Mama

Tragikomödie in einem Aufzug

Personen:

Xaver Laitinger, kgl. Ministerialrat
Tony, seine Frau
Franz, beider Sohn, kgl. Ministerialassistent
Marie, Dienstmädchen

Zeit: Gegenwart – Ort: Großstadt

(Wohnzimmer bei Laitingers. Im Hintergrund Mitte Tür auf den Korridor, rechts Tür zum Zimmer Laitingers, links im Vordergrund Tisch, Sofa, Sessel, Lehnstuhl. Wenn der Vor­hang aufgeht, sitzt Frau Tony Laitinger (45 Jahre, sieht jünger aus: volles braunes Haar, Figur etwas behäbig) auf einem Stuhl, dem Publikum zugewandt, und strickt an einem Topflappen. Xaver L. sitzt rechts vom Tisch im Lehnstuhl, liest die Zeitung und raucht aus einer kurzen Pfeife. Er trägt eine helle Weste, graue Hosen, dunklen Gehrock. Grauer Vollbart, auf dem Kopf wenig Haare, untersetzte Statur

Frau Tony L. wirft einen verzweifelten Blick auf den Regulator, legt mit einer heftigen Gebärde Topflappen und Strickzeug auf den Tisch und geht zur Tür im Hintergrund, öffnet sie)

