Appell an Wilson

Neue Zürcher Zeitung,               Nr. 1406                                     25. Oktober 1918  

Erstes Morgenblatt 

Appell an Wilson Von Klabund 

Wilhelm II. ist seiner Zeit nicht gerecht geworden. Sie wird über ihn hinweg zu ihrem Ziele schreiten. Jetzt ist Wilsons Stunde gekommen. Die schwerste Verantwortung, die je auf einem Menschen lastete, ist heute auf seine Schultern gelegt. In seiner Hand liegt es, den Himmel auf die Hölle der Erde herabzurufen, die Menschen in Engel zu verwandeln, den ewigen Frieden als glückliche Gegenwart, glücklichste Zukunft zu beschwören. Er streiche von seiner Stirn die Wolken, die der europäische Kontinent schickt, sie zu verdunkeln und seinen Blick zu trüben. Das deutsche Volk ist aufgestanden, es ist im Begriff, seine klirrenden Ketten abzuwerfen, zum ersten Mal in neu errunge­ner Freiheit die ewig jungen Glieder zu dehnen. Wilson wird seine ganze geistige und sittliche Kraft aufbieten müs­sen, zu verhindern, dass man aufs neue es in Fesseln schlage, dass blinder Chauvinismus und taube Rachsucht seine besten Absichten zu Schimpf und Schanden machen. Er lasse ein irregeleitetes, aber edles Volk nicht büßen und entgelten, was eine skrupellose tyrannische Regierung an ihm und der Welt fehlte. Er entferne sich vom Standpunkt der Kapitula­tion auf Gnade und Ungnade, die seine Note vom 15. Okto­ber zu fordern scheint. Sie ist geeignet, ein stolzes unbesieg­tes Volk (denn Völker sind nicht zu besiegen: nur Staaten, nur Regierungen) zum Verzweiflungskampf empor zu reißen, wenn es sieht, dass sein Gegner zwar alle Garantien fordert, die geringsten aber selber zu geben nicht gesonnen ist. Der Unterseebootkrieg soll unverzüglich eingestellt werden: als eine der Vorbedingungen des Waffenstillstandes: übernimmt aber England als Gegenverpflichtung die Einstellung der Hungerblockade? Das deutsche Volk soll die Waffen niederlegen und die offene, unbewehrte Brust einem fürchter­lichen Feinde bieten, — der sich aber seinerseits zu einer Einstellung des Kampfes nicht verpflichtet hat und jederzeit die Hand zum Todesstoß erheben kann? Der tönerne Götze der deutschen Autokratie ist von seinem Sockel gestürzt, und keine Macht der Welt wird seine gänz­liche Zertrümmerung mehr aufhalten. Noch ist das deut­sche Volk erst halb erwacht, wie ein Kind, das sich den Schlaf aus den Wimpern reibt. Man gebe ihm Zeit zum völligen Erwachen: sobald es klar sehen wird, wird es unerbittliche Musterung unter den Schuldigen halten. Als Wilson dem deutschen Militarismus den Kampf ansagte, da forderte er Gewalt gegen ihn: Gewalt, Gewalt bis zum äußersten.

Der deutsche Militarismus liegt am Boden. Jetzt muss es heißen: Gerechtigkeit gegen das deutsche Volk, Gerechtig­keit, Gerechtigkeit bis zum Äußersten! Nach beiden Seiten müssen Wilsons erhabene Prinzipien mit der gleichen Gerechtigkeit angewandt und verwirklicht werden – soll nicht Deutschland, soll nicht die Welt zugrunde gehen. Schon melden sich die Hyänen des Schlachtfeldes, und ihr heiseres Gebrüll erschüttert die Nacht.

Wilson besteht auf Volksabstimmung in Elsass-Lothringen und den von den Polen beanspruchten Provinzen des deut­schen Reiches. Er lasse nicht zu, dass an Stelle einer polni­schen eine deutsche Irredenta im Osten aufflammt, die nicht weniger an Kraft besitzen würde als jene. Ist es Wilson be­kannt, dass in dem von den Polen beanspruchten Danzig ganze zwei Prozent Polen leben — gegen achtundneunzig Prozent Deutsche?

Wilsons innerpolitische Forderungen begegnen sich mit de­nen der jungen deutschen Demokratie.

Der Feind der deutschen Demokratie ist der Entente Imperialismus. – Wird sie in Wilson den erhofften Bundesgenossen finden, der sie gegen die Exekution schützt, die die Clemeneisten wie gegen einen Verbrecher gegen das deutsche Volk in Szene setzen wollen?

Das deutsche Volk ist nicht besser und nicht schlechter als andere Völker. 

Die Ablehnung eines weit entgegen kommenden Friedensangebotes, extreme Waffenstillstandsbedingungen werden zu nichts anderem führen als erst in Deutschland, danach in ganz Europa die proletarische Revolution zu entfachen. Und in der Tat: „würde das demokratische Bürgertum, das sich in Wilson am reinsten verkörpert, vor der heutigen Lage versagen, so wäre damit der offene Bankerott des bürgerlich­ demokratischen Ideals erklärt“. Es hätte sich gegen die impe­rialistisch-kapitalistischen Anfechtungen machtlos und seine Unfähigkeit zur Realisierung seiner hohen Ideen bewiesen. Für die proletarische Demokratie wäre der Weg zur Welt frei. Zu welchem Ende: ob zu einem guten oder einem schlechten: dies bleibe dahingestellt.