Militaria-Artikel

im Jahr 1919 erscheinen Tucholskys berühmte Artikelserie „Militaria“ in der „Weltbühne“, die Ignaz Wrobel schrieb und in der er sich mit den Verhältnissen der Offiziere beschäftigte. „Eine korrupte Bande“.

Den Artikel: “An alle Frontsoldaten!” habe ich hinzugefügt, denn er passt in diese Serie.

Offizier und Mann

Das Verhältnis des deutschen Offiziers zum Mann war schlecht. Der Offizier lebte in einer ganz andern Welt und sah den Mann nicht nur von oben herab, sondern außerdienstlich am liebsten gar nicht an. Die Lebenshaltung beider war vollkommen verschieden, und bis zur Lächerlichkeit ungerecht verschieden: der Mann bekam zu Anfang des Krieges dreiunddreißig Pfennige täglich, später etwas mehr – der Offizier, besonders die höhern Dienstgrade, konnten zum großen Teil von ihren Gehältern sparen. Bezeichnend ist, daß – aus Gründen dessen, was man seinerzeit die Disziplin nannte – niemals eine Gebührenordnung der hohem Dienstgrade veröffentlicht wurde oder irgendwo zu haben war. Diese Gehaltsregelung war geheim und hatte auch allen Grund, es zu sein.

Von einem kameradschaftlichen Zusammenarbeiten der Truppe mit ihren Offizieren war nur in den Augenblicken äußerster Anspannung und Gefahr die Rede. In allen andern Fällen stelzte der Offizier mit gelangweiltem Blick vor der Front herum, grüßte nachlässig oder gar nicht, wenn er einem „Kerl“ begegnete, und befleißigte sich grundsätzlich derjenigen Verachtung, die einem deutschen Soldaten nun einmal von seinen Vorgesetzten zukam. Es gab, selbstverständlich, viele Ausnahmen – betrachtet wird hier der Geist, der das deutsche Offizierkorps beherrscht hat, und der war schlecht. Es kam dem Offizier niemals in den Sinn, dass er doch grade so gut wie jeder Mann die Lasten des Krieges zu tragen habe – er beanspruchte und erhielt ohne weiteres das Zwanzigfache an Lohn und Verpflegung, und seine Quartiere standen in keinem Verhältnis zu den meist jämmerlichen der Mannschaften.

In dem Abschnitt „Verpflegung“ wird darüber mehr zu sagen sein. Die sittliche Haltung des deutschen Offizierkorps im Kriege ist im ganzen als mangelhaft zu bezeichnen. Nicht, weil scharf getrunken wurde – der Mann, und besonders der Mann im Felde, muß trinken –, und es mögen darum Alkoholgegner und deren Gegner miteinander raufen. Die sittliche Haltung der deutschen Offiziere war deshalb so mangelhaft, weil sie in frechem Hochmut den eigenen Landsleuten das wegnahmen, was denen zukam, und weil sie das (dienstlich absolut notwendige) Vorgesetztenverhältnis auch stillschweigend auf die Verteilung der Speisen und Getränke übertrugen. Daß es in den meisten Kasinos bei der Fidelitas nicht nur unfein, sondern als Gegengewicht gegen die offiziell immer noch anerkannte Steifheit geisttötend zuging, nebenbei. Beim Wein entpuppt sich der Mensch – und was da zum Vorschein kam, war nicht immer menschlich. Die Kommandeure hielten selten auf reinen Tisch – teils, weil dann den Herren der ganze Weltkrieg keinen Spaß mehr gemacht hätte, teils, weil sie selbst keine saubern Finger hatten. Mackensen sah sich, zum Beispiel, in Rumänien genötigt, noch zum Schluß der unseligen Besetzungszeit einen Geheimerlaß an die Offiziere zu richten: in Bukarest nur anständige Lokale aufzusuchen und sich nicht öffentlich mit Huren abzugeben. „Es soll sogar“, stand ungefähr in dem Erlaß, „vorgekommen sein, dass Offiziere mit nicht einwandfreien Damen in Wagen …“ Ganz Bukarest lachte; denn ganz Bukarest war voll von Pärchen und wilden Ehen. Dabei muß gesagt werden, dass der deutsche Offizier nicht etwa Roheiten, wie sie ihm der Propagandadienst der Entente andichtete, verübt hat – sind sie vorgekommen, so waren es bedauerliche Ausnahmen, für die der Stand und das Heer nicht verantwortlich zu machen sind. Es war vielmehr eine schleichende und stillschweigend vereinbarte und anerkannte Korruption auf sittlichem Gebiet: man hatte Weiber, Heimatkisten, Beziehungen für Orden und den Hochmutsteufel. Darin taten sich besonders die Fliegeroffiziere hervor: ein Erlaß vom Kommandierenden General der Luftstreitkräfte aus dem Jahr 1917 tadelt das Auftreten der jungen Fliegeroffiziere, die ältere Kameraden nicht grüßten, ihre Automobile für Privatzwecke benutzten und sich in den französischen und belgischen Etappenstädten schlecht benähmen.

Am schlimmsten trieben es die Offiziere in der Etappe. Dabei darf uns nicht der deutsche Fehler unterlaufen, nur in Kollektiven zu denken und nun die Sache damit abzutun: „Ja, die Etappe –!“ Der Offizier in der Etappe – und sie war recht groß geworden, die Etappe – war nichts weiter als ein gutgestellter Deutscher, und er nahm sich, weiß Gott, nicht gut aus. Wenn man unsre alten Landsturmleute so herumlaufen sah: schmutzig, alt, grau, schlecht genährt, schlecht gekleidet, krumm und gebeugt – und dann daneben den jungen Herrn, der, seit er Offizier geworden war, sich aller Pflichten ledig erachtete, so stieg es bitter in einem auf. Wunderbarerweise war die rührende Unterordnung ebenso groß wie die allgemeine Erbitterung gegen den schlechten Geist der Offiziere. Ausschreitungen der Mannschaften gegen die Offiziere sind selten vorgekommen.

Der üble Geist des deutschen Offizierkorps färbte natürlich nach unten ab. Nur im vordersten Graben funktionierte der Unteroffizierston nicht – kam das Regiment in Ruhestellung, so wuchs der Vizefeldwebel zum kleinen König empor, und der Etatsmäßige schwoll zum Gott an. Die Feldwebelswirtschaft war allgemein: der meist jugendliche Kompanieführer – Kriegsware – übertrug seinem Feldwebel viele wichtige Geschäfte, die er selbst hätte erledigen sollen, und der mißbrauchte seine Stellung: entweder er nahm Geld, oder, was schlimmer war, er bekam nerohafte Neigungen und tyrannisierte die paar hundert Menschen, die ihm unterstellt waren. Der Geist ging von oben nach unten: taugte der Kommandeur einer Formation nichts, dann spielten sich die Gefreiten noch als die Vorgesetzten auf, und ein Deutscher hackte dem andern Herz und Augen aus.

Besonders widerlich wirkte, wie die größten Schreier still wurden, wenn man sie beförderte: dann war auf einmal alles gut. Ich habe häufig genug beobachtet, wie diese Leute gewissermaßen vor sich selber stramm standen und am Tage ihrer Beförderung mit einem geheimen Schauder herumliefen: Was bist du doch für ein Kerl!

Die Befehlsgewalt, die ein Vorgesetzter dem Untergebenen gegenüber hatte, war aber auch groß, zu groß. Sie erstreckte sich nicht nur – und das war das Gefährliche – auf den Dienst – nur dahin hätte sie gehört –, sondern sie umfaßte alle persönlichen Beziehungen, der Mann war seinen Vorgesetzten mit Haut und Haaren ausgeliefert. Die wenigsten Offiziere hatten die nötige innerliche Reife, um befehlen zu können (was bekanntlich schwerer ist als gehorchen). Es empörte immer wieder, zu sehen, mit welch loyaler Geringschätzung sie dem Manne günstigstenfalls auf die Schulter klopften oder ihn gar nicht ansahen. Die höhern Dienstgrade hatten meist überhaupt jeden Zusammenhang mit der Erde verloren und standen da, den Kopf in den Wolken verhüllt, auf ihren Vorteil bedacht und rücksichtslos ihr eigenes Wohl in den Vordergrund schiebend. Es mag eine Ausnahme sein, dass ein Divisionär in Rumänien – der Mann hieß Gentner – seinen Urlaub damit antrat, dass er einen Engpaß, durch den Munition, Nachschub, Post und Kranke gefahren wurden, auf zwei Tage sperren ließ, und dann kam er: flankiert von einer halben Schwadron und einer halben Kompanie, auf einem achtspännigen Ochsenwagen; es mag eine Ausnahme sein, daß ein Fliegerhauptmann, in einem französischen Schloß einquartiert, morgens um halb fünf von zwei Burschen die Singvögel aus den Bäumen scheuchen ließ, weil sie ihn störten: Caligula – es mögen das Ausnahmen sein, aber sie scheinen bezeichnend.

Ich glaube nicht, dass die Zahl der gefallenen Offiziere ein Argument gegen die Behauptung ist, dass ihr Geist nichts taugte. Tausende haben ihre Pflicht getan, und fast alle haben sie sie dem Mann gegenüber vernachlässigt. Die ungeheure Wut der Soldaten auf die Offiziere, die jetzt überall mit Recht zutage tritt, ist sonst gar nicht erklärlich, Was der deutsche Offizier taktisch in dem Kriege geleistet hat, steht dahin – zum Volkserzieher ist sein bisheriger Typ nicht berufen.

Bevor die Artikelreihe fortfährt, Militärisches zu beleuchten, möchte ich eines sagen. Es wird mir vorgeworfen, ich schmähte mein eignes Land. Das ist nicht mein Land. Das ist nicht unser Deutschland, in dem diese Köpfe, diese Hirne herrschen durften. Der Hinweis: „Pst! Nicht so laut! Was soll das Ausland von uns denken“ ist nun so oft erklungen, besonders dann, wenn die Wäsche wirklich schmutzig war, daß ich keinen andern Weg, das Übel auszurotten, sehe, als den der rücksichtslosen, gründlichen Ausbrennung. Ich habe neulich in einer großen Tageszeitung das Präludium zu diesem Thema angeschlagen: eine Flut von Beschimpfungen hat sich über mich ergossen. Mir ist das gleichgültig, schon deshalb, weil sie alle („Du bist nie draußen gewesen! Du bist nur nicht befördert!“) auch sachlich Unrecht haben.
Worauf es uns ankommt, ist dies: den Deutschen, unsern Landsleuten, den Knechtsgeist auszutreiben, der nicht gehorchen kennt, ohne zu kuschen – der keine sachliche Unterordnung will, sondern nur blinde Unterwerfung. Unser Offizier hat schlecht und recht seinen Dienst getan, und auch den teilweise mäßig genug – aber er hat sich überzahlen lassen, und wir haben auszufressen, was ein entarteter Militarismus uns eingebrockt hat.
Nur durch völlige Abkehrung von dieser schmählichen Epoche kommen wir wieder zur Ordnung. Spartakus ist es nicht; der Offizier, der sein eigenes Volk als Mittel zum Zweck ansah, ist es auch nicht – was wird es denn sein am Ende?
Der aufrechte Deutsche.

Unter dem Pseudonym Ignaz Wrobel im Jahre 1919

Verpflegung

Wenn der deutsche Soldat das bekommen hätte, was ihm zustand, so hätte er ausgiebig zu essen gehabt. Die Portionssätze waren so berechnet, dass jeder gut damit hätte auskommen können. Der deutsche Soldat bekam aber nur einen Teil seiner Verpflegung – der Rest wurde unterschlagen.

Die Unehrlichkeit begann oben. Jedes Amt, durch das Lebensmittel gingen, behielt sich eine kleine Provision zurück, und schwer lastete auf dem ganzen System die Versorgung der Stäbe. Auf dem Papier stand dem ›Selbstverpfleger‹, dem Offizier, genau so viel zu wie jedem Soldaten, und es gab Offiziere, die die Kühnheit hatten, sich auf diesen nie befolgten Satz zu berufen – in Wirklichkeit war es eine Ausnahme, wenn die Stäbe, beim Bataillon angefangen, fleischlose Tage innehielten. Es galt als selbstverständlich, dass beim Lebensmittelempfang alle seltenern und bessern Nahrungsmittel nicht etwa den kranken Soldaten in den Lazaretten zugeführt wurden, sondern den gesunden Offizieren in den höhern Kommandostellen. Die Lebensmittel fielen von oben wie durch ein Sieb herunter und durch noch ein Sieb und viele – unten blieben als Bodensatz Marmelade und Brot, und das bekam der gemeine Mann. Noch der Kompanieführer betrachtete es als sein gutes Recht, für sich zu empfangen; der Küchenunteroffizier war sein Untergebener und tat das seine. Es wäre falsch, zu behaupten, dass nur die Offiziere sich der Unterschlagung von Nahrungsmitteln zum Schaden ihrer Leute schuldig gemacht haben – der Küchen-Unteroffizier, der Fourage-Unteroffizier, der Proviantamtsinspektor, sie alle, die Lebensmittel zu verwalten oder zu verausgaben hatten, eigneten sich in großem Umfange davon an. Nun soll man dem Ochsen, der da drischet, nicht das Maul verbinden; aber diese Bullen droschen nicht und nahmen das Maul überreichlich voll. Nie hat ein Soldat seinem Kameraden, der da kochte, verübelt, wenn er ein Stückchen Fleisch für sich briet – aber sie schickten kistenweise die Lebensmittel nach Hause, und kein Offizier hinderte sie daran. Besonders zum Schluß des Krieges, als die Lebensmittelnot in Deutschland immer größer wurde, nahm die Korruption überhand.

