Der letzte Kaiser

 Erzählungen von Klabund 

Mit Zeichnungen von Erich Büttner 

Verlag Fritz Heyder, Berlin-Zehlendorf – broschiert 1923 

Für Gräfin und Graf Arco

Der kaiserliche Knabe wachte auf. Er schlug den gelbseide­nen Vorhang zurück. Er lauschte wie ein Hase, der Männchen macht. Die regelmäßigen Atemzüge der schlafenden Diener und Eunuchen drangen aus dem Vorzimmer durch die dünne Sandelholzwand zu ihm. Er erhob sich; eine kunstvolle eu­ropäische Uhr, ein Schmied, der auf einen Amboss hämmert, begann sieben zu schlagen. Er läutete mit einer kleinen gol­denen Glocke, die auf einem Mahagonitischchen neben dem Ruhebett lag. Die Flügeltüren wehten auf, und der Ober­hofmeister, ein Mandarin letzten Grades, erschien. Neunmal berührte seine Stirn den Boden vor dem Kaiser, der in roten Lederschuhen, einem gelben, mit Symbolen bestickten Mantel auf einem Blaufuchsfell stand. Drei Diener sprangen wie aus dem Bauch des fetten Mandarinen hervor: der er­ste offerierte eine Tasse mit Tee, der zweite eine Schale mit Konfitüren, der dritte eine Lackdose mit Zigaretten. Der Kai­ser nippte im Stehen am Tee. Er betrachtete aufmerksam die Frühlingslandschaft, die auf der Tasse abgebildet war: blühende Aprikosenbäume, darunter ein Liebespaar, in der Ferne ein Teich, eine Gondel, im Hintergrund ein Hügel mit einer Pagode. Der Kaiser kräuselte die Lippen, als er das Lie­bespaar sah, in Unschuld jeder Seligkeit hingegeben. Eine Falte durchbrach seine glatte, kindliche Stirn. Der Diener, der das Teebrett hielt, zitterte. Kaum vermochte er sich auf sei­nen bebenden Knien zu halten. Der Kaiser stellte die Tasse nieder, dass sie klirrte. Er machte eine Handbewegung. Die drei Diener schnellten zurück. Der dicke Mandarin erneu­erte den neunmaligen Kotau. Dann sprach er, mit zu Boden gesenkten Blicken: „Die Tasse, in der der Diener Yüan Yng den Tee servierte, erregte das Missfallen Euer Himmlischen Majestät. Ich werde Befehl geben, den Diener auszupeit­schen.“ Der Kaiser überhörte die geflüsterten Worte: „Laß Hi kommen.“

Hi, die Amme, watschelte auf ihren geschwollenen Fü­ßen herbei. Die Augen des Knaben leuchteten, als er sie sah: „Zieh mich an, Hi.“ „Welches Gewand befehlen Euer Maje­stät? Das himmelblaue, mit Orangenblüten bestickte? Das schwarze mit den Sternen und himmlischen Figuren? Das braune mit den Darstellungen des Ackerbaus und der Vieh­zucht? Das purpurrote mit den Symbolen der glücklichen Liebe?“ – Der Knabe war erblasst. Er stampfte mit dem Fuß dem Blaufuchs auf den präparierten Schädel, dass er knackte. Die Amme sah schief von unten, die Arme demütig über dem weichlichen Bauch gefaltet, zu ihm empor. Er wandte sich nach der Wand und zerdrückte eilig eine Träne, die ei­nes Kaisers und Gottes nicht würdig war. „Man hat mir Fey-yen genommen. Man hat mein Herz verwundet.“ Die Amme schwieg. „Als ich gestern Nacht, von zwei Eunuchen begleitet, die Gemächer der Kaiserin, meiner Frau Gemah­lin, aufsuchte, trat mir ein Zeremonienmeister, ein dürrer, fragwürdiger Intrigant, mit einem neunmaligen Kotau und ei­nem Grinsen des Bedauerns entgegen: Ihre Majestät, die Frau Kaiserin, wäre in dringender politischer Mission am spä­ten Abend zu Ihrer Majestät der Kaiserinwitwe Tsze-hi in den Sommerpalast berufen worden. Man habe mir soeben einen Boten geschickt. Der Bote habe mich nicht mehr er­reicht. Nun sage selbst, was für eine politische Mission kann Fey-yen, die ein Kind ist, fünfzehn Jahre alt und noch ein Jahr jünger als ich, in ihre kleinen unwissenden Hände neh­men? Diese Hände sind dazu da, mich zu streicheln, wenn ich Schmerzen habe. Wann wird Tsze-hi, die böse Warzen­kröte, mir Fey-yen, meine Libelle, wieder schicken? Sie wird sie verschlingen, wie sie alles verschlingt, was in ihre Nähe kommt. Und dabei kostümiert sie sich als Kwanyin, als Göt­tin der Barmherzigkeit! Sie martert mich, nur weil ich der Kaiser bin und weil sie Pläne mit mir vorhat, die dunkel sind wie die Anschläge der Dämonen des Nordens.“ Hi schwieg noch immer. Sie tat, als habe sie nichts von den Worten des Kaisers gehört.