TONY : Marie … Marie …
MARIE: (kommt)
TONY: Haben Sie im Zimmer des jungen Herrn nachgesehen! Ist der junge Herr noch nicht zurück?
MARIE: Der junge Herr ist nicht da.
TONY: Gehen Sie (Marie ab) (seufzend) Wo er nur bleibt? Das ist in dieser Woche das vierte Mal, daß er zu spät zum Essen kommt. Aber so spät …
XAVER: (über seine Zeitung) H m m …
TONY: Habt Ihr Euch heute nicht wie sonst vor dem Bureau getroffen?
XAVER: Ich habe eine Viertelstunde auf ihn gewartet, er kam nicht. Übrigens ist er seit ein paar Tagen der Abteilung für Intendanturangelegenheiten zuerteilt Wir arbeiten nicht mehr in demselben Bureau. Sein Bureau liegt in einem Seitenflügel …
TONY: Das ist doch ganz gleich Es ist unerhört
XAVER: (legt die Zeitung hin) Ich hörte, daß er sich heute morgen auch im Dienst verspätet hat – um eine halbe Stunde
TONY: Ja, das ist aber gar nicht möglich … Ihr gingt doch pünktlich beide zusammen fort.
XAVER: Ja – schon – aber unterwegs hatte er, wie er sagte, eine Besorgung in einer Papierhandlung, und wir trennten uns. Da ist er dann zu spät gekommen. Der Abteilungsdirektor hat sich schön gewundert – und ich begreife es auch nicht.
TONY: Was ist nur in den Jungen gefahren? Rein wie verwandelt ist er seit einer Woche. Das geht nicht mit normalen Dingen zu. Aber das ist es, wir achten zu wenig auf ihn.
XAVER: Wir??
TONY: Wir kümmern uns zu wenig um ihn Mein Gott, trotz seiner 22 Jahre – er ist noch ein Junge, ein Kind, das vom Leben nicht’n Tipp Ahnung hat.
XAVER: Liebe Tony …
TONY: Wer weiß, was für ein Kummer ihm das Herz schwer macht. Aber – an mir liegt es nicht, an mir nicht, ich habe ihm stets Vertrauen entgegengebracht -habe mit guten Ratschlägen nicht gespart – Du freilich, Dein schwacher Charakter –
XAVER: Liebe Tony – –
TONY: Dich muß man ja selbst noch führen, daß Du ja nicht fällst. Ihr seid beide so unselbständig –
XAVER: Liebe Mama – wenn ich mir auch ein Wort gestatten darf, ich glaube, Du hältst den Franz zu sehr am Gängelbande Er ist nun 22 Jahre – –
TONY: Und unbeholfen und weltunklug wie ein Schulbub‘ Großer Gott, wenn ich an die Gefahren denke, mit denen ihn unsre Großstadt täglich, stündlich umringt – man kann sein Kind nicht genug behüten –
XAVER: Liebe Tony – es ist Dein einziges Kind, Du hast keine Maßstäbe und Ver¬gleiche, Du übertreibst Deine Meinungen und Ratschläge zu leicht ins Grenzenlose –
TONY: Es ist nicht mein Fehler, daß er unser einziges Kind ist –
XAVER: Meiner doch gewiß auch nicht -(Schweigen)
XAVER: Ich finde nur, z.B. neulich Abend, daß Du ihm nicht den Hausschlüssel gegeben hast, als er mit seinen Freunden kegeln wollte – er verkehrt selten genug mit seinesgleichen, mit Altersgenossen – das war hart, ja – unklug – verzeih‘.
TONY: Ich weiß, was ich tu‘. Mein kleiner Franz – den Hausschlüssel, daß man sich ängstigt, die ganze Nacht, und nicht weiß, wo er steckt Dazu ist er viel zu jung und unselbständig; .. er würde von dieser Freiheit nicht den rechten Gebrauch machen können Und die Verführungen der Nacht – und seiner Freunde . wer bürgt mir, daß es anständige Leute sind? O diese Freunde kennt man! Das bleibt nicht an diesen sogenannten Kegelabenden beim Kegeln – oder bei einem Glase Bier, o … dann kommt das zweite, dann das dritte, die jungen Leute verlieren die Herrschaft über sich – vor solchen Ge¬fahren will ich Franz bewahrt wissen – darauf zieht man ins Cafe – und der Schluß – den kann man sich ja ausmalen –
XAVER: Ich sage ja Du denkst gleich ins Maßlose: Du hast vielleicht – verzeih‘ -vom Leben ebensowenig Ahnung, wie Franz Man muß nicht alles schwarz in schwarz sehen, muß nicht allen Menschen seine eigne Anschauung – im wörtlichen Sinne: Anschauung – aufoktroyieren wollen …
TONY: Aber Xaver …
XAVER: Ja, aufoktroyieren wollen – das halte ich aufrecht – das willst Du. Und auch mit mir spielst Du ja nur Mama …
TONY: Lieber Xaver, Du solltest froh sein, daß Du eine Frau hast, die für Dich sorgt, wie ich es tue; Du allein führst schlecht durch die Welt, so unordentlich und zerfahren, wie Du bist …
XAVER: Unordentlich – zerfahren
TONY: Deswegen bist Du zur Erziehung des Franz völlig ungeeignet, – ungeeignet, denn Du selbst bist noch der Erziehung bedürftig –
