Un wie jehts weiter?

Und dazu nochmal zurück in das Jahr 1919 – nach Monti – ans Kriegsende. Der Kaiser ist ins Exil und in deutschen Städten marschieren die „revolutionären Garden“ und Klabund gerät in diesen Strudel.

Kurt Wafner:

„… Der Dichter geriet dann immer mehr in den Strudel revolutionärer Ereignisse. Sein unermesslicher Wille zur Gerechtigkeit und Menschlichkeit trieb ihn dazu, aber wohl auch eine Portion politischer Naivi­tät.“

Etwa Anfang April 1919 ein Telegramm – Erich Mühsam – sein Freund aus der Münchener Studentenzeit ist verhaftet worden und Klabund möge versuchen, ihm zu helfen.

Guido von Kaulla:

„… Ein unbekannt gebliebener Münchener schickt ein Tele­gramm an Klabund: er möge sich um Mühsam kümmern; ge­dacht ist: ihn mit Wäsche und Büchern zu versorgen.

Da aber die Möglichkeit besteht, dass Klabund zu den Münchener Auf­ständischen gehört, wird er vom 17.4. – 26.4.19 in (lt. Bürger-kriegs-terminus-technicus) „Schutzhaft“ genommen, aus der er – nach Bürgschaft durch die Schwiegereltern – entlassen wird; mit der Zeitungsnotiz: „“entlassen, da sich der Verdacht politischer Gefährlichkeit als unbegründet erwies.“

Kurt Wafner schreibt:

„… Der Anarchist Erich Mühsam gehörte zu den führenden Köpfen der bayerischen Räterepublik. Er wurde von den konterrevolutionären Truppen der Reichs­wehr inhaftiert und zu fünfzehn Jahren Festungshaft verurteilt. Kla­bund konnte sich von den politischen Ereignissen in Deutschland kein rechtes Bild machen und stand dem Geschehen einigermaßen hilflos gegenüber. Ideologische Begriffe wie Sozialismus, Demokratie, Revolution waren für ihn zweitrangig. Wichtig war die moralische Seite – das Menschliche. Da war ein Freund in Not. Da musste er helfen. Na­türlich erreichte er gar nichts. Es wäre ja auch ein Wunder gewesen, wenn er, der kleine „Asphalt-Literat“‘, Polizei und Justiz hätte umstimmen können.

Stattdessen wurde er selbst Opfer seiner Bemühungen. Erschro­cken von der Nachricht war er sofort nach Deutschland gereist und am 16. April 1919 in München in „Schutzhaft“ genommen worden. Das Telegramm war der Zensur in die Hände gefallen, und man hatte Klabund Teilnahme an spartakistischen Umtrieben vorgeworfen. Die Haftdauer war auf zehn Tage festgesetzt worden, die er im Gefängnis in Straubing absitzen musste.“

Fredi führt im Gefängnis Tagebuch und Klabund wäre nicht Klabund, wenn er diesen Aufenthalt nicht in Gedichten verarbeitet hätte. Und die habe ich in einem Band „Verse aus dem Gefängnis“ zusammengefasst.

Vorweg einen Satz: Briefe, die in diesem Tagebuch auftauchen, schrieb Klabund nach Passau, nicht nach Crossen.

Nach seiner Verhaftung schaltet Schwiegervater Max Heberle einen Kollegen ein – den Nürnberger Justizrates Dr. Zilcher, der gleich Heberle Mitglied der gesellschaftlichen Vereinigung „Schlaraffia“ ist. Und der schreibt am 23. April 1919 nach Passau:

„… Heute früh war ich nochmals beim Generalkom­mando vorstellig und erhielt endlich die Erlaubnis, Henschke im Gefängnis zu besuchen. (…) Ich habe sofort sowohl an das Generalkommando Nürnberg als auch an das Volksgericht Passau Antrag auf Haftentlassung gestellt und mich eventuell zur Kautionsleistung erboten. (…) Es wird zweckdienlich sein, wenn Sie selbst beim dortigen Volksgericht, bzw. Staatsanwalt desselben, vorstellig werden und eventuell die Vernehmung des Mühsam darüber verlangen, daß dieser seit über drei Jahren in keinerlei Verbindung zu Henschke-Klabund steht. (…) Ich habe dem Ver­hafteten eine bessere Abendkost durch Vermittlung des Gefäng­niswärters erwirkt und werde ihn auch mit Büchern versehen. Mit koll. Hochachtung!“

Und über die Entlassung Fredis schreibt Guido von Kaulla:

„… Am 26. gehen die Tochter des Justizrates, Lily Zilcher, und Dr. Georg Gustav Wieszner mit Wäsche und Büchern zur Militärabteilung des Untersuchungsgefängnisses. Aber unterm Eisengatter des Tores kommt Kla­bund ihnen schon entgegen. Man begibt sich erst einmal auf die Festwiese und sieht im Kasperltheater „Fausts Höllenfahrt“ „im schönsten bayerischen Dialekt“, indes sich in Nürnberg ein kommunistischer Putsch vorzubereiten scheint.“

Und Fredi nach seiner Entlassung: „Was Putsch! Was Revolution! Ich will erst wieder einmal atmen und lächeln dürfen!“

Dr. Georg Gustav Wieszner – geboren am 19. März 1893 und am 22. Januar 1969 gestorben, seit 1914 Student an der Universität München, studiert Germanistik, Psychologie, Philosophie und vor allem Theaterwissenschaften, promoviert 1921 mit der Dissertation „Richard Wagner als Theaterreformer“.  

Berufung als Dozent an die Nürnberger Fortbildungsanstalten, seit ihrem Bestehen (1921) an der Volkshochschule Nürnberg. Baut dort eine Theatergemeinde auf. Richtet an der Staatsschule für angewandte Kunst (Kunstgewerbeschule) das Stilgeschichtliche Institut ein. 1934 zwangsweise in den Ruhestand versetzt.

Seit Juli 1945 Studienprofessor und Direktor der Volkshochschule Nürnberg. Vom Nov. 1945 bis Okt. 1947 Leiter des Kulturamts der Stadt Nürnberg. In den Ruhestand versetzt im März 1969. Diverse einschlägige Veröffentlichungen. Träger der goldenen Bürgermedaille der Stadt Nürnberg.

Und dieser Dr. Wieszner – „Kutscherschüler, Ge­sprächspartner aus dem „Cafe Stefanie“, drei Jahre jünger – kann Klabund als Eisenbahnlektüre mit dem Reclambändchen der deutschen Übertragung der „Geschichte vom Kalkzirkeh“ dienen. Die französische „Kreidekreis“ – Übertragung des Julien war Klabund schon zuvor in der Bayerischen Staatsbibliothek vor Augen gekommen“, (Guido von Kaulla). Eine wichtige Lektüre, wie sich zeigen soll.

Tagebuch im Gefängnis

Klabunds Tagebuch veröffentlicht Matthias Wegner in seinem Buch „Wo andre gehen, da muss ich fliegen“ – Ein Lesebuch, es beginnt am Karsamstag, dem 19. April 1919. Guido von Kaulla aber datiert es bereits einen Tag früher:

„… „18. April 1919. Es ist elf Uhr. Ich sitze im eiskalten Ar­restlokal von Straubing auf der Pritsche und schreibe diesen Brief. Abends soll ich nach Nürnberg, zum III. Armeekorps, aber vielleicht auch erst morgen. Wenn ich daran denke, daß ich diese Nacht hier in dem eiskalten feuchten Loch, ohne Strohsack selbst, zubringen soll, schaudert es mich. Und ich habe eine böse Nacht schon hinter mir. Man warf mich in Passau in das Arrest­lokal, zu ebener Erde, feucht und ganz dunkel. (Auch diese Zelle hat kein Licht…) Nur eine Pritsche mit Strohsack darin. Du erinnerst Dich, was uns der Offizier versprochen hatte, der mich verhaftete? Er hat ja auch umsonst versprochen, daß ich am nächsten Tage der zivilen Behörde in Passau übergeben wer­den sollte. (Haben die Offiziere ihren Beruf gewechselt? Sind sie Polizisten geworden?) Um halb drei in der Nacht kam ein offenes Auto und sauste mit mir durch die Nacht nach Plattling. Der Reif lag auf den Feldern wie Schnee. Der Wind fauchte. Ich fror bis ins Rückenmark. In Plattling bestieg ich, einen Po­sten mit geladenem Gewehr neben mir, den Zug nach Strau­bing. – Eben bin ich das erstemal vernommen worden, es han­delte sich um das Euch bekannte Telegramm. Das ist die ganze Geschichte. Daraufhin beschuldigte man mich, an der Räterepublik teilgenommen zu haben. Du weißt, lieber Vater, wie ich zu ihr stehe, und daß ich nicht lüge, weißt Du auch. Und Du weißt, daß gerade mein Verantwortungsgefühl mich davon abgehalten hat, mich in die Affäre zu mischen. Und jenes Tele­gramm, das ich ganz privat aufgefaßt habe, soll mich nun zum offiziellen Emissär der Räteregierung stempeln?

Denkt Euch: in der Vernehmung wurde mir noch Majestäts­beleidigung von 1917 vorgehalten (im Untersuchungszimmer hingen die Bildnisse dreier Prinzen)! Von einem Beamten der sozialistischen Republik! Was ich in den Zellen und durch den Begriff „Zelle“ ausstehe, brauche ich Euch nicht zu beschreiben, ich, der ich die innere und äußere Freiheit über alles liebe und, ein Schüler Laotses, jede Macht hasse, weshalb ich ja auch gegen die Diktatur des Proletariats bin, weil sie den gleichen Macht­dünkel in ihm züchtet wie einst in den herrschenden Klassen der Imperialismus.“

Warum dieser Brief als erster Teil des Tagebuches nicht in allen Veröffentlichungen zu lesen ist, beschreibt Guido von Kaulla:

„… Der letzte Satz und überhaupt der ganze Brief wurde bei der Erstveröffentlichung 1920 in einer links-radikalen Berliner Ta­geszeitung keineswegs unterschlagen. Das blieb einem sich als „Klabund-Forscher“ bezeichnenden Wiener vorbehalten, der bei der Herausgabe eines nach dem Zweiten Weltkrieg gestatteten Zweitdrucks als selbständiger Broschüre diesen Brief wegließ, da er nicht linientreu ist und nicht geeignet, sich damit bei links­faschistischen Intellektuellen anzubiedern – worauf Klabund (nach dem Ersten Weltkrieg) niemals Wert legte.“

Mit dem Karsamstag, 19. April 1919 geht das Tagebuch weiter und jetzt wie in allen anderen   Veröffentlichungen:

Liebe Mutter, lieber Vater, heut ist nun schon der dritte Tag, dass ich gefangen bin, und immer ist noch kein Ende ab­zusehen. Man schleppt mich von Zelle zu Zelle, ich habe den Eindruck, als gelte der Mensch noch weniger als im kaiserlichen Deutschland. Von irgendwelchem Verständnis für mich war bei denen, die mich bisher verhörten, gar keine Rede. Ich wurde einfach angeschnauzt. Man fühlt sich ganz in der Rolle des Richters und traut dem „Angeklagten“ prinzipiell nur die mala fides zu. Was soll ich tun, wenn man einfach sagt: Das ist nicht wahr, das ist nicht wahr. Ein äu­ßerst vereinfachtes Gerichtsverfahren, das an die zaristischen Gerichte erinnert. Was ist diesen „Machthabern“ ein gefange­ner Mensch, der die Freiheit will – nicht aus Laune, sondern in seinem immanenten Gerechtigkeitsgefühl? Im Garnisonskommando Nürnberg duzte uns der Gerichtsoffizier (oder was er war): „Kerls, ihr kommt jetzt einfach in Schutz­haft!“ (Schutzhaft, eine blumenhafte Bezeichnung für das, was mit uns geschieht.) Und ein fetter rosiger Mensch in Zivil, der hinter ihm stand, schrie, frei, gesättigt und glücklich: „Mit dem Verhör hat’s ja keine Eile…“ Ich konnte mich nicht enthalten, mich umzudrehen Und zu schreien: „Damit hat es wohl Eile, denn wir sind Menschen, die des edelsten menschlichen Attributes der Freiheit}, der persönlichen Frei­heit, beraubt sind, und werden nun schon Tage und Nächte lang hin und her gezerrt.“ – Heute Nacht beherbergte uns das Zuchthaus Straubing. Es war wenigstens warm, aber die Prozeduren, die man mit uns vornahm, gehören zum Erniedrigendsten, was der Mensch dem Menschen antun kann – bis ins After hinein haben sie gesehen und gefühlt, ob man irgendwas darin verstecke… Ich möchte gerne wissen, wie man Verbrecher behandelt, wenn man „Schutzhaftgefangene“ so behandelt, oder vielmehr, ich weiß es: nicht schlimmer, nicht besser, nur genauso. Denn heute ist eine Zuchthausgefangene mit uns gefahren, die wegen schweren Diebstahls zu jahrelangem Zuchthaus verurteilt war.