Der Kaiser trat an ein Fenster. Ein junger Gärtner war da­vor beschäftigt, Sträucher zu beschneiden. „Ich will keines von diesen kaiserlichen Gewändern mehr am Leibe haben“, der Knabe knirschte wie ein Pferd in der Kandare. „Hi, geh zu dem Gärtner da, gib ihm einige Käsch und versichere ihn mei­ner kaiserlichen Gnade: er soll mir seine Kleider leihen.“ Hi wollte etwas sagen. Der Kaiser schnitt ihr mit einer scharfen Handbewegung die Worte ab, ehe sie den Mund verließen. Hi watschelte von dannen. Sie kam mit den schmutzigen Lappen zurück. Der Kaiser war entzückt und klatschte in die Hände. Er warf sie sich über und besah sich im Spiegel. „Endlich sehe ich einmal wie ein Mensch aus – was meinst du, Hi? Wenn ich in dieser Maske unter meine Armee trete – werden sie in mir den Kaiser erkennen?“ Er riss das Fenster auf, sprang in die Sträucher und Stauden und war verschwunden. Hi schrie wi­der alle Etikette auf. Dann kroch sie jammernd zum Oberhof­meister, der sofort einige Mandarine erster Klasse hinter dem Kaiser herschickte. –

Der Kaiser schlug sich durch Seitenwege und Gestrüpp. Er kam an einen verfallenen Turm; stieg ihn hinauf und sah hinab. Das Land lag noch vor dem ersten Frühling. Bäume, Häuser, Wiesen-, Dächer, Kuppeln, Erde, Himmel: alles Gelb in Grau und Grau in Gelb. Monatelang schon herrschten diese Farben über Peking. Sie ermüdeten ihn. Er sehnte sich nach blauem Meer, nach grünen Wiesen, nach roten Lippen, nach den roten bemalten Lippen seiner kleinen Kaiserin -deren Lippen rot und zart waren wie die Lippen der geheimnisvollen Göttin im Tempel der Enthaltsamkeit, die nur er kannte. Er hatte sie entdeckt eines Tages in einem halb­verschütteten Gewölbe, das zerschlagen worden war von den Geschossen der fremden Barbaren. Sie war die beste, die reinste, die schönste Göttin. Er betete zu ihr in allen schmerzlichen Stunden seines Daseins. – Der Kaiser lag auf dem Turm, auf dem pelziges, grausilbernes Moos wucherte. Da hörte er Wehklagen und sah in einen Hof, wo der Die­ner, der ihm früh den Tee serviert hatte, mit Bambushieben regaliert wurde. Über die gelbe Haut flössen kleiner hell­rote Blutbäche. Der Kaiser empfand ein leises Wohlbehagen,

als er das Rot in all dem Grau und Gelb aufschimmern sah. Er stieg den gebrechlichen Turm hinab, wobei er eine Fle­dermaus ins Tageslicht scheuchte. Er ging weiter durch die unendlichen Gärten. Er kam durch kleine Zypressenhaine, an Lotosteichen, kleinen Tempeln, Marmorbauten vorbei, an Landschaften, die er noch nie gesehen. Er stieg auf ei­ner Brücke empor, die sich wie ein Kamelrücken wölbte: in neun Bögen über neun Kanäle.