XAVER: Verzeih‘, da dürftest Du doch ein wenig zu weit gehen – als Ministerialrat –
TONY: Ein Ministerialrat. . freilich … das ist was Exquisites … an Unbedeutung – an Nutzlosigkeit möchte wissen, wozu die vielen Ministerialräte da sind … zum Frühstücken und Pfeifen rauchen –
XAVER: Es tröstet mich, liebe Tony, daß ich als Mann von Dir immerhin noch einigen Wert beanspruchen darf.
TONY: Wenn Du bloß nicht im Wohnzimmer Deinen entsetzlichen, atembeklemmenden Knaster rauchen wolltest, die Gardinen sind schon in einer Weise angeraucht, und angepafft – rauch‘ in Deinem Zimmer, so viel Du magst, – meinst Du, Gardinenwäsche kostet kein Geld“ Euer beider Gehalt ist wirklich nicht so eminent, daß man jeden Tag neue Gardinen kaufen könnte.
XAVER: Laß einen doch mal in Ruhe die Zeitung lesen. Kommt man nun abgearbeitet aus dem Geschäft …
(Es klingelt. Klappen von Türen. Auf dem Korridor singt eine Stimme:
„Wir san net von Pasig, wir san net von Lain,
Wir san von Obermenzing dahoom …“ Die Stimme von Marie kreischt, als hätte sie jemand in den Arm oder die Backe geknif¬fen)
XAVER: Das ist er.
TONY: Wie umgewandelt ist der Junge! (Tür geht auf: Franz L. in Strohhut, blauem Anzug. Braun gebranntes Jungengesicht. Trägt sich sehr sorgfältig. Scheitel korrekt bis beinahe in den Nacken gezogen. Spazierstock: Malakkarohr. Franz‘ Sprechweise hat einen Hauch von Münchener Dialekt)
FRANZ: Grüaß Gott, Papa, – Frau Mama, na wie schaut’s? Ihr müßt vielmals entschuldigen, daß i mi so arg verspätet; kann wirklich wenig genug dafür (Frau Tony sitzt unbeweglich auf ihrem Stuhl. Xaver liest scheinbar in der Zeitung, brummt hin und wieder) I traf Schorsch Ketterer, wo ich so lange nicht g’sehn, akkurat, als ich über den Stephansplatz geh‘ und in der Wiederseh’nsfreud‘, Du weißt Mama, er war in drei Monat‘ im Ausland, in Preußen, hab’n wir uns halt beim Schoppen verred’t, habe gar net g’wußt, daß es schon auf 5 geht – Gott sei Dank, daß heut Mittwoch Nachmittag, wenigstens koan Dienst mehr is.
TONY: Du hast noch den Hut auf.
FRANZ: Oh – excusez …
TONY: Singst und tänzelst daher, poussierst draußen mit der Marie –
FRANZ: Aber Mama!
TONY: Schweig, ich hab es gehört . während Papa und ich sich um Dich ängstigen und sich die größten Sorgen machen –
FRANZ: Papa? … (sieht beide fragend an)
XAVER: Ja, lieber Junge, was ist in Dich gefahren?
TONY: Dein Benehmen in der letzten Woche ist so seltsam, daß alle natürlichen Erklärungsversuche versagen. Du läßt den Respekt gegen Papa und mich in ei¬ner unerlaubten Weise vermissen. Lieber Franz, ich bin das sonst nicht an Dir gewohnt.
FRANZ: Mama – wenn ich Grund zur Klage gegeben – verzeih‘.
TONY: Das ist also alles, was Du zur Entschuldigung Deines Betragens anzusehen vermagst … Du hast Dich nicht zu Deinem Vorteil verändert, Franz, komm her – sieh mir ins Auge –
FRANZ: (tritt ängstlich näher) Ja – Mama –
TONY: Hast Du Kummer … mir Deiner Mutter wirst Du nichts verschweigen. Kann ich Dir helfen?
FRANZ: (zögernd) Mama – es ist … wirklich . weiter .. nichts …
XAVER: Ich geh‘ nebenan meine Pfeife rauchen – wegen – der Gardinen – ich glaube, hier bin ich überflüssig, lieber Franz, hier steht Deine und unser Aller Mama … erleichtere Dein Herz, (leise, halb für sich) Dann wird sie’s mir noch mehr beschweren … Revoir. (ab, rechts in sein Zimmer)
FRANZ: (steht links an einem Fenster) Mama .. sieh nur den Kastanienbaum … nein … Gott, ist der Frühling schön sieh nur – und da oben – wahrhaftig – Nachbar Sedlmeyer hat schon sei zahm’s Eichkätzchen hinaus gelassen … – Da hüpft es auf den Zweigen, immer mitten zwischen den hellen Blütenknospen und schnuppert in ihren Duft … Und jetzt hat es gar eine große Blüte zwischen seinen Pfoten -ja unbarmherzig ist der Frühling auch – der Frühling.
TONY: Junge, auf was Du für Ideen kommst, wer hat Dir denn die beigebracht, Du sollst lieber morgens pünktlich zum Dienst erscheinen. Weshalb kamst Du heute zu spät zum Dienst?
FRANZ: (verlegen, zögernd) Ach Du weißt ich kann mit der Feder, die sie auf dem Bureau – haben, – net schreiben und da mußte ich mir in meiner Papierhandlung mei‘ Nummer besorgen, und da habe ich mich verzögert.verzögert.
