Kurt Wafner, eigentlicher Nachname Wawrzyniak, geboren am 25. November 1918 in Berlin, gestorben am 10. März 2007 in Berlin, war Lektor, Autor, Antimilitarist und Anarchist.
„Ursprünglich hieß er mit Nachnamen Wawrzyniak und seine Vorfahren waren eine Mischung aus polnischem Landadel und französischen Emigranten, den Hugenotten. Sein Vater stirbt früh, 1923, und seine Mutter versucht sich selbst durchzuschlagen. Sein “Weltbürger”-Onkel Bernard, der Mitglied der “Anarchistischen Vereinigung Weißensee” war, brachte dem Jungen Kurt die Anarchie nahe, und so beginnt Kurt Wafner bereits mit 13 Jahren die anarchistischen Klassiker zu lesen. Wafner lernte in diesem bewegten Berlin noch Persönlichkeiten wie Erich Mühsam, Ernst Friedrich, Theodor Plivier und Rudolf Michaelis kennen“, schreibt Jochen Knoblauch.
Im Institut für Syndikalismusforschung erzählt Kurt Wafner über die ersten Kontakte:
„… Ich bin über meinen Onkel Bernhard mit Anarchisten und anarchistischer Literatur in Berührung gekommen. Ernst Friedrich, (Gründer des Antikriesmuseums in Berlin) Pazifismus hat mich stark beeinflusst und auch Schriftsteller wie Traven, Zola, Gorkij…, das waren meine Vorbilder. Mit 13 Jahren bin ich dann zum ersten Mal zu einem Treffen der Anarchistischen Vereinigung Weißensee mitgegangen.
Was war das für eine Gruppe?Die anarchistische Vereinigung gab es in verschiedenen Berliner Bezirken. Viele Genossen waren auch gleichzeitig in der FAUD organisiert. Die Gruppe in Weißensee bestand etwa aus 25 – 30 Personen. Die Männer brachten dann ihre Frauen mit, es war damals nicht so üblich wie heute, dass die Frauen festintegrierte Gruppenmitglieder waren, es gab da sehr verschiedene Vorstellungen.
Aus was für Menschen bestand die Gruppe?Die meisten waren sehr unterschiedliche Charaktere. Ich erinnere mich an einen Genossen, wir nannten ihn Fluner, der konsequenter Vegetarier war, mit langen Haaren, Bart bis zur Brust. Es gab auch recht bürgerliche Genossen mit Schlips und Kragen und so.Was ich jetzt gesagt habe, trifft auch auf die FAUD zu, es gab sehr unterschiedliche Lebensweisen und Charaktere. Nicht so wie bei den Kommunisten mit ihrem proletarischen Gehabe, bei den Anarchisten gab es das auch, aber eben auch Andere.“
Theodor Otto Richard Plievier (bis 1933: Plivier) (12. oder 17. Februar 1892 in Berlin – 12. März 1955 in Avegno, Schweiz) war Schriftsteller. Bekannt wurde er vor allem durch seine Romantrilogie über die Kämpfe an der Ostfront des Zweiten Weltkriegs, bestehend aus den Werken Stalingrad, Moskau und Berlin.
Rudolf Michaelis, Pseudonym „Michel“, war ein deutscher Anarchosyndikalist. Er wurde am 31. März 1907 in Leipzig geboren und wuchs in einer Pflegefamilie auf, da seine Mutter unmittelbar nach seiner Geburt starb. 1924 schloss er sich einer anarchistischen Jugendgruppe und bald darauf der anarchosyndikalistischen Gewerkschaft FAUD an.
Traven (28. Februar 1882 in Schwiebus – 26. März 1969 in Mexiko-Stadt), deutscher Schriftsteller und mehrfach verfilmter Bestsellerautor, ist nach gegenwärtigem Erkenntnisstand das Pseudonym des deutschen Metallfacharbeiters und Gewerkschaftssekretärs Otto Feige. (aus Wikipedia)
Émile Édouard Charles Antoine Zola (2. April 1840 in Paris – 29. September 1902 in Paris) war ein französischer Schriftsteller, Maler und Journalist.
Zola gilt als einer der großen französischen Romanciers des 19. Jahrhunderts und als Leitfigur und Begründer der gesamteuropäischen literarischen Strömung des Naturalismus. Zugleich war er ein sehr aktiver Journalist, der sich auf einer gemäßigt linken Position am politischen Leben beteiligte. (Aus Wikipedia)
Maxim Gorki (16. März (julianischer Kalender) 28. März 1868 (Gregorianischer Kalender) in Nischni Nowgorod – 18. Juni 1936 in Gorki-10, westlich von Moskau) war ein russischer Schriftsteller. Er hieß eigentlich Alexei Maximowitsch.