Auf der Höhe der Brücke blieb er, an das Geländer gelehnt, stehen und blickte hinab, wo die Gärtner im Teich die alten Lotospflanzen versetzten und jungen Raum gaben. In der Mitte ließen sie eine kleine Wasserstraße für die Gondeln und Lustjachten frei. Man­che der Gärtner standen bis zum Nabel im Wasser. Einige sangen ein monotones Lied:

Lotosblüte,
Tochter des Himmels,
Lustgeborne, Lusterkorne,
Wie bald verduftest, verblühst, verfaulst
Auch du –

Einer der Aufseher sah zufällig zur Brücke empor und ent­deckte den Kaiser in der Gärtnertracht. Er schwang seinen Bambusstab: „He, du Faulpelz, du Lump, du Tagedieb, willst wie der Kaiser vom Thron zusehen, wie andere arbeiten! Herunter mit dir, sonst lasse ich dir die Bastonade auf die Fuß­sohlen geben!“ Der Kaiser lachte und lief die Brücke auf der anderen Seite flink hinab. Er fand einen Kahn lose angekettet und stakte sich auf das andere Ufer. Enten und Wassertauben begleiteten seinen silbernen Weg. Er sprang über eine Wiese, dann in ein dichtes Farngebüsch. In einer Lichtung warf er sich zu Boden und schlief sofort ein.

Als er aufwachte, saß ein Mädchen neben ihm, vielleicht siebzehn Jahre alt. Sie lächelte verlegen und kratzte sich ihren grindigen Kopf. Sie war hübsch, aber schmutzig und verwahr­lost. „Störe ich dich in deinen Träumen? Die Winde des Sü­dens mögen dir gewogen sein und dir zärtlicher als die Hand einer Geliebten über die Stirn streichen.“ „Mögen die Dämonen des Nordens dir immer fernbleiben und möge Kwanyn aus dem silbernen Krug, den sie in ihrer Linken hält, dir ewig das Wasser des Lebens aus den Yüquellen spenden. Ich freue mich, dir zu begegnen.“ Der Kaiser .richtete sich ein wenig auf. Libellen flogen über ihm hin, gelbe Schmetterlinge, die wie flatternde Mandarine aussahen. „Du bist wohl von deiner Arbeitsstelle weggelaufen?“ Sie blickte ihm forschend ins Gesicht. „Zeig deine Hände.“

Sie nahm seine Hände. „Sie sind zart, als hätten sie nie gearbeitet. Und hier: was bedeuten diese Ringe?“ Der Kaiser erschrak. Er hatte bei seiner Ver­wandlung vergessen, die kaiserlichen Ringe: den riesigen in Brillanten gefassten Saphir, den Ring der neun heiligen Per­len abzulegen. Er lächelte verlegen: „Die Steine sind falsch. Ich habe sie mal in der Vorstadt einem Tändler für ein paar Käsch abgekauft.“ Das Mädchen drehte seine Hand mit den Steinen in der Sonne, die das Gebüsch zu durchbrechen be­gann. „Aber sie sind hübsch und glänzen zierlich. Schenk mir einen Ring! Wenn du magst, will ich dich dafür lieben.“ Der Kaiser dachte: wenn ich die Ringe von mir gebe, bin ich kein Kaiser mehr. Sie gehören zu den Insignien des Kaisertums. Jahrhunderte haben die Söhne des Himmels den blauen Sa­phir als Symbol des Himmelsgewölbes getragen, und jetzt soll ich ihn einem schmutzigen Mädchen hinwerfen, dessen Vater ein Rikschakuli und dessen Mutter ein Mädchen aus einer nie­dersten Teeschänke ist. Ein Mädchen, das ich nicht kenne, das ich nicht liebe und von dem ich mich auch, die Götter mögen mich behüten, nicht lieben lassen werde. Das den unermesslichen Wert des Ringes nicht einmal ahnt und ihn dem er­sten besten Mandschusoldaten oder Tortenbäcker weiter ver­schenken wird. –