TONY: (ihn scharf beobachtend) Ist das wahr?
FRANZ: Mama – Du glaubst, daß ich –
TONY: Weshalb kommst Du auch zum Essen immer zu spät? Zur Strafe erhältst Du heut kein Mittag mehr Magst einmal  hungern.
FRANZ: (immer hilfloser) Die letzten Tage war so wundervolles Wetter, und da hab‘ ich halt die schöne Mittagszeit ausnutzen wollen und bin den kleinen Umweg durch den Englischen Garten gelaufen.
TONY: Heut auch?
FRANZ: Aber Mama – heut, da hab‘ ich doch den Schorsch Ketterer getroffen – (sieht nach der Uhr) schon 10 vor Fünf-
TONY: Was hast Du – weshalb siehst Du nach der Uhr?
FRANZ: Ich hab mich nur um halb sechs Uhr mit dem Schorsch Ketterer verabredet, wir wollen bei dem schönen Wetter eine Tour machen, nach Starnberg, und
XAVER: (steckt seinen Kopf rechts zwischen die Tür)
XAVER: Ich wollt‘ nur sagen, erhitzt Euch nicht zu sehr. Wenn Ihr mich sucht, ich lege mich drüben im Schlafzimmer aufs Bett (ab)
TONY: Franz?
FRANZ: Ja, Mama!
TONY: Du lügst!!!
FRANZ: Mama!!!
TONY: Alles ist erlogen: .. das mit dem Schorsch Ketterer und alles.
FRANZ: Mama –
TONY: So weit ist es also – in so kurzer Zeit – so gesunken – daß Du Deiner Mutter nicht mehr ehrlich gegenüber treten kannst.
FRANZ: Das kann ich wohl, Mama
TONY: Nein, das kannst Du nicht – Lügner.
FRANZ: Mama, begreife doch …
TONY: Ich begreife nichts, als daß Du mich hintergehst, mich …
FRANZ: (sieht wieder nach der Uhr) Mama Du irrst aber ich hab‘ jetzt keine Zeit ich muß gehen ich hab‘ mich verabredet ich komme sonst zu spät, ich muß gehen —
TONY: Du bleibst – Daß Du Deinen Dienst vernachlässigst und zu spät ins Bureau kommst, bekümmert Dich nicht —
FRANZ: Mama – laß mich gehen.
TONY: So sage, was Du mir verbirgst.
FRANZ: Ein andermal, Mama, – wenn ich mich darauf vorbereitet – es ist so unerwartet – heute laß mich vorbei … schau – wie schön der Frühling ist.
TONY: Du wirst augenblicklich auf Dein Zimmer gehen Du verläßt heute das Haus nicht mehr – zur Strafe für Deine Verstocktheit
FRANZ: (noch mühsam beherrscht) Mama – – ich bin kein Kind mehr
TONY: Dein Leben lang bleibst Du mein Kind
FRANZ: (sieht nach der Uhr) Es ist letzte Zeit ich muß zum Zuge zurecht . . morgen, ja Mama morgen! Da will ich Dir alles erzählen … aber heut – jetzt … laß mich vorbei, (flehend) Bitte Du …
TONY: Du tust, was ich Dir befohlen. Ich pflege meine Wünsche nicht zweimal zu äußern.
FRANZ: Ich bin kein Kind, Mama, daß Du so mit mir umspringst.
TONY: Franz, Du wagst zu widersprechen? Sofort auf Dein Zimmer
FRANZ: Mama … liebe Mama ich muß zum Zuge, (Tony stellt sich vor die Tür) zum letzten Mal – gib frei …
TONY: Hinaus! (weist zur Tür rechts)
FRANZ: Bitte … bitte .. (stöhnt)
TONY: Nein.
FRANZ: So sollst Du erfahren – alles – ,… ich muß zum Zuge – (ausbrechend) Du hast mich ja immer niedergehalten, . wie einen Buben, daß ich nichts, na . überhaupt nicht wußte, daß ich war, und daß es Leben gibt – und Jugend. -Jugend … Ja … ich hab‘ gelogen .. alles alles … gelogen weil Du die Wahrheit nicht verstanden hättest . weil sie geschändet hättest – auch den Frühling, Mama, was weißt D u vom Frühling – ja … ich hab‘ ein Mädel, ein Mädel hab ich, da muß ich hin – jetzt – ein süßes Mädel .. ich habe durch deine Schuld nie gewußt, daß es solche Mädchen gibt . denn Du hast sie mir streng gezeigt und kalt – und abstoßend – und abscheulich — Das ist es … das ist es … und morgens begleite ich sie zum Geschäft … und mittags hole ich sie ab .. und wir gehen in den Englischen Garten — und jetzt war¬tet sie auf mich — sie hat heut Nachmittag frei . laß mich zu ihr … Mutter …
TONY: Du Lump …
FRANZ: Mama!!!
TONY: Wohin sind meine guten Ermahnungen und Warnungen, dass du der ersten besten Dirne ins Garn fällst.
FRANZ: Mama – Du beschimpfst sie …
TONY: Dirne …
FRANZ: Ich … kann nicht … ich. (packt sie am Arm) Vorbei, laß mich vorbei .
TONY: (wehrt sich) Du wagst, Deine Mutter anzutasten?
FRANZ: Ja Deine Zeit ist um … (schleudert sie zur Seite; stürmt hinaus. Sie fällt auf den Teppich)
(Xaver kommt von rechts)
XAVER: – meine Pfeife will absolut nicht brennen, habt Ihr vielleicht hier Streichhölzer (sieht Tony am Boden liegen; erstarrt) .. Mama … (angstvoll schreiend) Mama…

(Vorhang)