Tagebuch im Gefängnis

„… „18. April 1919. Es ist elf Uhr. Ich sitze im eiskalten Ar­restlokal von Straubing auf der Pritsche und schreibe diesen Brief. Abends soll ich nach Nürnberg, zum III. Armeekorps, aber vielleicht auch erst morgen. Wenn ich daran denke, dass ich diese Nacht hier in dem eiskalten feuchten Loch, ohne Strohsack selbst, zubringen soll, schaudert es mich. Und ich habe eine böse Nacht schon hinter mir. Man warf mich in Passau in das Arrest­lokal, zu ebener Erde, feucht und ganz dunkel. (Auch diese Zelle hat kein Licht…) Nur eine Pritsche mit Strohsack darin. Du erinnerst Dich, was uns der Offizier versprochen hatte, der mich verhaftete? Er hat ja auch umsonst versprochen, dass ich am nächsten Tage der zivilen Behörde in Passau übergeben wer­den sollte. (Haben die Offiziere ihren Beruf gewechselt? Sind sie Polizisten geworden?) Um halb drei in der Nacht kam ein offenes Auto und sauste mit mir durch die Nacht nach Plattling. Der Reif lag auf den Feldern wie Schnee. Der Wind fauchte. Ich fror bis ins Rückenmark. In Plattling bestieg ich, einen Po­sten mit geladenem Gewehr neben mir, den Zug nach Strau­bing. – Eben bin ich das erste Mal vernommen worden, es han­delte sich um das Euch bekannte Telegramm. Das ist die ganze Geschichte. Daraufhin beschuldigte man mich, an der Räterepublik teilgenommen zu haben. Du weißt, lieber Vater, wie ich zu ihr stehe, und dass ich nicht lüge, weißt Du auch. Und Du weißt, dass gerade mein Verantwortungsgefühl mich davon abgehalten hat, mich in die Affäre zu mischen. Und jenes Tele­gramm, das ich ganz privat aufgefasst habe, soll mich nun zum offiziellen Emissär der Räteregierung stempeln?

Denkt Euch: in der Vernehmung wurde mir noch Majestäts­beleidigung von 1917 vorgehalten (im Untersuchungszimmer hingen die Bildnisse dreier Prinzen)! Von einem Beamten der sozialistischen Republik! Was ich in den Zellen und durch den Begriff „Zelle“ ausstehe, brauche ich Euch nicht zu beschreiben, ich, der ich die innere und äußere Freiheit über alles liebe und, ein Schüler Laotses, jede Macht hasse, weshalb ich ja auch gegen die Diktatur des Proletariats bin, weil sie den gleichen Machtdünkel in ihm züchtet wie einst in den herrschenden Klassen der Imperialismus.

Karsamstag, 19. April 1919

Liebe Mutter, lieber Vater, heut ist nun schon der dritte Tag, dass ich gefangen bin, und immer ist noch kein Ende ab­zusehen. Man schleppt mich von Zelle zu Zelle, ich habe den Eindruck, als gelte der Mensch noch weniger als im kaiserlichen Deutschland. Von irgendwelchem Verständnis für mich war bei denen, die mich bisher verhörten, gar keine Rede. Ich wurde einfach angeschnauzt. Man fühlt sich ganz in der Rolle des Richters und traut dem „Angeklagten“ prinzipiell nur die mala fides zu. Was soll ich tun, wenn man einfach sagt: Das ist nicht wahr, das ist nicht wahr. Ein äu­ßerst vereinfachtes Gerichtsverfahren, das an die zaristischen Gerichte erinnert. Was ist diesen »Machthabern« ein gefange­ner Mensch, der die Freiheit will – nicht aus Laune, sondern in seinem immanenten Gerechtigkeitsgefühl? Im Garnisonskommando Nürnberg duzte uns der Gerichtsoffizier (oder was er war): »Kerls, ihr kommt jetzt einfach in Schutz­haft! « (Schutzhaft, eine blumenhafte Bezeichnung für das, was mit uns geschieht.) Und ein fetter rosiger Mensch in Zivil, der hinter ihm stand, schrie, frei, gesättigt und glücklich: »Mit dem Verhör hat’s ja keine Eile…« Ich konnte mich nicht enthalten, mich umzudrehen Und zu schreien: »Damit hat es wohl Eile, denn wir sind Menschen, die des edelsten menschlichen Attributes der Freiheit}, der persönlichen Frei­heit, beraubt sind, und werden nun schon Tage und Nächte lang hin und her gezerrt. « – Heute Nacht beherbergte uns das Zuchthaus Straubing. Es war wenigstens warm, aber die Prozeduren, die man mit uns vornahm, gehören zum Erniedrigendsten, was der Mensch dem Menschen antun kann – bis ins After hinein haben sie gesehen und gefühlt, ob man irgendwas darin verstecke… Ich möchte gerne wissen, wie man Verbrecher behandelt, wenn man »Schutzhaftgefangene so behandelt, oder vielmehr, ich weiß es: nicht schlimmer, nicht besser, nur genauso. Denn heute ist eine Zuchthausgefangene mit uns gefahren, die wegen schweren Diebstahls zu jahrelangem Zuchthaus verurteilt war.