Der Gedanke der Sinnlosigkeit dieses Geschenkes und der tiefen Selbsterniedrigung und Demütigung entzückte ihn aber derart, dass er den Ring mit dem Saphir vom Finger streifte, eine Sekunde zauderte und ihn dann ihr an die Hand steckte. Sie pfiff vor Freude wie eine Haselmaus und legte seine beiden Hände an ihre jungen Brüste. „Wer bist du?“ fragte er. „Ich diene als Küchenmädchen im Som­merpalast Yü Schau Ihrer erhabenen Majestät der Frau Kai­serinwitwe Tsze-hi.“ Der Kaiser sprang auf die Beine. „Ich habe dir einen Ring geschenkt, und wenn er auch nicht viel Wert besitzt, so bist du mir doch einen kleinen Gegendienst schuldig. Ich bin augenblicklich ohne Stellung, der Gärtnerberuf behagt mir nicht mehr recht, bring mich zu deinem Kü­chenmeister. Er soll mich als Küchenjunge anstellen. Mit meinen Kenntnissen der Gemüse und Pilze und Früchte und Sa­late vermag ich ihm gewiss dienlich zu sein.“ Das Mädchen klatschte in die Hände: „Komm.“ Wenige Schritte hinter der Farnhecke war die Mauer des Palastgartens. In der Mauer war eine winzige Öffnung, durch die sich beide durchzwäng­ten. Noch einige Schritte durch eine Heckenrosenhecke, und sie standen auf der Straße an der großen Mauer. Die Straße war von Geschrei, sausenden Rikschas, Händlern, Gauklern, Eseln, räudigen Hunden, trippelnden Frauen, jaulenden Kin­dern, Straßenmusikanten belebt. Zelte und Buden waren er­richtet. Hier pries einer, einen spitzen, unwahrscheinlich ver­filzten Hut auf dem Kopfe, Hundeherz an Stäbchen gebraten an. Hier gab es Eselsfleisch, Froschschenkel in weißer Eier­sauce. Hier war eine Bäckerei von Reiskuchen und Zucker­torten. Es roch nach schlechtem Öl und ranzigem Fett. Nach Moschus, nach Knoblauch. Nach Zwiebeln, die jeder dritte im Munde kaute. Den Frauen bot ein Krüppel, dem beide Beine fehlten und der in einem kleinen Holzwagen sich mit zwei Stäbchen vorwärtsbewegte, Riechkissen an. Ein Verbrecher, eine hölzerne Krause um den Hals, wurde von Soldaten vor­über getrieben. Er grinste frech und höhnte die Vorübergehen­den mit unflätigen Redensarten, unter denen „Tochter einer Schildkröte“ noch die geringste war. Wahrsager und Zaube­rer hatten ihre Buden. Der eine sagte aus Reiskörnern, der andere aus Linien der Hand, der dritte aus den Zeichen des Himmels wahr.

Je nach der Anzahl der Käsch bekam man Böses oder Gutes geweissagt. Die Reichen hatten insgesamt Glück und Seligkeit zu gewärtigen. Aus Teeschänken klang Gitarrenmusik. Eine Theatertruppe spielte unter freiem Him­mel eine historische Tragödie „Der letzte Kaiser der Ming-dynastie“. Der Kaiser kam gerade zurecht, um zu sehen, wie der letzte‘ aus der Mingdynastie sich die Schnur umlegte. Er schauderte ein wenig. Hatte ihm der Literat, der ihn in Geschichtswissenschaft unterrichtete, das furchtbare Ende der Mings verheimlicht? Oder phantasierte der Schauspieler nur, ein grell geschminkter Bursche mit den Allüren eines Lust­knaben? Bei einem Drachenverkäufer kaufte der Kaiser einen Papierdrachen. Er ließ ihn über den Buden emporsteigen, den heiligen gelben Drachen. Wild und ungebärdig tanzte er im Winde. Da riss die dünne Schnur. Kopfüber Schoss der Dra­che zu Boden und war verschwunden. Der Kaiser erschrak wiederum. Was waren dies alles für üble Vorbedeutungen? Der letzte Kaiser der Mingdynastie, der heilige Drache, der erst steil emporsteigt, um plötzlich unterzugehen. War der Faden, an dem Chinas Geschicke hingen, so dünn und leicht zerreißbar? Der Kaiser trat auf einen Wahrsager zu: „Sag mir die Wahrheit!“ Der Wahrsager wog die paar Käsch in seiner Hand. Es war ein Zauberer, der in einer Ruine des Yuang ming yuan, des alten Sommerpalastes, hauste. Er strich sich seinen Bart und sagte: „Wenn man die Wind- und Wassergötter beunruhigt, so ist Sturm und, wilde Flut zu erwarten. Man erhöhe sich nicht zu den Göttern, wenn man nur ein Mensch ist. Die Tempel baue man klein, dass sie sich der Erde anschmiegen: desto eher findet der Geist des Himmels zu ih­nen. Von Menschen, die mit Ratten und Wanzen zu hausen gezwungen sind, ist keine friedfertige Gesinnung zu erwarten. Man mache die Menschen glücklicher, so werden sie besser werden. Der Große opfere sich um ein Kleines, der Kleine um ein Großes auf. Das Opfer ist der Sinn des Lebens und der Sinn des Todes. Die Gnade träuft von den Göttern wie Harz von einem Baumstamm.“