Aus Wikipedia:
„… Die Freie Arbeiter-Union Deutschland (FAUD) entstand am 15. September 1919 durch Umbenennung aus der Freien Vereinigung deutscher Gewerkschaften (FVDG). Sie war bis zu ihrer Auflösung 1933 die wichtigste Organisation des deutschen Anarchosyndikalismus. (…)
Der Begriff Anarchosyndikalismus bezeichnet die Organisierung von Lohnabhängigen, basierend auf den Prinzipien von Selbstbestimmung, Selbstorganisation und Solidarität. Ideengeschichtlich stellt der Anarchosyndikalismus eine Ergänzung des Anarchismus um den revolutionären Syndikalismus dar.“
Wikipedia schreibt über Wafners Mitgliedschaft in der FAUD und der Freien Arbeiterjugend (FAJ):
„… Mit dreizehn Jahren machte Kurt Wafner Bekanntschaft mit der anarchistischen Literatur und mit Vierzehn wurde er Mitglied der FAUD nahestehenden „Freien Arbeiterjugend“ (FAJ). In dieser Zeit besuchte er die „Anarchistische Vereinigung Weißensee“ in Berlin, die 1934 aufgelöst wurde. Diese Vereinigung war in mehreren Berliner Bezirken tätig und veranstaltete politische Aktionen, Vorträge zur Tagespolitik und anarchistischer Theorie sowie Literaturlesungen, Museums- und Theaterbesuche. Hier lernte er Erich Mühsam und später Ernst Friedrich, Gründer des Anti-Kriegsmuseum sowie den libertären Schriftsteller Theodor Plivier kennen. In den 1930er-Jahren war Wafner bei einem Schülerstreik aktiv beteiligt, weil der sozialdemokratische und jüdische Schuldirektor abgesetzt wurde. Daraufhin wurde Wafner von der Schule verwiesen.“
Einen Nachruf zum Tod von Kurt Wafner schrieb die Redaktion der „Graswurzelrevolution“ Redaktion in Münster im April 2007 – Ausgabe 318. Mit freundlicher Genehmigung dieser Nachruf:
„… Zum Tod von Kurt Wafner (25.11.1918 – 10.3.2007)
„Das wahre Heldentum liegt nicht im Morden, sondern in der Weigerung, den Mord zu begehen.“ Nach dieser Maxime des pazifistischen Anarchisten Ernst Friedrich, neben Erich Mühsam eines seiner Vorbilder, hatte Kurt Wafner zu leben versucht.
Er hat es geschafft, obwohl bei seiner Beteiligung als Landser am Zweiten Weltkrieg nicht viel gefehlt hätte, und er hätte sich aktiv am Morden beteiligen müssen. Doch seine Sozialisation im anarchistischen Jugendgruppen-Milieu der zwanziger Jahre hatte Kurt Wafner zum bewussten Außenseiter werden lassen, der auch in schlimmsten Lebenssituationen, von denen er viele durchmachen musste, nach Wegen suchte, um seine Menschlichkeit nicht zu verlieren. Später, in den neunziger Jahren wurde der Kriegsteilnehmer zu einem der Zeitzeugen bei der Ausstellung „Vernichtungskrieg. Verbrechen der Wehrmacht 1941-44“, zu der er auch eigene, während der Kriegszeit gemachte Fotos beisteuerte.
In einem seiner Artikel, die er zu jener Zeit für die Graswurzelrevolution schrieb, fasste er sein Bemühen, bei der Rehabilitierung von Wehrmachtsdeserteuren mitzuhelfen, zusammen:
„Für die aufmerksamen Betrachter bieten die hier ausgebreiteten Dokumentationen noch tiefere Einsichten: Jede Auseinandersetzung mit Waffengewalt erzeugt menschliches Leid – Tod und Vernichtung. Darum dient sie niemals dem Volk, sondern stets einer Prestige und Profit gewinnenden Oberschicht. Und jeder Dienst mit der Waffe in einer Staats-Armee hilft die Kriegsgefahr zu vergrößern, anstatt sie abzubauen.“ (Kurt Wafner: Ausgeschert aus Reih‘ und Glied. Mein Leben als Bücherfreund und Anarchist, Edition AV, Frankfurt/M. 2001, S. 186, alle weiteren Zitate ebenfalls aus dieser Autobiographie.) Insofern sprach Kurt Wafner auch von seiner eigenen Mitschuld, ohne je im Weltkrieg auf den Feind geschossen zu haben… Und genau darin, in dieser Ehrlichkeit, nichts vertuschen zu wollen, liegt für mich ein Großteil seines Vermächtnisses auch für die libertär-gewaltfreie Bewegung.