Ich schreibe diese Briefe ins Blaue hinein, nur um bei Euch zu sein. Um in Gedanken wenigstens von Menschen geliebt und gut behandelt zu sein. Übrigens sind die einfachen Men­schen, die Soldaten, die uns begleiten, die Arrestwärter usw., bei weitem die menschlichsten und freundlichsten. Die Behörden sind von derselben konventionellen Barschheit wie die früheren. Ich werde immer mehr vom revolutionären Deutschland enttäuscht. Was das kaiserliche gern gewünscht hätte: die Schutzhaft: das sozialistische hat es fertiggebracht, sie über mich zu verhängen. Ich habe das Gefühl einer unbeschränkten Militärdiktatur, wie nur je unter Ludendorff. – Hast Du mein gestriges Telegramm bekommen? Man ver­sprach, es in Straubing aufzugeben. Aber ich durfte ja keiner­lei Mitteilung dranhängen. Kannst Du nichts für mich tun? Kannst Du nicht für mich bürgen? Du bist doch ein vielbekannter Altbayer? Mein Reinlichkeitsgefühl wird natürlich auf Schritt und Tritt verletzt. Meine zwei Taschentücher sind zu Ende. Das Essen gestern: stinkender Stockfisch und eine schwarze Suppe, war nicht zu genießen. Abends im Zuchthaus war wenigstens die Suppe gut, und es gab Wasser und gutes Brot dazu.

Eben komme ich vom sogenannten Verhör im Justiz Kommissariat des dritten A. K. Man hörte mir halb zu, las nicht einmal das Protokoll ganz (das meine, das ich beifügte, erst recht nicht) und sagte einfach: „Das glaube ich nicht. Abzu­führen bis zur weiteren Klärung der Lage ins Untersuchungs­gefängnis Nürnberg. Akten gehen nach Passau.“ Da frage ich: warum bin ich überhaupt erst durch ganz Bayern geschleppt, gepeinigt und gemartert worden, um dann doch in Passau, woher ich komme, abgeurteilt zu werden? Wie lange kann das dauern? Ach, ich fürchte Wochen. Kann ich überhaupt in die Schweiz zurück? Wenn die sechs Wochen verflossen sind, dann komme ich nicht mehr nach Monti, ins Paradies zurück.

Zuerst rannte ich mit dem Kopf gegen die Wand
Und rüttelte an den Stäben.
Ich verfluchte Tod und Leben
Und steckte mit meinem feurigen Blick das ganze Gefängnis in Brand.
Das vergitterte Fenster oben war blind und klein.
Ich wusste nie, ob die Sonne schien oder Regen.
Ich hungerte und hatte tausend Mägen,
Und ich wollte so gerne mein eigener Enkel sein.
Dann warf ich mich auf die Pritsche hin.
Eine Schale Suppe ist durch die Tür geschwebt.
Ich habe wie ein hungriger Menagerielöwe gebebt.
Einmal ging ein Frauenschritt auf dem Gang vorüber.
Der Schritt einer Königin.
Schließlich bin ich davon überzeugt, dass ich ein
Verbrecher sei, Und dass ich mit vollem Recht unschädlich gemacht bin.
Ich dulde es, dass ich vom Wärter verlacht bin, Und ich fühle, dass er so etwas wie ein Cherubin mit
Flammenschwert und meiner Taten Rächer sei.
Einmal wird die Tür sich öffnen, wie eine Gnade
Wird mir die edle Freiheit wieder von Gott gewährt.
Ich stürze sofort in ein erstklassiges Hotel und bade
Und gehe in die Reitschule und besteige mein Lieblingspferd.
Ich glaube, es hieß Mimi, wie das zarte Mädchen in dem
bekannten Boheme – Romane,
Und ich jage durch den englischen Garten und reite
durch Felder von Korn und Mohn,
Und ich rase und schwinge der Sonne rote Fahne
Und ich reite voran der himmlischen Revolution.

Nürnberg, 20. April 1919

Gestern Abend bin ich hier ins Gefängnis eingeliefert worden. Der Beamte, der mich gebracht, tröstete mich und meinte, »die Zimmer seien ganz nett…« Selbstverständlich freute ich mich auf mein Zimmer. Wieder in einem Bette zu schla­fen, wie schön müsste das sein. Die Präliminarien nahmen sich aber schon so seltsam aus, dass ich stutzte. Mir wurde alles Mögliche, mein Geld, auch meine Uhr, abgenommen, und dann wurde ich in eine Zelle geführt, die sich von der des Zuchthauses Straubing nur dadurch unterschied, dass eine kleine umklappbare Bank und ein unklappbarer Tisch vorhanden sind.

Im Zuchthaus Straubing war wenigstens Wasserspülung in der Zelle. Hier der alte Eimer schließt schlecht und verpestet die Luft. Zu essen bekommen habe ich gestern den ganzen Tag nichts als: einen Schnaps früh um 5 Uhr (nichts dazu) und abends um 6 Uhr ein Stück Brot und eine kleine Flasche Bier. Kein Mittag-, kein Abendessen, nicht einmal eine Tasse warmen Kaffee. Ich sagte, ich wolle auf meine Kosten mir et­was besorgen lassen. Man sagte, das ginge nicht. Ich werde bisher absolut wie ein Strafgefangener behandelt. Meine bei­den Zellennachbarn sitzen wegen Unterschlagung und Dieb­stahl. Der eine rief mich gestern Abend leise an: »Kamerad«, sagte er, „Kamerad, hast Du eine Zigarette?“ Ich hatte keine mehr, denn ich hatte sie alle schon in Passau an die Soldaten des Wachkommandos verteilt, die sich so freundlich zu mir benahmen. »Kamerad«, sagte er weiter, »ich habe zu Weih­nachten eine Gans stehlen wollen, da haben‘s mich erwischt, geschossen haben‘s nach mir, fünf Kugeln hab ich kriegt, zwei Monate hab ich im Lazarett gelegen und jetzt zwei Mo­nate hier. « Er schwieg. Dann nachdenklich: „Du, der Leut­nant, der die letzten Tag hier war, der von den Spartakisten, der hat Zigaretten gehabt.“