Der Kaiser ging nachdenklich von dannen. Hinter ihm trip­pelte das Küchenmädchen, den blauen Saphir eitel in der Sonne drehend. Sie führte ihn zu einem Seitentor des neuen Palastes, wo ein Mandschusoldat, zu dem sie in gewissen Beziehungen zu stehen schien, Wache hielt. Er kaute Ta­bak und spuckte träge vor sich hin. Der Kaiser trat auf ihn zu und verneigte sich: „Mein älterer Bruder möge verzei­hen, wenn sein jüngerer Bruder ihn in seinen Meditationen stört. Ich bin einer Wildgans begegnet und ihrem Flug gefolgt. Ich wäre entzückt, dich als meinen Freund begrüßen zu dürfen, denn ich gedenke die\Stellung eines Küchen­beamten in diesem erlauchten Hause anzunehmen.“ „Tritt nur ein“, sagte der Soldat, ein wenig barsch, aber nicht un­freundlich, der hübsche Junge gefiel ihm: „Du kommst zu einer wunderlichen Stunde. Hättest du an einem der Haupt­tore Einlass begehrt, man hätte dich nicht hereingelassen.“ „Was bedeutet deine Rede, Tu-Wei?“ sagte das Mädchen, „du machst mich ganz ängstlich.“ „Die Pfeile, die den stolzen Reiher treffen, sind schon gespitzt. Das bunte Kleid des kai­serlichen Pfauen wird bald verblassen. Es ist Revolution in der Stadt.“ „Revolution?“ fragte der Kaiser und musste sich das Wort klarmachen. „Warum Revolution und gegen wen?“ „Gegen wen anders als gegen den Kaiser“, sagte der Sol­dat, »hast du dich nie mit Politik beschäftigt?“ Der Kaiser schüttelte den Kopf. „Politik ist das, was die alte, böse Kai­serinwitwe Tsze-hi betreibt. Es kann nicht gut sein.“ Der Soldat runzelte die Stirn: „Sei nicht so vorlaut. Und sprich vor allem von Ihrer Majestät der Kaiserinwitwe in einem an­dern Ton. Vielleicht bist du gar selbst ein Revolutionär?“ Der Kaiser lächelte aus seinem bleichen Gesicht heraus. Der Sol­dat fuhr, ohne eine Antwort zu erwarten, fort: „Es sind einige Literaten zweifelhafter Grade, Rechtsanwälte und Rechtsverdreher aus dem Ausland, aus Amerika zurückgekommen. Sie haben sich die Zöpfe abgeschnitten und tragen Zylinder und Gehröcke wie die weißen Barbaren. Nun wollen sie, dass wir alle uns die Zöpfe abschneiden und Zylinder und Gehröcke tragen: deshalb ist Revolution. Verstehst du das?“ Der Kaiser nickte. „Sie stehen also mit den weißen Barbaren im Bunde. Sie sind Verräter unseres Volkes. Wie entsetzlich.“ Der Sol­dat nickte. Er spuckte den braunen Saft im Bogen an die Mauer. „Sie haben geheime Gesellschaften gegründet und im Volke agitiert gegen den Kaiser und die Kaiserinwitwe im Namen der Menschenrechte: der Freiheit, der Demokra­tie, des Selbstbestimmungsrechtes der Völker.“ Der Kaiser buchstabierte vor sich hin: „Der Men-schen-rech-te… was bedeutet denn das? China ist doch ein Kaiserreich seit Jahr­tausenden. Der Kaiser ist der Sohn des Himmels, der Mittler zwischen den Menschen und Schang-ti, dem Geist des Him­mels. Wie wollen sie mit den Göttern verkehren, wenn sie keinen Kaiser mehr haben?“ „Lieber Junge“, sagte der Sol­dat zärtlich, „jeder will eben ein Kaiser sein und persönlich mit dem Geist des Himmels in Verbindung treten.“ Dann lachte der Soldat und machte mit der rechten Hand eine Gebärde des Geldzählens und Einsäckeins. „Beim heiligen Delphin, du bist aber schwer von Begriffen: verdienen wol­len sie – das, was die Mandarine als Stellvertreter des Kaisers bisher verdient haben, das wollen sie selbst verdienen. Tael! Tael! Käsch! Käsch! Kwai zau für die kleinen Lumpen, nach­dem die großen abgetreten sind.“

Der Kaiser war verblüfft von der Suada des Soldaten, die auf ihn einstürmte. Ganz begriff er ihn nicht. Seit wann han­delte es sich im Leben des Menschen um Tael oder Käsch? Das waren doch ganz nebensächliche, lächerliche metallische Begriffe, mit denen man Hundeherz am Rost, einen Papier­drachen, vielleicht auch eine Frau kaufen konnte.