Das Revolutionskind
Kurt Wafner wurde im November 1918 mitten in der Berliner Novemberrevolution geboren.
Im März 1919 rückten Freikorpstruppen in der Frankfurter Straße vor, wo das Wohnhaus der Eltern und Großeltern Kurts stand. Mehrfach ließ Noske dort und in angrenzenden Straßen streikende ArbeiterInnen hinrichten – ein Menetekel für das, was Kurt als Erwachsener noch mit eigenen Augen sehen sollte. Auf Umwegen zog die Familie bald nach Berlin-Weißensee.
Nach dem frühen Tod seines Vaters holte die Revolution Kurt ganz privat ein: „Aber eines Tages brach eine Revolution in unseren Alltag herein. Bernard zog zu uns, mein Onkel, der jüngste Bruder meines verstorbenen Vaters. Er wurde Mutters Lebensgefährte. Bernard nannte sich Weltbürger, Vagabund, Anarchist. Er war schon in verschiedenen Ländern umhergezogen und brachte eine frische Brise in unsere abgeschiedene Welt – die Freude am freien Denken, am aufrechten Gang. Und den Hass auf Krieg und Gewalt.“ (S. 24)
Mit Hilfe des 1938 nach Argentinien ausgewanderten Bernard entdeckte Kurt zwei Leidenschaften: die für den Anarchismus und die für Bücher. Er wurde später auch Zeitzeuge der Bücherverbrennung. Bücher begleiteten ihn sein ganzes Leben. Für seine geistige Entwicklung profitierte Kurt von der Weißenseer weltlichen Reformschule, in der er Interesse an allen Formen der Kunst entwickelte, seien es Theater, Chorgesang, Malerei, Musik usw. Mit zehn Jahren bekam Kurt von Bernard das aufwühlende Antikriegsbuch von Ernst Friedrich, Krieg dem Kriege, in die Hand. Er begegnete Ernst Friedrich in dessen 1925 eröffneten Berliner Antikriegs-Museum. „Ernst Friedrich wurde einer meiner wichtigsten Wegbereiter. An die erschütternden Bilder in Buch und Museum dachte ich oft, als ich die Schrecken des Krieges selbst erleiden musste. Und ich fragte mich so manches Mal: Warum waren die leidenschaftlichen Rufe dieses Rebellen und seiner Getreuen ungehört verhallt?“ (S. 45) Bernard nahm Kurt auch zu Treffen der „Anarchistischen Vereinigung Weißensee“ mit, wo sich wöchentlich rund 20-25 Aktive trafen. Über die Weißenseer Gruppe lernte Kurt Erich Mühsam kennen:
„Die Persönlichkeit Erich Mühsams nahm einen großen Raum in meinem Leben ein. Ich war stolz, als es einige Male zu persönlichen Gesprächen kam. Ich erinnere mich an eine Begegnung mit ihm in der Geschäftskommission (GK) der FAUD (Freie Arbeiter-Union Deutschlands; d.A.), die sich am Märkischen Ufer befand. (…) Mühsam, der dort einige Male mit Rudolf Rocker, dem Kopf der anarchosyndikalistischen Bewegung zusammentraf, sprach mich an. (…) Er wollte wissen, was ich las. Als ich ihm Autoren wie Mark Twain, Jack London, Zola und Traven nannte, war er sichtlich zufrieden. Er wollte gehen, doch dann wandte er sich noch einmal um und sagte: ‚Vergiss Goethe nicht! Und Heine! … Die sind wichtig!’ Dass er mir ‚bürgerliche’ Literatur empfahl, verstand ich damals nicht so ganz (…). Später beschäftigte ich mich ausführlicher mit Mühsams Kunstkonzept. (…) Es sei ‚lächerlicher Unfug’, von proletarischer Kunst zu reden. ‚Kunst soll begeistern’, schrieb er.“ (S. 50)
In den letzten Jahren der Weimarer Republik nahm Kurt am kulturellen Leben der anarchistischen Szene in Berlin teil.Nach einem Vortragsabend mit Erich Mühsam beteiligte er sich nach Ansprache von zwei Freunden an der Gruppe „Freie Arbeiter-Jugend“ (FAJ). Zu deren Aktivitäten zählten Ausflüge in die Berliner Umgebung, bevorzugt zum Hönower Badesee, wo sich Jugendliche aus der Lebensreformbewegung trafen, Lagerfeuerromantik erlebten, Antikriegslieder sangen, über freie Liebe diskutierten und der in der anarchistischen Jugendbewegung damals verbreiteten Freikörperkultur (FKK) frönten – und wo Kurt einige frühe Liebesabenteuer hatte.