Ich habe die Nacht sehr gefroren. Ich träumte von… Irene, aber ich weiß nicht mehr, was. Ich habe meine Unterhose und meine dicke wollene Weste anbehalten, und trotzdem fror ich. Früh um 6 Uhr schrie der Arrestwärter – ich bemit­leide diese Geschöpfe um ihren Beruf als Kerkermeister. Dass sich Menschen überhaupt finden, einander solches anzutun. Der Arrestwärter schrie: „Aufstehen, der Henschke!“ Dann öffnete sich das Klappfenster an der Tür, eine Hand schob sich hinein: „Da hast’n Handtuch.“ Ich musste mich waschen, das »Bett« machen, dann öffnete sich wieder das Klappfen­ster und eine Schale schwarzen Kaffees schwebte hinein. – Er ist wenigstens warm. – Heut ist Ostersonntag. Heute ist der Herr aus dem Grabe wieder auferstanden. Mich hat man in der Nacht vom Gründonnerstag ins Grab gelegt. Wann werde ich auferstehen? Diese Wände zerbrechen? Diese Stäbe zer­knicken, wieder Flügel haben und ins Licht fliegen?

Ich wollte Euch noch gestern ein Telegramm schicken, Ihr wisst ja seit vier Tagen nicht, wo ich bin, und Eure Angst wird groß sein. Aber der Wärter wollte es nicht annehmen. Ich müsse warten, bis der »Feldwebel« kommt. Wird er heute kommen? Es ist doch Ostern, und alles, auch der Untersu­chungsrichter, hat Osterferien. Tagelang werde ich wohl noch sitzen müssen, ehe wieder ein Ruf an mich ertönt. Draußen lärmen die Spatzen. Sie singen wie Engel.

Man schmeißt mir einen großen Klumpen Brot hinein. Ich habe nichts, womit ich ihn schneiden könnte. Ein Messer wird mir nicht (ich weiß nicht warum, weil ich vielleicht auf den Wärter zugehen könnte?) zugebilligt. Ich versuche das Brot mit meiner Zahnbürste zu schneiden. Meine einzigen Kost­barkeiten sind: eine Zigarre und eine Orange. Ich würde es nicht wagen, die Zigarre zu rauchen, die Orange zu essen. Ich rieche nur an ihnen. Wenn ich an der Orange rieche, steigt Monti, mein tessinisches Paradies, vor mir auf. Die Mandel­bäume blühen, die grünen Eidechsen schillern, und heute hat sicher Soffel, der gute Mensch, eine Zornnatter gefangen. Die Sonne scheint, die Maggia tönt, Rio, mein Hund, bellt, weil die Gartentür knarrt – und Freiheit – Freiheit überall!

Der Wärter schreit: „Ich brauch die Kaffeeschüssel!“ Ich kann das Getränk nicht so hinuntergießen, sonst wird mir schlecht. Ich sage ihm: „Warten Sie doch noch!“ Er ist sofort böse, vielleicht meldet er mich nun dem »Feldwebel« nicht, dann ist wieder ein Tag und mehr als ein Tag verloren. Ich will ihn doch bitten, das Telegramm an Euch aufzugeben, und werde auch eine ärztliche Untersuchung beantragen. –

Kann ich denn noch Verse singen,
Wo ich hinter Stäben sitze?
Donner donnre, Blitze blitze,
Und die Wand will nicht zerspringen.
Ginge doch die Tür und käme
Eine frauliche Gestalt,
Die mich bei den Händen nähme,
Sie sei Mädchen oder alt.
Wenn der Tisch sich doch belebte,
Wenn mein Mantel mich umfinge!
Dieses Kissen an mir hinge,
Dieses Bildnis – wenn es lebte!

Nürnberg, 20. April 1919

Einer der Gefangenen, der draußen den Gang putzt, schiebt mir zwei kleine Hefte zur Lektüre durchs Fenster. Es ist die 14. und 15. Fortsetzung von „Die Tochter des Geigers oder das Rätsel der blauen Berge“. Auf dem Umschlag steht: „Die­ser Roman beschäftigt sich mit dem geheimnisvollen Rätsel und erzählt wahrheitsgetreu die seltsamen Schicksale des mit wunderbarer Schönheit ausgestatteten Mädchens Klara Herz­feld.“ Ich freue mich darauf, in die seltsamen Schicksale des mit wunderbarer Schönheit ausgestatteten Mädchens Klara Herzfeld eingeweiht zu werden. Wird deren Schicksal so selt­sam sein wie das meine und wird es von so wunderbarer Schönheit sein, wie du, Irene?

Das Mittagessen: eine Schüssel guter Suppe, in der zwei erbsengroße Fleischstückchen schwimmen, eine Schale gu­ten Kartoffelsalats und ein Stück grün verschimmeltes Brot. Ich werde zum „Feldwebel“ geführt und bitte ihn, das Tele­gramm an euch aufzugeben. Er weiß nicht, ob es geht, ei­gentlich muss alle Post dem Untersuchungsrichter vorgelegt werden, der ist natürlich heute und morgen nicht da, es sind ja Feiertage! Auch der Arzt kommt erst übermorgen. End­lich verspricht er, einen kurzen Brief an Euch, nur meinen Aufenthaltsort enthaltend, absenden zu lassen. Wann wird er bei Euch sein? Doch kaum vor übermorgen. Die Tage ver­streichen. Der Raum zerfällt. Die Zeit vergeht. Und nichts geschieht für mich. Alles: an sich und für sich. Ich bin ganz außerhalb der Erde. In der Hölle rotiere ich um mich selbst.