Aber der Geist des Himmels – was hatte er mit Taels zu tun? Das Mäd­chen drängte: „Komm nur herein. Das Tor wird bald geschlos­sen, und du musst wissen, woran du bist.“ Der Kaiser ver­beugte sich vor dem Soldaten, bat, ihn Seiner Hochwohlgeborenen Familie zu empfehlen, und folgte dem Mädchen. Das Mädchen führte ihn zum Küchenmeister Wang, der mit krebs­rotem Gesicht in einer Terrine rührte. „Ich bringe Euer Hochwohlgeboren einen diensteifrigen Knecht.“ Der Kaiser trug seinen Wunsch mit Anstand vor. „Nun gut“, sagte der gut­mütige Wang, der nie nein sagen konnte, auch den Frauen gegenüber nicht; er ahnte, dass durch Annahme des Küchen­jungen zum mindesten bei Noa etwas für ihn heraus- oder hereinspringen werde. „Nun gut, wir wollen’s mit dir probie­ren. Kannst du auch servieren? Du hast ein hübsches, gelecktes Gesicht, so als lecke dich deine Mutter, die Katze, jeden Tag dreimal ab. Man könnte dich b& Hof präsentieren.“ Der Kaiser hatte die Manieren der Diener bei den seinen studie­ren können. Er glaubte bei Hofe stilgerecht aufwarten zu kön­nen. „Nun gut. Wir werden sehen. Noa wird dich zum Bekleidungsmeister bringen.“

Gerade, als der Kaiser in die kleidsame, weiße Tracht der Diener gehüllt wurde, entstand eine Aufregung im Palast, die sich von den Toren ins Zentrum der Gemächer der Kaise­rinwitwe und von da in alle Seitenflügel strahlenförmig fortpflanzte. Der Kaiser war aus dem alten Palast verschwun­den und trotz eifrigster Forschungen nicht aufzufinden. Man hatte ihn in den neuen Palast in Sicherheit bringen wollen: er war gewiss den Rebellen, den verfluchten Republikanern und irrsinnigen Anhängern der westlichen Barbarenideologie, in die Hände gefallen. Die Kaiserinwitwe war außer sich. Sie schlurfte in ihrem Geheimgemach, das von Parfüm betäubend roch, asthmatisch aufgeregt auf und ab. Yng, der Obereunuch und ihr Vertrauter, immer hinter ihr her wie ein Küchlein hin­ter der Henne. „Yng, was soll ich tun?“ Sie tat einen Zug aus einer Opiumpfeife, die in einer Ecke lag. „Er ist davongelau­fen. Das ist es. Er ist selber ein Rebell, der Sohn des Himmels, Yng. Ein ungeratener Junge ist es, dem wir immer noch zu viel nachgesehen haben. Was wird er tun? Er bekommt es fertig, sich zu den Rebellen zu schlagen und gegen mich zu kon­spirieren: als kaiserlicher Republikaner, als republikanischer Kaiser. Tschang-tü-tsf, den sie zu ihrem Präsidenten machen wollen, ist ein alter Narr und Knabenschänder. Er wird sich in den Kaiser verlieben, und wir haben die Bescherung.“ Sie schnaufte schwer und sah wie ein großer brauner Frosch aus, der auf Land schwer atmet. „Yng, was macht die junge Kai­serin?“ „Sie hat sich in den Schlaf geweint, Majestät.“ „Sind die Wachen verstärkt? Ist für den Fall eines Abzuges durch den geheimen unterirdischen Gang alles in Ordnung?“ „Al­les in Ordnung, Majestät!“ Die Greisin ließ sich jammernd auf ein Kissen fallen und griff nach kandierten Nüssen, die in ei­ner Schale auf einem Tischchen standen. „Yng, was wäre aus den Mandschus geworden, wenn ich nicht gewesen wäre.“ Sie wiegte wie ein Marabu den Kopf. „Wir müssen den Kaiser wieder haben, so oder so. Zum Glück ist die junge Kaiserin schwanger. Dass sie einen Sohn gebärt: dafür werde ich sor­gen. ..“ –