Die Mehrzahl der Offiziere bis zum Hauptmann und alle höhern Chargen lebten über Gebühr gut und saturiert. Es fiel ihnen nicht im Traum ein, ihre Lebenshaltung mit der des Soldaten zu vergleichen. Viele Offiziere versorgten ihre Familien völlig aus Heeresbeständen oder mit Lebensmitteln, die sie sich vermöge ihrer militärischen Stellung leicht und billig verschaffen konnten. Dem Mann blieb das meist versagt. Ein mir bekannter Hauptmann schaffte 1917 einen jener großen Auto-Omnibusse, die bei der Truppe verwendet wurden, vollständig bepackt mit Lebensmitteln nach Hause – kurz vorher hatte er einen Werkmeister einsperren lassen, weil der sich bei einem Bauern ein Viertel Pfund Butter zu erstehen versucht hatte. Die höhern Kommandostellen mißbrauchten fast alle die ihnen dienstlich zur Verfügung stehenden Transportmittel, um Lebensmittel in die Heimat zu schaffen.

Auf einem solchen Grund gedeiht der Patriotismus. Am ersten September 1917, als der erste Aufruf zur Gründung einer deutschen Vaterlandspartei erschien, weilte der Herzog von Mecklenburg-Schwerin Adolf Friedrich bei einer Etappen-Formation im Osten, Er speiste an diesem Tag im Kasino, und es gab: Klare Bouillon mit Fleischklößchen, Karpfen blau mit Meerrettich und Salzkartoffeln, Geflügel, Rindfleisch mit Kompott, süße Speise, Kaffee und Kuchen, Zigarren und Liköre. Unter der Vaterlandskundgebung stand: Adolf Friedrich, im Felde.
Die Korruption und die Verkennung der Lage fraß nach unten weiter. Es brauchte gar nicht ein sehr bekannter berliner Kommerzienrat zu sein, der im Hauptquartier für die Mitglieder des Kaiserlichen Automobilklubs aus Steinberger Cabinet Bowle ansetzte: jeder gewöhnliche Landgendarm in den besetzten Gebieten nutzte Zeit, Kraft und Dienstwerkzeuge aller Art ausschließlich für sich aus. Dem Ansehen unsres Volkes hat das unendlich genützt.

Das Eigentumsgefühl für Lebensmittel, die dem Staate gehörten, war im Heer vollkommen verloren gegangen. Es hat wohl kaum einen Zahlmeister oder Feldwebel gegeben, der die Löhnung der Soldaten unterschlug und für sich verwendete; tat ers doch, so war das eine schimpfliche Ausnahme, der man bald auf die Sprünge kam, und die man erbarmungslos verabschiedete und bestrafte. Sobald es sich um Genußmittel handelte, schwanden alle Bedenken. Es fand auch niemand mehr etwas dabei: man bedauerte nur, nicht selber an der einträglichen Stelle zu sitzen; man schimpfte aus alter, lieber Gewohnheit, machte es aber grade so, wenn man nur konnte. Der ›Küchenbulle‹ stahl, es stahlen der Feldwebel und der Kompanieführer, und es unterschlugen wissentlich auch die höhern Offiziere. Denn sie wußten ja alle, woher diese ganze Herrlichkeit rührte, und man muß sich nun nicht den Offizier, der seinen Leuten das bißchen Essen wegnahm, so vorstellen wie den Russen in der Posse: nachts heimlich mit der Kerze in der Hand an den Wurstschrank der Kompanie schleichend – das wickelte sich alles viel einfacher und vor allem viel vornehmer ab. Der Bursche empfing. Der Herr aß und schickte nach Haus. Der Mann hungerte.

Wie schlecht der Geist im Heer gewesen ist, zeigte sich vor allem bei den kleinen wirtschaftlichen Unternehmungen, die jede Truppe, im Stellungskrieg und in der Etappe, angefangen hatte. Da gab es Schlächtereien und Selterswasserfabriken, landwirtschaftliche Betriebe und – die Kantine. Ach ja, die Kantine! Warum sie überhaupt etwas über den Bruchschaden hinaus verdiente, blieb unerklärlich. Der Kantinenfonds sollte dazu dienen, auf Kosten begüterter Soldaten den ärmern und der Allgemeinheit etwas zugute kommen zu lassen. Meine Formation hatte einen Kantinenfonds von annähernd hunderttausend Mark. Ich habe nie einen Pfennig davon zu sehen gekriegt. Die meisten Fonds sind überhaupt nicht aufgeteilt worden, die leitenden Offiziere oder untern Chargen haben die Beträge in die eigene Tasche gesteckt. Eine Rechenschaft wurde den Leuten über ihr Geld nicht abgelegt; das verstoße gegen die Disziplin, sagte einmal ein Offizier. Es verstieß aber nicht gegen die Disziplin, daß die Gelder in dunkeln Händen waren, dass Ein- und Verkäufe vorgenommen wurden, die das Tageslicht zu scheuen hatten. „Mit Soldaten bin ich nach Rumänien gezogen; mit schachernden Handelsleuten ziehe ich wieder hinaus“, soll der alte Mackensen gesagt haben. Ich traue ihm diese Kenntnis seiner Leute nicht zu.

Wir haben gesehen, dass in dem großen Organismus des deutschen Heeres für Ehrlichkeit und saubere Wirtschaft wenig Platz war. Es ist das kein Wunder: wenn der Staat im Staate, den das Militär darstellte, für anständige Gesinnung nichts übrig hatte, aber desto mehr für zuverlässige, wenn das Vorgesetztenverhältnis nicht nur über Menschen, sondern auch über Würste und Butterfässer ausgedehnt wurde – wohin sollte das führen! Ich weiß nicht, ob es bei den andern Nationen ebenso schlecht bestellt gewesen ist: verlogener kann es nicht zugegangen sein. Bei feierlichen Anlässen trat das Offizierkorps zusammen, trat die Truppe zusammen; jeder wußte vom andern, wie viel Geld und wie viel Schmutz an seinen Fingern klebte: aber doch donnerten die Reden von preußischer Sauberkeit und von der Unantastbarkeit unsres Offizierkorps. Die Zensur zu Hause tat das ihrige, um aufbrechende Beulen zu überkleben.

Es ist doch nun vorbei, nicht wahr? Warum noch einmal das Alte aufrühren? Warum noch einmal von alledem sprechen, obgleich vielleicht das Ausland diese Arbeit übersetzen wird?

Weil wir aus der Lüge heraus wollen. Weil wir es nicht mehr ertragen können, in einer Fibelwelt zu leben, die den andern für viel dümmer hält, als ein Mensch nur sein kann. Wir alle wissen, dass unser Heer, dass unser Volk im Kriege moralisch nicht intakt geblieben ist, nicht sauber bleiben konnte. Es wird bei vierzehn Millionen Kriegern immer Schweinehunde zu Hunderttausenden geben – aber man soll das empfinden und soll sie bestrafen. Darum ist das hier alles gesagt. Und die Diebstähle andrer Güter? Und die kleinen Mädchen? Und die großen Requisitionen? Davon das nächste Mal.

Unter dem Pseudonym Ignaz Wrobel im Jahr 1919

Von großen Requisitionen

Als in Deutschland die ersten französischen Kriegskarikaturen bekannt wurden, die den deutschen Soldaten mit der seit 1870 traditionellen pendule darstellten, tobte ein Entrüstungssturm durch das Land. „Frechheit! Übertreibung! Der deutsche Soldat, der deutsche Offizier stiehlt nicht!“

Wollen sehen.

Es scheint mir ein unbestrittenes Soldatenrecht zu sein, alles zu nehmen, was der kämpfende Mann und die kämpfende Truppe für die Kriegführung und für des Leibes Notdurft gebrauchen. Es ist also nichts dagegen zu sagen, dass durchmarschierende Soldaten Lebensmittel und Seife, Decken und Wagen, Pferde und Verbandsstoffe requirieren. Die Wegnahme wird durch den Requisitionszettel nicht versüßt, aber es bleibt doch wenigstens der Schein eines Rechts übrig. Bei den erfolgten deutschen Requisitionen ist sorgfältig zu unterscheiden zwischen den raschen Wegnahmen auf dem Marsch und den wohlüberlegten Eigentumsentziehungen während der Besetzung. Was auf den Vormärschen geschehen ist, entzieht sich meist der strengen Beurteilung, und ich glaube, dass besonders in Belgien die deutschen Soldaten nicht mehr und nicht weniger gehaust haben, als andre Völkerschaften das in früheren Jahrhunderten taten. Die kindischen Versuche des berüchtigten Kriegspresseamts, die Armee von aller Schuld reinzuwaschen, gehören in das Kapitel „Vaterländischer Unterricht“: die deutsche Klasse hat vollendet aufgemerkt, und ihre Leistungen waren – leider Gottes! – zufriedenstellend. Man hätte den Lehrer früher vom Katheder herunterschlagen sollen.

Ob es auf dem Vormarsch im Westen wirklich gar so bunt hergegangen ist, wie die Franzosen darstellen, weiß ich nicht. Ein alter Generalstabsoffizier bat den Privatsekretär einer französischen Baronin um Einzelheiten; der Mann, ein Holländer, gab sie ihm. Der Sekretär erzählte später nicht ohne Bewegung, wie der Offizier geweint habe. Und ich weiß, wie nach einem Vortrag vor Soldaten, der sich gegen gar zu haarsträubende Tendenzberichte des französischen Imperialismus lichtete, ein Zahlmeister dem Redner auf die Schulter klopfte und sagte: „Das war ja sehr nett, was Sie da gesagt haben. Aber Sie hätten mal dabei sein sollen, wie wir in Belgien gewirtschaftet haben!“ Und dann erzählte er einige Einzelheiten, die wir uns lieber sparen wollen.

Ich kann aber, selbst wenn die Deutschen auf ihren Vormärschen mit Requisitionen weit über das Ziel hinausgegangen sind, nicht gar so viel davon hermachen. Der Krieg ist eine üble Angelegenheit, und es wird nicht leicht fallen, dem Soldaten klar zu machen, Mord sei erlaubt, ja Pflicht, und das viel geringere Delikt des Diebstahls sei Verbrechen.
Verbrecherisch aber waren die Requisitionen, die die Verwaltungsoffiziere auf eigene Faust in allen besetzten Gebieten unternahmen. Wir kommen hier wieder an eine Art deutscher Korruption, die wegen ihres schleichenden Charakters weit gefährlicher ist als jede offene. Sie ist praktisch niemals nachzuweisen, bewegt sich meist in den anständigsten Formen und hat uns maßlos verhaßt gemacht. Denn das ist Mentalität: gut scheinen wollen und schlecht tun.