Ich schreibe diese Briefe ins Blaue hinein, nur um bei Euch zu sein. Um in Gedanken wenigstens von Menschen geliebt und gut behandelt zu sein. Übrigens sind die einfachen Men­schen, die Soldaten, die uns begleiten, die Arrestwärter usw., bei weitem die menschlichsten und freundlichsten. Die Behörden sind von derselben konventionellen Barschheit wie die früheren. Ich werde immer mehr vom revolutionären Deutschland enttäuscht. Was das kaiserliche gern gewünscht hätte: die Schutzhaft: das sozialistische hat es fertiggebracht, sie über mich zu verhängen. Ich habe das Gefühl einer unbeschränkten Militärdiktatur, wie nur je unter Ludendorff. – Hast Du mein gestriges Telegramm bekommen? Man ver­sprach, es in Straubing aufzugeben. Aber ich durfte ja keiner­lei Mitteilung dranhängen. Kannst Du nichts für mich tun? Kannst Du nicht für mich bürgen? Du bist doch ein vielbekannter Altbayer? Mein Reinlichkeitsgefühl wird natürlich auf Schritt und Tritt verletzt. Meine zwei Taschentücher sind zu Ende. Das Essen gestern: stinkender Stockfisch und eine schwarze Suppe, war nicht zu genießen. Abends im Zuchthaus war wenigstens die Suppe gut, und es gab Wasser und gutes Brot dazu.

Eben komme ich vom sogenannten Verhör im Justiz Kommissariat des dritten A. K. Man hörte mir halb zu, las nicht einmal das Protokoll ganz (das meine, das ich beifügte, erst recht nicht) und sagte einfach: „Das glaube ich nicht. Abzu­führen bis zur weiteren Klärung der Lage ins Untersuchungs­gefängnis Nürnberg. Akten gehen nach Passau.“ Da frage ich: warum bin ich überhaupt erst durch ganz Bayern geschleppt, gepeinigt und gemartert worden, um dann doch in Passau, woher ich komme, abgeurteilt zu werden? Wie lange kann das dauern? Ach, ich fürchte Wochen. Kann ich überhaupt in die Schweiz zurück? Wenn die sechs Wochen verflossen sind, dann komme ich nicht mehr nach Monti, ins Paradies zurück.

Nürnberg, 20. April 1919

Gestern Abend bin ich hier ins Gefängnis eingeliefert worden. Der Beamte, der mich gebracht, tröstete mich und meinte, „die Zimmer seien ganz nett…“ Selbstverständlich freute ich mich auf mein Zimmer. Wieder in einem Bette zu schla­fen, wie schön müsste das sein. Die Präliminarien nahmen sich aber schon so seltsam aus, dass ich stutzte. Mir wurde alles Mögliche, mein Geld, auch meine Uhr, abgenommen, und dann wurde ich in eine Zelle geführt, die sich von der des Zuchthauses Straubing nur dadurch unterschied, dass eine kleine umklappbare Bank und ein unklappbarer Tisch vorhanden sind.

Im Zuchthaus Straubing war wenigstens Wasserspülung in der Zelle. Hier der alte Eimer schließt schlecht und verpestet die Luft. Zu essen bekommen habe ich gestern den ganzen Tag nichts als: einen Schnaps früh um 5 Uhr (nichts dazu) und abends um 6 Uhr ein Stück Brot und eine kleine Flasche Bier. Kein Mittag-, kein Abendessen, nicht einmal eine Tasse warmen Kaffee. Ich sagte, ich wolle auf meine Kosten mir et­was besorgen lassen. Man sagte, das ginge nicht. Ich werde bisher absolut wie ein Strafgefangener behandelt. Meine bei­den Zellennachbarn sitzen wegen Unterschlagung und Dieb­stahl. Der eine rief mich gestern Abend leise an: „Kamerad“, sagte er, „Kamerad, hast Du eine Zigarette?“ Ich hatte keine mehr, denn ich hatte sie alle schon in Passau an die Soldaten des Wachkommandos verteilt, die sich so freundlich zu mir benahmen. „Kamerad“, sagte er weiter, „ich habe zu Weihnachten eine Gans stehlen wollen, da haben‘s mich erwischt, geschossen haben‘s nach mir, fünf Kugeln hab ich kriegt, zwei Monate hab ich im Lazarett gelegen und jetzt zwei Monate hier.“ Er schwieg. Dann nachdenklich: „Du, der Leut­nant, der die letzten Tag hier war, der von den Spartakisten, der hat Zigaretten gehabt.“

Ich habe die Nacht sehr gefroren. Ich träumte von… Irene, aber ich weiß nicht mehr, was. Ich habe meine Unterhose und meine dicke wollene Weste anbehalten, und trotzdem fror ich. Früh um 6 Uhr schrie der Arrestwärter – ich bemit­leide diese Geschöpfe um ihren Beruf als Kerkermeister. Dass sich Menschen überhaupt finden, einander solches anzutun. Der Arrestwärter schrie: „Aufstehen, der Henschke!“ Dann öffnete sich das Klappfenster an der Tür, eine Hand schob sich hinein: „Da hast’n Handtuch.“ Ich musste mich waschen, das „Bett“ machen, dann öffnete sich wieder das Klappfen­ster und eine Schale schwarzen Kaffees schwebte hinein. – Er ist wenigstens warm. – Heut ist Ostersonntag. Heute ist der Herr aus dem Grabe wieder auferstanden. Mich hat man in der Nacht vom Gründonnerstag ins Grab gelegt. Wann werde ich auferstehen? Diese Wände zerbrechen? Diese Stäbe zer­knicken, wieder Flügel haben und ins Licht fliegen?

Ich wollte Euch noch gestern ein Telegramm schicken, Ihr wisst ja seit vier Tagen nicht, wo ich bin, und Eure Angst wird groß sein. Aber der Wärter wollte es nicht annehmen. Ich müsse warten, bis der „Feldwebel“ kommt. Wird er heute kommen? Es ist doch Ostern, und alles, auch der Untersu­chungsrichter, hat Osterferien. Tagelang werde ich wohl noch sitzen müssen, ehe wieder ein Ruf an mich ertönt. Draußen lärmen die Spatzen. Sie singen wie Engel.

Man schmeißt mir einen großen Klumpen Brot hinein. Ich habe nichts, womit ich ihn schneiden könnte. Ein Messer wird mir nicht (ich weiß nicht warum, weil ich vielleicht auf den Wärter zugehen könnte?) zugebilligt. Ich versuche das Brot mit meiner Zahnbürste zu schneiden. Meine einzigen Kost­barkeiten sind: eine Zigarre und eine Orange. Ich würde es nicht wagen, die Zigarre zu rauchen, die Orange zu essen. Ich rieche nur an ihnen. Wenn ich an der Orange rieche, steigt Monti, mein tessinisches Paradies, vor mir auf. Die Mandel­bäume blühen, die grünen Eidechsen schillern, und heute hat sicher Soffel, der gute Mensch, eine Zornnatter gefangen. Die Sonne scheint, die Maggia tönt, Rio, mein Hund, bellt, weil die Gartentür knarrt – und Freiheit – Freiheit überall!

Der Wärter schreit: „Ich brauch die Kaffeeschüssel!“ Ich kann das Getränk nicht so hinuntergießen, sonst wird mir schlecht. Ich sage ihm: „Warten Sie doch noch!“ Er ist sofort böse, vielleicht meldet er mich nun dem „Feldwebel“ nicht, dann ist wieder ein Tag und mehr als ein Tag verloren. Ich will ihn doch bitten, das Telegramm an Euch aufzugeben, und werde auch eine ärztliche Untersuchung beantragen. –

Nürnberg, 21. April 1919

Einer der Gefangenen, der draußen den Gang putzt, schiebt mir zwei kleine Hefte zur Lektüre durchs Fenster. Es ist die 14. und 15. Fortsetzung von „Die Tochter des Geigers oder das Rätsel der blauen Berge“. Auf dem Umschlag steht: „Die­ser Roman beschäftigt sich mit dem geheimnisvollen Rätsel und erzählt wahrheitsgetreu die seltsamen Schicksale des mit wunderbarer Schönheit ausgestatteten Mädchens Klara Herz­feld.“ Ich freue mich darauf, in die seltsamen Schicksale des mit wunderbarer Schönheit ausgestatteten Mädchens Klara Herzfeld eingeweiht zu werden. Wird deren Schicksal so selt­sam sein wie das meine und wird es von so wunderbarer Schönheit sein, wie du, Irene?

Das Mittagessen: eine Schüssel guter Suppe, in der zwei erbsengroße Fleischstückchen schwimmen, eine Schale gu­ten Kartoffelsalats und ein Stück grün verschimmeltes Brot. Ich werde zum „Feldwebel“ geführt und bitte ihn, das Tele­gramm an euch aufzugeben. Er weiß nicht, ob es geht, ei­gentlich muss alle Post dem Untersuchungsrichter vorgelegt werden, der ist natürlich heute und morgen nicht da, es sind ja Feiertage! Auch der Arzt kommt erst übermorgen. End­lich verspricht er, einen kurzen Brief an Euch, nur meinen Aufenthaltsort enthaltend, absenden zu lassen. Wann wird er bei Euch sein? Doch kaum vor übermorgen. Die Tage ver­streichen. Der Raum zerfällt. Die Zeit vergeht. Und nichts geschieht für mich. Alles: an sich und für sich. Ich bin ganz außerhalb der Erde. In der Hölle rotiere ich um mich selbst.