Die junge Kaiserin ließ sich das Abendessen in ihrem Schlafzimmer servieren, während sie auf dem Kang lag. Zu­fällig fiel ihr Blick auf einen der Diener. Sie senkte die Wim­pern, befahl den Eunuchen und zwei Dienern das Zimmer zu verlassen. Der dritte blieb. „Kwang-sü!“ rief sie leiden­schaftlich und drückte ihn, der kaum Zeit hätte, die Pastete beiseite zu stellen, an ihre Brust. „Die Winde des Südens ha­ben dich zu mir geweht. Wie verlangte mich nach dir! Mich und dein Kind!“

Sie führte seine Hand unter die Decke, wo er unter ihrem seidenen Hemd die erste Regung seines Kindes spürte. Eine Träne wollte wieder in sein Auge. Er beherrschte sich. „Ich bin verfolgt und weiß nicht von wem. Ich bin geraubt und weiß nicht wozu. Ihre Majestät, die Kaiserinwitwe, ließ mir sagen, alles geschehe zu meiner persönlichen und der Dynastie Sicherheit. Es tobe ein Aufstand in der Stadt.“ „Nieder mit dem Kaiser, riefen sie. Ist das wahr, Kwang-sü? Was hast du ihnen getan? Du kannst doch niemandem Bö­ses tun?“ Der Kaiser zuckte die Achseln: „Aber vielleicht bin ich böse, vielleicht bin ich für die Aufrührer das böse Prin­zip, und das ist’s, was sie vernichten wollen. Man hat mich aufgezogen in dem Glauben, dass ich des Himmels Sohn sei, der Stellvertreter Gottes auf Erden: aus der Gnade des Gei­stes heraus. Habe ich mir diese Gnade erworben, erkämpft? Wo habe ich ein Opfer gebracht? Fey-yen: ich bin ein armse­liger Mensch, nichts weiter. Ich habe nie etwas getan: weder Gutes noch Böses, jetzt müsste ich eine Tat tun: aber wel­che?“ Er fiel in Sinnen. Fey-yen streichelte seine Stirn: „Du bist aus dem alten Palast geflohen in der Tracht eines Dieners?“ Der Kaiser lächelte: „O nein. Wovor hätte ich fliehen sollen? Ich wusste nichts von der Rebellion, als ich von Hause wegging im Gewand eines Gärtnerburschen. Das Schick­sal ist vor mir hergelaufen. Als ich hier ankam, war es schon da und berichtete mir in Gestalt eines Soldaten der Torwa­che, was geschehen.“ Die Kaiserin streichelte seine Hand, ihr Tastsinn vermisste eine goldne Unebenheit, sie zog die Hand erschreckt herauf: „Kwang-sü, wo ist der himmlische Sa­phir? das Symbol deiner Kaiserkraft?“ – Der Kaiser kämpfte: „Fey-yen – wirst du mich begreifen? Ich habe den Stein ver­schenkt, erbleiche nicht, Fey-yen, ganz einfach, ja eigentlich sinn- und zwecklos verschenkt. Die Person, die den Stein empfangen hat, weiß gar nicht, was es mit ihm für eine Be­wandtnis hat. Und ich habe ihn verschenkt, weil, ja weil ich an die Tradition der Jahrhunderte nicht mehr glaube, son­dern nur noch an mich. Vielleicht glaube ich auch nicht an mich, vielleicht zweifle ich nur an mir: aber Glaube und Zweifel sind ja Kinder eines Vaters. Entweder das Kaiser­tum besteht ohne den Ring in mir – oder es besteht gar nicht. Vielleicht haben wir es schon verloren. Und über­dies“ – er lächelte höflich – „den Ring mit den neun heiligen Perlen besitze ich ja noch.“ – Die Kaiserin lag da, die Au­gen geschlossen, Tränen zwischen ihren Wimpern. Er verließ sie auf den Zehenspitzen, durchschritt im Vorzimmer die Reihe der Eunuchen, die vor ihm auswichen, ohne zu wis­sen, warum. Er verließ bei seinem Freund, dem Soldaten der dritten Seitenwache, den Palast, gelangte durch das Loch in der Mauer in den Park des alten Palastes und schlich auf Sei­tenwegen zum Schloss. Das Fenster zu seinem Schlafzimmer stand offen. Er schwang sich hinein. Er hörte im Vorzimmer die Diener und Eunuchen aufgeregt wispern. Er warf sich ein gelbes Gewand über und schellte. Die Türe ging auf, Die­ner mit Leuchtern erschienen. Der Kaiser stand in der Mitte des Raumes: „Ruft mir Hi, die Amme!“ Wie ein Lauffeuer verbreitete sich die Nachricht, dass der Kaiser wieder da sei. Wang zerschmetterte vor Freude beinah seine Stirn im Kotau. Er hätte seinen Kopf verloren, wenn der Kaiser nicht zurückgekehrt wäre.

