sie wollen, aber nicht Spion!“ Seitdem wurde er dann Schieber genannt, was ihm aber auch nicht gut gefiel. Als er einen Prozess anstrengte, war Piscator gezwungen, die Figur Rubinsteins aus der Inszenierung herauszunehmen.“

In Bezug auf die Verwendung des Films in seinen Inszenierungen entflammte eine Diskussion. Alfred Kerr schreibt in seiner Rezension der Inszenierung „Gewitter über Gottland“ von Ehm Welk an der Volksbühne: „eins der unvergesslichen Kinobilder ist, wie dort irgendein Lenin allemal wieder enthauptet wird… und allemal in neuer Gestalt, in neuer Wirkung zurückkehrt. […] Als auf der Kinowand jetzt vollends Schanghai erschien, brach ein Sturm los, von unten bis hinauf zu den Rängen, ohne Beispiel.“ Und „Der Tagschreibt über die gleiche Inszenierung: „Diese Kinoaufführung und die dramatische Vorstellung sind so unorganisch wie möglich miteinander ver­knüpft und widersprechen sich in einem fort.“ 

In seiner meisterhaften Inszenierung Rasputin (Rasputin, die Romanows, der Krieg und das Volk, das gegen sie aufstand von Alexej Tolstoi und Pawel Schtschegolew, bearbeitet von Piscator, Felix Gasbarra, Leo Lania und Bertolt Brecht), deren Proben Lunatscharski mit großem Interesse besuchte, zeigte Piscator, bevor der Zar auf der Bühne erschien, die Bilder von dessen Vorfahren. Auf der Leinwand flogen zugleich die Kalenderdaten und Kommentare vorbei wie „Stirbt plötzlich“, „Stirbt im Wahnsinn“, „Endet durch Selbstmord“. Nach diesen Kommentaren erscheint Nikolai II. auf der Bühne — und hinter seinem Rücken auf der Leinwand — sein Schicksal: die riesige Figur Rasputins.

„Hoppla, wir leben!“ von Toller, „er brave Soldat Schwejk“ von Hasek und „Rasputin“ sind die drei exzellentesten Inszenierungen Piscators.

Unglaubliche Schwierigkeiten musste man überwinden, um im Umfeld des wachsenden Faschismus die künstlerische und politische Stringenz im Theater bei­zubehalten.

Piscators Theater erlebte mehrere Phasen.

Das Theater „Tribunal“ in Königsberg wurde wegen seiner revolutionären Ausrichtung geschlossen.

Das „Proletarische Theater“ Piscators in Berlin wurde im Auftrag des sozialdemokratischen Polizeipräsidenten Richter geschlossen.

Das „Central-Theater“ in Berlin wurde geschlossen wegen der Forderung des Theaterinhabers an Piscator, lieber Operetten zu inszenieren.

Ebenso musste Piscator die „Volksbühne“ verlassen, weil er auch hier die politische Neutralität brach.

Zu guter Letzt fühlte sich der ehemalige Kaiser Wilhelm II. beleidigt wegen seiner Darstellung in der Inszenierung „Rasputin“, er brachte seine Vorwürfe vor Gericht und schickte den Gerichtsvollzieher zu Piscator, um von ihm die Gerichtskosten einzufordern.

Erwin Piscator wurde für eine Filmproduktion in die Sowjetunion eingeladen. In der Zeit, als er sich hier aufhielt, kam Hitler in Deutschland an die Macht. Piscators Wohnung in Berlin wurde durchsucht. Dabei wurde nicht nur marxistische Literatur gefunden, man entdeckte in der Wohnung auch einen jungen Mann, der dort vorübergehend wohnte. Die Polizei glaubte dem jungen Mann nicht, dass er nicht der „berüchtigte, bekannte“ Piscator sei, er wurde zur Polizeistation geschleppt. Zu der Zeit lebte Piscator bereits als Emigrant in der Sowjetunion. Die deutsche Staatsbürgerschaft wurde ihm aberkannt.

Theaterkünstler im Exil – Ernst Busch Erschienen am 20. Dezember 1935.

Hans Eisler und Ernst Busch Quelle: Akademie der Künste (AdK) Berlin https://www.adk.de/

 Bei Busch verwandeln sich die Gefühle in unerbittliche Anklagen, in Witz oder auch in böse Ironie und Pathos: in eine beeindruckende Entblößung der Lebenswahrheit. Seine Stimme ist stark und vielschichtig, sie klingt zuweilen wie ein alarmierendes, die Menschen zusammenrufendes Signal. Er hat viel Humor und Temperament. Jeder deutsche Arbeiter kennt und liebt Ernst Busch.