Aus dem Bericht eines deutschen Verwaltungsbeamten in Rumänien:

„Es kann keinem Zweifel unterliegen, dass es vor allem die Art und Weise der Durchführung der Requisitions-Maßnahmen ist, durch die Verbitterung und Haß in der Bevölkerung entfacht worden sind. Immer wieder hört man von rumänischer Seite den Ausspruch: ›Wie kommen die Deutschen dazu, sich besser und mehr zu dünken als wir? Es ist bei ihnen ganz genau wie bei uns: Wer die Macht hat, stiehlt und bedrückt und füllt seine Taschen ! Der Soldat, der in ein Haus kommt, um nach beschlagnahmten Lebensmitteln zu suchen, bekundet ein lebhaftes Interesse auch für alles andre, was zwar nicht der Beschlagnahme unterliegt, was er aber für sich auch gut brauchen kann. Um sich besser verständigen zu können, bringen solche Kommandos vielfach ihren Dolmetscher mit, der meistens der Bestechung recht zugänglich ist. Hierdurch kommt es, dass die Durchführung von Beschlagnahmen in vielen Fällen höchst ungleichmäßig und ungerecht ist. Der davon Betroffene hat kein Mittel, sich zu schützen. Wenn auch jeder weiß, dass mal wieder „Schiebung“ am Werke war, so wagen die Leute doch nicht, auf dem Beschwerdewege dagegen vorzugehen, denn damit hat schon mancher recht schlechte Erfahrungen gemacht! Sie stecken also das Unrecht ein und sind wieder in ihrer Ansicht über die Deutschen bestärkt: „Sunt ca si noi!“ (Sie sind wie wir!)“

Der überall gefürchtete Kommandanturlandwirt war eine Zentrale aller Schieber, wie ja jeder, der mit Lebensmitteln beim Militär zu tun hatte, mehr oder weniger anrüchig war. Was diese Verwaltungsstellen an Einrichtungen, an Vieh, an Stoffen und Dingen requirierten, die gar nichts mehr mit der Kriegführung zu schaffen hatten: das geht weit über Menschliches hinaus. Der Kernpunkt in der Verderbnis war der, daß jede Abrechnung zugleich Disziplinsache war; außerdem steckten Unterchargen und die höhern Offiziere meist unter derselben schmutzigen Decke. Hier braucht man gar keine Akten aufzumachen: keinem, der die deutsche Etappe kennt, sind dies unbewiesene Behauptungen. Einmal beschuldigte ein anonymer Brief alle Angehörigen einer Viehsammelstelle der Unterschlagung und des Mißbrauchs der Dienstgewalt unter sehr genauen Angaben. Die Beschuldigten selbst – darunter mehrere Offiziere und ein Feldwebel, von dem die ganze Gegend wußte, er habe sich während des Krieges zum reichen Mann gemacht – wurden vernommen, bestritten natürlich alles und – und? Der anonyme Briefschreiber wurde gesucht, damit man ihm den Prozeß machen könnte.

In Riga war ein Requisitionsoffizier, der brach die leerstehenden Wohnungen auf und nahm die Möbel weg; es blieb unberücksichtigt, ob das geflohene Deutsche oder Russen, russophile oder germanophile Letten waren: er brach auf und nahm weg. Er selber bewohnte eine herrlich eingerichtete Wohnung in Riga, die requirierten Möbel wurden aus Riga fortgeschafft, die bestohlenen Familien bekamen niemals Ersatz.

In Rumänien wurde in der ersten Zeit, besonders in Bukarest und besonders durch Organe der Politischen Polizei, unsagbar gestohlen. Einer der Chefs reiste mit einer großen Zahl von vollgepackten Lederkoffern ab, auch die Koffer waren, wie der terminus lautet, „gekauft“.

Offiziere stahlen auf dem Balkan dem Hauswirt die Badewäsche. Er wandte sich an mich, und ich vermittelte. Dabei sagte ich: „Vielleicht bekommen Sie die Wäsche wieder! Und schließlich: es ist Krieg! Denken Sie, wie die Rumänen handeln würden, wenn sie in einem feindlichen Lande wären!“ – „Ja“, erwiderte mir der Mann, „die Rumänen! Das dürfen Sie nicht sagen! Sie sind keine Rumänen, Sie sind doch Deutsche!“ Ach ja.

Was hier wie überall so deprimierte, war der völlige Mangel an Bedenken. Der deutsche Offizier – und er besonders, weil er ja an den maßgebendsten Plätzen saß – stahl ohne Bedenken, allerdings fast nur im großen Stil. Es fing mit „Erinnerungen“ an (manche Offiziersfrauen tragen diese Souvenirs noch heute), und es hörte mit Waggonladungen auf. Der gemeine Mann, ein getreuer Diener seines Herrn, hätte es anstandslos ebenso gemacht, wenn er nur gekonnt hätte. Angewidert wurde man durch die große Geste der Reinheit, die der deutsche Nachrichtendienst bei den Engländern gerne „cant“ nannte: kühl, herausfordernd unliebenswürdig, pochend auf Reinheit – und dann doch korrumpiert. Als die Russen aus Warschau abgerückt waren, schwebte ein kleiner jüdischer Apotheker in tausend Ängsten. Er verließ seine Familie, als die Deutschen kamen, um Fühlung zu nehmen. Und kam nach einer halben Stunde wieder, triumphierend, auf beiden Beinen hüpfend und heiter bewegt. Und rief: „Sie nemmen! Sie nemmen!“ Sie haben überall genommen.

Unter dem Pseudonym Ignaz Wrobel im Jahr 1919

Von kleinen Mädchen

Nach Merkur wollen wir Aphroditen die Ehre geben.

Wie bekannt, schickte die Heimat, als es mit dem „Menschenmaterial“ bereits haperte, Mädchen und Frauen ins Heer. Diese weiblichen Hilfskräfte machten bitterböses Blut unter den Soldaten, weil sie wesentlich höher entlohnt wurden, also von der allgemeinen Wehr- und Arbeitspflicht befreit waren, und weil … erröte, Leserin.

Wir wollen uns hier richtig verstehen: es ist selbstverständlich, dass Mädchen unter Männern nicht immer unberührt bleiben, und es wäre doppelt töricht, das zu leugnen, weil wir ja alle wissen, dass neben der Ehe die nicht sanktionierte Liebe eine Selbstverständlichkeit ist. Nicht also darum handelt es sich, dass die jungen Damen mit zarteren Banden als durch die des Vertrages ans Heer geknüpft waren, nicht darum, daß sich so eine Art Weibertroß herausbildete: bezeichnend für die Moral und den Geist der deutschen ehemaligen Armee war nur, wie das geschah.

Die weibliche Hilfskraft war reserviert und trug ein Schild. Nur für Offiziere. Dieses Prinzip wurde häufig durchbrochen, denn auch der Feldwebel war ein Mann. Bezeichnend aber war eben dies, wie auch hier wieder Offiziere, Unteroffiziere und der Mann auf Druckposten ganz unbedenklich Mittel und Gegenstände ihres Dienstes für die Mädchen, also für sich, gebrauchten. Miles, einer der unantastbar anständigen Offiziere, fragte neulich, ob es denn so schlimm sei, wenn der Mann, der vorne Tag und Nacht im Schützengraben gehockt habe, nun wirklich einmal auf Ruhe in Brüssel die Nacht mit einer Tochter der Freude verbracht habe. Aber gar nicht. Aber viel Vergnügen! Schlimm ist nur, dass erstens einmal der Etapperich das bedeutend schlimmer trieb (und auch der war deutscher Offizier!), und dass sich zweitens auch hier das Achselstück breit machte. Wie oft haben die vielgehaßten Reservebolzen unter den Offizieren vor weiblichen Landeseinwohnern die eigenen Leute heruntergeschimpft, nur um sich zu zeigen. Ein Pfau schlägt zu diesem Behufe ein Rad.
Im Osten stellte sich ein Rittmeister vor die (nicht einmal reichsdeutschen, sondern aus Riga geholten) Helferinnen und machte ihnen klar, dass die Kluft im deutschen Heere zwischen Offizier und Mann größer sei als im russischen, und sie sollten nicht mit den Kerls und mit den Unteroffizieren verkehren. „Sie gehören zu uns Offizieren!“

Das Verhältnis der Offiziere zu den Landeseinwohnerinnen war entsprechend. Entweder brutal oder zuckrig-galant. Aus dem voriges Mal angezogenen rumänischen Bericht:

„Mit den Mißständen, die bei der Durchführung der wirtschaftlichen Zwangsmaßnahmen grassieren, hängt eng zusammen das Kapitel „Frauen“. Der kleine Bürgersmann sieht mit Ingrimm und Neid, wie gut es manche Familie hat, bei der Offiziere der Besetzungsmächte ein- und ausgehen! Da werden noch Kuchen gebacken; da wird noch guter Wein getrunken; da gibt es Fleisch und Gemüse und andre Dinge, die längst vom Tische derer verschwunden sind, die nicht in der Lage oder nicht gesonnen waren, ihr patriotisches Empfinden und Gebaren solchen materiellen Annehmlichkeiten zum Opfer zu bringen. Überhaupt zieht sich durch alles, was hier schlecht und faul ist, was die Deutschen unter das Sammelwort ›Schiebung‹ registrieren und was uns Rumänen von ihnen sagen läßt „Sunt ca si noi“, wie ein roter Faden das Thema „Weib“.

Der Einfluß des schlechten Offiziersgeistes auf die deutschen Helferinnen war, um ein beliebtes Leutnantswort zu gebrauchen, „verheerend“. Ein großer Teil der jungen Damen ist in Grund und Boden verdorben nach Hause gekommen. Nicht etwa, weil sie geliebt haben. Sondern weil sie gesehen haben, daß der Mann ihnen – ohne viel Arbeit – alles bot, dass Deutscher auf Deutschem herumhackte, weil der Offizier ihnen in besetzten Schlössern, mit unterschlagenen Lebensmitteln, mit widerrechtlich erzwungenen Arbeitskräften, in widerrechtlich angeeigneten Wagen und Equipagen ein Leben vortäuschte, das zu Hause die Eltern ihnen niemals bieten können. Der deutsche Offizier, und mit ihm die Chargen, haben es meisterhaft verstanden, Huren wie Damen und Damen wie Huren zu behandeln.
Und das alles drang nicht ins Volk? Und das war nicht schon in Kriegszeiten bekannt? Denn der Kompost stank doch zum Himmel, jeder wußte allenthalben, was ausgefressen wurde – viel, viel mehr, als hier dünn skizziert ist … Und die Heimat?

Sie ertrank rettungslos, hoffnungslos in dem Phrasen- und Hurra-Nebel des Vaterländischen Unterrichts, den der Soldat erst in den letzten Kriegsjahren, der Zivilist eigentlich sein ganzes Leben lang genossen hatte. Ihn, den Vaterländischen Unterricht, wollen wir nun näher betrachten.

Unter dem Pseudonym Ignaz Wrobel 1919

Vaterländischer Unterricht

Wir haben gesehen, dass bei der alten deutschen Armee in der Verpflegung, in der Behandlung der Mannschaften durch die Offiziere, in Verwaltungsangelegenheiten die schlimmsten Mißstände geherrscht haben. Es bleibt nach wie vor verwunderlich, dass die deutsche Öffentlichkeit nicht vor dem Zusammenbruch darein, Einsicht bekam, umso mehr, als doch viele Soldaten ganz offen die allgemeine Verrottung erörterten.

Die vergiftende Arbeit des berüchtigten Kriegspresseamts hat hier das ihre getan. Wie diese traurige Behörde (übrigens ein Dorado aller reklamierten Reichen) die Zeitungen und die Landsleute in der Heimat behandelt und belogen hat, haben andre aufgezeigt. Der Laden der Luisenstraße wirkte aber auch vor allem ins Heer; wer zuerst Ludendorff den Gedanken eingegeben hat, die Soldaten über das Elend und den Jammer mit Flugschriften und Phrasen, mit Feldzeitungen und Reden hinwegzutäuschen, steht dahin: nach den ersten Kriegsanleihen begann jedenfalls ein prasselndes Agitationsfeuer über das Heer hereinzubrechen.

Die Taktik des Vaterländischen Unterrichts war wie die alte deutsche Regierung: hinterhältig, von oben herab und durchtränkt von der Unterschätzung aller Menschen, die nicht Offiziere und Regierungsassessoren waren. Daß man den armen Soldaten, die froh waren, wenn sie etwas zu essen hatten, ihren Urlaub bekamen und einmal aus dem allgemeinen Tanz heraus waren, falsche Zahlen über den U-Boot-Krieg und über Amerika auftischte, mochte hingehen – das tat man mit der Heimat auch nicht anders, und das Klappern gehörte schließlich zum schmutzigen Handwerk.

Widerwärtig war nur, wie man versuchte, mit Gewalt und mit albernen Darlegungen dem Soldaten einzureden, das sei eine herrliche deutsche Weltordnung, die da dem einen alle Mühe und dem andern allen Lohn zuwies.

Es gaben sich zu dieser schändlichen Tätigkeit fast alle deutschen Professoren – besonders die Philosophen – und fast alle bekannten Schriftsteller her. Die sogenannten „Literaten“ hielten sich von diesem Gewerbe meist fern, was zu ihrer Ehre gesagt werden muß. Der große Teil der Publikumslieblinge aber tat – reklamiert oder aus freier Neigung oder des Geldes wegen – mit und log das Blaue vom Himmel herunter über die Minderwertigkeit der Feinde und über die gottgefällige Verfassung des deutschen Heeres.

Der Vaterländische Unterricht bediente sich mannigfacher Kanäle, durch die er in das Heer sickerte.