Hi watschelte verschlafen, schlecht gekämmt und unausgeträumt herbei. Ihr Gesicht hatte noch einige Runzeln mehr als am Tag. „Hi, salbe mir das Haar, öle mir den Körper, kleide mich in das schwarze Gewand, das mit den Sternen und Him­melsfiguren bestickt ist. Ich habe einen heiligen Gang zu tun.“ „Euer Majestät: das schwarze Gewand ist das Gewand des kaiserlichen Opfers zur Wintersonnenwende oben auf dem Marmoraltar.“ – „Tu, wie ich dir sage.“

Noch einmal rief der Kaiser das Gottesgericht an. Er wählte das Bambusorakel, neun Bambusstäbe verschiedener Länge. Er zog geschlossenen Auges einen Stab. Es war der kürzeste. Gott hatte gesprochen. Gesalbt, geölt und geschmückt, ein Perlendiadem auf dem Haupt, ein goldnes Krummschwert an der Seite, schritt der Kaiser aus dem Palast und die heilige dreigeteilte Straße zum Tempel aufwärts. Eine Krähe kreuzte seinen Weg. Das erste Morgenrot dämmerte herauf. Im Früh­wind läuteten die Glocken und Glöckchen unzähliger Pago­den. Er schritt den mittleren Weg, den Weg, der nur von den Geistern beschriften werden durfte und den keines Menschen Fuß bisher gegangen.

Er durchquerte die Halle der Enthalt­samkeit. In einer verborgenen Nische stand die Kwanyin aus Yadq. Die Lippen rot geschminkt wie Fey-yen, die linke Brust leicht entblößt. Der Kaiser küsste die über dem Herzen sich wölbende Brust. Er schritt weiter die neunmal neun Marmor­stufen zum Opferhügel empor. Als er oben angelangt war, blieb er aufatmend stehen. Keine Minister und Ministranten, keine Tänzer und Tänzerinnen, Chöre und Musikkapellen wa­ren bei ihm wie sonst beim nächtlichen Opfer des Kaisers zur Zeit der Wintersonnenwende. In den Sternenmantel gehüllt wie jener, der über ihm thronte und dessen Gleichnis und Sendbote er war, stand er allein und einsam seinem Gott ge­genüber und bot ihm stolz und demütig zugleich das Opfer seines Leibes und Lebens. Dreimal kniete er vor ihm nieder. Neunmal beugte er die Stirn im Kotau. Schangti, der Geist des Himmels, kam im Gespann der Morgenröte über den Ho­rizont gefahren. Da öffnete der Kaisen sich mit dem goldenen Schwert die Ader am Hals und ließ sein Blut in die Marmor­schale rinnen. Das Blut des Himmelssohnes vermischte sich mit den blutigen Tränen, die der Geist des Himmels aus der Morgenröte herniederweinte. – Die sechzehn Tore Pekings stiegen aus dem Staub der Nacht. Dort, im Zentrum des Pa­lastes, stand das innerste Tor, das Tor der himmlischen Rein­heit, das er nicht hatte betreten dürfen. Die westlichen Hü­gel hoben sich aus der Dämmerung. Auf dem Bahnhof lief der sibirische Express ein. Um diese Stunde stürmten die Re­bellen den Palast. Sie fanden den Kaiser, das Haupt über die Marmorschale gebeugt und sie mit beiden Händen umklam­mernd. Die Kaiserinwitwe und die junge Kaiserin hatten den Sommerpalast durch den geheimen unterirdischen Gang ver­lassen und befanden sich, von kaiserlichen Truppen umgeben, auf der Flucht außerhalb Pekings. Noa schenkte den Ring mit dem blauen Saphir dem Soldaten der dritten Torwache. Es war derselbe, der als General Tu-Wei später die Geschicke Chinas einige Jahre in seiner Hand halten sollte. –

Übrigens: Ist ein Buch broschiert, dann wurde es einfach zusammengeheftet. Ein Buch kann auf verschiedene Art und Weisen broschiert worden sein, z.B. mit einer Spiralbindung, mithilfe eines Tackers oder Ähnlichem.