An der Wand hängt eine Tafel, und so sehe ich, dass meine armen Brüder, die Mitgefangenen, für ihre Arbeit im Ge­fängnis erhalten: Buchstaben auf Karten aufnähen, ein Gros Karten 5 Pfennig, fertigen von Rucksäcken, 1 Stück je nach Größe 1 bis 2 Pfennig, fertigen von Spielwaren, täglich 2 bis 25 Pfennig, Näh-, Stick- und Häkelarbeit, täglich 5 bis 10 Pfennig, Schreibarbeiten, für 500 Adressen oder dergl. 25 Pfennig, Schneider-, Schuhmacher-, Schlosser-, Schreiner-, Sattler-, Spengler-, Tüncher-, Maurerarbeit, täglich 25 Pfen­nig, Strümpfe und Socken stricken anstricken, ausbessern, täglich 3 bis 10 Pfennig. Ich kann es verstehen, wenn ein nicht sehr robuster Mensch, der wochen- oder gar monate­lang gezwungen ist, in diesem, notdürftig zu einer Kammer umgewandelten Abort zu hausen, an sich zu zweifeln be­ginnt, vom Hammer des Schicksals niedergeschlagen, sich für die elendste aller Kreaturen hält und gerne bereit und fä­hig ist, sich sämtlicher Todsünden zu bezichtigen und alles zu gestehen, was man ihm zumutet. Ich zwinge mich, meine Be­dürfnisse möglichst lange zurückzuhalten, weil es mich ekelt, die Tonne zu öffnen und der Gestank minutenlang im Raume stehenbleibt.

Wie spät ist es? 5? 6? Das Abendessen kommt: Die weiße Hand reicht durchs Klappfenster zwei kleine Stückchen Käse. Das ist alles. Als Beigabe ist wohl das schimmlige Brot von Mittag gedacht.

21. April 1919

Heute Nacht träumte ich wieder von Irene. Sie saß in ihrem seidenen Hochzeitskleid in einem Winkel einer Teestube und stickte an einem Kinderhemd. Es ist sechs Uhr. Der Aufseher: „Wachen Sie auf! Wir können auf Sie nicht warten! Nehmen Sie Ihren Jaucheneimer und leeren Sie ihn draußen aus!“

Ich möchte wohl manchmal heftig werden, aber ich sehe ein, dass es vollkommen zwecklos ist. Eine Respektperson bin ich ja gerade nicht. Ich/sehe weder wild noch romantisch aus, wer würde Furcht vor mir haben? Nicht das scheueste Kind. Ich habe ein Knabengesicht, und man hält mich für einen unbesonnenen Gymnasiasten, der aus Spaß den Spartakistenrummel mitgemacht hat.

Die Zigarre habe ich dem Soldaten geschenkt, der gestern so gut zu mir war, und die Orange hab ich gestern Nacht noch aufgegessen. Ich konnte den Drang nicht mehr bezähmen. Meine beiden Wunder von der Welt draußen sind nicht mehr da. Die Orangenschalen hebe ich mir auf. Sie parfümieren die Zelle so süß, und ich kann sie, in Wasser gelegt, vielleicht als Zahntinktur verwenden. Ich habe eine Nordzelle. Ich sah vorhin, als mein Klappfenster offen stand, auf die Zelle gegen­über. Die war offen. Da lag die Sonne drin, wie eine schöne blonde Frau lag sie auf der Pritsche. Wie ich den Mann gegen­über um seine Sonne beneide. Er ist übrigens, ebenfalls in Pas­sau festgenommen, ein Telegraphenbeamter, der angeblich als Telegrammzensor der Räterepublik in Passau gewirkt hat.

Es irrt immer eine vage Dämmerung durch meine Zelle wie vor Sonnenuntergang, als müsse es gerade Abend werden. Es mag sein, dass in dem von Kommunisten besetzten München der rote Terror herrscht. Sicher ist, dass in dem von der Regie­rung Hoffmann regierten Bayern der weiße Terror umso blin­der wütet. Lieber Vater, du rühmst dich immer stolz, dass wir das freieste Wahlrecht der Welt haben. Was nützt dir das freieste Wahlrecht, wenn du selber so unfrei bist, dass die Regie­rung jederzeit die Macht hat, dich, den Zivilmenschen, vom Militär verhaften und in Schutzhaft führen zu lassen. Noch immer besteht im revolutionären Deutschland die Schutzhaft; eine Einrichtung von wahrhaft mittelalterlicher Barbarei. Ist dies das neue Deutschland? War nicht immer eine der aller­ersten Forderungen freiheitlicher Männer gewesen: seien es Demokraten oder Sozialisten: dass zu allererst die Schutzhaft fallen müsse? Und sie besteht noch immer! Auch die private Zensur ist noch aufrechterhalten. Was nützt dir, lieber Va­ter, die schönste Gedankenfreiheit, wenn du deine Gedan­ken nicht frei zu äußern vermagst? Briefe an dich und von dir werden erbrochen, Telegramme aufgefangen, im Café sitzt ein Spitzel an deinem Tisch: dies, lieber Vater, ist das neue Deutschland, das sich nur dadurch von dem alten unterscheidet, dass an Stelle von Wilhelm II. und Ludendorff andere ge­treten sind. Eben lese ich in der „Nürnberger Zeitung“, die mir ein Soldat durch die Türe schiebt, dass das dritte Armee­korps Nürnberg vorläufig alle Versammlungen verboten hat.

Ist dies die sogenannte Versammlungsfreiheit? Mit der Ver­änderung von Personalien ist nichts getan: wenn nicht der Geist sich wandelt, wenn nicht die Seele rebelliert. Sie ducken sich schon wieder, die Bürger, wie sieggewohnt waren, sich zu ducken, früher. Und schon sehe ich den Schatten einer prinz­lichen Gestalt über Bayern heraufkommen.