An der Wand hängt eine Tafel, und so sehe ich, dass meine armen Brüder, die Mitgefangenen, für ihre Arbeit im Ge­fängnis erhalten: Buchstaben auf Karten aufnähen, ein Gros Karten 5 Pfennig, fertigen von Rucksäcken, 1 Stück je nach Größe 1 bis 2 Pfennig, fertigen von Spielwaren, täglich 2 bis 25 Pfennig, Näh-, Stick- und Häkelarbeit, täglich 5 bis 10 Pfennig, Schreibarbeiten, für 500 Adressen oder dergl. 25 Pfennig, Schneider-, Schuhmacher-, Schlosser-, Schreiner-, Sattler-, Spengler-, Tüncher-, Maurerarbeit, täglich 25 Pfen­nig, Strümpfe und Socken stricken anstricken, ausbessern, täglich 3 bis 10 Pfennig. Ich kann es verstehen, wenn ein nicht sehr robuster Mensch, der wochen- oder gar monate­lang gezwungen ist, in diesem, notdürftig zu einer Kammer umgewandelten Abort zu hausen, an sich zu zweifeln be­ginnt, vom Hammer des Schicksals niedergeschlagen, sich für die elendste aller Kreaturen hält und gerne bereit und fä­hig ist, sich sämtlicher Todsünden zu bezichtigen und alles zu gestehen, was man ihm zumutet. Ich zwinge mich, meine Be­dürfnisse möglichst lange zurückzuhalten, weil es mich ekelt, die Tonne zu öffnen und der Gestank minutenlang im Raume stehenbleibt.

Wie spät ist es? 5? 6? Das Abendessen kommt: Die weiße Hand reicht durchs Klappfenster zwei kleine Stückchen Käse. Das ist alles. Als Beigabe ist wohl das schimmlige Brot von Mittag gedacht.

21. April 1919

Heute Nacht träumte ich wieder von Irene. Sie saß in ihrem seidenen Hochzeitskleid in einem Winkel einer Teestube und stickte an einem Kinderhemd. Es ist sechs Uhr. Der Aufseher: „Wachen Sie auf! Wir können auf Sie nicht warten! Nehmen Sie Ihren Jaucheneimer und leeren Sie ihn draußen aus!“

Ich möchte wohl manchmal heftig werden, aber ich sehe ein, dass es vollkommen zwecklos ist. Eine Respektperson bin ich ja gerade nicht. Ich sehe weder wild noch romantisch aus, wer würde Furcht vor mir haben? Nicht das scheueste Kind. Ich habe ein Knabengesicht, und man hält mich für einen unbesonnenen Gymnasiasten, der aus Spaß den Spartakistenrummel mitgemacht hat.

Die Zigarre habe ich dem Soldaten geschenkt, der gestern so gut zu mir war, und die Orange hab ich gestern Nacht noch aufgegessen. Ich konnte den Drang nicht mehr bezähmen. Meine beiden Wunder von der Welt draußen sind nicht mehr da. Die Orangenschalen hebe ich mir auf. Sie parfümieren die Zelle so süß, und ich kann sie, in Wasser gelegt, vielleicht als Zahntinktur verwenden. Ich habe eine Nordzelle. Ich sah vorhin, als mein Klappfenster offen stand, auf die Zelle gegen­über. Die war offen. Da lag die Sonne drin, wie eine schöne blonde Frau lag sie auf der Pritsche. Wie ich den Mann gegen­über um seine Sonne beneide. Er ist übrigens, ebenfalls in Pas­sau festgenommen, ein Telegraphenbeamter, der angeblich als Telegrammzensor der Räterepublik in Passau gewirkt hat.

Es irrt immer eine vage Dämmerung durch meine Zelle wie vor Sonnenuntergang, als müsse es gerade Abend werden. Es mag sein, dass in dem von Kommunisten besetzten München der rote Terror herrscht. Sicher ist, dass in dem von der Regie­rung Hoffmann regierten Bayern der weiße Terror umso blin­der wütet. Lieber Vater, du rühmst dich immer stolz, dass wir das freieste Wahlrecht der Welt haben.‘ Was nützt dir das freieste Wahlrecht, wenn du selber so unfrei bist, dass die Regie­rung jederzeit die Macht hat, dich, den Zivilmenschen, vom Militär verhaften und in Schutzhaft führen zu lassen. Noch immer besteht im revolutionären Deutschland die Schutzhaft; eine Einrichtung von wahrhaft mittelalterlicher Barbarei. Ist dies das neue Deutschland? War nicht immer eine der aller­ersten Forderungen freiheitlicher Männer gewesen: seien es Demokraten oder Sozialisten: dass zu allererst die Schutzhaft fallen müsse? Und sie besteht noch immer! Auch die private Zensur ist noch aufrechterhalten. Was nützt dir, lieber Va­ter, die schönste Gedankenfreiheit, wenn du deine Gedan­ken nicht frei zu äußern vermagst? Briefe an dich und von dir werden erbrochen, Telegramme aufgefangen, im Café sitzt ein Spitzel an deinem Tisch: dies, lieber Vater, ist das neue Deutschland, das sich nur dadurch von dem alten unterscheidet, dass an Stelle von Wilhelm II. und Ludendorff andere ge­treten sind. Eben lese ich in der „Nürnberger Zeitung“, die mir ein Soldat durch die Türe schiebt, dass das dritte Armee­korps Nürnberg vorläufig alle Versammlungen verboten hat.

Ist dies die sogenannte Versammlungsfreiheit? Mit der Ver­änderung von Personalien ist nichts getan: wenn nicht der Geist sich wandelt, wenn nicht die Seele rebelliert. Sie ducken sich schon wieder, die Bürger, wie sieggewohnt waren, sich zu ducken, früher. Und schon sehe ich den Schatten einer prinzlichen Gestalt über Bayern heraufkommen.

Nürnberg, 21. April 1919

Mittagessen: eine Schale gute Suppe, eine Schale weniger gute Spätzle. Abendessen (wird der Bequemlichkeit halber gleich mit hereingereicht): ein winziges Stück Käse (wie gestern). Ich esse den Käse schon um 4 Uhr auf, weil ich Hunger habe. Ich lasse mir das Bett herunterklappen, weil ich mich nicht wohl fühle, und lege mich hin. Ich habe ein wenig geschla­fen. Ich gehe an den Wänden entlang und sehe alle mögli­chen mathematischen Zahlen und Formeln. Ich trete näher und bemerke, dass es Kaiendarien sind, von den Gefangenen angelegt. Vom Einlieferungs- bis zum Entlassungstage. Und manche Zahlenreihen sind endlos lang. Ein Strich durch das Datum, das heißt: wieder ein Tag vorbei. Wieder einen Tag dem Leben, dem Licht, dem Tanz und dem Gelächter näher ­gerückt.

Soll ich ebenfalls eine Tabelle anlegen?

Ich scheue mich. Ich habe Angst vor den Zahlen.

Der Feldwebel sagte gestern: „Warten Sie nur, in ein paar Tagen sind Sie entlassen.“ Die Leute sind alle so nett, das glei­che aber hat schon der Chauffeur im Auto gesagt: „Warten Sie nur, in Nürnberg lässt man Sie gleich wieder frei.“ Es war nicht wahr. Die Leute täuschen sich über die Schwerfälligkeit der juristischen und die Brutalität der militärischen Maschi­nerie.

Ich erfahre heute zu meinem Erstaunen, dass ich in der Militärabteilung des Untersuchungsgefängnisses gefangen gehalten werde. Wie ist das möglich, ich, ein Zivilist? Ein böses Symptom. Nicht für mich. Für Deutschland. Nach Recht und Gerechtigkeit hätte ich sofort der Zivilbehörde übergeben werden müssen. Das Zivil scheint schon wieder ausgeschaltet.

22. April 1919

Ich habe immer Hunger. Und ich friere immer.

Ich war eben beim Feldwebel zum Rapport: Ich habe um die Erlaubnis gebeten, Zeitungen zu lesen und mir meine Füllfe­der neu zu füllen, was mir gnädig gewährt wurde. Ich habe ihm auch ein Telegramm übergeben, mit dem Ersuchen, es zu befördern.

„Bitte dringendst Haftentlassung fordern gegen Bürgschaft oder Kaution.“

Der Feldwebel sagte: „Wollen sehen, was sich machen lässt, lieber Henschke.“ Ich weiß mir nicht anders zu helfen, jetzt warte ich auf den Arzt. Wird er mir helfen können oder wol­len? Eine Woche bin ich schon in Haft. Ich erinnere mich aus der Lektüre des „Crossener Lokalblattes“, dass Männer we­gen kleinen Diebstahls zu einer Woche Haft verurteilt wur­den. Die Buße für einen kleinen Diebstahl hätte ich also schon hinter mir.

Der Wärter schreit durchs Guckloch: „Wollen Sie spazie­ren, Henschke?“ Ich danke. Ich warte auf den Arzt. Ich weiß: alle Gefangenen müssen in Kolonne antreten, und dann geht es schweigend in den Hof. „Ohne Tritt, marsch!“ Ich höre die Stimme des Aufsehers verhallen und den Tritt der Gefange­nen. Was für ein Wetter ist? Ich kann es durch die schmut­zige, halb blinde Scheibe nicht erkennen, jeden Tag spiegelt der Himmel in ihr das gleiche Grau.

Was für Gefühle beseelen mich? Ach, nichts „beseelt“ mich. Ich friere und habe Hunger.

Eben bringt man mich in eine andere Zelle, die wenigsten den Vorzug hat, dass sie wärmer ist. Es geht Zentralheizung durch.

Der Arzt verordnet Anistropfen.

Folgende Geschichte fand ich in der neuen Zelle auf einer alten Schreibheftseite säuberlich niedergeschrieben: Wer mag sie erfunden haben?

Ein Vater und eine Mutter lebten mit ihren zwei Kindern auf einer rauhen Insel des weiten Weltmeeres, wohin sie durch Schiffbruch geraten waren. Wurzeln und Kräuter dienten ih­nen zur Nahrung, eine Quelle war ihr Trunk und eine Felsenhöhle ihre Wohnung. Oft tobten auf der Insel furchtbare Stürme und Gewitter. Die Kinder konnten sich’s nicht mehr denken, wie sie auf die Insel gekommen waren; sie wussten nichts mehr von dem großen festen Lande; Brot, Mehl, Obst und was es dort sonst noch Köstliches gibt, waren ihnen un­bekannte Dinge geworden.

Da landeten eines Tages in einem kleinen Schifflein vier Mohren an der Insel. Die Eltern hatten eine große Freude und hofften nun, von ihren Leiden erlöst zu werden. Das Schiff­lein war aber zu klein, alle zugleich auf das feste Land hinüberzubringen – und der Vater wollte die Fahrt zuerst wagen.

Mutter und Kinder weinten, als er in das schwache, bretterne Fahrzeug stieg und die vier schwarzen Männer ihn fort­führen wollten. Er aber sagte: „Weinet nicht! Drüben ist es besser, und ihr alle kommt bald nach.“

Als das Schifflein wiederkam und die Mutter abholte, wein­ten die Kinder noch mehr. Aber auch sie sagte: „Weinet nicht! In dem besseren Lande sehen wir uns alle wieder!“

Endlich kam das Schifflein, die zwei Kinder abzuholen.

Sie fürchteten sich sehr vor den schwarzen Männern und zitterten vor dem furchtbaren Meere, über das sie hinüber sollten. Unter Furcht und Zittern näherten sie sich dem Lande.