Da waren zunächst die Feldzeitungen. Die ersten deutschen Feldzeitungen sind hübsche, nette Publikationen gewesen, mit nicht mehr Patriotismus, als eben grade notwendig war, mit viel Ulk und wenig Roheit, mit wenig Phrasen und viel gesundem Humor. Als die Feldprediger und die philologischen Reserve-Offiziere und die politisierenden Generalitäten aber das Ding in die Hand nahmen, stieg aus diesen Blättern – es gab annähernd fünfzig – eine unsagbare Scheußlichkeit auf. Nur wenige hielten sich von der allgemeinen Schlammflut frei: die Feldzeitung der vierten Armee tat ihr Mögliches, der „Champagne-Kamerad“ war eine literarische Ehrentat, und so gab es noch hier und da weiße Raben. Aber auch sie waren gezwungen, die Lügen und Verdrehungen des offiziellen Nachrichtendienstes abzudrucken, sonst hätte man sie verboten. Man war gradezu darauf aus, die Tendenz überall ins Alldeutsche zu kehren: ein Zeichner der großen Zeitung der zehnten Armee, eines Blattes von schwer alldeutscher Prägung, das zu Wilna erschien, wurde, wenn er Wilson porträtierte, stets angewiesen, ihn recht jüdisch aussehend zu zeichnen. Dabei waren die Militärs, wie immer, wenn sie politisieren, feige: im Februar 1918 fand in Kowno eine Pressekonferenz statt, deren Protokolle nachträglich nicht mehr aufzutreiben waren. Es war eine große Sache gewesen, man hatte sich sogar zum Empfang der Pressevertreter aller östlichen Feldzeitungen einen Generalleutnant verschrieben. Ich erfuhr später von einem Kameraden, der teilgenommen hatte, was der langen Rede kurzer Sinn gewesen war: die Feldzeitungen sollten sich die Sätze der Vaterlandspartei gesagt sein lassen, nicht etwa als offizielle Richtlinien, aber man verstünde doch hoffentlich … Man verstand.

Die Bearbeitung der Leute, hieß es im Reichstag, sei streng unpolitisch. Wer alles da die Kühnheit gehabt hat, so frech zu lügen, lohnt sich kaum aufzuzählen. Es kann keinen preußischen Kriegsminister gegeben haben, der nicht wußte, wie die Offiziere gegen den Reichstag hetzten, als dieser das Schlimmste wollte, was es für sie gab: den Frieden. Ich habe einmal mitangehört, wie ein kleiner rabiater Leutnant, ein Koksreisender aus Ostpreußen, vor der Front auseinandersetzte – es war aber in der tiefsten Etappe –: „Der Reichstag will den Frieden, und da lassen wir uns hier die Kugeln um die Ohren pfeifen“ –

Was den vaterländischen Vorträgen jede Wirkung nahm, war, dass auch der letzte Mann fühlte, wie wenig der Offizier mit dem Herzen bei dem war, was er da vortrug. Es war ihm ja sichtlich gleichgültig, und die schneidig herausgekrähte Drohung, Amerika zu zerschmettern, und die hingenäselten großen Worte von deutscher Treue werden auch nicht immer die gewollte Wirkung gehabt haben. Einmal stand die Kompanie auf dem Hof zur Empfangnahme des Vaterländischen Unterrichts, und der Kompanieführer hielt eine einleitende Rede, in der er ungefähr sagte: „Und wenn ihr nicht pariert, dann gibt es ja noch Zuchthäuser in Deutschland! In Gruppen rechts schwenkt, ohne Tritt, marsch!“

Den Offizieren fehlte eben jede Verbindung mit dem Mann. Als Mudra in der achten Armee – es war im Herbst 1917, und die Lebensmittelknappheit hatte grade begonnen – den Ausfall zweier Abendportionen in der Woche angeordnet hatte, stellte sich ein junger Oberleutnant vor die Kompanie und setzte den Leuten diese Maßnahme sehr verständig und klar auseinander. Er sagte, die ersparten Portionen kämen den Schwerarbeitern in der Heimat zugute, und wir müßten alle zusammenhalten. Das machte Eindruck. Aber es war alles zerblasen, als wir erfuhren, wohin der junge Herr nach der Rede gegangen war: in das Schloß, in dem die „Herren“ lagen; dort aß er ein Abendbrot aus reichlichen Gängen. Und es wurde gut gekocht, im Schloß …

Was sich der deutsche Offizier eigentlich vom Mann gedacht hat, dass er ihn so sinnlos unterschätzte und ihn für so unmenschlich dumm und blind hielt, habe ich nie ergründen können. Auch diejenigen, die die ganze Stufenleiter vom Mann bis zum Leutnant durchgedient hatten, sahen den „Kerl“ als ein Wesen niederer Art an; die Zeit, die sie dem Mannschaftsstande angehört hatten, rechnete nicht, es war eine Übergangszeit gewesen. Für den Mann hatten sie Phrasen oder Gewalt übrig, von Herz zu Herz sprach kaum einer. Was ist das für eine Sprachmelodie:

„Was uns auch das vierte Kriegsjahr bringen möge, eins steht bombenfest: wir lassen die Hunde von Negern, Englishmens, Franzosen, Zulukaffern und Kosaken nicht in die deutschen Gaue rein, solange wir noch eine schwere Artillerie und Flieger haben. An dem Tage, wo uns unser Kaiser und oberster Kriegsherr und Vater Hindenburg zurufen sollten: „Auf nach Petersburg, nach Paris oder London und die Nester zusammengeschossen und ausgeräuchert, damit der Feind endlich Ruhe gibt und Frieden macht !“, möchte ich grade bei euch sein und mit euch das erlösende Hurra schreien, und ich wüßte mir nichts Lieberes, als dem Fußartillerie-Bataillon als Flieger voran zu fliegen und ihm Weg und Ziele zu zeigen.“

Es ist ja nicht wahr, dass der deutsche Soldat „das haben will“, dass er „das braucht“ Vielleicht war das 1870 so, als verhältnismäßig wenig gebildete Leute unter den Mannschaften waren. Diesmal aber ist die ganze Intelligenz, und meist in den niedersten Chargen, mit zu Felde gezogen, und daher wird es auch wohl kommen, dass dieser glorreiche Krieg einen so kleinen Heiligenschein trägt …

Im schlechten Sinne deutsch war das Ganze, der Vaterländische Unterricht und der uralte verderbliche Aberglaube, man könne mit Verfügungen, (die immer einer dem andern weitergab und die keiner ausführte) irgend etwas, die Gesinnung betreffend, erreichen. Es fiel manchen Offizieren auf, dass nicht alles in Ordnung war. Aus einem Befehl:

„Wie stumpfsinnig und gleichgültig eine Truppe werden kann, habe ich heute morgen auf dem Marktplatz beobachtet, wo zahlreiche Leute, die nichts zu tun hatten, umherstanden und in einem Augenblick, in dem ein Flugzeug in sehr geringer Höhe stark schwankend und immer wieder von neuem Gas gebend den Marktplatz überflog, zu faul waren, diesem auch für jeden Laien interessanten Vorgang mit den Augen zu folgen. Nicht ein einziger zeigte, dass in seinem Verstand oder in seiner Seele auch nur eine Spur von Teilnahme an auffälligen und in nächster Umgebung sich abspielenden Vorgängen vorhanden war. Jeder blickte stumpfsinnig wie eine Kuh oder wie ein Ochse in irgendeine Ecke und das stundenlang. Das sind Anzeichen, die jedem Vorgesetzten unter allen Umständen erneut zu denken geben müssen, und die ihn dazu veranlassen müssen, sich sofort auf das Büro zu begeben und dort ein gründliches Programm zu entwerfen, welches geeignet ist, energisch Wandel und Abhilfe zu schaffen.“

Vom Büro aus führt man keine Soldaten. Es hieß zwar dann weiter, man müsse mit den Leuten reden, ihnen ins Auge sehen … Du lieber Gott! wer hatte von den Offizieren Zeit oder Lust dazu? Das Offiziersleben und das Mannschaftsleben waren zwei ganz verschiedene Sachen.

Ich habe in den vorstehenden Kapiteln einige Einzelzüge aus den Hauptgebieten des soldatischen Lebens gestreift, von denen ich glaube, dass sie nicht zum wenigsten an dem allgemeinen Zusammenbruch, der so überraschend schnell gekommen ist, schuld sind. Die Frucht war reif und fiel vom Baum.

Was aber immer wieder nachwachsen kann, was in all diesen elenden Jahren bezeichnend für das deutsche Unwesen war, was heute noch keimt und doch nie wieder zur Blüte kommen soll, das sei mir erlaubt in dem Schlußwort zu sagen, in dem gezeigt werden soll, warum die Deutschen auf ihre Armee auch im Frieden so übermäßig stolz waren, und warum sich noch der letzte Bezirksvereinsvorstand in die Brust warf und schmetterte: „Unser Militär!“

Unter dem Pseudonym Ignaz Wrobel im Jahr 1919

Unser Militär

Das rekelt sich und gähnt und sauft und hurt
und tut (versteht sich) Dienst voll Zucht und Strenge.
Ein Lustspiel von der Menge für die Menge.
So sieht Welt aus vor der Person Geburt.

Christian Morgenstern

Die Offiziere tragen immer Handschuhe, wenn sie auch schmutzig sind.

Regiebemerkung zu einem Theaterstück

Wir haben in den vorigen Heften der „Weltbühne“ betrachtet, wie es in der deutschen Armee zugegangen ist: ein trüber Haufe voller Qual und Greuel, Weltenklüfte zwischen Offizier und Mann, Unterschlagung und Diebstähle von Lebensmitteln zugunsten der höhern Ränge, Requisitionen ohne Ziel und Maß, falsche Schwäche und falsche Härte den fremden Landeseinwohnern gegenüber, Vaterländischer Unterricht, Mantel der Lüge über all den Jammer und alle Verbrechen: „Unser Militär“. Aber unbeirrbar steht der deutsche Spießer, nein, der deutsche Bürger da, der Patriot quand-même er wirft sich in die Brust, Abner der Deutsche, der nichts gesehen hat, und als seien Krieg und Zusammenbruch nicht gewesen, ruft er stolz tönend in die Lüfte: „Unser Militär!“

Wie ist das zu erklären? Wie kann ein Volk gedeutet werden, das nach allem, was geschehen ist, nach allem, was es erfahren und gelitten hat, den verlorenen Krieg als einen kleinen Betriebsunfall ansieht – „Reden wir nicht weiter darüber!“ –, und das heute, heute am liebsten das alte böse Spiel von damals wieder aufnehmen möchte: die Unterdrückung durch aufgeblasene Vorgesetzte, ein Deutscher tritt den andern und ist stolz, ihn zu treten, die schimmernden vergötterten Abzeichen, der Götze Leutnant – „unser Militär!“ Wie ist das zu erklären?

Die militaristische Schande Deutschlands ist nur möglich gewesen, weil sie die tiefsten und schlechtesten Instinkte des Volkes befriedigt hat.

Der Deutsche läßt sich für jede Arbeit, die er gewissenhaft und gut verrichten soll, mit Respekt überzahlen. Er arbeitet, aber er will dafür ästimiert werden. Ich sage absichtlich nicht „geachtet“ – daran liegt ihm gar nichts. Er will ästimiert werden; das Schartekenwort besagt: man soll den Hut vor ihm ziehen und das Maul ehrfurchtsvoll aufsperren. Er tritt dann aus seinem kleinen Bürgerdasein heraus, wie Heinrich Mann das in der Bibel des Wilhelminischen Zeitalters, im ›Untertan‹, formuliert hat: „Er genoß einen der Augenblicke, in denen er mehr bedeutete als sich selbst und im Geiste eines Höheren handelte.“

Der Soldat hat dafür das Wort: „Dienst ist Dienst, und Schnaps ist Schnaps“ erfunden – aber es war doch Schnapsdienst, der da herauskam.

Der Wurm, der an aller Herzen fraß, war eine ungeheure, lächerliche Selbstüberschätzung in der Arbeit. Ob Architekt oder Bürovorsteher, Eisenbahnassistent oder Apotheker, Oberlehrer oder Prinzipal – sie alle waren beseligt, einmal, ach, nur ein einziges Mal, auf einen andern heruntersehen zu können, und wär es auch nur ein Laufbursche gewesen.

Dieser unselige Drang feierte Orgien im deutschen Heer. Da wurde einem kein neues Amt übertragen – da wurde einer „befördert“: Gottlieb Schulze wachte eines Tages auf und war Oberschulze und Herr und Gebieter über die Seelen seiner Mitschulzen. Da blühten die giftigsten Früchte. Da konnte der Vizefeldwebel dem Unteroffizier, der Major dem Hauptmann eins auswischen, ohne dass der Gescholtene muckste: der Dienst! der Dienst! Rangerhöhung färbte noch auf die Familie ab; welcher Stolz, wenn ein Medizinmann der Gattin zeigte: „Der Mann da drüben ist mein Unterarzt!“ Seiner … Und diese Wallenstein-Pose behielten alle bei, davon lebten sie; sie taten, als hätten sie „ihre Leute“ angeworben, als folgten die freiwillig dem erkorenen Führer. Und hinter den alten Ritterkulissen schacherten und betrogen wildgewordene Kaufleute und Beamte.