Ernst Busch wurde in Kiel geboten, einer Hafenstadt im nördlichsten Teil Deutsch­lands, an der Grenze zu Dänemark. Er hat sehr helles Haar und die scharfen, intel­ligenten Gesichtszüge eines Proletariers. Er ist von schlanker Statut, ja sogar mager.

Von den Faschisten bekam er in Deutschland das Angebot, die Rollen ihrer Nationalhelden zu spielen, doch er lehnte ab. Die Nationalsozialisten fragten ihn, als sie ihn auf der Straße trafen: „Busch, Freund, komm zu uns, dann kannst du wieder die Lieder singen, die du früher gesungen hast.“ Aber da er nicht „zu ihnen kam“, stand schon ein paar Tage später in den Berliner Zeitungen: „Wissen Sie eigentlich, dass der Barrikaden-Sänger Busch ganz ruhig auf den Straßen Berlins herumspaziert?“ 

Die Musik für fast alle Lieder, die Busch sang, schrieb Hanns Eisler, einer der populärsten Komponisten in Deutschland. Diese Lieder mit einer außergewöhnlichen Schärfe des Rhythmus und der Melodie prägen sich schnell ins Gedächtnis ein.

Busch und Eisler waren bei jedem politischen Treffen in Berlin zusammen.

Zum ersten Mal trafen sie sich im Piscator-Theater, und sehr schnell wurden sie zu unzertrennlichen Freunden. Ernst Busch kann eigenwillig sein, er kann spontan die Melodie eines Lieds verändern, wenn sie ihm an irgendeiner Stelle nicht gut gefällt. Das konnte Eisler nicht akzeptieren. Er versprach ihm, wenn Busch seine Lieder genauso singen würde, wie Eisler sie schrieb, würde er extra für ihn eine be­sonders gute Melodie schreiben. Gesagt – getan. So entstand, mittlerweile schon ein Klassiker, das „Lied der Arbeitslosen“ (auch »Stempellied“, Text: David Weber). Auf Schallplatte aufgenommen wurde dieses Lied 160000 Mal verkauft.

Die Freunde teilten Freud und Leid. Als Eisler die Musik für Brechts „Die Maßnahme“ schrieb, hatten die Freunde kein Geld, nicht mal für die Straßenbahn. Eines Tages, als in ihrer Gemeinschaftskasse nur noch wenige Pfennige geblieben waren, komponierte Eisler das „leichte“ lyrische Lied „Anna Luise“ (von Kurt Tucholsky: Wenn die Igel in der Abendstunde). Busch sang es im Kabarett „Katakombe“, und auf Eislers Wunsch hin nannte er den Komponistennamen nicht. Dieses Lied aber, eines der besten leichten deutschen Lieder, hatte schnell riesigen Erfolg. Als Eisler das begriff, sagte er mit leichtem Vorwurf zu Busch: „Eigentlich hättest du schon sagen können, dass es mein Lied war“. (…)

Die bürgerliche nationale Presse bedauerte, dass „dieser große Schauspieler“ sich nur dem politischen Theater mit seinem abgewirtschafteten Marxismus hingibt und nicht „der feinen Kunst“ dienen will. (…)

 

Schon seit ein paar Wochen befindet sich Busch in der Sowjetunion – im Land des Sozialismus. Bald werden die sowjetischen Zuschauer ihn im Kino und Radio sehen und hören können.

Theaterkünstler im Exil – Max Reinhardt Erschienen am 29. Februar 1936

Max Reinhardt Quelle: Wikipedia

Die Regiebegabung von Reinhardt lag vor allem in seiner Originalität, in seiner lebhaften Fantasie, in seiner außergewöhnlichen Liebe zum Theater und in seiner unerschöpflichen Inspiration. (…)

Kaum können wir über Reinhardts „Schule“ sprechen, weil jede seiner Inszenierungen die Bühnendichtung auf eine neue Art erklingen lässt und auf eine neue Weise in ihrer Epoche abbildet. Seiner Meinung nach sollen Regisseure nicht nur einen Stil, sondern mehrere beherrschen.

Der beste Beweis für seine besondere Begabung, neue Talente zu entdecken, ist die Tatsache, dass er Alexander Moissi fand, der von der Berliner Presse fast einstimmig aufgrund seines ausländischen Akzents zurückgewiesen worden war (Moissi war ita­lienischer Herkunft). Schon nach kurzer Zeit war er der wichtigste Schauspielet seiner Truppe und lange Zeit ein bedeutender Unterstützet der wichtigsten schöpferischen Ideen Reinhardts.

Ich habe auch persönliche Erinnerungen an Reinhardt. Ich spielte seit einem Jahr in Berlin und hatte bereits zwei, drei erfolgreiche Auftritte gehabt. Eines Tages bestellte mich Reinhardt zu sich und sagte: „Leidet habe ich Sie bis jetzt noch nicht auf der Bühne gesehen. Aber meine Freunde, auf deren Meinung ich mich verlassen kann, sagten mir, dass Sie eine begabte Schauspielerin sind. Ich möchte Ihnen vorschlagen, in meiner neuen Inszenierung von Hauptmanns „Dorothea Angermann“ zu spielen.“ Er gab mir das Stück zu lesen, mit der Bitte, ihm am nächsten Tag meine Antwort zu geben.