Aber wie freuten sie sich, als ihre Eltern am Ufer standen, ihnen die Hände boten, sie in den Schatten hoher Palmenbäume führten und auf dem blumigen Rasen sie mit Milch, Honig und köstlichen Früchten bewirteten. „O wie töricht war unsere Furcht!“ sagten die Kinder, »nicht fürchten, son­dern freuen hätten wir uns sollen, als die schwarzen Männer kamen, uns in das bessere Land abzuholen.“

„Liebe Kinder“, sprach der Vater, „unsere Überfahrt von der wüsten Insel in dieses schöne Land hat für uns noch eine höhere Bedeutung. Es steht uns allen noch eine weitere Reise in ein viel schö­neres Land bevor. Die ganze Erde, auf der wir hier wohnen, gleicht einer wüsten, rauhen Insel. Das herrliche Land hier ist für uns ein, wiewohl nur schwaches Bild des Himmels. Die Überfahrt dahin über das stürmende Meer ist der Tod. Jenes Schifflein erinnert an die Bahre, auf der uns schwarz ­gekleidete Männer einst forttragen werden. Aber wenn jene Stunde schlägt, da wir, ich, eure Mutter oder ihr, diese Welt verlassen müssen, so erschreckt nicht! Der Tod ist für fromme Menschen, die Gott lieb gehabt und seinen Willen getan ha­ben, nichts als ein Übergang ins bessere Land.“

Nürnberg, 22. April 1919

Der Wärter brachte Anistropfen. Ich habe sie geschlürft wie Henessy oder Benediktiner und ihren Geschmack lange im Munde gekostet. Als ich vor 13 Jahren an Rippenfellentzün­dung krank lag und das Fieber nicht weichen wollte, musste ich eine Hungerkur durchmachen. Ich bekam nichts als Tee und Wasserkakao. Ich hungerte so lange, bis ich weinte und nachts vom Kaiserautomaten träumte, wo man 10 Pfennig in einen Schlitz steckt und dann erhält man eine Schinkensem­mel oder ein Lachsbrötchen oder ein Ei Brot, ach, ach, was gab es nicht alles für schöne Dinge auf dieser guten Welt zu essen! Das bisschen fettlose Mittagessen hält nicht an, und sonst gibt es ja nur morgens eine Schale Kaffee und abends ein Stück­chen Käse. Um 4 Uhr hab ich ihn immer schon aufgegessen, und dann bleibt nichts für den Abend.

Es ist schlimm zu hungern. Der Hunger nimmt einem alle Gedanken fort, und man denkt nur dies: essen, essen, fressen, fressen. Wenn es nur dunkel würde! Man schlafen könnte! Den Magen ausschalten. Die Augen schließen. Das Herz im Traume reden lassen. Bei Irene sein.

23. April 1919

Wegen Kohlenmangel muss ab Donnerstag, 24., der Perso­nenverkehr auf den bayrischen Staatseisenbahnen eingestellt werden. Wenn ich heute oder spätestens morgen früh entlassen werde, kann ich nicht mehr fort von Nürnberg. Soll ich glauben? Soll ich hoffen? Warum höre ich nichts von Passau? Man muss mir doch geschrieben oder telegraphiert haben?

Immer, wenn im Gang der Wärter mit den Schlüsseln ras­selt, spitze ich die Ohren wie ein Hase. Ich gehe mit dem Gedanken um, an das preußische Justizministerium ein Te­legramm zu richten.

Die Zeit schleicht wie eine Schnecke. Sie geht wie ein Krebs, rückwärts. Eben schlägt es erst 9 Uhr.

Heute gab es zu Mittag Suppe, rote Rüben und ein kleines Stück Fleisch. Abends Kunsthonig und Tee. Alles recht ge­nießbar; nur viel zu wenig, um satt zu werden. Der Wärter versprach mir, ein Abendessen zu besorgen.

Justizrat Z. war bei mir. Er zeigte mir ein Telegramm von dir. Meine Hoffnung flammte auf. Wenn es ihm gelänge, mich frei zu bekommen, bald, baldigst. Daran liegt alles. Ich bat ihn um Bücher. Klara Herzfeld, das schöne Mädchen, befriedigte mich doch nicht recht, und ich bin stumpf vor in-die-Wand-stieren. Auch das Schreiben wird mir schwer. Ich habe eben zu Abend „gegessen“, aber ich habe schon wieder rasenden Hunger. Wenn ich das Stück Brot, das noch daliegt, jetzt auf­esse, habe ich morgen früh nichts zu essen.

Ich kämpfe einen Gewissenskampf.

Hölderlin, mein großer, heiliger Bruder, wie sehne ich mich nach dem Lande Hyperions, nach einem Vers von dir, in meine Wunde als Balsam geträufelt. Was bedeutete für dich rote Rüben, Kunsthonig und Kommissbrot. Dir wäre das alles eins, was mir, ich gestehe es schmerzlich, in mei­ner Lage so viel bedeutet. Schubert saß dreizehn Jahre auf Hohenasperg gefangen. Ich erschrecke. Ich komme mir recht erbärmlich vor gegen die Herren der Vergangenheit. Aber sie hatten das Gefühl, Märtyrer zu sein, für eine große Sache zu dulden. Wofür dulde ich? Weil ein Esel mir ein Telegramm geschickt, ein zweiter Esel es abgefangen, ein dritter Esel es als verdächtig beanstandet hat. Kein Anlass, um mit meinem Duldertum theatralisch aufzutreten.

24. April 1919

Jeden Abend kommt der Sanitätsunteroffizier und misst mir die Temperatur. Dann verordnet er mir Anistropfen. Unten spielt immer jemand Klavier. Das scheint sich ein Dauer Gefangener in der Zivilabteilung gemietet zu haben. Die älte­sten Operetten. Die Zampa-Ouvertüre, die ich so gut von den Karussell- und Rummelplätzen meiner Kindheit kenne. Ich denke an meine letzten Stunden auf Schweizer Boden. In der geschlossenen Abteilung eines Privat-Nervensanatoriums. Ein Billardsalon. Die Fenster nur mit Schlüssel zu öffnen. Ein Wärter in einer Nische. Der Tänzer Nijinski, der Partner der Anna Pawlowna, spielt mit kurzen harten Stößen Billard ge­gen einen kleinbürgerlichen Herrn ohne Kragen. Herr von Waldkirch erscheint auf Filzsohlen und preist stotternd seine Geigen.

Er hat eine Geigensammlung. Er holt eine Geige mit pracht­vollem Ton. Ein Virtuose aus Konstanz, der uns begleitete, nimmt sie aus dem Kasten, prüft, und setzt an. Die Herren am Billard lauschen, steif. Herrn von Waldkirchs Gesicht fließt auseinander, wie übergelaufene Milch. Man reicht mir des Knaben Wunderhorn. Ich lese eine Ballade. Dr. Levy, mein guter Freund, spricht das letzte Gedicht aus der „Irene“.

Ich war seit langem nicht mit so vernünftigen Leuten zusam­men wie diesen Wahnsinnigen, die an schweren paranoischen Wahnvorstellungen leiden.

„Monsieur“, sage ich zu Nijinski, „cfu’est ce pas, vous avez ete ä Berlin il y a sept ans?“

„Monsieur“, erwiderte er, „Je ne me souviens plus. Berlin ou Petrograd c’est la meme chose comme Jesus et Jehova.”

Waren dies alles Vorahnungen, dass ich in Kreuzungen in ei­nem Hause war, wo man die Fenster nicht öffnen konnte und die Türklinken sich abschrauben ließen? Zimmer mit kleinen vergitterten Fenstern im Hause waren? Polstern an den Wän­den? Jene Narren hatten es besser als ich. Sie können sich in einen Zustand der Freiwilligkeit hineinfühlen. Sie sind Pensionäre. Gäste. War dies eine Vorahnung meines jetzigen Zustandes, dass ich am Morgen vor meiner Verhaftung ein mystisches Gedicht begann:

„Der Gefangene“?.?

Nürnberg, 24. April 1919

Das Ereignis des heutigen Tages ist dein Brief, liebe Mut­ter. Ja, wenn alle Menschen so wären und dächten wie du! Vergiss bitte nicht, dass eine uralte Rechtssitte verlangt, vom Angeklagten immer a priori das Ärgste und Schlechteste an­zunehmen. Was wussten auch die, die mich vernahmen, von meinen Versen, meinem Werk, meinem Wollen? Sie wussten nicht, dass ich ein Dichter bin, sondern hielten mich, gemäß gewordener Instruktion, für einen „Spartakisten“. Die Vernehmung von dem Eskadronschreiber in Straubing war gera­dezu von klassischer Lächerlichkeit, und in Nürnberg dauert sie auf 3. A. K. eine halbe Minute. Der Mann sah flüchtig in das Protokoll, sagte: „Das glaubt Ihnen doch kein Mensch, was Sie da sagen?“ und „In Untersuchungshaft zu setzen, bis die Sache geklärt“. Das war alles. Liebste Mutter, darum vier Tage durch Bayern geschleppt. Hätte man mich den nächsten Tag sofort in Passau vernommen, wie die Offiziere versprochen hatten, so wäre alles wohl bald erledigt gewesen. Jetzt hat die Affäre schon einen mystischen Schimmer angenom­men: Durch die Autofahrt, das Zuchthaus und die unendlich vielen Begleitmannschaften (mit schwergeladenen Gewehren, versteht sich). Ich glaube, es sind seit Donnerstag voriger Woche fünfzig bis sechzig Leute völlig überflüssig meinetwegen bemüht worden. Ich war in meinem Protokoll von der An­sicht ausgegangen, dass die bona fides mir wenigstens nicht von vornherein abgestritten werden würde. Hätte ich die Bos­heit des ganzen Apparates von vornherein durchschaut: ich hätte nur einen Satz zu Protokoll gegeben.

25. April 1919

Gestern las ich in den Serapionsbrüdern von E. Th. A. Hoff­mann. In der Komposition seiner Erzählungen wird er wohl in Deutschland von niemandem erreicht. Die glücklichste Mi­schung dreier Talente: des Malers, des Musikers vor allem, und des Dichters. Und ein viertes Talent, das alle die anderen drei lenkt und zügelt: er war ein Geisterseher.

Heute Nacht träumte ich so lebhaft von meiner Heimkehr nach Monti, dass ich, als ich erwachte, in Monti zu sein glaubte.

26. April 1919

Frei! Wieder draußen! Wieder lebendig! Ich bin noch zu er­regt und nervös, um die Wogen der Empfindungen, die mich durchströmen, bändigen zu können. Ein alter Bekannter aus München, ehemals Dramaturg hier am Theater, und Frl. Z. …, die Tochter des Justizrates, nahmen sich meiner an. Wir gingen auf die Festwiese, sahen „Fausts Höllenfahrt“ im Kasperltheater, im schönsten bayrischen Dialekt, und fuhren Karussell. Zwischen den Buden gingen Matrosen mit Gewehren, und es hieß, es würde ein neuer Putsch der Kommunisten in Nürn­berg vorbereitet.

Ich nahm mir im Königshof ein elegantes Zimmer und be­stellte mir sofort ein Bad. Meine Wäsche sieht desolat aus. Schmutzig und zerrissen. Ich habe vor Erregung die ganze Nacht nicht geschlafen. Ich will mit Euch telephonieren, dass ich nicht mehr nach Passau zurückkomme. Die Züge sind ein­gestellt, es bedürfte vielfacher Bemühung, um auf Güterzügen in Tagen zurückzukommen. Und dann läuft mein Pass bald ab. Soll ich ihn aufs Spiel setzen? Ich brauche Ruhe, Ruhe, Ruhe. Und die habe ich in Monti. Bei den jetzigen Zuständen in Bay­ern würde ich mir in Passau doch wieder höchst ungemütlich vorkommen. Es geht noch ein Zug ins Württembergische. Sendet meine Papiere und Sachen nach her, baldigst, express.

Heute will ich Nürnberg, dem Hirschvogelsaal und Hans Sachs einen Besuch abstatten, und im Hans-Sachs-Hause werde ich den Hut ziehen, zum ersten Male seit neun Tagen, und in Ehrfurcht das Deutschland grüßen, das ich liebe.