Muß das sein? Werden wir ewig Vaterlandsliebe mit Patriotismus, Ordnung mit Kadavergehorsam, Pünktlichkeit mit Sklaverei, jedes Ding mit seiner Karikatur überzahlen müssen? Gibt es zwischen Schludrigkeit und dem berüchtigten preußischen Unteroffizier kein Mittelding?

Es gibt eines, und in ihm liegt das Heil der Welt und die Genesung dieses unglücklichen, verblendeten Landes. Und es heißt: Sachlichkeit.

Der Sturm ist vorübergebraust – der deutsche Spitzweg-Bürger steckt die Nase zum Fenster heraus, dann den ganzen Kopf und spricht frohbewegt: „Aber es regnet ja gar nicht mehr!“ Und nimmt den alten Stock und den alten Hut …

Schlagt sie ihm herunter! Laßt nie, nie wieder diese Burschen aufkommen, die euch gemartert haben und gequält und gedemütigt und kujoniert!

Sie zittern und gieren auf den Augenblick, da eine neue Kompromißregierung das neue Volksheer errichtet – „natürlich nur ein geordnetes Heerwesen mit festen Befehlsverhältnissen“.

Selbstverständlich. Sie pfeifen auf alle Prinzipien. Sie stehen auf dem Boden des neuen Staates. Und der Unteroffizier wird wieder den Rekruten ins Kreuz treten – natürlich auf demokratischer Grundlage. Aber diesmal treten wir wieder.

Wir erwarten gar nicht, dass eine Generation, die nur leben konnte, wenn sie sich maßlos eitel und aufgebläht in ihrer Arbeit überschätzen und vergöttern ließ, den alten Schleppsäbel abtut und vernünftig und menschlich wird. Sie ist unheilbar. Wir wollen ihr die Untertanen entziehen. Wir wollen, dass es keine Menschen mehr gibt, die sich gefallen lassen, was jene mit der Miene der Gottähnlichkeit verhängten. Wir sind frei.

Wir warens nicht. Wie jämmerlich die Einwände, wie spießig der läppischste von allen: „Man darf nicht verallgemeinern.“ Und doch war alles so gemein …

Freilich: dem ist nicht mit Gerichtsverhandlungen beizukommen. Als damals Rosa Luxemburg von den Soldatenmißhandlungen schrieb, da sperrten sie sie ein, weil sie nicht gerichtsnotorisch machen konnte, was sich in abgesperrten Kasernenhöfen an Bestialitäten abgespielt hatte. Aber nie wird sonnenklar zu beweisen sein, was mit so viel Feigheit, mit so viel raffinierter Brutalität, mit so viel Macht ausgefressen wurde. Ich habe in meinen Skizzen absichtlich keine Namen genannt, was kommt es auf Namen an! Der Feldwebel Nowotnik und der Leutnant Peters und der Hauptmann Dorbritz – wer kümmert sich denn hier um die! Um was hier gekämpft wird, das ist die Freiheit des Deutschen, das ist der unerschütterliche Glaube, dass es – auch beim Militär – keine Vorgesetzten außer Dienst gibt. »Disziplin ohne moralische Einsicht ist eine Absurdität«, hat Jakob Wassermann einmal gesagt. Nun, das deutsche Heer war absurd.

Schon regt sich allerorten die Erkenntnis, schüchtern keimen junge Knospen.

Im „Tag“ – man denke: im „Tag“! – erzählt am neunundzwanzigsten Januar Hauptmann z. D. Paschke vom Leben der höhern Stäbe im Felde, wie sie doch nicht immer so einfach und bescheiden gelebt hätten, wie sie an sich und nur an sich auf Kosten der kämpfenden Truppe gedacht hätten; im „Militärwochenblatt“ berichtet in der Nummer 28 vom dreißigsten Januar ein General – er zeichnet K. –, wieviel unsaubere Elemente im deutschen Offizierkorps gewesen seien; in der“›Hilfe“ spricht am sechzehnten Januar Miles – ein wegen seines Freimuts im Kriege verfolgter Offizier – von den Flecken, die die militärische Sonne verunzierten; in einer Flugschrift: „Warum erfolgte der Zusammenbruch an der Westfront?“ registriert Otto Lehmann-Rußbüldt die Leiden und Qualen der gemeinen Soldaten; im Dezemberheft der „Süddeutschen Monatshefte“ gibt ein Oberarzt, der vierzig Monate an der Westfront gestanden hat, seine trüben Erlebnisse über die Verpflegung der Offiziere und die der Mannschaften zum besten. Dämmert es?

Es sind nicht nur „Fälle“ vorgekommen. Es sind beileibe nicht nur die Offiziere gewesen. Die Unteroffiziere habens nicht besser getrieben, der abkommandierte Mann nicht, wenn sie nur gekonnt haben.

Es war also nicht diese Schule der sittlichen Erziehung, von der die Fibeln und Schullesebücher und Reichstagsreden uns berichtet haben. Es war also nicht die Blüte der Nation, die da als Erzieher und Erzogene herumliefen: diese alten Unteroffiziere, die vom Leben außerhalb der Kaserne nur etwas Unterrock kannten, die aktiven Offiziere, die die Welt – auch die außerdeutsche – in „Re’ment“ und „Zivil“ einteilten, diese Reserve-Offiziere, die auf einmal zu fühlen begannen, wie doch auch sie zur Herrlichkeit geboren seien, und die ihr eigenes deutsches Nest beschmutzten, indem sie auf frühere Kollegen und Kameraden des Geistes traten.

Der lügt, der sagt, das müsse so sein. Man hat viel in der letzten Zeit um den Erlaß über die Kommandogewalt debattiert – man spricht von Neuordnung und vom deutschen Volksheer. Hier hat eure Weisheit ein Ende, denn mit Verordnungen ist hier nichts getan.

„Aber wir brauchen das!“ – „Aber es wird stets Offiziere geben!“ Gewiß – nur, wenn die Deutschen wollen, nie mehr solche. Wer wehrt sich denn gegen sachliche Befehle und ihre Ausführung? Wer will denn nicht einem Führer folgen, wenn der nur einer ist? Deutschland baue sich eine Armee – aber in aller Zukunft wird keiner von uns bereit sein, sich von einem andern Deutschen – und trage er am Leibe allen Farbenschmuck eines Papageis – mit Füßen treten zu lassen; keiner wird andern als sachlichen Befehlen folgen, und jeder wird von dem Vorgesetzten verlangen, dass er die gleichen Mühen ertrage und den gleichen guten Willen zur Arbeit zeige wie der, von dem er sie fordert.

Mögen sich die Korps an der Ostgrenze zunächst ihre Satzungen nach eigenem Willen aufstellen. Das neue Heer, das mit jenen nichts gemein habe, sei die Schule des freien Mannes, eine lebende Einheit von Offizieren und Mannschaften. Ein Bruch mit der alten Armee – das sei die neue. Der lächerliche Gruß-Erlaß ist kein froher Anfang. Der Offizier sei ein befehlender Kamerad. Das geht nicht? Dann lernts. Rücksichtslose Ausmerzung aller Früchte vom alten Stamm, gänzliche Abschaffung der alten Kommandogewalt, ein Wirbelwind fege die „Herren“ hinweg und setze Männer an ihre Stelle.

Und alle die Sprüche vom Vogel, der sein eigenes Nest beschmutzt, vom geschlagenen Riesen, der am Boden liegt, können uns nicht darüber hinwegtäuschen, dass das, was hier geschehen ist, eine schmerzhafte, aber heilsame Operation am deutschen Volkskörper gewesen ist. Es mußte gesagt werden, und es mußte jetzt gesagt werden. Die Gesinnung des deutschen Offiziers hat nichts getaugt, der Geist des deutschen Militärs hat nichts getaugt. Wir reißen sie aus unserm Herzen – wir spielen das Spiel nicht mehr mit.

Ein Scherbengericht? Anklage und Urteil?

Die Vorrangstellung des Offiziers im deutschen Leben ist dahin. Die viereinhalb Jahre sind dagewesen – darüber kommt kein Mann hinweg.

Es geht ja letzten Endes nicht um Paragraphen und Soldatenräte und um Verfügungen und Erlasse und Kompromisse und Vermittlungen. Es geht um die Wurst.

Wir Deutsche zerfallen in drei Klassen: die Untertanen – die haben bisher geherrscht; die Geistigen – die haben sich bisher beherrschen lassen; die Indifferenten – die haben gar nichts getan und sind an allem Elend schuld.

Und mit derselben Macht und mit derselben Faust wie die bunten Burschen, aber getrieben von strömendem Herzblut, ringen wir um die schlafenden Seelen Deutschlands. Land! es gibt Höheres, als vor der Geliebten mit einem Rang zu prunken! Land! wir Deutsche sind Brüder, und ein Knopf ist ein Knopf und ein Achselstück ein Achselstück. Kein Gott wohnt dahinter, keine himmlische Macht ist Menschen gegeben. Doch: eine. Die Menschen zu lieben, aber nicht, sie mit Füßen zu treten.

Wir speien auf das Militär – aber wir lieben die neue, uralte Menschlichkeit!

Unter dem Pseudonym Ignaz Wrobel 1919

Zur Erinnerung an den ersten August 1914

Die Ausführungen, die unter dem Titel „Militaria“ in den Nummern 2 und 4 bis 9 dieses Jahrgangs der „Weltbühne“ erschienen sind, haben in der deutschnationalen Presse keine ernsthafte Kritik, wohl aber Beschimpfungen hervorgerufen. Der deutsche Offiziersbund zu Berlin hat an den preußischen Kriegsminister die Anfrage gerichtet, ob es nicht möglich sei, gegen mich wegen dieser Ausführungen Strafantrag zu stellen.

Die Aufsätze enthielten folgende Behauptungen:

Die Stellung des deutschen Offiziers zum Mann war etwa die eines Dresseurs zu einem verprügelten Hund. Das Offizierkorps hat sich im Kriege auf dem Dienstwege Verbesserungen in der Verpflegung verschafft, die ihm nicht zukamen. Das Offizierkorps hat von unrechtmäßigen Requisitionen seiner Angehörigen gewußt und hat sie stillschweigend geduldet. Der deutsche Offizier hat in sittlicher Beziehung im Kriege versagt. Der Geist des deutschen Offizierkorps war schlecht.

Meine Gegner wiederholen nun bis zur Erschöpfung ihren einzigen Einwand, aus dem hervorgeht, dass wir uns nicht verstehen: Man dürfe nicht generalisieren, sagen sie. In den vielen entrüsteten Briefen, die der Herausgeber und ich erhalten haben, kehrt das immer wieder. Wenn wirklich, heißt es dort, einige oder selbst viele Offiziere – wie zugegeben sein mag – solche Dinge begangen haben, so ist damit noch lange nicht gesagt, dass das gesamte deutsche Offizierkorps solche Vorwürfe verdient, wie sie hier erhoben worden sind.

Den Deutschen ist besonders seit dem Jahre 1870 systematisch eine Hochachtung vor dem Offizier eingebleut worden, die dem schlecht bezahlten Soldatenführer über seinen pekuniären Kummer hinweghelfen sollte, und die an Ehren gab, was der Staat an Geld zu geben nicht imstande war. Der preußische Leutnant wurde wohl angewitzelt, im Grunde aber heimlich bewundert. Seine sogenannten Ehrbegriffe galten Studenten, Beamten und höhern Handlungsbeflissenen als vorbildlich. Kamen Verfehlungen von Offizieren vor, so wurden sie vertuscht; mußte jemand wirklich einmal aus dem Offizierkorps hinausgetan werden, so geschah das in aller Heimlichkeit.

Der Geist des deutschen Offizierkorps war auch vor dem Kriege nicht gut. Um alle die seit Generationen geltenden Vorurteile seiner Kaste aufrecht zu erhalten, wurde der Offizier in künstlicher Isoliertheit gehalten und nahm am tätigen Leben so gut wie gar nicht teil, wenn man von Pferderennen und der Verbindung mit Wucherern absieht. Man glaubte, die Disziplin auf dem Kasernenhof und den Truppenübungsplätzen nur mit der Fiktion aufrecht erhalten zu können, dass man den Offizier für ein höheres Wesen in und außer Dienst, ganz besonders außer Dienst, anzusehen befahl. Der deutsche Offizier war gewöhnt, in dem „Kerl“ – anders wurde der Deutsche, der seiner Wehrpflicht genügte, von seinen militärischen Vorgesetzten kaum genannt – ein Wesen minderer Art zu sehen.