Draußen singt ein Vogel in der Welt.
Draußen blüht ein blaues Frühlingsfeld.
Draußen geht ein Mädchen Arm in Arm
Österlich geputzt mit dem Gendarm.
Draußen sitzen statt im Restaurant
Bürger bei Musik und Gabelklang.
Auf der Burg von Nürnberg spielt ein Kind
Mit den Wolken und dem Himmelswind.
Und der Untersuchungsrichter streicht
Seiner Frau das blonde Haar vielleicht.
Draußen lächeln sie einander an:
Greis und Säugling, Mädchen oder Mann.
Draußen lieben sie einander sehr:
Reh und Wiese, Sonnenschein und Meer…

Nürnberg, 21. April 1919

Mittagessen: eine Schale gute Suppe, eine Schale weniger gute Spätzle. Abendessen (wird der Bequemlichkeit halber gleich mit hereingereicht): ein winziges Stück Käse (wie gestern). Ich esse den Käse schon um 4 Uhr auf, weil ich Hunger habe. Ich lasse mir das Bett herunterklappen, weil ich mich nicht wohl fühle, und lege mich hin. Ich habe ein wenig geschla­fen. Ich gehe an den Wänden entlang und sehe alle mögli­chen mathematischen Zahlen und Formeln. Ich trete näher und bemerke, dass es Kaiendarien sind, von den Gefangenen angelegt. Vom Einlieferungs- bis zum Entlassungstage. Und manche Zahlenreihen sind endlos lang. Ein Strich durch das Datum, das heißt: wieder ein Tag vorbei. Wieder einen Tag dem Leben, dem Licht, dem Tanz und dem Gelächter näher ­gerückt.

Soll ich ebenfalls eine Tabelle anlegen?

Ich scheue mich. Ich habe Angst vor den Zahlen.

Der Feldwebel sagte gestern: „Warten Sie nur, in ein paar Tagen sind Sie entlassen.“ Die Leute sind alle so nett, das glei­che aber hat schon der Chauffeur im Auto gesagt: „Warten Sie nur, in Nürnberg lässt man Sie gleich wieder frei.“ Es war nicht wahr. Die Leute täuschen sich über die Schwerfälligkeit der juristischen und die Brutalität der militärischen Maschi­nerie.

Ich erfahre heute zu meinem Erstaunen, dass ich in der Militärabteilung des Untersuchungsgefängnisses gefangen gehalten werde. Wie ist das möglich, ich, ein Zivilist? Ein böses Symptom. Nicht für mich. Für Deutschland. Nach Recht und Gerechtigkeit hätte ich sofort der Zivilbehörde übergeben werden müssen. Das Zivil scheint schon wieder ausgeschaltet.

Wärst Du nicht meine Sonne, und erhellte
Mich dieses Bildnis nicht,
Ach, ich erfror in dieser kahlen Kälte
Und lebend sah mich diese Wildnis nicht.
Ich bin mit Dir wie einst verbunden.
Du Tote hältst am Leben mich.
Und manche meiner dunklen Stunden
Singt unter Deinem Geigenstrich.

Nun wird es wieder dunkel.
Kein Stern tritt mit Gefunkel
In meine Zelle ein.
Die Wände schier erblassen,
Und grüne Hände fassen
Nach mir wie zum Gespensterreih’n.
Wie wird es morgen werden?
Kein Himmel hier auf Erden)
Die Nacht so sanfte Wellen schlägt.
Ich sinke wie verloren, \
Umhüllt von schwarzen Floren,
In einen Fluss, der mich von dannen trägt.

22. April 1919

Ich habe immer Hunger. Und ich friere immer.

Ich war eben beim Feldwebel zum Rapport: Ich habe um die Erlaubnis gebeten, Zeitungen zu lesen und mir meine Füllfeder neu zu füllen, was mir gnädig gewährt wurde. Ich habe ihm auch ein Telegramm übergeben, mit dem Ersuchen, es zu befördern.

„Bitte dringendst Haftentlassung fordern gegen Bürgschaft oder Kaution.“

Der Feldwebel sagte: „Wollen sehen, was sich machen lässt, lieber Henschke.“ Ich weiß mir nicht anders zu helfen, jetzt warte ich auf den Arzt. Wird er mir helfen können oder wol­len? Eine Woche bin ich schon in Haft. Ich erinnere mich aus der Lektüre des „Crossener Lokalblattes“, dass Männer we­gen kleinen Diebstahls zu einer Woche Haft verurteilt wur­den. Die Buße für einen kleinen Diebstahl hätte ich also schon hinter mir.

Der Wärter schreit durchs Guckloch: „Wollen Sie spazie­ren, Henschke?“ Ich danke. Ich warte auf den Arzt. Ich weiß: alle Gefangenen müssen in Kolonne antreten, und dann geht es schweigend in den Hof. »Ohne Tritt, marsch!« Ich höre die Stimme des Aufsehers verhallen und den Tritt der Gefange­nen. Was für ein Wetter ist? Ich kann es durch die schmut­zige, halb blinde Scheibe nicht erkennen, jeden Tag spiegelt der Himmel in ihr das gleiche Grau.

Was für Gefühle beseelen mich? Ach, nichts „beseelt“ mich. Ich friere und habe Hunger.

Eben bringt man mich in eine andere Zelle, die wenigsten den Vorzug hat, dass sie wärmer ist. Es geht Zentralheizung durch.

Der Arzt verordnet Anistropfen.

Folgende Geschichte fand ich in der neuen Zelle auf einer alten Schreibheftseite säuberlich niedergeschrieben: Wer mag sie erfunden haben?