Klabund kehrt nach seiner „Schutzhaft“ schnellstmöglich nach Monti zurück und eigentlich will er dort auch bleiben. Warum er aber Herbstanfang 1919 die Schweiz verlässt, ist nie geklärt worden. Einerseits habe er in Monti gekündigt, andererseits zwingen ihn aber die zunehmenden Mark-Kursverluste zur Abreise.

„Zu­nächst holt er Besuche nach. Seine Freunde und Freundinnen in den verschiedenen Städten merken, dass unter der Sonnen­bräune seine Haut oft fahl ist, sehen aber auch, dass sich sein lebhaftes Knabengesicht mit den jetzt zuweilen recht kampf­lustig blickenden Augen nicht verändert hat. In Berlin kommt es Ende September und Anfang Oktober zu sehr dramatisch verlaufenden Treffen mit Fiete Wilhelm, denn so bedeutungs­voll Fiete auch für ihn war – jetzt gehen sie im ganzen mehr neben- als miteinander: – der Weg führt nicht zur ehelichen Bindung,“ schreibt Guido von Kaulla.

Sein Wohnort wird ab Ende Oktober 1919 für Jahre Berlin. Er wohnt in Berlin SW 61 bei Frau Hertz in der Halleschen Straße 21 I, nur unterbrochen durch Reisen und immer wieder auch durch Aufenthalte in Crossen. Über diese und über das Verhältnis zum Elternhaus ist wenig oder nichts zu erfahren. Nach Passau berichtet er unter anderem, dass er Bruchstücke jenes „fürchterlichen“ Buches wieder aufgefunden habe und gemeint hat er den in seiner ersten Berliner Zeit geschriebenen Roman „Peter“. Und dieser sei von einem Zynismus und einer Verachtung des Menschen, wie es so ganz nur aus dem Bild Berlins begriffen werden könne. So sehe Berlin in der Tat aus – das Buch sei von einer scheuß­lichen Aktualität.

Zu den „Besuchen seiner Freunde und Freundinnen“ zählt auch die Schauspielerin Grete Guttmann. Klabund lernt sie auf einem Künstlerball Anfang 1920 kennen.

Guido von Kaulla schreibt:

„… In seinem ersten Berliner Nachkriegswinter trifft Klabund eine junge Schauspielerin, Grete Guttmann, auf einem Künstlerfest. Sie lässt ihren eigentlichen Begleiter im Stich und läuft mit Klabund zu Fuß über anderthalb Stunden durch das nächtliche Berlin. Sie hat „Bracke“ gelesen – und sie liest nun in ihrem Be­gleiter, der so jung aussieht und so hinreißend zu erzählen ver­steht wie in seinem Buch. Sie ist verzaubert von seinen Quali­täten, von seiner Bescheidenheit, seiner Genusssucht, seinem tie­fen Wissen um innere Kräfte, seiner Lebenslust und seiner spie­lerischen Leichtigkeit. Sie sieht ihn: charmant und strahlend von Ideen, niemals kopierend, immer echt, in nichts gekünstelt, un­geheuer begabt. Sie schwärmt von seiner Persönlichkeit -: „ein ganzes Lichtermeer“ — und von seinem Leben —: „das einen Stern zeigt, der leuchtet, bis er versinkt“. Bald hat sie es im Blut, wie er ist bei Regen oder Sonne, bei Tag oder Nacht. „Was er anrührt, wird Melodie…!“ Und: „Er darf nur Limo­nade trinken, aber es ist Champagner“. Und: „Man kann sich in seiner Tiefe völlig verlieren und nicht wieder herausfinden, wenn man zu schwer ist“. Sein Sich-innnerlich-auf-Distanz-halten gegenüber manchem ihn abstoßenden Zeitgenossen nennt sie: sein den-schweigenden-Eremiten spielen. Zuweilen hält er auch das gesellschaftliche Zusammensein mit bestimmten Men­schen für nicht vertretbar – dann kennt sein Charakter auch Kompromisslosigkeit.“

In jedem seiner Briefe und Einladungen an sie ist ein Gedicht beigefügt und von denen finden sich einige im Gedichtband „Das heiße Herz“, den Titel schlug sie Klabund vor.

Eine Heirat aber scheitert, Guido von Kaulla schildert die Gründe:

„… Auch sie ladet ihn ein, doch scheitert eine Heirat daran, dass er nicht zur israelitischen Kul­tusgemeinde gehört. Sie stellt ihn in ihrem orthodoxen Eltern­haus zuerst als fast jüdisch und als aus sehr wohlhabendem Hau­se stammend vor, aber als er dann zum Essen mit einem der da­mals modischen schwarzen Oberhemden kommt, hebt er sich doch erstaunlich vom bürgerlichen Hintergrund ab. Einmal singt sie ihm eine Weise spanischer Herkunft vor: Anlass für ihn, eine Melodie zu seiner von ihm hochbewerteten China-Nachdichtung „Lied vom weißen Haupt“ zu schaffen. Das bleibt nicht die einzige Komposition, die Grete G. und ihre ältere Freundin Susanne Trautwein von ihm hören: mehr geflüstert als gesungen, zu schlichter Kadenz, die er auf dem Flügel greift. Das körperlich Erfassbare erfahren sie an sich und in sich. Als sie in den Tagen des sogenannten Kapp-Putsches durch die Straßen gehen, die unter Beschuss liegen, meint Klabund: sie sei als Hexe ja kugelfest, aber er müsse zur Seite gehen – und er bestätigt, dass man ihr nur durch Verbrennen beikommen könne. Und schon wendet sich das Gespräch den Gedanken der Inkar­nation zu und dem, was Beide in einem früheren Leben waren.“

Und wenn ich über die Freunde schreibe, auch hier ein Zitat von Guido von Kaulla, der Klabunds Einstellungen diesen gegenüber beschreibt:

„… Zu Freunden ist Fred immer von großer Zuverlässigkeit und Herzlichkeit. Er ist völlig „da“, wenn er so plötzlich, wie er weggeht auch wieder auftaucht; sein umfang­reicher Briefwechsel erweist, wie sehr er Verbindung zu Mit­menschen liebt. Sein stark ausgebildeter Gemeinschaftssinn er­scheint ihr oft als der unmittelbare Antrieb zu vielen seiner Dichtungen. Aus der Brüderlichkeit gegenüber aller Kreatur – (im Eigenbericht betont er seinen Glauben an die Gemeinschaft der Götter und Menschen und Tiere und Blumen) – also auch zur Menschenkreatur — erwächst auch sein so leidenschaftliches Engagement in der Politik. Schilderungen von Zuständen menschlicher Not können ihn zu Tränen und zu leidenschaft­lichen Ausbrüchen von Hilfsbereitschaft hinreißen. In solchen Situationen hat er für den Begriff Geld absolut keinen Sinn, er gibt sich dann in jeder Beziehung aus, ohne Rücksicht auf seine eigenen Notwendigkeiten.“

März 1925 – ist Fredi in Passau und schreibt einen Feuilleton-Artikel, der im „Berliner Tageblatt“ erscheint, in dem es u. a. heißt:

„Donau, Inn und Iltz stürzen sich rauschend in die Arme: wer liebt hier? Und wer wird geliebt? Wilde Dreieinigkeit! Wo der Flüsse drei sich weiß ineinander ergießen,

Standen wir liebend gelehnt, sahn in die jagende Flut

Drei ward eins. Ich faßte die Hand dir und dachte:

Du und ich – und das Kind. Also drei­einig auch wir. Dies – war einmal. Ein Frühling wie dieser. Nur: reicher noch und rasender. Und wird wieder einmal sein. Schon sinkt die Dämmerung. Die Festung Oberhaus droht dunkel. Nebel ziehen durch die alte Judenstadt, die Iltzstadt, und ich will mit ihnen ziehen. An einem Hause, vor dem ein armer Sünder hängt: bleib ich stehen und klopfe mit dem Stock an ein erleuchtetes Fenster im Parterre. Lucia, die Italienerin, wird mir öffnen, und ich werde bei ihr von allen Frauen träumen dürfen, und die liebste Frau wird mir nicht zürnen, wenn ich, der toten Lippen eingedenk, die lebenden küsse.“

Und mit Grete Guttmann erlebt Klabund auch die schon beschriebenen „Kabarett-Jahre“, denen er nie entwachsen war. Andere Frauen tauchen auf und Guido von Kaulla schreibt:

„… In seinem damaligen Leben ist eine reiche zierliche Argentinerin, mit der Klabund auch außerhalb Berlins aufkreuzt, und die von seinen Freunden „Das Silberschiff“ genannt wird. Freun­din wird ihm auch (1920) Mimi aus Heidelberg, die „badische Aspasia“, nach dem Namen der altgriechischen geistreichen Ge­liebten des Perikles. Einmal vergleicht sie ihn mit dem Dimitrij aus den „Karamasoffs“. Er ist angetan von ihrem herzlichen Wesen, und er bereut es schnell, als er sie im Streit einmal ge­würgt hat.

Doch unterm 11. 8. 20 teilt er Frau Heberle mit, dass Mimi noch sein Stern sei, dass aber ein zweiter Stern neben ihr aufgegangen sei – überm Karwendel. Es ist Fanny Z-rer. In einem Lebenszeichen von ihr heißt es u. a.: „Schreibe ich nach Crossen, so kommt die Antwort aus Berlin. Glaube ich Sie schließlich dort zu finden, sind Sie am Ende gar in München. (…) Darf ich mir eine Frage erlauben? Wo ist Frl. Mimi? Wis­sen Sie noch etwas von ihr? (..:) Ich freu mich schon, wenn Sie zu uns kommen, dann mach ich wieder Apfelstrudel oder Omelette-Soufflee, den Traum Ihres Lebens. Alle Eier und viel Zucker will ich sparen, bis Sie kommen.“

Die Verse dieser Zeit wechseln zwischen beiden – etwa von Mimi mit dem: „Als ich bei dir lag / Auf dem Wiesenhag, / (…) / Berg und Brust sind eins, / Schoß und Erd ist eins, / Augen, Augen blinken wie von Tau“ hin zu dem Ende eines Gedichtes für Fanny:“

Fannerl

Hab dich doch lieb,
Fannerl, Wenn die Sterne fallen,
Wenn die Sonne steigt.

Du duftest wie das Ried.
Du bist frisch wie ein Taumorgen.
Deine Hände betten mich an deine Brust,
Als wäre ich dein Enkelkind.

Unten im Gries
Fliesst die Isar.
Wollen wir Floss fahren
Bis ins Meer?

Tags ist es kühl bei dir
Wie im Schatten der Leutaschklamm.
Aber nachts
Brennst du wie der Mittag auf den Karwendelsteinen.

Wenn der Herbst kommt,
Wenn ich weiter muss –
Weine nicht,
Fannerl.

Und schließlich war da noch die „Stehgeigerin Mascha aus Polen“, mit der er sogar eine Tournee ins Tessin unternahm. „Es füllt sich seine „Erotica“-Mappe, in der schon alte Verse auf den Pagen Floriot liegen“ schreibt Guido von Kaulla und weiter: „Filmmanuskripte von Klabund finden keinen Absatz. Aber Vortragsreisen bringen neben Feuil­letons und den Büchern Einnahmen – im Wettlauf mit der Inflation; noch gibt es keinen Hörfunk als günstige Honorarquelle“ Und – vermerkt sein Biograph – in verbotenen Spielclubs ist er auch wieder anzutreffen.

