Literaturzeitschrift „Die neue Rundschau“

Klabund – Allerlei

Seit Hasenclevers „Sohn“ und Leonhard Franks „Der Mensch ist gut“ hat kein Buch die deutsche Jugend so erregt und bewegt wie der „Demian“ von Emil Sinclair (erschienen bei S. Fischer). Ich meine mit deutscher Ju­gend nicht jene studentische und gymnasiale Jugend, die, verkümmert und verkommen, der Tradition des wahren deutschen Burschentums entrissen, hirn- und ideelos, schnell genug bei der Hand ist, wenn es gilt, Andersden­kende einzukerkern und niederzuknallen, die eine der schlimmsten Untaten des ganzen deutschen Bürgerkrie­ges: den Mord an den fünfzehn Arbeitern in Thal in Thü­ringen auf dem Gewissen hat: die zwar Handgranaten, aber nicht eine Waffe des Geistes zu schwingen vermag. Ich meine mit deutscher Jugend die freie deutsche Jugend, die das Erbe der Gotik und Romantik, das Erbe von Wei­mar, das Erbe von 1848 in starken und guten Händen hält. Die drei Bücher, die ich oben nannte, bezeichnen prä­gnant den Weg, den die deutsche Jugend seit zehn Jahren gegangen ist – und die Richtung, die sie nehmen wird. Der „Demian“ ist als prinzipielle Tat viel wichtiger denn als künstlerische. Ich kenne Dutzende von jungen Menschen, die den »Demian« hymnisch begrüßt haben. Wie kommt es, daß ein stilles Buch wie der „Demian“ so laut gewirkt hat? Handeln ohne Handlung: so wirkt der Weise. Im „Sohn“ rebellierte die Jugend gegen die äußere und äußerliche Tradition des Alten und des Alters, das immer „Recht“ hat. Es wurde überwunden: nicht zuletzt durch den Krieg. „Der Mensch ist gut“: hieß dann der Schrei des verzweifelten jungen Menschen, der die Menschheit so schlecht gegeneinander wüten sah. Der Mensch ist doch gut. Sei gut. Sei nur du, so bist du doch gut. Wir sind doch alle Brüder. Menschheit. Kameraden. – Also: These, mo­ralische Forderung, Aufruf. Die Sehnsucht nach einer neu­en Menschheit blühte aus den Ruinen auf. Der neue Mensch, Anbruch, Aufbruch, Erhebung, Verkündigung usw. waren die neuen Buchtitel: die neuen Symbole. Die Revolution kam: und wandelte die Menschen im Innern nicht. Weder den einzelnen noch die Masse. Die große Enttäuschung brach an: das Erlebnis aller Revolutionen. Man lese das bei Schiller nach. Die ehrlichsten unter den jungen Menschen begannen, nicht nach außen, sondern endlich einmal nach innen zu sehn. Sie schlugen sich an ihre Brust und sagten: Was haben wir für ein Recht, an andere Menschen Forderungen zu stellen? Der Mensch ist gut. Schön: aber seien wir doch erst mal gut. Und dann: was heißt denn das: gut? Scheint die Sonne nicht über Gerechte und Ungerechte? Und ist Gott nicht ein Gott des Guten und des Bösen? Oder: ein Gott jenseits von Gut und Böse? Nietzsche kehrte verwandelt, der Insignien der Macht beraubt, wieder. Hermann Hesse nannte seinen schönen Aufruf an die deutsche Jugend, den er erst pseudonym herausgab: Zarathustras Wiederkehr. Der junge Mensch will wieder demütig werden vor der Gewalt der Tat-Sachen und Ideen. Er geht in sich. Im „Demian“. Im „Sohn“, im guten Menschen ging er aus sich heraus. Der „Demian“ist ein Anzeichen von der Wandlung der deut­schen Jugend zur Innerlichkeit. Er ist mehr: ein platoni­sches Sichwiederbesinnen auf das beste deutsche Erbe: den Geist der Romantik. Die blaue Blume blüht wieder. Dunkelblauer blüht sie wie einst, und ihr Duft ist herber geworden. „Klingsor“ ist wieder erstanden.

Aus seiner Wiege dunklem Schöße
Erscheint er im Kristallgewand.
Verschwiegner Eintracht volle Rose
Trägt er bedeutend in der Hand.
Und überall um ihn versammeln
Sich seine Jünger hocherfreut,
Und tausend frohe Zungen stammeln
Ihm ihre Lieb und Dankbarkeit.