Dieser schlechte Geist zog sich bis tief in das Bürgertum hinein und verdrehte auch hier die Köpfe. Er erzog die Leute, nur auf den äußern Erfolg zu sehen, und eine Beförderung galt in diesen Kreisen so viel wie ein Gottesurteil. Sie wußten alle, wie sie zustande kam, kannten den Strebergeist, der seit Wilhelm dem Zweiten das Heer korrumpierte, und kannten die Schleichwege der Schiebung und der guten Beziehungen, auf denen der Erfolg zu erreichen war. All das war aber vergessen, wenn er sich eingestellt hatte, und es wurde das ernst genommen, was man mit unlautern Mitteln jeden Tag erlangt sehen konnte. Es bestand die große kulturelle Gefahr, dass ein schlecht erzogener Soldat seine ganze Familie verdarb. Die Braut stolzierte doppelt stolz am Sonntag mit ihm einher, weil „Ihrer“ seine Untergebenen anschnauzen und nachlässig grüßen durfte, die Frau Feldwebel sah wohlwollend auf die Frau Unteroffizier herunter – und dieser ganze kindliche Kasperlkram ragte bis hoch hinauf in die Kreise der Stabsoffiziere.

Die Reserve-Offiziere standen dem nicht nach. Durchdrungen von der erheblichen moralischen Minderwertigkeit ihrer selbst gegenüber den „richtigen“ Offizieren, bemühten sie sich wenigstens, ihren unerreichbaren Vorbildern so nahe wie möglich zu kommen, und parodierten und karikierten mit mehr oder weniger Ungeschick den schneidigen Leutnant. Sie erstarrten gleichsam zu Salzsäulen, wenn sie, Oberlehrer oder Juristen, ins Kasino kamen – sie wurden offiziell, und etwas blieb für ihr bürgerliches Leben auf immer haften.

Die Deutschen fühlten sich nicht allzu unwohl dabei. Sie empfanden kaum die unerhörte Erniedrigung, die darin lag, dass ein Kreis mäßig begabter Landsleute, durch den Ring des Standesbewußtseins fest von der Welt abgeschlossen, es unternahm, sie derart zu verachten. Die Gebildeteren unter den Dienenden – die Einjährigen – halfen sich mit Spaß und guten Mienen über das böse Spiel hinweg bis zu dem Zeitpunkt, wo sie selbst die Achselstücke erhielten, und bemühten sich dann, es den aktiven Offizieren in Verachtung ihrer eignen bürgerlichen Standesgenossen gleichzutun.

Das geistige Niveau des deutschen Offiziers aus der Zeit vor dem Kriege ist als kläglich zu bezeichnen. Der Verteidiger den Kaste zieht hier gern den Generalstab und die militärischen Akademien heran. Das ist irreführend. Die Angehörigen dieser Anstalten machten nur einen winzig kleinen Bruchteil des ganzen Offizierkorps aus, und es steht noch dahin, ob auch sie in ihrer Gesamtheit die Ansprüche erfüllten, die man an einen Menschen von universeller Bildung zu stellen gewohnt ist. Vor allem ist der Durchschnitt – also der Linien-Offizier – für den Beurteiler in Betracht zu ziehen.

Vor mir liegt ein Wettbuch aus dem Kasino einer Dragonerkaserne in einer kleinen Stadt Ostpreußens. Es ist im Jahre 1907 angelegt worden und wurde bis zum Jahre 1914 fortgeführt. Die Personennamen im folgenden sind fingiert. Da heißt es:

„Oben stehende Zuckerdose (Zeichnung) steht bei Schackelmann, Mißhusen behauptet: Wenn bei dieser Dose die Stange A grade ist, geht der Deckel genau ebenso weit aufzumachen, als wie es jetzt der Fall ist. Leutnant Wientoch bestreitet dieses. Gegenstand: 25 Flaschen Biesinger.

Mißhusen behauptet, er könne während der Dauer einer Schleppjagd das Monokel im Auge behalten, Schlitz wettet dagegen. Hintertüren sind abgeschlossen, kontrollieren darf jeder Mitreitende. Gegenstand: eine Pulle Biesinger. – Mißhusen gewinnt.

Schempin behauptet, dass Müller Ostermann keinen Kuß geben würde, Müller tut es trotzdem vor Zeugen und gewinnt einen Schnaps.

Wippermann, Hente und Hietschler sitzen im Café. Keine kleinen Mädchen. Musik à la Stadtmusikanten von Bremen. Man zählt die Fensterscheiben der Boxwände. Wippermann behauptet, dass in einer Wand höchstens 80 Scheiben sind.

Hente meint: mehr. Gegenstand: eine Drokner. Hente gewinnt, da 82 Scheiben.“

Nimmt man die Zote aus der Gegend des Wirtshauses an der Lahn hinzu, so hat man das Bild einer Kasino-Unterhaltung und hat die geistigen Interessen der Edelsten der Nation.

So wenig es möglich ist, über eine Rasse ein abschließendes gerechtes Urteil zu fällen, weil zu viele Vermischungen, Abschwächungen und Abweichungen vom Typus vorkommen, so leicht ist es, eine soziale Institution sauber zu rubrizieren. Der preußische Offizier stellte als Ideal eine ganz bestimmte Erscheinung auf, und mit dieser Erscheinung gilt es sich zu beschäftigen.

Eben das, was man gemeinhin unter einem deutschen Offizier verstand, taugte nichts.

Es wird eingewandt, der deutsche Offizier habe seine Tüchtigkeit genugsam dadurch gezeigt, dass so viele seiner Kameraden im Felde getötet worden sind. Es hat ihm niemand Feigheit vorgeworfen. Kamen Fälle von Feigheit und schlechter Haltung im Feuer vor, so sind sie nicht auf die Erziehung im Korps zu schieben, das in dieser Beziehung auf strengste Pflichterfüllung hielt und sie besonders in den untern Chargen durchsetzte. Der aktive Offizier hat sich einen Beruf erwählt, dessen ganze Erfüllung erst im Kriegszustand möglich war, und der Stand hat nun keinen Grund, sich die letzte Aufgabe des selbst gewählten Berufes als besondere Heldentat ankreiden zu lassen. Mit seinen übrigen Charaktereigenschaften hat das nichts zu tun. Wie es auch nicht der Versicherung bedarf, da es zu selbstverständlich ist, dass eine große Menge Offiziere sich vom ersten bis zum letzten Tage des Krieges untadelig geführt haben. Ich wiederhole immer und immer wieder, dass hier nicht der einzelne Offizier angegriffen wird, nicht einmal achtzig oder hundert Fälle, sondern der Geist des deutschen Offizierkorps.

Es ist nicht richtig, die Gründe des allgemeinen Offiziershasses in einer sogenannten Verhetzung zu suchen.

Die Angriffe gegen den deutschen Offiziersstand, die in so großem Maße eingesetzt haben und nicht verstummen wollen, rühren daher, dass in diesem Kriege zu viel Geistige hinter die Kulissen gesehen haben.

Die ungeheuerliche Machtfülle, die der einzelne Offizier grade im Kriege über Leib und Leben und Gut und Geist seiner Landsleute und der Einwohner okkupierter Gebiete in die Hand bekam, hätte wahrscheinlich auch eine sittlich gereiftere Kaste, als sie der Offiziersstand darstellte, zu Fall bringen müssen. Auch nicht ein Tausendstel der vorgekommenen Ungeheuerlichkeiten ist in die Zeitungen gelangt, aber dieses Tausendstel hätte genügen müssen, um den deutschen Offizier vor gerecht und anständig denkenden Menschen auf das Tiefste bloßzustellen. Ein Regimentskommandeur und Oberstleutnant Bode zu Insterburg gibt in einer Preßberichtigung als ordnungsmäßig und selbstverständlich zu, dass der Silberschatz des Königs Peter von Serbien als Andenken unter die achtundfünfzig Offiziere des Infanterie-Regiments 45 verteilt worden ist. Der General v. d. Borne unterschlug, laut „Vorwärts“, mit seinem Stab den ihm unterstellten Erdarbeitern Fleisch und Bier und ließ Hunderte von Leuten monatelang an seinem Privatquartier bauen, dessen elektrische Anlage nach Fertigstellung schließlich den Wert von vierzigtausend Mark erreichte. Was den Offiziersstand so schwer bemakelt, ist nicht die Tatsache, dass sich viele seiner Angehörigen zu solchem Mißbrauch ihrer Dienstgewalt hinreißen ließen, sondern die Indolenz ihrer Kameraden, die jede Verfehlung gegen berechtigte Angriffe von außen deckten. Der Offiziersstand trägt insofern für jede Verfehlung seiner Angehörigen die volle Verantwortung, als er sie nicht geahndet hat. Es ist auch nicht richtig, wie die bürgerliche Presse behauptet, dass nur konservative Offiziere an diesen Ausschreitungen gegen die eignen Leute und gegen die Einwohner der okkupierten Gebiete beteiligt gewesen sind; es waren vielmehr Offiziere aller Parteirichtungen, und mit am schlimmsten haben sich diejenigen Reserve-Offiziere aufgeführt, die aus kümmerlichen Zivilstellungen plötzlich zu ungeahnter Macht emporrückten, unter ihnen besonders die Volksschullehrer. (Es ist in solchen Fällen bei uns üblich, dass die Kollektivität des Standes derartige Angriffe mit Entrüstung zurückweist, statt die Unheiltäter aus ihren Reihen zur Verantwortung zu ziehen: durch diese Ausübung einer falsch verstandenen Ehre macht sich der gesamte Stand mit verantwortlich.)

Wie sehr der sittliche Fonds des Offizierkorps und des Unteroffizierkorps im Kriege versagt hat, gestehen die Verteidiger dadurch ein, dass sie sagen, die lange Dauer des Krieges habe das Offizierkorps verdorben. Das heißt: Es hat dem Ernstfall, für den es da ist, nicht standgehalten. Die gegenseitigen Schuldvorwürfe helfen nichts. Der aktive Offizier schiebt die Schuld auf den Reserve-Offizier, der Reserve-Offizier beschimpft den Aktiven, beide den Unterführer, der die Stabsoffiziere – und so dreht sich der ganze Apparat kreiselnd um sich selbst. Die aber, die unter ihm gelitten haben, kehren sich nicht daran, sondern fassen zusammen:

Es ist im Kriege gestohlen worden – und ihr habt keinen belangt. Es ist im Kriege Unrecht getan worden – und ihr habt kaum einen zur Rechenschaft gezogen. Es ist im Kriege geschoben und gelogen und betrogen worden – und ihr habt bis auf den heutigen Tag aus alter Hochachtung vor dem Idol Offizier nichts getan, um Schuldige zu ermitteln. Um der Disziplin willen? Was ist das für eine Disziplin, die solchen Schutz nötig hat!

Es mag für nationalistisch gesinnte Deutsche eine Schmach bedeuten, wenn Heerführer und Fürstlichkeiten dem Feind ausgeliefert werden sollen. Es stellt aber eine ungleich größere Schmach dar, dass die Deutschen in acht Monaten keine Zeit gefunden haben, Etappenräuber und Offiziersrohlinge so bestrafen zu lassen, dass vor der Welt und vor dem Volk dokumentiert wird, wie wenig Raubritter und Deutsche mit einander zu tun haben. Das ist nicht geschehen, und man kann der feindlichen Welt eine Identifikation leider nicht verdenken. Der Haß gegen das Deutschtum, ein Haß, von dessen Größe die wenigsten bei uns zulande etwas wissen, und von dessen berechtigten Gründen fast niemand, ist ins Maßlose gewachsen.

Was wir hier betrachten, angreifen, bewerten und für ethisch hoffnungslos halten, ist das Treiben, das sich Tag für Tag draußen abgespielt hat, und über das sich kaum einer mehr – bis auf die Leidenden – aufhielt. Nicht die großen Skandale sind es, nicht die Sonderfälle, die sich überall einmal ereignen, sondern der tägliche Wust von Unehrlichkeit, Diebstahl an Nahrungsmitteln, den niemand mehr als Diebstahl empfand, Mißbrauch der Dienstgewalt und brutaler Unterdrückung der fremden Nationen. (Übrigens wurde durch diese Roheit nichts erreicht; die Einwohner der okkupierten Gebiete wurden schikaniert und malträtiert und tanzten den deutschen Behörden, wenns zum Klappen kam, auf der Nase herum.) Der deutsche Offizier wirkte bei diesen Übeltaten mit, war stets durch Befehl gedeckt und sah bestenfalls untätig zu.

Das ist der Grund für den gerechten Haß gegen den deutschen Offizier.