Ein Vater und eine Mutter lebten mit ihren zwei Kindern auf einer rauhen Insel des weiten Weltmeeres, wohin sie durch Schiffbruch geraten waren. Wurzeln und Kräuter dienten ih­nen zur Nahrung, eine Quelle war ihr Trunk und eine Felsenhöhle ihre Wohnung. Oft tobten auf der Insel furchtbare Stürme und Gewitter. Die Kinder konnten sich’s nicht mehr denken, wie sie auf die Insel gekommen waren; sie wussten nichts mehr von dem großen festen Lande; Brot, Mehl, Obst und was es dort sonst noch Köstliches gibt, waren ihnen un­bekannte Dinge geworden.

Da landeten eines Tages in einem kleinen Schifflein vier Mohren an der Insel. Die Eltern hatten eine große Freude und hofften nun, von ihren Leiden erlöst zu werden. Das Schiff­lein war aber zu klein, alle zugleich auf das feste Land hinüberzubringen – und der Vater wollte die Fahrt zuerst wagen.

Mutter und Kinder weinten, als er in das schwache, bretterne Fahrzeug stieg und die vier schwarzen Männer ihn fort­führen wollten. Er aber sagte: „Weinet nicht! Drüben ist es besser, und ihr alle kommt bald nach.“

Als das Schifflein wiederkam und die Mutter abholte, wein­ten die Kinder noch mehr. Aber auch sie sagte: „Weinet nicht! In dem besseren Lande sehen wir uns alle wieder!“

Endlich kam das Schifflein, die zwei Kinder abzuholen.

Sie fürchteten sich sehr vor den schwarzen Männern und zitterten vor dem furchtbaren Meere, über das sie hinüber sollten. Unter Furcht und Zittern näherten sie sich dem Lande.

Aber wie freuten sie sich, als ihre Eltern am Ufer standen, ihnen die Hände boten, sie in den Schatten hoher Palmenbäume führten und auf dem blumigen Rasen sie mit Milch, Honig und köstlichen Früchten bewirteten. „O wie töricht war unsere Furcht!“ sagten die Kinder, »nicht fürchten, son­dern freuen hätten wir uns sollen, als die schwarzen Männer kamen, uns in das bessere Land abzuholen.“

„Liebe Kinder“, sprach der Vater, „unsere Überfahrt von der wüsten Insel in dieses schöne Land hat für uns noch eine höhere Bedeutung. Es steht uns allen noch eine weitere Reise in ein viel schö­neres Land bevor. Die ganze Erde, auf der wir hier wohnen, gleicht einer wüsten, rauhen Insel. Das herrliche Land hier ist für uns ein, wiewohl nur schwaches Bild des Himmels. Die Überfahrt dahin über das stürmende Meer ist der Tod. Jenes Schifflein erinnert an die Bahre, auf der uns schwarz ­gekleidete Männer einst forttragen werden. Aber wenn jene Stunde schlägt, da wir, ich, eure Mutter oder ihr, diese Welt verlassen müssen, so erschreckt nicht! Der Tod ist für fromme Menschen, die Gott lieb gehabt und seinen Willen getan ha­ben, nichts als ein Übergang ins bessere Land.“

Nürnberg, 22. April 1919

Der Wärter brachte Anistropfen. Ich habe sie geschlürft wie Henessy oder Benediktiner und ihren Geschmack lange im Munde gekostet. Als ich vor 13 Jahren an Rippenfellentzün­dung krank lag und das Fieber nicht weichen wollte, musste ich eine Hungerkur durchmachen. Ich bekam nichts als Tee und Wasserkakao. Ich hungerte so lange, bis ich weinte und nachts vom Kaiserautomaten träumte, wo man 10 Pfennig in einen Schlitz steckt und dann erhält man eine Schinkensemmel oder ein Lachsbrötchen oder ein Ei Brot, ach, ach, was gab es nicht alles für schöne Dinge auf dieser guten Welt zu essen! Das bisschen fettlose Mittagessen hält nicht an, und sonst gibt es ja nur morgens eine Schale Kaffee und abends ein Stück­chen Käse. Um 4 Uhr hab ich ihn immer schon aufgegessen, und dann bleibt nichts für den Abend.

Es ist schlimm zu hungern. Der Hunger nimmt einem alle Gedanken fort, und man denkt nur dies: essen, essen, fressen, fressen. Wenn es nur dunkel würde! Man schlafen könnte! Den Magen ausschalten. Die Augen schließen. Das Herz im Traume reden lassen. Bei Irene sein.

23. April 1919

Wegen Kohlenmangel muss ab Donnerstag, 24., der Perso­nenverkehr auf den bayrischen Staatseisenbahnen eingestellt werden. Wenn ich heute oder spätestens morgen früh entlas­sen werde, kann ich nicht mehr fort von Nürnberg. Soll ich glauben? Soll ich hoffen? Warum höre ich nichts von Passau? Man muss mir doch geschrieben oder telegraphiert haben?

Immer, wenn im Gang der Wärter mit den Schlüsseln ras­selt, spitze ich die Ohren wie ein Hase. Ich gehe mit dem Gedanken um, an das preußische Justizministerium ein Te­legramm zu richten.

Die Zeit schleicht wie eine Schnecke. Sie geht wie ein Krebs, rückwärts. Eben schlägt es erst 9 Uhr.

Heute gab es zu Mittag Suppe, rote Rüben und ein kleines Stück Fleisch. Abends Kunsthonig und Tee. Alles recht ge­nießbar; nur viel zu wenig, um satt zu werden. Der Wärter versprach mir, ein Abendessen zu besorgen.