Oft ist zu Bekanntschaften jener Jahre in Redewendungen zu lesen „mein toter Freund Klabund“ oder „Klabund, mit dem ich be­freundet war“. Überprüft man diese aber, ist bei diesen mehr der Wunsch der Vater des Gedanken, Kurt Wafner meint:

„… Klabund war trotz seiner zurückhaltenden Art ein geselliger Mensch. Aber ihn zum Freund zu gewinnen, war schwer. Den meisten Personen, die ihn umgaben, offenbarte er sein inneres Wesen nicht. So war auch sein Verhältnis zu dem Menschen distanziert, der ihm in manchen Dingen ebenbürtig war und mit dem er so „manches Ding gedreht hatte“.

Ein Beispiel ist Bert Brecht: „Klabund liebt an Brecht dessen künstlerische Kraft. Aber er hat eine Abneigung gegen den Menschen Brecht, bei dem zu­zeiten nicht nur die Fingernägel bekanntermaßen unsauber sind, sondern zuzeiten auch seine Handlungen. Die Witterung Klabunds ist da untrüglich. Daran ändern auch nichts die Begeg­nungen und Unterhaltungen der Berufskollegen in München und Berlin“, so Guido von Kaulla.

Der Theaterkritiker und Zeitgenosse Hans Sahl urteilt über Brecht und Klabund: „… Klabund war wie Brecht ein deutscher Bänkelsänger. Aber was ihn von Brecht unterschied, war seine Bescheidenheit, er war zuvorkommend und höflich im Gespräch mit anderen, während Brecht oft schroff war und abweisend. Er machte nie viel von sich her, obwohl er dazu allen Grund gehabt hätte…“

Ganz anders sein Verhältnis zu Gottfried Benn. Dazu Guido von Kaulla:

„Benn betreut Klabund auch ärztlich. In einem Exemplar seiner „Gesammelten Gedichte lautet seine Widmung an Klabund:

Nehmen Sie jene erste
tauende Nacht im Jahr
und die strömenden blauen
Streifen des Fe¬bruar,
Nehmen Sie jene Verse
Reime, Strophen, Gedicht,
die unsere Jugend erhellten
und man vergißt sie dann nicht,
nehmen Sie von den Wesen
die man liebte und so,
jenen Hauch des Erlöschens
und dann Salut und Chapeau –
Ah, diese spärlichen vollen
Schläge des Herzens und
über uns fallen die Schollen –
leben Sie wohl, Klabund! –

Und eine andere Freundschaft aus der Schülerzeit ist erhalten geblieben. „Aus dem nahen Frankfurt/Oder kommen die Gebhardts oft herübergefahren; sie können nirgends mehr mit Klabund erscheinen, ohne dass nicht von allen Seiten Frauen auf ihn zueilen. Man ist sich darin einig, dass Klabund einen Reiz hat, der jeden unmittelbar anrührt“, schreibt Guido von Kaulla.

Hinter den „Gebhardts“ verbergen sich Fredis Schulfreund aus Frankfurter Zeiten Julius Hermann Wilhelm Gebhardt und seine Frau Grete Balken­holl – Fredis „Jugendliebe“.

Julius Gebhardt äußert ein­mal: „er habe nie jemanden gesehen, männlich oder weiblich, der sich nicht bei dem ersten Gespräch geradezu in Fredi Henschke verliebt) hätte. Andererseits aber sei er gewesen wie ein Bach unberührt bleibt.“

Im Jahr 1922 erscheint die „Geschichte der Weltliteratur in einer Stunde“, In der Vorbemerkung heißt es: „Die deutsche Dichtung ist vergleichbar einem Baum, der tief in der deutschen Erde wurzelt, dessen Stamm und Krone aber den allge­meinen Himmel tragen hilft. Es gibt eine deutsche Erde. Der Himmel aber ist allen Völkern gemeinsam.“

Kurt Wafner sieht auch hier wieder die Vielseitigkeit dieser Jahre zwischen „Klamauk“ und „ernsthafter Literatur“, er schreibt:

„…Wie in all seinen Werken reist der Dichter auch in diesem Buch im Eilzug durch die Weltliteratur. Und er versucht, bei jedem der hier sichtbaren Autoren das Einzigartige, Unverkennbare festzuhalten. Man spürt seine Liebe zur Klassik, zu Ro­mantik, doch bemerkenswert ist, wie er für die gegenwärtige Dichtung Partei ergreift: „… Die heutige Dichtung der Expressionisten ist nicht unverständlicher oder absonderlicher als irgendein hymnisches oder ekstatisches Gedicht von Goethe, mit dessen Grundformen sie sich berührt…“ Doch deutlich wird seine Abneigung gegen Tendenzliteratur “ wie hier im Falle Johannes R. Bechers -, wenn er schreibt: „… Der Dichter hat die Pflicht, Politiker zu werden … Er hat aber auch die Pflicht, Dichter zu bleiben, d.h. mythischer Diener der Wirklichkeit und Künder des reinen Klanges…“

Der Journalist Jules Ferdmann, Herausgeber der „Davos Revue“ und bestimmt ein Freund aus den Davoser Jahren, urteilt über diese Geschichte der…:

„… Klabund verstand, ungewöhnlich kurz und konden­siert zu schreiben. Sein Stil war energisch, lapidar, aphoristisch. Man­che seiner besten Sachen schließen auf einigen Seiten ein ganzes Reich der Erlebnisse ein. Aber die gleiche Tendenz, die in dieser Hinsicht positiv und reformatorisch wirkte, führte ihn oft in einer anderen Be­ziehung auf Irrwege: Klabund wurde verleitet, manche komplizierten Dinge und Gedankengänge zu simplifizieren. In dieser vereinfachten Art schrieb er u.a. seine witzige und stellenweise bemerkenswerte „Literaturgeschichte“.“

Und noch eine typische Geschichte zum Fredi dieser Jahre erzählt Kurt Wafner:

„… Wie alle seine Lebensumstände befanden sich auch Klabunds Finanzen auf einer ständigen Berg- und Talfahrt. Seine Bücher waren zumeist Verkaufsschlager. Dann kam Geld in die Kasse. Aber das ver­flüchtigte sich bald wieder, denn der Dichter praktizierte Hilfsbereit­schaft. Er zahlte meist die Zeche bei Feiern und Festen. Und er unter­stützte großzügig mittellose Studenten. Und dann dauerte es nie lange, bis die Gondel wieder in die Tiefe schoss und er selbst der Hilfe be­durfte.

So half ihm zum Beispiel Trude Hesterberg. Sie rief zum Preisausschreiben auf für das beste Chanson. Die Eingänge waren erschreckend unbefriedigend. Da dachte die Hesterberg an Klabund, der gerade mal wieder einen Blutsturz hinter sich hatte und gab ihm den Preis – 1500 Mark.“

Diese Jahre zwischen 1920 und 1924 waren wohl die produktivste Zeit für den Dichter und wohl auch die stürmischsten für den „Liebhaber“. Außer seiner recht aufwendigen Literaturgeschichte‘ veröffentlichte er das Gedichtwerk „Dreiklang“.die ,Sonette an Irene“, den Balladenband „Das heiße Herz“, das Schauspiel „Die Nachtwandler“ und den Groteskenband „Kunterbuntergang des Abendlandes“. Dazu kamen einige Nachdichtungen und Übersetzungen und Feuilletons wie vom Fließband.

„Fernost-Rilke“

Kurt Wafner fragt: „Was trieb Klabund zu Nachdichtungen aus der fernöstlichen Welt?“ Und die Antwort gibt er gleich selbst: „Es war wohl seine lebenslange Neugier auf Entdeckungen. Darum durchforstete er die Weltliteratur auf der Suche nach sensationellen Fundstücken, die er in seiner Dichterwerkstatt bearbeiten könnte. Er wurde fündig.“

Und eine Antwort ist eine Notiz über sich selbst, die Klabund 1916 in einem Verlagsprospekt gibt: „Er ist ein Träumer der Tat und ein Revolutionär der Seele.“

Was Anfang März 1915 am Starnberger See bei einem Besuch seines Freundes, dem Schrift­steller Bruno Frank, beginnt, endet im Höhepunkt – dem „Kreidekreis“.

Guido von Kaulla schildert die Begegnung:

„An jenem Märzabend also sitzen die Freunde die Nacht zusammen und geraten in Feuer, denn sie lesen sich gegenseitig die schönsten Dinge der Weltliteratur vor. Als Frank bei den Versen vom „Pavillon aus Porzellan“ von Li-tai-pe … angelangt ist, springt Klabund auf. „Das ist unglaublich schön. Nur muss man’s anders übertragen. Morgen gehe ich auf die Bibliothek“. Lesen ist für Klabund gelebte Wirklichkeit. Er sucht denn auch angesichts der euro­päischen Kriegswirren geistige Zuflucht in Asien … er wird vielmehr von einem neuen Abenteuer herausgefordert – und er stellt sich“ …

Klabund liest Nachdichtungen und Übersetzungen deutscher und französischer Sinologen, und er entdeckt „eine innere Verwandtschaft mit der assoziativen Bilderspra­che und dunklen Vieldeutigkeit dieser Poesie“ (Wegner).

Klabund beginnt mit chinesischer Kriegslyrik und stelle fest: „Lyrik kann man nicht übersetzen. Sie kann nur auf einer anderen Sprachebene neu ges­taltet werden“ und noch im zweiten Kriegsjahr kommt sein erster Nachdichtungsband auf den Büchermarkt: „Dumpfe Trommel und berauschter Gong“.

Im Nachwort heißt es: „Viele Strophen und Refrains sind logisch unfasslich. Aber wir wollen uns nicht von den Philologen weismachen las­sen: diese Verse seien aus Unbeholfenheit oder Ungeschicklichkeit so dunkel – während sie es doch nicht unbewusst als Äquivalente der See­le sind in einer unbeschreiblichen Anmut. Die neue deutsche Lyrik und das Volkslied mit seinen nicht immer leicht verständlichen Intuitionen und Assoziationen sind (und wissen voneinander nicht) Geschwister.“

So ungewöhnlich ist die literarische Hinneigung zu Buddha, zur altchinesischen oder indischen Literatur und Philosophie zu dieser Zeit nicht und durch Klabund wird z.B. auch Bert Brecht inspiriert, sich in dieser Welt dichterische Anregungen zu suchen. „So hat er, dem die Urheberschaft eines Werkes nie Kopfzerbrechen bereitet hat, sich auch der Laotse-Nachdichtung von Klabund angenommen. Doch während sich Brecht als kühler Beobachter vor allem dem gesellschaftlichen Aspekt zuwendet, spürt man bei Klabund die innere Hingabe an die Lehren Buddhas und den Taoismus. Der Gedanke der Wiedergeburt wird dabei dem unheilbar Kranken wie ein glückliches Omen erschienen sein: die endliche Los­lösung von allen Leiden“, schreibt Kurt Wafner.

Am 29. November 1918 schreibt Fredi an seinen Freund Heinrich aus Monti-Locarno:

„… Wäre ich nicht ein Jünger des Tao (der einzigen Philoso­phie, die dem Menschen dieser Zeit etwas zu sagen hätte: denn es ist eine lebendige Philosophie, eine Philosophie, die gelebt werden muss und nach der gestorben werden muss), ich wäre längst verzweifelt.“

Kurt Wafner:

„… Klabunds Arbeiten über fernöstliche Themen nehmen einen beträchtlichen Platz in seinem literarischen Schaffen ein. Aber am bedeu­tendsten ist wohl sein Schauspiel „Der Kreidekreis“. Dieses Werk hat ihn vor allem bekannt und beliebt gemacht.“

Die Geschichte über die Entstehung des „Kreidekreises“ schreibt Kurt Wafner so:

„… Im Sommer 1923 ging es dem Dichter wieder einmal besonders schlecht. Er musste feststellen, dass auch sein Kehlkopf von der Schwindsucht angegriffen worden war. Er hatte die gleiche Krankheit, an der seine Frau Irene gestorben war. Er kann kaum sprechen, muss aber abends auf den Kabarettbrettern stehen, für ein paar Mark, die er zum Leben braucht. Die Inflation bedroht auch ihn, aber er lässt sich nicht unterkriegen. Eine Spezialbehandlung in Davos ist dringend not­wendig, aber dazu fehlt das Geld. Da bekommt er überraschend Hilfe, abermals von Kollegen aus dem Schauspielerensemble.