Artur Zickler hat (im Firn-Verlag zu Berlin) die Erinnerungen eines Feldwebels herausgegeben, der jahrelang in einem Feldlazarett tätig war. Jeder, der das preußische Militär kennengelernt hat, wird sie als glaublich bezeichnen. Das Buch trägt den Titel: „Anklage der Gepeinigten“.

„Im August 1914 wurde das Feldlazarett vom Chefarzt Wacker zusammengestellt. Schon tagelang haben wir an Verpflegung nichts weiter als Brot erhalten. Die Herren nehmen für sich Büchsenfleisch. Die Kranken verhungern uns, einige laufen uns fort. Jannecki (der Lazarett-Inspektor) sorgt nur dafür, dass der Offizierstisch im Garten reichlich gedeckt ist. Die Verwundeten und Kranken bekommen durch Fahrer zusammengekochten Dreck und sehen von den Fenstern aus auf die reich gedeckte Mittagstafel im Garten.

Die wenige Milch kam fast ausschließlich den Sanitätsoffizieren zugute. Trotzdem Jannecki genügend Spirituosen hat, gibt er nichts heraus, obwohl das Leben der Kranken oft davon abhängt. Nur weil der Chefarzt wörtlich erklärt hat: „Tee ohne Rum saufe ich nicht!“
Die Pferde haben denselben guten Tag wie wir, da den armen Tieren alles Futter gestohlen wird. Wenn das elektrische Licht im Orte aussetzt, was oft vorkommt, brennen im Offizierskasino mehr als ein halbes Dutzend Kerzen, aber in den Stallungen ist kein Licht, und die Pferde schlagen sich die Knochen kaputt. Ich mußte gestern deswegen ein Pferd erschießen.

Im Schloß liegt ein Offizier, der sich eines Tages durch Militärkrankenwärter Wolf rasieren läßt und sich dabei über Wolfs schlechtes Aussehen wundert. Da sagt ihm Wolf offen, das käme davon, dass die Herren uns alles unterschlagen; wenn wir das Empfangene alles bekämen, würden wir schon satt werden und nicht so schlecht aussehen. Abends im Kasino trägt der Leutnant unserm Spitzbuben den Fall vor. Der stellvertretende Chefarzt erwidert darauf: „Diesem Mann dürfen Sie nichts glauben, der ist zu belesen, der schmökert zu viel in den Büchern herum.“

Ich frage mich wieder und immer wieder, wie lange dieser Schwindel, dieser niederträchtige Betrug noch andauern soll. Wir empfangen täglich 80 bis 100 Liter Milch von der Ortskommandantur, darunter 14 Liter Vollmilch für Schwerkranke (Nierenentzündung, Gasvergiftung), das übrige ist Magermilch. Die Vollmilch wandert sofort in zwei Eimern ins Kasino. Hier werden für die notleidenden Sanitäts-Offiziere Streuselkuchen gebacken, desgleichen Torten. Das geschieht täglich ohne Ausnahme. Unsern Schwerkranken, die mit dickgeschwollenen, aus den Höhlen tretenden Augen liegen und sich vor Schmerzen winden, für die die Vollmilch bestimmt ist, weil sie keine feste Nahrung zu sich nehmen können, gibt man für den ganzen Tag zwei Becher blaues Wasser, genannt Magermilch, davon sollen sie leben und wieder gesund werden.

Wilke fährt heute auf Urlaub. Er nimmt für die Herren Oberapotheker Frühling, den Chefarzt, Jannecki und Rudolf große Pakete nach der Heimat mit. Im Gepäck des Chefarztes ist gestohlenes Fett. Für die Verwundeten empfängt Unteroffizier Schüler, abgesehen von den Liebesgaben, 118 Flaschen Wein und 75 Flaschen Bier. Sie wurden nicht verteilt, weil sich der Chef und der Inspektor darüber einig geworden waren, dass die Verwundeten schon genug hätten. Der Chef sagte: „Wir wollen hier keine Mastkur aufmachen.“

In der Offiziersküche hat man den Pudding versaut. Er will nicht fest werden. Unsre Apotheke muß schnellstens sterilisierte Gelatine herausgeben, die man sonst nur Schwerkranken bei Lungenbluten gibt. Auch das so dringend notwendige Olivenöl aus der Apotheke wandert ausnahmslos ins Kasino.

Der uns zugeteilte evangelische Pfarrer Möller fährt den ganzen Tag in der Umgebung herum, um für seine Familie einzukaufen. Heute bringt er aus Etre Opon für 100 Mark Käse an. Wir können keinen Käse kaufen, weil er uns durch die aufkaufenden Offiziere verteuert wird. Die Herren machen den ganzen Tag Postpakete, der Dienst bleibt liegen. Auch der Pfarrer belastet unsere Urlauber stets mit Paketen. Von der Kanzel sprach er vorigen Sonntag: „Sorget nicht, was ihr essen und trinken werdet … sehet die Lilien an auf dem Felde … Herr, wie Du willst, so Dein Wille geschehe!“ Besteht die Aufgabe eines Pfarrers darin, den Soldaten die Lebensmittel wegzukaufen und obendrein die Soldaten und die Religion zu verhöhnen?“

Wer da sagt, der Feldwebel hätte sich beschweren sollen, der ist ein Heuchler.

Richard Dehmel urteilt in seinem Kriegstagebuch „Zwischen Volk und Menschheit“ (bei S. Fischer) sehr hart über die Offiziere und Unteroffiziere. Der Dichter ist im einundfünfzigsten Lebensjahre als Freiwilliger ins Feld gegangen und ist heute noch übervoll von Begeisterung für ein Deutschtum, das es gar nicht mehr gibt. Er sagt:

„1914 war es so bei uns, dass der Offizier, solange wir im Felde lagen, grundsätzlich kein andres Menü speiste als die übrigen Soldaten. Später hat sich leider im ganzen Heer mit sehr wenigen Ausnahmen die Oberschicht immer rücksichtsloser auf besondre Küche verlegt. Die Vorgesetzten wußten recht gut, wie das den einfachen Mann verbittern mußte, versteiften sich aber umso grundsätzlicher auf ihren bequemen Standesdünkel.

Besonders die aktiven Feldwebel und Sergeanten, die mit der Verwaltung und Verpflegung zu tun haben, sind fast durchweg ein übles Pack. Da ich mehrmals mit ihnen zusammenlag, konnte ich sie beobachten und war erstaunt, wie ungeniert sie ihre Durchstechereien betreiben; und aus ihren renommistischen Gesprächen zu schließen, ist es bei den anderen Bataillonen nicht anders. Es hält schwer, sich bei solchen Erfahrungen sein Vertrauen zur deutschen Zukunft zu wahren; diese Leute bilden doch schließlich den Durchschnitt unsres „kleinen“ Beamtenstandes. Die Sache wird nicht besser dadurch, dass man sich sagt: der Krieg verwildert die Sitten, Diese Kerls sind doch dazu da, die Entsittlichung zu verhüten. Statt dessen sorgen sie jetzt dafür, dass bei den vielen Beförderungen, die der Krieg grade im Unteroffiziersstand verursacht, möglichst nur Gelichter ihresgleichen aufrückt, der alte biedere Sergeant und Feldwebel, saugrob von wegen des Amtstones, aber im Grunde ein Fridolin, scheint auszusterben; der neue ist ein entsetzlicher Streber, scharwenzelnder Rohling mit einem schleimigen Anstrich von sogenanntem deutschen Gemüt. Und diese Troßknechte werden später ausführende Stellvertreter der Obrigkeit mit einer in ihrem kleinen Amtskreis fast unbeschränkten Machtbefugnis. Aber mögen sie noch so klein sein, alle diese Kreise greifen ineinander und schnüren wie ein großes Netz von eisernen Ringen den Volkskörper ein. Wenn unsre Regierung nicht dafür sorgt, solchen Wachthunden der öffentlichen Ordnung, die in Wahrheit Hetzköter sind, den gebührenden Maulkorb anzulegen, dann sind wir in zehn bis fünfzehn Jahren wieder genau so verbiestert, wie vor dem Kriege.

Sehr bezeichnend die Klage des durchaus nicht rigorosen Majors G., dem das Einquartierungsbüro unterstellt ist, dass fast niemand mehr mit seinem Quartier zufrieden sei; man wolle es womöglich noch komfortabler haben als auf einer Badereise im Frieden. Dabei sind den mehr als 500 Offizieren, die hier in der Stadt beisammen hocken, selbstverständlich die besten Zimmer der wohlhabenden Bevölkerung eingeräumt. Man sollte jeden solchen Querulanten auf ein paar Monate in den Schützengraben schicken, denn die meisten dieser Kanzlei-Offiziere würden das nicht als Ehre empfinden, sondern lediglich als Strafe; man merkt das aus der hundsschnäuzigen Art, wie sie selber mißliebige Mannschaften in die vordere Linie spedieren.

Der neue Kommandant Oberstleutnant Bl. hat sein Amt gleich damit eröffnet, zur Verpflegung der Offiziere von der Einwohnerschaft allerlei Extralieferungen gegen Gutscheine zu erheben, die unter dem vorigen Kommandanten jeder Offizier aus eigner Tasche bezahlen mußte. Und an einem der nächsten Tage veranstaltete er im Rathaushof eine Versammlung der Jagdhunde des Bezirks, um sich den besten auszusuchen. Natürlich gleichfalls gegen „Bon“.

Noch schädlicher für den militärischen und kameradschaftlichen Geist sind die Rivalitäten im Offizierkorps, weil sie unter „Gebildeten“ nicht mit rascher Handgreiflichkeit, sondern mit dem schleichenden Giftdunst der schlimmen Nachrede ausgekämpft werden.“

Ähnliches findet man in Karl Vetters ausgezeichneter Broschüre: „Ludendorff ist schuld“ (im Verlag für Volksaufklärung zu Berlin, Burgstraße 29). Sie behandelt hauptsächlich die letzten Tage vor dem Zusammenbruch, den die Militärkaste verschuldet hat.

Die Fälle lassen sich ins beliebige vermehren. Korrupt war alles: korrupt das Leben eines Standes, der gar nicht mehr empfand, dass schon eine kleinbürgerliche Behaglichkeit im Felde unerhörten Luxus bedeutete; korrupt die Gehaltsempfänger, die Geld sparen konnten, während man den Mann mit einem sogenannten Ehrensold abfand; korrupt der selbstverständliche Brauch, dass jeder, der Materialien zu verwalten hatte, von diesen Dingen in großen Quantitäten unterschlug. Ich habe oft genug im Felde die Redensart gehört: „Er wäre ja dumm, wenn er nicht …“ Korrupt war auch der Ärztestand; zum Teil ließen hier üble Elemente ihrer Roheit und Habsucht freien Lauf. Anzeigen hätten nichts geholfen.

Der Einwand, dass alle diese Übelstände nur in der Etappe zu finden waren, besagt nichts. Auch der Etappen-Offizier war ein Offizier, den die Erziehung seines Korps gegen Laster hätte widerstandsfähig machen sollen. Auch der Etappen-Offizier kam oft genug von vorn und verfiel sofort der allgemeinen Verderbnis, ein Zeichen, dass er sich im Graben nur notgedrungen anständig benommen hatte. Dort konnte er nichts unterschlagen: denn es war nichts da.

Das deutsche Offizierkorps hat seine Rolle bei den denkenden Deutschen, wenn das vielleicht auch wenige sind, ausgespielt. Was so erbittert hat, war der Geist, der durch starre Erziehung dort eingeimpft war: der Geist, der die eignen Landsleute verneinte und verachtete. Der einzelne hatte kein Verantwortungsgefühl mehr: die Kollektivität hatte es ihm abgenommen und schützte ihn.

Die Kollektivität ist aber nun auch schuld an den maßlosen Übergriffen einzelner, die unsre Friedensbedingungen zweifellos verschlimmert haben. Keine Ärzte-Organisation, kein Offizierkorps hat Kollegen und Kameraden öffentlich zur Verantwortung gezogen. Die Straftaten wurden sehr leicht inszeniert und ausgeführt. Ehe aber einer dafür abgestraft wird, stellen sie eine sehr sorgfältige Untersuchung an, die dem publizistischen Ankläger Gefängnis und dem Angeschuldigten in den seltensten Fällen etwas einbringen wird. So subtil kann Justitia manchmal sein.

Die Entwicklung des deutschen Militarismus ist nicht als abgeschlossen zu betrachten.