Justizrat Z. war bei mir. Er zeigte mir ein Telegramm von dir. Meine Hoffnung flammte auf. Wenn es ihm gelänge, mich frei zu bekommen, bald, baldigst. Daran liegt alles. Ich bat ihn um Bücher. Klara Herzfeld, das schöne Mädchen, befriedigte mich doch nicht recht, und ich bin stumpf vor in-die-Wand-stieren. Auch das Schreiben wird mir schwer. Ich habe eben zu Abend „gegessen“, aber ich habe schon wieder rasenden Hunger. Wenn ich das Stück Brot, das noch daliegt, jetzt auf­esse, habe ich morgen früh nichts zu essen.

Ich kämpfe einen Gewissenskampf.

Hölderlin, mein großer, heiliger Bruder, wie sehne ich mich nach dem Lande Hyperions, nach einem Vers von dir, in meine Wunde als Balsam geträufelt. Was bedeutete für dich rote Rüben, Kunsthonig und ^Kommissbrot. Dir wäre das alles eins, was mir, ich gestehe es schmerzlich, in mei­ner Lage so viel bedeutet. Schubert saß dreizehn Jahre auf Hohenasperg gefangen. Ich erschrecke. Ich komme mir recht erbärmlich vor gegen die Herren der Vergangenheit. Aber sie hatten das Gefühl, Märtyrer zu sein, für eine große Sache zu dulden. Wofür dulde ich? Weil ein Esel mir ein Telegramm geschickt, ein zweiter Esel es abgefangen, ein dritter Esel es als verdächtig beanstandet hat. Kein Anlass, um mit meinem Duldertum theatralisch aufzutreten.

23. April 1919

Und heut in der Nacht
Da bin ich erwacht,
Es schrieb eine Hand an der Wand.
Und die Schrift war rot,
Wie Blut so rot,
Und wie Wachs so weiß war die Hand

Und ich sah‘s und vergaß
Meine Ängste und las,
Was die Hand, die silberne, schrieb.
Bedarfst du mein?
Du bist nicht allein
Und ich dich ewig lieb.

Vergiss nicht die Fei
Und die heilige Drei
Und den Schrei und den endlosen Kuss.
Der, Kerker zerbricht
E^ naht das Gericht,
Und zur Quelle empor fließt der Fluss.

Die Nacht und der Tag,
Der Mond und der Hag,
Wir lieben uns immer neu.
Du küsst meine Stirn
Wie die Sonne den Firn,
Und als Bettler hüllt uns die Streu.

Bleibe du, bleibe ich,
So singe, so sprich,
Sprach ich recht, sprach ich dich, sprach ich Du?
Ich ergriff an der Wand
Die silberne Hand,
Und sie zog mich den Sternen zu.

Jeden Abend kommt der Sanitätsunteroffizier und misst mir die Temperatur. Dann verordnet er mir Anistropfen. Unten spielt immer jemand Klavier. Das scheint sich ein Dauer Gefangener in der Zivilabteilung gemietet zu haben. Die älte­sten Operetten. Die Zampa-Ouvertüre, die ich so gut von den Karussell- und Rummelplätzen meiner Kindheit kenne. Ich denke an meine letzten Stunden auf Schweizer Boden. In der geschlossenen Abteilung eines Privat-Nervensanatoriums. Ein Billardsalon. Die Fenster nur mit Schlüssel zu öffnen. Ein Wärter in einer Nische. Der Tänzer Nijinski, der Partner der Anna Pawlowna, spielt mit kurzen harten Stößen Billard ge­gen einen kleinbürgerlichen Herrn ohne Kragen. Herr von Waldkirch erscheint auf Filzsohlen und preist stotternd seine Geigen.

Er hat eine Geigensammlung. Er holt eine Geige mit pracht­vollem Ton. Ein Virtuose aus Konstanz, der uns begleitete, nimmt sie aus dem Kasten, prüft, und setzt an. Die Herren am Billard lauschen, steif. Herrn von Waldkirchs Gesicht fließt auseinander, wie übergelaufene Milch. Man reicht mir des Knaben Wunderhorn. Ich lese eine Ballade. Dr. Levy, mein guter Freund, spricht das letzte Gedicht aus der „Irene“.

Ich war seit langem nicht mit so vernünftigen Leuten zusam­men wie diesen Wahnsinnigen, die an schweren paranoischen Wahnvorstellungen leiden.

„Monsieur“, sage ich zu Nijinski, „cfu’est ce pas, vous avez ete ä Berlin il y a sept ans?“

„Monsieur“, erwiderte er, „Je ne me souviens plus. Berlin ou Petrograd c’est la meme chose comme Jesus et Jehova.”

Waren dies alles Vorahnungen, dass ich in Kreuzungen in ei­nem Hause war, wo man die Fenster nicht öffnen konnte und die Türklinken sich abschrauben ließen? Zimmer mit kleinen vergitterten Fenstern im Hause waren? Polstern an den Wän­den? Jene Narren hatten es besser als ich. Sie können sich in einen Zustand der Freiwilligkeit hineinfühlen. Sie sind Pen­sionäre. Gäste. War dies eine Vorahnung meines jetzigen Zu-standes, dass ich am Morgen vor meiner Verhaftung ein my­stisches Gedicht begann:

„Der Gefangene“?.?