Hermann Hesses letztes, vielleicht schönstes Buch heißt „Klingsor“. Es nimmt die Gedanken und den Stil des „De­mian“ auf. Der Mensch ist nicht entweder – oder, son­dern: sowohl – als auch. Nämlich: sowohl Klein als Wag­ner. Sein Gott heißt Abraxas. Die Technik des „Demian“ und des „Klingsor“ arbeitet – stellenweise fast wissenschaft­lich exakt: im Traum des Klein-Wagner z. B. – mit den jüngsten psychologischen Erkenntnissen, wie sie etwa C. G. Jung in seiner „Psychologie der unbewußten Pro­zesse“ (Verlag Rascher, Zürich) vermittelt hat. Daß die beiden Bücher aber nicht, wie Franks Ursache, in Dich­tung notdürftig umgesetzte Freudsehe Psychoanalyse ge­worden sind: sondern reinste und klarste Dichtung: das beweist alles für die hohe Meisterschaft ihrer Urheber. Ich bewundere Hermann Hesse, daß er, ein Mann in den Vier­zigern, es aus eigenster Kraft über sich gebracht hat, noch einmal von vorn anzufangen, noch einmal ein neuer, ein junger Mensch zu werden. Er ist der einzige von den Dich­tern seiner Generation, der das zustande gebracht hat. Er hat mit einem entschiedenen Ruck sein altes Gewand von sich abgeworfen. Er hat den Mut, neu zu beginnen, einge­denk des alten Taowortes, daß der Weg, nicht das Ziel den Sinn des Lebens mache. Ein Wort, das die ganze Ziel­philosophie über den Haufen wirft. Klein sagt zur Tänze­rin: „Wenn Sie tanzen, Teresina, und auch sonst in man­chen Augenblicken, sind Sie wie ein Baum, oder ein Berg oder Tier, oder ein Stern, ganz für sich, ganz allein, Sie wollen nichts anders sein, als was Sie sind, einerlei ob gut oder böse.“ – Dies spricht mich so an, als hätte ich es selbst gesagt. Und ich habe es auch oft gesagt: fast mit den gleichen Worten. Und also ist es auch meine Sache, die ich hier führe. – Auch die Zerspaltenheit, die doppel­te oder gar dreifache Gestalt oder Gestaltung des eigenen Ich gewinnt bei Hesse wie einst bei Goethe und später bei den Romantikern erneut Bedeutung und tiefsten Sinn. Selbst Gott ist gut und böse. Klein zugleich Wagner. Wie Klabund einmal Henschke und Villon war – und ist. Es gibt noch viele Deutsche, die nicht wissen, wer eigentlich Eulenspiegel sei. Wie sie nicht wissen, daß die deutsche Seele in Faust und Simplex und Eulenspiegel gespalten: und dennoch eins ist. Ein Wort hier über das typisch Deut­sche und das typisch Jüdische in der heutigen deutsch­sprachlichen Dichtung. Womit das eine gegen das andere nicht ausgespielt, sondern nur klar gestellt werden soll. Der Gott des natürlichen Wesens, der da ist in jedem Ge­schöpf, die wir seine Manifestation darstellen wie der Baum oder der Stern oder der Regenwurm: der Gott der Unschuld, des reinen Schmerzes und der reinen Freude: das ist der deutsche Gott. Aber der jüdische Gott: das ist der Gott der Propheten des Alten Testaments und ihrer heutigen Nachfahren: Ehrenstein, Wolfenstein, Rubiner, Hasencle­ver; Frank: der Gott der moralischen Forderung, der Stra­fe und der Belohnung – aber auch der Rache. Hasenclever und Frank wollen die Menschen ändern. Hesse und Sin­clair – große Beispiele dieser Richtung: Shakespeare und Goethe: – nehmen den Menschen, wie er ist. Er wächst unter ihren Händen wie eine Blume, wie ein Stück Natur: er kommt aus dem Samenkorn, aus der Erde hervor, sprießt, blüht, welkt und stirbt ab, um dieses Spiel der Zeiten und Jahreszeiten, das einzige Spiel Gottes, immer neu zu begin­nen. Die Quintessenz dieses Lebens liegt im Sein schlechthin, die Quintessenz jenes Lebens im Wollen. Der morali­sche Gott wirbt um Proselyten: er will nicht nur sich: er will vor allem auch die andern. Er ist herrschsüchtig. Der natürliche Gott will nur sich selbst: er spielt nur ein Bei­spiel. Er überzeugt. Der andere überredet. Idee und Hand­lung können beim moralischen Gott niemals eins werden. Er tritt mit Forderungen an die reale Welt heran, die sie nie erfüllen kann. Er steht außerhalb ihrer. Der andre: mittendrin. Zum Beispiel: Leonhard Frank schrieb ein Buch: „Der Mensch ist gut“, in dem er gegen die Waffe an sich, gegen den Brudermord an sich aufrief. Heute hat er gegen den Krieg der roten Soldaten nichts einzuwenden. Waffe aber bleibt Waffe: in den Händen des roten oder weißen Soldaten, und Krieg bleibt Krieg. Frank setzt sich mit seinen eigenen Prinzipien, ja seinem Grundprinzip in Widerspruch. Rubiner schrieb ein Drama: „Die Gewaltlosen“ – war er gegen die Diktatur des Proletariats? Den großen Worten sind große Taten nur bei denen gefolgt, die niemals die Ethik gepachtet zu haben meinten. Wir wol­len wieder natürlich werden. Nicht im Sinne Rousseaus, in dem wir schöne Bücher darüber schreiben, um selber so unnatürlich wie möglich zu sein. Wir wollen alles von uns selbst, nichts vom andern fordern: als was er nicht freiwillig zu geben imstande und willens ist. Eine ökono­mische Diktatur: schön, aber eine Diktatur über unsre See­len: niemals. Die deutsche Jugend hat sich von Hasen­clever und Frank fortentwickelt. Ihr Weg geht über den „Demian“ und den „Klingsor“.