Es handelt sich hier um eine wesentlich kulturelle Frage, und es zeigt sich immer mehr, dass in diesem Kampf zwei Welten aufeinander stoßen, die nicht dieselbe Sprache sprechen. Als auf meine erste Artikelreihe ein pensionierter Oberstleutnant aus Magdeburg an den Herausgeber schrieb, ich solle Material mit vollen Namen veröffentlichen, schlug ich diese Bitte ab. Der Oberstleutnant publizierte meinen Brief in der „Deutschen Tageszeitung“, und es hieß dort, ich sei ein Buschklepper und feiger Verleumder. Ich hatte geschrieben, dass es gar nicht auf die acht oder zehn Fälle ankäme, die ich damals herangezogen hatte, sondern auf den Offizier schlechthin, und dass sein Typ zum Wohl unsres Volkes auszurotten wäre. Es stehen in der Tat nicht die einzelnen Fälle zur Diskussion. Die lassen sich heute, wo die Beteiligten in alle Winde zerstreut sind, sehr schwer beweisen, und wenn sie sich wirklich beweisen lassen, und wenn wirklich einer oder der andre – was nicht anzunehmen ist – bestraft wird, so rechtfertigt das in den Augen der Offiziersanhänger immer noch nicht unser scharfes Urteil.

Sie ruhen nicht. Als der Kaiser ausgeliefert werden sollte, hätte man von einem aufrechten Offizierkorps die Abdankung erwartet. Kaum einer ging. Ich will die Beweggründe, aus denen die Herren blieben, unerörtert lassen.

Bezeichnend für die ungeheure Lebenskraft dieser Kreise und für ihre Ungeistigkeit ist das maßlose Erstaunen darüber, dass die kleinen Fortschritte der Republik für sie persönlich etwa Nachteile im Gefolge haben sollten. Sie hielten ihre militärischen Dienststellen aufrecht, und ein Spiel mit Ämtern hub an ganz wie im Kriege. Da gibt es Staffelstäbe und Brigade-Stabsquartiere und Detachements und Korps und Oberkommandos Süd und Nord … Die zerrüttete Finanzlage des Reiches ist für diese nutzlose Arbeit offenbar kein Hinderungsgrund. Man meinte: Erholungsurlaub – und sagte: Inspektionsreise; man sagt: Verteidigung der Heimat gegen die Bolschewisten – und meint: Stellenversorgung.

Noch arbeitet alles im alten Trott, kein militärisches Amt wird aufgelöst, nichts hat sich geändert. Zu einer Reise in die Schweiz läßt sich das Berliner Polizeipräsidium vom Bezirkskommando die militärische Abkömmlichkeit des Reisenden bescheinigen. Die Dienstpflicht „ruht“. Kein Parlament hat bisher gewagt, sie abzuschaffen, jedes sieht den jetzigen Zustand als ungewöhnlich und nur vorläufig an, von der Voraussetzung ausgehend, dass die allgemeine Dienstpflicht das Ursprüngliche und ihre Nichterfüllung eine Ausnahme sei. Es ist aber umgekehrt. Und es muß um jeden Preis mit dem Grundsatz gebrochen werden, dass im Ernstfall die Machtkompetenzen einer geistig fossilen Kaste ins Maßlose schwellen.

Grade im Ernstfall dürfen sies nicht. Der letzte Akt des Kriegsspiels, das man im Osten krampfhaft fortzusetzen bemüht war, ist aus. Wir werden dafür zu sorgen haben, dass ohne zerschlagene Fensterscheiben und ohne politische Morde in den Köpfen unsrer Volksgenossen eine geistige Revolution entsteht, wie sie bisher gefehlt hat.

Mit Argumenten kommen wir nicht weiter. Hier steht Wille gegen Wille: alles, was zum Nachteil des deutschen Offiziers gesagt wird, trifft den Deutschen von heute ins zusammenzuckende Herz. Er will das nicht hören. Sein Wille verdunkelt die Erkenntnis, und merkt er, wo der Befreier hinaus will, wendet er sich empört ab.

Es führt zu nichts, dem Offizier seine überlebte und menschenfeindliche Sendung klar zu machen und etwa zu versuchen, sie durch einen Kompromiß zu mildern. Wir sprechen nicht zu ihm.

Wir sprechen zu unsern Landsleuten, zu dem Deutschland, das wir lieben, und wir wollen, dass es immer und unter allen Umständen denen den Gehorsam verweigert, die Menschenunwürdiges von ihm verlangen. Menschenunwürdig aber ist eine Disziplin ohne moralische Einsicht, ist die Annahme, einer stehe vermöge seines Amtes auch menschlich über dem andern; menschenunwürdig ist die Unterdrückung sogar innerhalb der eignen Nation.

Wir bekämpfen nicht den einzelnen Offizier. Wir bekämpfen sein Ideal und seine Welt und bitten alle Gleichgesinnten, an ihrer Zerstörung mitzuhelfen. Nur sie kann uns eine neue, reinere Heimat geben.

Unter dem Pseudonym Ignaz Wrobel 1919

An alle Frontsoldaten!

Der Verfasser (eines gleichnamigen Pamphlets des Scherl-Verlages) greift meine Arbeiten, die ich in der „Volkszeitung“ und in der „Weltbühne“ über das böse Thema Offizier und Mann veröffentlicht habe, heftig an. Nicht deshalb nehme ich hier das Wort, um ihm zu antworten. Wir kennen alle diese läppischen Einwände: „Ich kenne Ihre Kriegsstammrolle nicht im einzelnen.“ – „Die republikanische Staatsgewalt aber regt sich heute mit keinem Finger, wenn ein Judasgeist von dem Popanz der Ehre eines Führerkorps zu sprechen wagt …“ – „Hetzartikel“. – „Judas Ischarioth“. – Es ist, wie wenn ein gefaßter Dieb dem Schutzmann sagt: „Sie haben aber mal früher eine Disziplinarstrafe gehabt!“ – Die steht nicht zur Diskussion. Es geht um den Dieb.

Und ich glaube, wir haben ihn. Bilden sich diese Herren ein, noch heute einem gescheiten Mann einreden zu können, dass es etwa im Felde nicht ungerecht und verlogen hergegangen sei? Glauben sie, wir wüßten nicht alle, wie sich der deutsche Offizier immer und immer wieder einen guten Tag gemacht hat – auf wessen Kosten denn? Glauben sie, saubere und anständige Leute ließen sich noch jemals eine „geistige Mobilisation“ gefallen, wie sie eine Wiederaufrichtung der empörendsten Unfreiheit zu nennen belieben? Sie wünschen einen Wahrheitsbeweis?

Es ist behauptet worden, dass die Offiziere unverhältnismäßig besser gelebt hätten als der Mann. Der Einwand, dass es im Schützengraben demokratischer hergegangen sei, ist nicht stichhaltig. Sollte der Bataillonsstab vielleicht im Stollen ein Kasino aufmachen? (Übrigens ist das vorgekommen.) Es handelt sich um die Fälle, in denen die Möglichkeit zu besserem Leben vorlag – diese Möglichkeit ist von den sogenannten „Herren“ in vollem Umfange ausgenutzt worden. Das ist durchaus keine Äußerlichkeit, wie der Verfasser gern glauben machen möchte. Essen ist für einen kräftigen Mann im Felde fast die Hauptsache – und es mußte mit Recht verbittern, wenn die Truppe in ihren Offizieren Leute sah, die mit keinem Mittel zu bewegen waren, das gleiche harte und entbehrungsvolle Leben zu führen, wie man es vom Mann verlangte. Ludendorff schreibt in seinem (übrigens belanglosen) Buch, er habe den „Herren in Berlin“ versprochen, dann aus der Feldküche zu essen, wenn sies selbst täten. Das ist eine Ungezogenheit. Die Staatssekretäre waren keine Soldaten und verlangten von anderen nichts Übermenschliches. Ihr konntet in den höheren Stäben mit dem Soldatenessen nicht auskommen? Ihr hattet so viel zu tun? Vom Mann, der häufig genug im Frieden gutes Essen gewöhnt war, wurde es verlangt, schwere Anstrengungen bei dürftigem Essen zu ertragen.

Bezeichnend für diese Schichten ist es, dass sie niemals die Schuld an den verrotteten Umständen in ihren Reihen suchten, schuld waren die anderen. Man höre: „Die mittlere Führung vom Divisionskommandeur bis zum Gruppenkommando aber, mit wehem Herzen muß es ausgesprochen werden, die allerhöchste Spitze haben die Front in den ernstesten Lagen oftmals, und gerade zuletzt am Ende schwer enttäuscht. Hier, und nicht in dem Verhältnis zwischen Frontmann und Frontoffizier, klaffte die Kluft. Man gebot uns Frontoffizieren immer, nach unten aufzuklären, man gestattete es aber nicht, nach oben ein offenes Wort zu sprechen, und wenn sich doch einmal über die aus dem Rücken nahenden Sturmzeichen eine warnende Stimme erhob, so wurde diese im Gefühle der eigenen Unfehlbarkeit in den Wind geschlagen oder gar als Unbotmäßigkeit vermerkt.“ Das kommt mir alles so bekannt vor –! Genau so, genau so war das Verhältnis vom Mann zum Offizier – hier klaffte die Kluft und klafft sie noch. (Und auch die getadelten Stabsoffiziere waren Offiziere.)

Alles andere im Buch ist dagewesen, aber dafür falsch. Der falsche Einwand, nicht der Offizier sei verderbt gewesen, sondern nur einige (die andern) – viele seien doch gefallen, und viele seien doch anständig gewesen … Wir haben den Typ des deutschen Offiziers gewogen und zu leicht befunden. Der falsche Einwand von der „radikalen Wühlarbeit“ – alle rechtsstehenden Schriftsteller fußen hierbei auf der großsprecherischen Erklärung des Sozialdemokraten Vater aus Magdeburg, der behauptet hatte, die Unabhängigen hätten die Front zermürbt. Man müßte doch einmal – besonders in der Etappe – etwas davon gemerkt haben. Nichts. Nein, wir brauchten keine Unabhängigen: die Wühlarbeit wurde mühelos von den Offizieren selbst betrieben. Als mich im Jahre 1918 ein Unterrichtsoffizier befragte, was man denn gegen die Gerüchte über das gute Leben der Offiziere unternehmen könnte, durfte ich ihm die rechte Antwort nicht geben. Heute kann ich es. Ihr hättet eben anständiger leben sollen – dann wären die Gerüchte unterblieben.
Ich glaube, wir verstehen uns nicht recht. Hier stoßen zwei Welten aneinander, und es gibt keine Brücke. Was wir wollen, ist dieses:

Wir wollen nicht, dass sich Leute unterfangen, von obenher vom Himmel zu steigen und nun gnädig und loyal uns andre mindere Sterbliche zu regieren. Wir wollen nicht auf die Schulter geklopft werden. Wir wollen nebeneinander arbeiten. Das schließt gar nicht aus, dass es Leute gibt, die sachliche Weisungen erteilen, dass es gute und schlechte Kerls gibt … aber wir wollen nicht, dass ein geschneidertes Achselstück für 29,50 Mark einen Menschen abstempelt.

So war es:

Der Offizier

bekam nicht unter 300 Mark Gehalt, meist
bedeutend mehr (Zulagen, Tagegelder usw.);

Der Mann
erhielt ein paar Pfennige und im
Bedarfsfalle unzureichende
Familienunterstützung;

hatte Bewegungsfreiheit, ritt aus,
besah sich das fremde Land, in dem er stand,
und führte ein ziemlich freies Leben;

war eingeschnürt im Dienst. Spaziergänge
in seiner dienstfreien Zeit wurden erschwert;
er war immer im „Dienst“;

hatte die Möglichkeit, dauernd Einkäufe zu
machen und Eingekauftes mit nicht immer
einwandfreien Transportmitteln
nach Hause zu schicken;

konnte wenig einkaufen, weil ihm die
Preise verdorben wurden; stellenweise
wurde ihm die Transportmöglichkeit erschwert;

aß gut und fast immer ausreichend; in der
Etappe ausgezeichnet, dort niemals aus
der Feldküche. Sein Essen war billig;

aß mäßig und manchmal monatelang das
gleiche, schlabbrige Essen. Kantinenpreise
durch dunkle Berechnungen nicht billig.
Andere Aufbesserungsmöglichkeiten nicht vorhanden;

wurde von seinesgleichen in jeder Weise
unterstützt: bei Urlaubssperre,
Dienstfahrten, kleinen Schiebungen aus
der Kammer in
Bekleidungsangelegenheiten, ärztlichen
Attesten;

wurde herumgestoßen, und es wurde ihm
das Leben in jeder Weise erschwert. Der
Vorgang eines Stiefeltausches war meist
eine Qual durch drei Instanzen mit vielen
Anschnauzern;

wurde in allen kleinen Äußerlichkeiten,
die das Leben so sehr beeinflussen,
unterstützt, das berüchtigte Schild „Nur für
Offiziere“ beherrschte die
Kriegsschauplätze.

sah in den Mond.

Und so soll es nie wieder sein!

Unter dem Pseudonym Ignaz Wrobel 1919