Das war schon Anfang der dreißiger Jahre. Gegen den aufkommenden Antisemitismus war Kurt resistent. Das hatte auch damit zu tun, dass das jüdische Ehepaar Else und Leib Bubis in die Wohnung der Wafners als UntermieterInnen einzog. Leib Bubis las den Wafners an Familienabenden Werke jüdischer SchriftstellerInnen vor und wanderte mit Kurt zusammen über den jüdischen Friedhof.Er war ein Onkel von Ignatz Bubis, dem 1999 verstorbenen ehemaligen Vorsitzenden des Zentralrats der Juden Deutschlands. Ignatz fand das erst 1996 durch Zufall heraus, besuchte dann Kurt – und daraus entwickelte sich eine freundschaftliche Beziehung. Als mich Kurt Wafner kurze Zeit später für einige Tage im Redaktionsbüro der damaligen Süd-Redaktion der GWR besuchte, erzählte er mir ganz begeistert von dieser Freundschaft. Ignatz Bubis lud ihn, seine Ehefrau Ingrid und seine Enkelin Nadja sogar noch zu einer Reise nach Israel ein.
Gratwanderungen im Nationalsozialismus
Noch kurz vor der Regierungsübernahme der Nazis nahm Erich Mühsam mehrfach an den Gruppenabenden der FAJ teil. Es traf die Gruppe umso härter, als sie erfuhr, dass Mühsam 1933 von den Nazis verhaftet und 1934 im KZ Oranienburg zu Tode gefoltert worden war. Die Bücher kritischer und anarchistischer AutorInnen im Hause Wafner wurden aus Angst entweder selbst verbrannt, mussten in einen Verschlag in den Keller oder wurden an geheimen Stellen im Boden vergraben, so etwa die Programmhefte des Kabaretts „Schall und Rauch“ von Max Reinhardt, die Kurt in den 80er Jahren über einen westdeutschen Verleger als Reprint wieder veröffentlichte.
„Wir protestierten mit kleinen Schritten – aber auch sie wurden zunehmend gefährlicher – bald schon konnte ein politischer Witz das Todesurteil bedeuten. Unsere ‚Kampfmittel’ waren passive Resistenz gegenüber den Forderungen der Nazis, selbst wenn die Karriere oder ein sorgloses Leben gefährdet waren, und die antifaschistische Aufklärung. (…) Allmählich lichteten sich unsere Reihen. Der zunehmende Naziterror hatte auch in die Familien einiger Jugendgenossen erbarmungslos eingegriffen. Sie blieben aus Vorsicht fern. Andere fielen der Wehrmachts-Dienstpflicht zum Opfer. Ich erinnere mich an den Abschiedsabend mit Herbert – einem der beiden, die mich für die FAJ geworben hatten.
Es kam keine rechte Stimmung auf. Und es war wie Hohn, als wir zaghaft, mit gesenktem Blick eines unserer ‚Kampflieder’ anstimmten: „Nie woll’n wir Waffen tragen / nie zieh’n wir in den Krieg!’“ (S. 89) Wer nicht flüchtete und ins Exil ging, wollte wenigstens noch eine Weile Sand ins Getriebe streuen. Die Wanderausflüge waren noch möglich und auf einer Wanderung vereinigte sich die FAJ mit der Reinickendorfer kommunistischen Parteijugend. Die praktische Notwendigkeit, gegen die Nazis zusammenzuarbeiten, führte zum Einheitsgedanken. Die KP-Strategie des „Trojanischen Pferdes“, nazistische Organisationen wie etwa den Kleingärtner-„Heimatbund“ zu unterwandern, führte jedoch nur zu kleinen Erfolgen. So gelang es Kurt, bei einem Laienspielabend dem Publikum Verse von verbrannten Schriftstellern unterzujubeln.