(aus: Die neue Rundschau 31/2, 1920)

Die neue Rundschau

… ist eine 1890 gegründete Literaturzeitschrift, die im S. Fischer Verlag erscheint. Mit ihrer über 125-jährigen kontinuierlichen Geschichte gehört sie zu den ältesten Kulturzeitschriften Europas.

Geschichte

Freie Bühne für modernes Leben (1890–1891)

Der Theaterkritiker Otto Brahm und der Verleger Samuel Fischer gründeten die Zeitschrift 1890 als „Freie Bühne für modernes Leben.“ Sie wollten mit der Monatsschrift insbesondere neuen Kunstrichtungen wie dem Naturalismus eine Bühne geben. In der Praxis war die Zeitschrift aber nicht auf eine Kunstrichtung festgelegt. Die erste Krise kam im Juli 1890, als der Redakteur Arno Holz und sein verbündeter Mitarbeiter Hermann Bahr die Zeitschrift in Protest verließen.

Freie Bühne für den Entwicklungskampf der Zeit (1892–1893)

Nach Auseinandersetzungen über die künstlerischen Schwerpunkte der Zeitschrift wurde sie erstmals 1892 umbenannt in „Freie Bühne für den Entwickelungskampf der Zeit“. Einher damit ging eine Umstellung auf populärere Inhalte und auf monatliche Erscheinungsweise. Die Hauptarbeit leistete Wilhelm Bölsche, der Bruno Wille und die Brüder Heinrich und Julius Hart zu Mitarbeitern gewann. So wurden die „grünen Hefte“ zur Institution im Geistesleben Berlins.

Neue Deutsche Rundschau (1894–1903)

Im November 1893 übernahm Otto Julius Bierbaum die Redaktion der Zeitschrift, die er in „Neue Deutsche Rundschau“ umbenannte, in Anlehnung an die „Deutsche Rundschau“. Auf Grund von Differenzen mit Samuel Fischer gab er nach vier Monaten die Stellung wieder auf.

Von 1894 bis 1922 war Oskar Bie leitender Redakteur.

Die neue Rundschau

1904 folgte schließlich die Umbenennung in „Die neue Rundschau“. Die Zeitschrift wurde in der Folge zu einem der wichtigsten Foren für moderne Literatur und Essayistik im wilhelminischen Deutschen Reich und in der Weimarer Republik. Auffällig war die enge Verbindung der Zeitschrift mit dem Fischer Verlag, die auch Auswirkungen auf die Veröffentlichungspraxis hatte: Die wichtigen Schriftsteller des Verlags konnten hier Erstabdrucke veröffentlichen und ihre Werke wurden von Kollegen desselben Verlags rezensiert. Zu den Rezensenten und Verfassern literarischer Aufsätze gehörten so bedeutende Literaturkritiker wie Alfred Kerr und Schriftsteller wie Robert Musil, Thomas Mann, Oskar Loerke, und Robert Walser.

In den Jahren von 1919 bis 1921 schrieb auch Alfred Döblin – unter dem Pseudonym Linke Poot – für die Zeitschrift.

Nach Oskar Bie übernahm erst Rudolf Kayser und ab 1932 Peter Suhrkamp die Leitung. Während der nationalsozialistischen Herrschaft konnte die Zeitschrift zunächst weiter erscheinen und wurde erst kurz vor Kriegsende 1944 verboten. Sie wurde aber bereits 1945 durch Gottfried Bermann-Fischer im Exil in Stockholm wiedergegründet und erscheint bis heute.

Inhalt

Die vierteljährlich erscheinenden einzelnen Hefte haben einen Themenschwerpunkt. Zu diesem erscheinen Beiträge von Schriftstellern, Wissenschaftlern, Philosophen oder Publizisten. Des Weiteren erscheinen Werkgespräche mit nationalen und internationalen Schriftstellern sowie unregelmäßig Beiträge zum Thema Übersetzung literarischer Texte.