Die berühmte Darstellerin Elisabeth Bergner berichtet aus ihrer Lebensbeschreibung „Unordentliche Erinnerungen“: Sie saß mit Kollegen im Restaurant des Deutschen Theaters. Plötzlich sagte der Schauspieler Alexander Gra­nach: „Dort sitzt der arme Klabund“‘ Ich sagte: „Ist das der Klabund von dem ich so wunderschöne chinesische Gedichte kenne? Warum ist er arm?“ Und jetzt erzählte uns Granach, dass Klabund an Kehlkopf-Schwindsucht leide und nur noch kurze Zeit zu leben habe, da er das Geld nicht hatte, um in ein Schweizer Sanatorium zu gehen, zur Be­handlung. Wir waren sehr erschrocken …“

Sie luden ihn ein, an ihren Tisch zu kommen. „Klabund hatte wirklich keine Stimme und sah aus wie ein lebender Leichnam. Etwas ging in mir vor. Ich weiß nicht, was, aber etwas ging vor in mir. Ich begann ihm zu erzählen, wie sehr ich seine chinesischen Übersetzun­gen liebte. Er schien sich zu freuen. Wenn man ihm auf den Mund sah, konnte man seine spärlichen einsilbigen Antworten gut verstehen. In mir ging etwas vor. Ich fragte ihn, ob er schon einmal ein Stück ge­schrieben habe. Er verneinte. Ich fragte ihn, ob er vielleicht das alte klassische chinesische Stück „Der Kreidekreis“ kenne. Er verneinte …“

Von nun an ging alles sehr schnell. Die Bergner schickte das Stück an Klabund. Er las es und war begeistert. Und war einverstan­den, den „Kreidekreis“ für die Bühne zu bearbeiten. Die Bergner konn­te einen Vorvertrag und Vorschuss für Klabund erwirken. Und Kla­bund konnte sich in Davos behandeln lassen und sein Leben um einige Jahre verlängern.

Der Literatur-, Film- und Theaterkritiker Hans Sahl (eigentl. Hans Salomon), urteilt: 

„… Das Werk Klabunds war „ungleich schöner und menschlich gleichnishafter als das, was Brecht daraus gemacht hat und marxistisch umstilisierte. Klabund war ein Tonfall, ein Lautenlied, gesungen in einer sternklaren Nacht von einem Sterbenden, dessen Tage gezählt waren …“

Klabund über sein Werk: „Es galt, Charaktere zu schaffen, die Handlung neu zu knüpfen … es galt, ein chinesisches Märchenspiel zu ersinnen … Es sollte sein, wie wenn jemand von China träumt…“

Und der Biograph Matthias Wegner urteilt: „… Im Kampf zwischen der bescheidenen und naturhaft mütterlichen Haitang und der ehrgeizigen und nur auf den gesellschaftlichen Erfolg erpichten Gattenmörderin Yü-pei siegt die Aufrichtigkeit des Gefühls. Im Konflikt zwischen Menschlichkeit und gesellschaftlicher Realität siegt die Menschlich­keit…“

Weitere Theaterstücke folgen und Gottfreid Benn schreibt z.B. am 4. September 1926 an seine Freundin Gertrud Zenzes: „Ich wollte, ich wäre so fingerfertig wie Klabund, der ja heute abend schon wieder einen „Cromwell‘ im Lessingthea­ter hervorkarnickelt.“

Aber die Urauf­führung ist ein Riesenmisserfolg. Nach wenigen Tagen wird das Stück abgesetzt.

Alfred Polgar eigentlich Alfred Polak, österreichischer Schriftsteller, Aphoristiker, Kritiker und Übersetzer:

„…Cromwell, ein Schau­spiel von Klabund, phantasiert frei über den historischen Vorwurf. Der dichterische Ertrag ist gering; auch das Thea­ter hungert da an vielen bunten Schüsseln. Klabunds Stück ist von der Berliner Presse so zugedeckt worden, daß ich ihm nicht gerne auch noch eine Scholle Kritik nachwerfen möchte.“

Im Literaten-Treffpunkt „Romanisches Cafe“ in Berlin geht ein Sprich des Maler-Bohemiens John Höxter um:

„Auf den Hund kommt Klabund, Nicht reich, nicht gesund. Vor glattem Mist Bewahre ihn, Herr Jesus Christ!“

Und Klabund? Er sieht sich die Premiere an mit Grete Guttman, sie muss die Daumen drücken. Hinter ihnen sitzt Lion Feuchtwanger und er flüstert: „Greta, gestehen Sie: ist es nicht schlecht?“ – Sie antwortet; „Bockmist, wenn es Sie beglückt und Sie das hören wollen.“

In der Vorankündigung zu „Celestina“ habe ich geschrieben: Angeblich zusammengetragen aus alten Archivunterlagen der Stadt und Erzählungen wandert er durch die Jahrhunderte Crossens. Allerdings habe ich den Verdacht, er hat ein bisschen geschummelt und die meisten Geschichten schrieb ein Autor namens „Klabund“. Und deshalb kann ich über die folgende „Geschichte“ schmunzeln.

Guido von Kaulla erzählt sie:

„… Ende Juni verhandelt er in München-Pasing bei Dr. Albert Mündt, der für seine Taschenbuchreihe „Die Rolandsbücher“ Manuskripte benötigt. Klabund steuert eine Auswahl von Ver­sen des Barockdichters Gryphius bei. Eine Auswahl von Versen von Omar Khayyam (um 1100) wird erwogen. Mündt ist freu­dig überrascht, als Klabund schon sehr bald „Nachdichtungen“ dieses altpersischen Dichters liefert. Er weiß nicht, daß nur zwei Gedichte Verbindung zu einem Khayyam-Original haben und der Rest Original-Henschke ist, nur zuweilen leicht frisiert, ähnlich wie bei „O-sen“. Das sich wissenschaftlich gebende Nach­wort ist, ebenso wie später beim „Hafis“-Bändchen. im Grunde Spiegelfechterei. Aber die Verse sind vorzüglich. Und so nimmt Klabund allmonatlich auch von diesem Verleger eine Vorschuß-Summe in Empfang.“

Auch „Der himmlische Vagant“ hat eine etwas „obskure“ Entstehungsgeschichte. Dazu Guido von Kaulla:

„… Klabund legt Mündt unter dem Titel „Der himmlische Vagant“ als Projekt   ein „lyrisches Porträt von J. Chr. Günthen“ vor, des­sen Ablehnung durch Reiss er schon im voraus sicher sein darf, denn ein „Fortschritt“ sind auch diese Verse nicht — entstanden in der Zeit von 1912-1916 und im gleichen „Henschke“-Grundgefühl. Er hat mit dem Günther-Porträt aber kein Glück, weil Mündt bereits eine Auswahl von Original-Günther-Gedichten vorbereitet hat.

Diese Gedichtauswahl von Klabund wird nun mitsamt dem Titel frei für ein neues, anderes lyrisches Porträt. Er fügt die ohnedies schon in recht klabundisch-henschkeschem Geist geschriebenen veröffentlichten drei Gedichte auf Villon hinzu, überträgt ein Gedicht von Villon und läßt sich durch fünf andere Villon-Vorlagen zu neuen Poemen anregen. Bis Ende 1917 kommen noch einige Verse hinzu – auch ein 1793 spielendes „Marie-Antoinette“-Gedicht rutscht mit hinein. Das Ganze wird von Reiss abgelehnt werden und dann 1919 bei Mündt erscheinen.“

Der Titel war zu schön und so erschien im Verlag Kippenheuer & Witsch 1968 herausgegeben mit einem Vorwort von Marianne Kesting erneut ein „Himmlischer Vagant“: Die Zusammenstellung kam bei der Kritik nicht besonders an, aber immerhin … Das komplette „Werk“ habe ich gescannt, ob ich es veröffentliche, weiß ich noch nicht. Aber es ist als Text-Datei gespeichert.

„Dramatische Sorgenkinder“ nennt Guido von Kaulla Klabunds Versuche am Theater und etwas spöttisch vermisst er die Fortschritte. Gemeint sind z.B. „Der Wüstling“ durch Harry Kahn mit der Marionettenbühne des II. Bayerischen Infanterie­regiments anno 1918 in München. „Hannibals Brautfahrt“ hatte seine Uraufführung 1919 in Basel – mit Anny R. in der Hauptrolle, – und die „Totengräber“ in Mannheim.

Er schreibt:

„… Nun hat für Mai 1920 Dr. Rolf Roenneke, der neue Schauspielleiter in Hannover am ehemaligen Hoftheater, die Uraufführung der „Nachtwandler“ durchgesetzt Es kommt zu einem erfreulich kräftigen Skandal: die Gegner kriechen aus den Löchern. Die Jugend im Zuschauerraum -: mag sein, dass ihr demonstrativ tobender Beifall nicht so sehr der nicht recht lebensfähigen Sze­nenfolge gilt als vielmehr der Rückenstärkung für „ihren“ Kla­bund, der neuen Auftrieb erhält.“

Er gilt als „berüchtigter Klabund“, der ein „widerwärtig brünstelndes Stück“ geliefert habe und zeige, „wie der jüdische Geist die deutsche Jugend durch vorzeitige Schürung ihrer erotischen Phantasie bis zum Verbrechen treibt“, so die Kritik.

Klabund antwor­tet u. a.: „Das Stück ist deutscher, als die „Deutsche Zeitung“ je sein wird, und ich möchte festgestellt wissen, dass der antisemi­tische Radau gegen mich (…) völlig unangebracht ist.“

Der Kri­tiker des „ Hannoverschen Kuriers“, Martin Frehsee und selbst Autor, schreibt u. a.:

„Denn was er zur Schau bringt ist Schemen, und was die Schauten von Schemen reden, ist meschugge!“

Worauf ihm Johann Frerking, Kritiker der „Hannoverschen Neuesten Nachrichten“ in einer Broschüre entgegentritt:

„… – Zum Stofflichen wäre im einzelnen etwa noch zu bemerken, ein Publikum, das die Brunst des Holofernes ohne Mucken hin­nimmt und das den in Ophelias noch nicht zugeworfenem Grabe herumspringenden Hamlet begeistert beklatscht, habe sachlich nicht das Recht, einen Dichter anzuflegeln, (…) weil sich zwei junge Menschen unbefangen auf ihre erste Gemeinsamkeit freuen oder weil zwei Särge ein wenig unsanft von der Bühne getragen werden; auch sollte sich (…) ein Kritiker, der einmal ausgerechnet auf Schillers (…) „Räuber“ Goethes Wort von den unbegreiflich hohen Wertem angewandt hat, hüten, (…) u.a. wegen eines veräpfelten „wilhelminischen Regierungsrates“ über diesen Klabund Wehe zu rufen, (…) Die Tugendretterkom­pagnie ruhte nicht, (…) bis eine Schauspielerin auf offener Szene einen Weinkrampf kriegte und ihr junger, temperamentvoller Partner sich in der Erregung dieses Moments zu einer kurzen, aber deutlichen Festrede an die johlende Arbeitsgemeinschaft hinreißen ließ.“

Klabund an Hilde Jung in Monti: Begeisterte Jugend habe gegen eine verzopfte Hoftheaterclique gekämpft. Er sei beglückt, denn er habe nur vor einem Angst gehabt: dass der Abend lau ausgehen würde. Man sei elektrisiert gewesen, und im Zuschauerraum habe es sogar Handgemenge gegeben“, Was für ein herrliches Geplänkel um „Die Nachtwandler“ und sicher hat es dem Stück gutgetan, denn bessere Werbung gibt es nicht.