Doch als ich das Stück las, ging meine Begeisterung allmählich in Enttäuschung über, weil ich begriff, dass die Rolle der Dorothea Angermann nichts für mich war. Am nächsten Tag traf ich Reinhardt und Gerhart Hauptmann. Ich erklärte ihnen, warum ich mich nicht für die Rolle eignete, und fügte hinzu, dass ich mit der Ablehnung dieser Rolle ein sehr großes Opfer bringe. Eine Premiere am Berliner Deutschen Theater unter der Regie von Max Reinhardt ist für eine junge Schauspielerin ein Ereignis von größter Bedeutung. Als ich ging, konnte ich nur mit Mühe die Tränen zurückhalten. Reinhardt holte mich ein und sagte: „Sie haben viel Mut. Ihre Absage zeigt mir, dass Sie eine Begabung haben. Vor allem, dass Sie die Rolle ernsthaft studiert haben. Ich werde Sie nie vergessen.“ Und später hielt er sein Wort.

Am Tag des 25. Jubiläums seiner Arbeit im Deutschen Theater wurde Reinhardt von der ganzen Welt geehrt und gefeiert. Mehrere Universitäten würdigten ihn mit einem Ehrendoktortitel. Er war umgeben von einer auserwählten Gesellschaft der hervorragendsten Literaten, Künstler und Wissenschaftler seiner Zeit, darunter auch des großen Physikeis Professor Albert Einstein.

Das glänzende Talent Max Reinhardts wurde aus dem heutigen Deutschland wegen seiner jüdischen Herkunft verbannt, als ein Mensch, der „die germanische Kunst schändet“.

Theaterkünstler im Exil – Carola Neher

Die Serie wurde durch einen Aufsatz von Alexander Granach im März 1936 über Carola Neher beendet.

München. Süddeutschland. Hier gibt es auch Schwaben, echte und falsche Zigeuner, hier leben kampfbewusste Arbeiter und hier halten sich auch, wie überall auf der Welt, Spießbürger auf, die „in Ruhe gelassen werden“ wollen. Es gibt große staatliche Galerien, Universitäten, berühmte Brauhäuser und Biergärten. Hier gedeihen der bayerische Humor, der bayerische Käse, die bayerische Wurst, das bayerische Biet, die bayerischen Knödel und der bayerische Lokalpatriotismus. Und das Volk? Wer repräsentiert das Volk?

Der satte Bürger sitzt bereits morgens beim ersten Glas Bier, am Mittag beim nächsten und wieder beim nächsten am Abend. Das arbeitslose Proletariat lungert in den Straßen herum auf der Suche nach Arbeit, und die prächtigen Läden erinnern ihn daran, dass er sich nichts kaufen kann.

In diese Überschneidung von Revolution und Faschismus, in dieser durch Kunst und Biet geprägten Atmosphäre wuchs die kleine, lebensfrohe, ehrgeizige und ernste Carola Neher auf. Ihr aufmerksamer Blick und ihr einfühlsames Herz fotografierten alles und saugten es auf, um es spatet im Lied, im Tanz, als Figur, in der Musik und im szenischen Spiel künstlerisch darzustellen.

Carola Neher verkörpert den neuen Typ des Bühnenarbeiters, der zugleich Schau­spieler, Sänger, Künstler und Autor ist. Carola Neher ist die typische Vertreterin der Avantgarde im Theater: der Avantgarde, die bewusst den alten Weg verlassen hat, wo allein das Spiel entscheidend war, und dafür einen neuen betteten hat, wo jeder die Verantwortung für alles übernimmt.

Es ist kein Zufall, dass kein anderer Schauspieler, keine andere Schauspielerin so wie sie Bert Brecht spielen kann.

Ich sah Carola Neher zuerst als eine Schauspieler-Anfängerin. Das war vor ungefähr zehn Jahren in Breslau. Ich traf mich dort mit dem Dichtet Klabund, und am Abend gingen wir zusammen ins Theater, in „Die Heilige Johanna“ von Shaw. Es stellte sich heraus, dass diese Johanna ein sehr junges, direktes, kluges und gleichzeitig naives Geschöpf war. Und was passierte? Das ganze Theater lachte laut und aufrichtig über diese überraschende Dissonanz. Provinzielle Schauspieler skandieren Shaw, als ob er ein alter Klassiker sei, aber diese Debütantin spricht von der Bühne einfach und natürlich, mit einer Freude, mit der nur die Jugend ernste Dinge ansprechen kann. Sie spielte nicht Nut die Johanna, sie gab viel mehr an diesem Abend, sie entfaltete die ganze Palette ihrer Begabung. Sie entdeckte ihr schauspielerisches Wesen an sich. Jetzt weiß ich, dass sie schon damals mit ihrem Spiel auf „Die Heilige Johanna der Schlachthöfe“ von Brecht Vorgriff.