Nürnberg, 24. April 1919

Das Ereignis des heutigen Tages ist dein Brief, liebe Mut­ter. Ja, wenn alle Menschen so wären und dächten wie du! Vergiss bitte nicht, dass eine uralte Rechtssitte verlangt, vom Angeklagten immer a priori das Ärgste und Schlechteste an­zunehmen. Was wussten auch die, die mich vernahmen, von meinen Versen, meinem Werk, meinem Wollen? Sie wussten nicht, dass ich ein Dichter bin, sondern hielten mich, gemäß gewordener Instruktion, für einen „Spartakisten“. Die Vernehmung von dem Eskadronschreiber in Straubing war gera­dezu von klassischer Lächerlichkeit, und in Nürnberg dauert sie auf 3. A. K. eine halbe Minute. Der Mann sah flüchtig in das Protokoll, sagte: „Das glaubt Ihnen doch kein Mensch, was Sie da sagen?“ und »In Untersuchungshaft zu setzen, bis die Sache geklärt«. Das war alles. Liebste Mutter, darum vier Tage durch Bayern geschleppt. Hätte man mich den nächsten Tag sofort in Passau vernommen, wie die Offiziere versprochen hatten, so wäre alles wohl bald erledigt gewesen. Jetzt hat die Affäre schon einen mystischen Schimmer angenom­men: Durch die Autofahrt, das Zuchthaus und die unendlich vielen Begleitmannschaften (mit schwergeladenen Gewehren, versteht sich). Ich glaube, es sind seit Donnerstag voriger Wo­che fünfzig bis sechzig Leute völlig überflüssig meinetwegen bemüht worden. Ich war in meinem Protokoll von der An­sicht ausgegangen, dass die bona fides mir wenigstens nicht von vornherein abgestritten werden würde. Hätte ich die Bos­heit des ganzen Apparates von vornherein durchschaut: ich hätte nur einen Satz zu Protokoll gegeben.

25. April 1919

Gestern las ich in den Serapionsbrüdern von E. Th. A. Hoff­mann. In der Komposition seiner Erzählungen wird er wohl in Deutschland von niemandem erreicht. Die glücklichste Mi­schung dreier Talente: des Malers, des Musikers vor allem, und des Dichters. Und ein viertes Talent, das alle die anderen drei lenkt und zügelt: er war ein Geisterseher.

Wie der Schneefuchs der Polarnacht
Streif ich einsam durch das Leben,
Keinem künftig hingegeben,
Weil die Einsamkeit nur wahr macht.
Fälschte nicht des Bruders Tritt ich?
Wünscht zum Ziel er meinen Rat sich?
Jeder suche seinen Pfad sich,
Und schon schwirrt des Geiers Fittich.

Ja: verzeiht dem armen Toren,
Dass er focht für seine Brüder.
Hier, die Waffen legt er nieder,
Denn ihr habt ihn nicht erkoren.
Blasser starrt der Mond und gelber,
Felsen folgen seinem Scheine.

Und vergebt mir, dass ich weine,
Denn nichts wollt ich für mich selber.

Heute Nacht träumte ich so lebhaft von meiner Heimkehr nach Monti, dass ich, als ich erwachte, in Monti zu sein glaubte.

26. April 1919

Frei! Wieder draußen! Wieder lebendig! Ich bin noch zu er­regt und nervös, um die Wogen der Empfindungen, die mich durchströmen, bändigen zu können. Ein alter Bekannter aus München, ehemals Dramaturg hier am Theater, und Frl. Z. …, die Tochter des Justizrates, nahmen sich meiner an. Wir gingen auf die Festwiese, sahen »Fausts Höllenfahrt« im Kasperltheater, im schönsten bayrischen Dialekt, und fuhren Karussell. Zwischen den Buden gingen Matrosen mit Gewehren, und es hieß, es würde ein neuer Putsch der Kommunisten in Nürn­berg vorbereitet. Was Putsch! Was Revolution! Ich will erst wieder einmal atmen und lächeln dürfen.

Ich nahm mir im Königshof ein elegantes Zimmer und be­stellte mir sofort ein Bad. Meine Wäsche sieht desolat aus. Schmutzig und zerrissen. Ich habe vor Erregung die ganze Nacht nicht geschlafen. Ich will mit Euch telephonieren, dass ich nicht mehr nach Passau zurückkomme. Die Züge sind ein­gestellt, es bedürfte vielfacher Bemühung, um auf Güterzügen in Tagen zurückzukommen. Und dann läuft mein Pass bald ab. Soll ich ihn aufs Spiel setzen? Ich brauche Ruhe, Ruhe, Ruhe. Und die habe ich in Monti. Bei den jetzigen Zuständen in Bay­ern würde ich mir in Passau doch wieder höchst ungemütlich vorkommen. Es geht noch ein Zug ins Württembergische. Sendet meine Papiere und Sachen nach her, baldigst, express.

Heute will ich Nürnberg, dem Hirschvogelsaal und Hans Sachs einen Besuch abstatten, und im Hans-Sachs-Hause werde ich den Hut ziehen, zum ersten Male seit neun Tagen, und in Ehrfurcht das Deutschland grüßen, das ich liebe.

Sonett auf Nürnberg

Du deutsche Stadt, du deutscheste der Städte,
Mich Wankenden beschützen deine Mauern.
Zart bist du zu dem Zarten, rauh zum Rauhern.
Ich bete deine steinernen Gebete.

O Zeit, da gut und fromm selbst das Geräte!
Ich fühle mich bewegt von edlen Schauern.
Gott, welcher Bild und Giebel ward, wird dauern,
Wenn wir längst Dünger nur für Friedhofbeete.
Sind diese Gräben für den Krieg geschaffen?
Um Scharten blüht der Ginster und. der Flieder.
Der Goldschmied, nahm er Gold, um zu erraffen?
Die Zeit war ewig. Lerchen ihre Lieder.
Lass unsre Seele sich zur Einfalt straffen
Und gib uns Dürer, gib Hans Sachs uns wieder!

Aus: National.Zeitung 1920