Am 1. Januar 1921 liegt Fredi mal wieder flach – wahrscheinlich die „Feiertage“ – genauer, er findet sich im Sanatorium Dr. Weyl in Berlin-Schlachtensee wieder. Der Theater- und Kabarett-Direktor Dr. Eugen Robert trägt die Kosten und die Ärzte wollen einen „Klimawechsel“, Schweiz oder Italien. Ermöglicht wird der Aufenthalt in Positano an der süditalienischen Amalfiküste durch ein beträchtliches mäzenatisches Devisen-Geschenk von Seiten des Grafen Georg v. Arco, des berühmten Pioniers der Funktechnik.

  1. März 1921 – Klabund schreibt aus Positano:

„…Ich bin seit einigen Ta­gen hier und fühle mich zum ersten Male auf meiner Reise wirklich wohl: trotzdem das Wetter gar nicht angenehm ist. Es weht ein kalter Wind und das Meer geht hoch. Von meinem Balkon aus sehe ich die weiße Gischt auf den grünen Wogen. Unendlich dehnt sich die Flut. Unter dem Horizont liegt Afrika. Positano ist ein altes Sarazenennest. Es klebt wie ein Vogelnest auf den Felsen. Häuser und Felsen gehen ineinander über. Es führt keine Eisenbahn nach hier, und kein Schiff legt hier an. Zwei ganze Straßen gibt es da nur. Orangen und Zitronen und Ölbäume wachsen vereinzelt an den Hängen. (…)

Der Bürger­meister ist nur zweimal die Woche zu sprechen. (Ein angeneh­mer Posten!) Das Gasthaus, in dem ich wohne, ist ganz alt­väterlich, so wie zu Goethes Zeiten die italienischen Gasthäuser waren. Als ich in meinem Wagen, vom Gebirge kommend, vor­fuhr, trat der Wirt an mich heran, zeigte mir persönlich das Zimmer, stellte mir seine Frau vor. Das Zimmer ist groß wie ein Saal, geht nach Süden, hat Balkon. Ich bleibe, solange es mir hier so gut gefällt oder so lange ich mir hier so gut gefalle. Die Landschaft hat gar nichts Bezauberndes wie etwa Capri: Sie ist eher wild und ungestüm. Aber so ist’s mir gerade recht.“

Geschrieben im Fieber einer Krankheit, Januar bis April 1921 schreibt Klabund an Walter Heinrich über seinen Roman „Spuk“ und damit wissen wir, wo er geschrieben wurde.

Sein Gesundheitszustand hat sich wesentlich gebessert und Fredi weiß, was er Graf Arco zu verdanken hat. Die Wiener Gymnasialdirektorin und Philantropin Dr. Eugenie Schwarzwald berichtet im Frühling 1926 über ein Gespräch in Wien:

„…Plötzlich macht einer (…) einen häßlichen Witz über eine bekannte Persönlichkeit. Schon will ich (…) die verdiente Abfuhr erteilen. Da fällt mein Blick auf Klabund. Er ist totenblaß, aber er spricht nicht. Er schaut nur. Durch die runde Hornbrille, hinter der er sich sonst verbirgt, schleudern seine Augen zürnende Blitze. Sein Zeigefinger legt sich so heftig befehlend auf seine Lippen, daß es wie ein Schlag wirkt. Der Lästerer bleibt mitten im Satz stecken. Sein raffiniertes Lebemannsgesicht zeigt tiefe Bestürzung. Im Nu ist Klabund von Reue erfaßt. Heimlich schiebt er mir ein Zettelchen zu, zum Weitergeben an den Be­troffenen. Darauf steht mit seiner feinen, flüchtigen, wie um Verzeihung bittenden Schrift: „Nicht böse sein. Ich durfte es nicht hören. Der Mann, den Sie schmähten, hat mir das Leben gerettet.“

In der Erzählung „Der letzte Kaiser“  steht dann auch als Widmung: „Für Gräfin und Graf Arco“.

Rückreise aus Positano – Klabund hat ein Angebot, in München ein Kabarett zu leiten – da scheint ihn nur das Finanzielle zu locken – er lehnt ab. Zwar ist er wie des Öfteren einmal wieder „knapp bei Kasse“, aber er hat zwei Manuskripte, „Spuk“ und die „Geschichte der Weltliteratur in einer Stunde“.

Herbst 1922 – Klabund wieder in München und beim Stöbern auf den Märkten entdeckt er einen alten Stich mit dem General Moreau.

Guido von Kaulla schreibt:

„… Dieses Bild gab ihm die Vision eines Moreau, die, wie er Rutra lachend erzählt, so gar nicht mit dem historischen General übereinstimmt, der als braver Familienvater eines geruhsamen Todes gestorben ist. Aber wie er damals unbekümmert um die Historie seine Dichtung in einem heißen Atemzug niederschrieb und dann noch zweimal durcharbeitete (ehe er in diesem einem sei­ner Lieblingswerke seine Romanform fand) – so formt er ähn­lich auch jetzt, nach allerdings sorgfältigen historischen Studien, den Roman Peter des Großen – den „Pjotr“.

Beim Durchsehen der Korrekturbogen im Januar 1923 schreibt er an seine Schwie­germutter: alle Leute redeten, wie im dritten Kriegsjahr, nur von Preisen, Essen, Kohle usw.; und: im „Pjotr“ habe er seinen ganzen Sadismus und Menschenhaß ausgerast. Es sei also nicht gerade ein freundliches Idyll geworden. Die Zeit der sanften Bücher sei wohl vorbei. Und er glaube, so etwas wie den Fran­ziskus werde er nicht mehr zustande bringen. Man werde bösartig. Und um nicht böse zu werden, müsse man böse abreagie­ren, d. h.: es tun oder schreiben.“

Ein Exemplar des „Pjotr“ geht an Bruno Frank, der mit einer Postkarte antwortet:

„… Mein lieber Klabund, ich danke Dir für Deine Nachrichten und für den Pjotr, den ich atemlos, mit Bewunderung, las. Daß mir Deine Lyrik hundertmal nähergeht, weisst Du; dem Werk und der Figur fehlt (nach seiner vollen Absicht) jene Art von Humani­tät, die mir durch kein Format ersetzt wird. Ich bin – hoffnungs­los 19. Jahrhundert, und der Begründer des ersten Tierschutz­vereins wiegt mir alle Diktatoren auf, von Dschingiskhan bis Mussolini. (Ich bin nicht so blöd, um Deine innere Kritik nicht zu sehen — aber es ist doch nur Kritik der Liebe, die mir darin fehlt.) Laß Dir innig Gutes wünschen, Klabund!“

Einen Roman der Hanse will er schreiben, aber nur der Teil des „Störtebecker“ wird entstehen und in diesem lebt nach eigenem Bekunden Klabund, „Was ich gerne täte, ihn lasse ich es tun.“

Und 1926 bekennt er in einem Interview:

„… Ja, ich habe eine Vorliebe für historische Stoffe. Aber ich gehe will­kürlich mit der Geschichte um. Meine Figuren decken sich nicht ganz mit der historischen. Ich mache selber Geschichte. Die Gestalten meiner historischen Romane )…) sind Projektionen meiner selbst. Ich liebe in meiner Dichtung die starken Charak­tere. Ich selbst, in kleinen Dingen sehr konziliant, lasse mich von nichts abbringen, was ich als richtig erkannt habe.

Ich habe mich auch durch Not von meinen Plänen nicht ablenken lassen, ich habe immer intensiv gearbeitet, zu allen Zeiten des Jahres und des Tages, ob ich gesund war oder krank, aber ich habe mich nie für einen bürgerlichen Beruf ent­scheiden können. Ich war immer sehr sicher meiner selber. Noch ehe ich begann, wußte ich meinen Weg.“

Frühling 1924 – Klabund auf Reisen – er verläßt Davos und Guido von Kaulla schildert dieses „reisen“:

„… und begleitet die junge polnische Cafehausgeigerin Maryla v. Scostkiewicz („Mascha“) auf ihrer Tournee durch Oberitalien und die Südschweiz. Maryla, in Kiew aufgewachsen, erklärt ihm zuweilen die The­men russischer Volkslieder. Daraus formen sich Gedichte – „Aus deinem Herzen in mein Herz gesungen“ – für deren Zusam­menstellung unter ihrem Namen bzw. unter dem Pseudonym „Maryla v. Otwil“ beim Spaeth-Verlag Vertrag gemacht wird. Gleichzeitig bereitet Klabund eine Anthologie eigener Übertra­gungen polnischer Lyrik vor. Äußerlich verläuft das Zusammen­sein der beiden recht kärglich – das Geld ist knapp. Einerseits Maryla -: „Was soll ich Ihnen auf die fünf Franken heraus­geben? Nichts? Oh, wie ich Ihnen danke, nun können wir ein­mal heute bei Biaggi ordentlich zu Abend essen“ – andererseits Klabund, wieder bei Tingelversuchen („Ich lese im Grand Hotel“): „Als ich abends um halb neun Uhr in einem von Hermann Hesse geborgten Smoking die Halle betrete, (…) der Direktor (…) Bei dem herrlichen Sommerwetter sind unsere Gäste alle ausgegangen. (…) Wie die Zigeuner ihren Zuhörern ins Ohr hinein geigen, so brachte ich meinen Mund dicht an das Hörrohr und schmetterte meine Weisen der alten Dame ins dürre Trommelfell: „Du hast die Sonne durch dein Aug‘ be­rückt, / Daß sie die goldenen Strahlen heller zückt“, schrie ich und: „Soll ich kleine Lieder singen?“ „Ja“, nickte sie schwer­mütig, „ja, ja.“ (…) – Nicht nur Lyrik entsteht, auch das Drama „Brennende Erde“ mit der Marylas zartem Wesen nachgebilde­ten einzigen Frauenrolle. Das Stück «spielt in einem heutigen legendär gesehenen Rußland. (…) Der rauhe, wüste Kommissar Rjurik, der (…) in das Kloster am Sinsee einbricht: er ist ein Meteor, der auf einen anderen Stern stößt (…) Der Antichrist, die Christin – (…) Es handelt sich nicht um Pro- und Anti-bolschewismus: Es handelt sich um zwei Menschenschicksale.“

Eine „Frauenbegegnung im Sommer 1924 gibt es noch, die mit einer 22jährigen Münchener Schauspielerin, dem Fräulein Karoline Neher. In der Ringlinie 2a der Tram in Mün­chen- Am „Cafe Stefanio“ ist er aufgesprungen – er starrt sie an, bis sie ihm zuzischt: „Wenn Sie mich ganz ungeniert betrachten wollen, müssen Sie ins Theater gehen – ich spiele heute in den Kammerspielen den Hugenberg in der „Büchse der Pandora“!

Guido von Kaulla bestreitet die Art dieser Begegnung: „Diese Begegnung – der nicht nur ein Rosengeschenk in der Gar­derobe folgte – findet keineswegs in Gegenwart und durch Ver­mittlung von Walter Mehring statt und keineswegs in der Linie 8.“