Ein paar Jahre später sah ich Carola Neher in einer Komödie in Berlin, wo sie eine belanglose Rolle in einer Farce spielte. Dieser Rolle verlieh sie erst durch ihre Begabung Inhalt und Tiefe. Später sah ich sie in einigen Salonkomödien und wunderte mich immer wieder aufs Neue darüber, wie es dieses Münchner Mädchen aus dem einfachen Volk schaffte, jeden oberflächlichen Dialog zu veredeln und zu beseelen.

Sie wagte sich an Bernard Shaws „Pygmalion“, und dies wurde zu einem Ereignis im deutschen Theater. Im ersten Akt sitzt sie im Graben. Sie ist barfuß und trägt nur Fetzen, aber was versprüht sie für eine versteckte Kraft, was für einen saftigen Volkshumor! Und wie fein spielt sie die Übergänge des Charakters heraus. Beherrschte Sprache und eine Geste – schon ist Eliza zu einer eleganten, aristokratischen und klugen Dame geworden, und zwar zu einer klügeren und feineren als die „echten Damen“. Sie hat eine solche Vergeistigung in sich, dass die Männer in ihrer Gegen­wart klüger und edler werden.

Carola Neher war das aber nicht genug. Das Münchener Volkskind entwickelte sich zu einem ehrgeizigen, willensstarken Menschen mit einem Ziel vor Augen. Die deutschen Intellektuellen erkannten, dass sich der Graben der Klassengegensätze nicht nur durch die Politik, sondern auch durch die Kunst zog. Eine Wende zum Reaktionären brach wie eine Lawine über Deutschland herein. Radikale Künstler schlössen sich zusammen. Friedrich Wolf, Gustav Wangenheim, Erwin Piscator, Ernst Busch, Hanns Eisler und andere bezogen ihre Positionen. Der Bekannteste unter ihnen war Bert Brecht, und seine Fahnenträgerin war Carola Neher.

Ja! Die „Salondame“ auf der Bühne verachtet die bürgerlichen Salondamen und sucht nun einen Weg zur unterdrückten, kämpfenden Klasse — das Kind aus dem Volke kehrt zum Volk zurück.

Hier beginnt Carola Nehers tatsächlicher Aufstieg: „Die Dreigroschenoper“ auf der Bühne und im Film, „Happy End“ – eine scharfe Satire über die philanthropische Arbeit der „Heilsarmee“. Wie zeigt sich Carola Neher? Sie verlässt sich nie auf ihre angebotene Begabung. Sie ruht sich nie auf ihren Lorbeeren aus. Carola Neher ist der arbeitsfähigste Mensch, den ich kenne.

Wer hat gehört, wie Carola Neher in der „Dreigroschenoper“ singt? Ihr lachendes Gesicht und die Augen voller Tränen, eine leichte, aber fest umrissene Geste, Klarheit, volle Beherrschung des schauspielerischen Materials und ein hohes Bewusstsein eige­ner Verantwortlichkeit. Wie wunderbar stapft sie in „Happy End“ in ihren geschnürten Stiefeln und jongliert mit Monologen, Phrasen und Wörtern!

Ich kenne keine ausdrucksvollere Schauspielerin als Carola Neher. Ich verstehe Bert Brecht, der extra für sie „Die Heilige Johanna der Schlachthöfe“ geschrieben hat.

Wir hoffen, eines schönen Tages zu zweit dieses Stück im – vom Faschismus befreiten – Berlin zu spielen.

Übersetzungen aus dem Russischen: Olga Reznikova

Hymne des Erwachsenen Jahoo

Bittet den Führer, dass er die Mieten uns senke!
Und sie zugleich
Auch noch erhöh in seinem Reich
So auch der Hauswirts gedenke
Mög er dem Landvolk den höheren Brotpreis bewilligen
Aber zugleich
Mög er uns Städtern im Reich
Doch auch das Brot recht verbilligen!

Mög er dem Kleinhandel helfen aus drückenden Schulden
Aber zugleich
Mög er für die, die nicht reich
Doch auch das Warenhaus dulden!

Lobet den Führer, den jeder durch Mark und durch Bein spürt!
Dort ist der Sumpf
Und hier erwarten wir dumpf
Dass uns ein Führer hineinführt

Carola Neher

Und möge er für die Motorradfahrerinnen auch etwas tun!

Nicht von Carola Neher und auch nicht von Klabund