Das Bündnis bekam Risse, als Rudolf Michaelis 1936-39 aus Barcelona Berichte über den Terror der StalinistInnen 1936 nach Berlin sandte. Und auch die Pressemeldungen über die Schauprozesse in Moskau stellten die Jugendlichen aus den zwei Lagern auf eine harte Probe, doch sie blieben zusammen. Anfang April 1939 war es jedoch vorbei: Kurt wurde zum Reichsarbeitsdienst eingezogen.
Weil er nur Dienst nach Vorschrift machte, sich nicht vordrängte, beim Schießen nur Fahrkarten schoss und darauf achtete, nicht Karriere zu machen, indem er immer wieder auf eine kleine Sehbehinderung hinwies, blieb er im Arbeitsdienst („den Spaten am Tornister, das Gewehr über der Schulter“), als die Wehrmacht in Polen einfiel. Hier schon erlebte er die Vertreibung der jüdischen Bevölkerung durch die Wehrmacht, während er mit dem Spaten zerstörte Straßen ausbesserte. Er kehrte im Oktober nach Berlin zurück, doch nun gab es keine Schonzeit mehr. Es war eine ständige, anstrengende Gratwanderung, nachdem er im April 1940 zum Militär eingezogen wurde. Er schaffte es, zum Innendienst zu kommen („Kartoffelschälen für die Küche, Hilfsarbeiten für die Kleiderkammer, Pferdegeschirre reinigen“). In dieser Funktion nahm er am Überfall auf die Sowjetunion teil, in der Nachhut. Das ständige Sich-Durchlavieren ermüdete den Einzelkämpfer. So war er froh, als er mit drei anderen ehemaligen anarchistischen Genossen zu einer Kartenrunde zusammenfand, die zwei Jahre zusammenblieb und als Wachsoldaten für sowjetische Kriegsgefangene diesen mitunter Nahrungsmittel zustecken konnte.
Die Gruppe sorgte für ein halbwegs anständiges Überleben unter Tätern, sofern das überhaupt möglich war:
„Als der LKW in die Stadt einfuhr, ließ der Leutnant plötzlich halten und befahl uns, anzuschauen, was mit ‚bolschewistischen Verbrechern’ geschehen würde. Und wir mussten sie uns dann ansehen, die Galgen mit den daran baumelnden Toten – auf dem Platz vor dem Theater und an einer Straßenecke.“
Mit seinem anarchistischen Freund Rudi Kuhn ging er nach der „Räumung des Minsker Ghettos“, wo im November 1941 6-10.000 russische Juden und Jüdinnen liquidiert worden waren, dorthin, um sich die Hölle mit eigenen Augen anzusehen: Sie sahen eine Wüste, alles zerstört, Hausrat, Scherben, Kleidungsstücke, Körperteile Ermordeter, tote Säuglinge, an denen Ratten nagten. Rudi sagte zu Kurt:
„’Weißt du, im Grunde sind wir auch schuldig an all dem, was hier passiert ist… Wir helfen ja mit in diesem Verein – du, weil du für die Landser Kartoffeln schälst und sie mit neuen Klamotten versorgst und ich, weil ich sie ausbessern helfe.’ Ich musste ihm beipflichten.“ (S. 119) Der aufrechte Gang war hier aussichtslos geworden.
Kurt wurde wie durch ein Wunder von seinem damaligen Arbeitgeber Mitte 1943 gerettet, der meinte, dass Kurt daheim im Betrieb „mehr fürs Vaterland“ tun könne denn als „halber Soldat“ in der Etappe. Gegen Kriegsende wurde Kurt noch ein Trupp jugendlicher Volkssturm-Eiferer zugeteilt, doch er, der eigentlich Befehlshabende, ging einfach nicht zum Einsatz und versteckte sich in Bunkern, bis die Rotarmisten kamen. Er bekam mehrere Vergewaltigungen durch die Rotarmisten mit. Trotz dieser schlimmen Erlebnisse sprach Kurt rückblickend von einer „Befreiung“ vom Nationalsozialismus.
Auseinandersetzungen mit der Literaturdoktrin der DDR
Er hatte das Gefühl, jetzt beim Aufbau mitwirken zu müssen. Von 1945 bis 1950 war Kurt Mitglied der KPD im sowjetischen Sektor bzw. dann der DDR.
Bis zu seiner Pensionierung 1983 sollte er mehrmals den Beruf wechseln. Er arbeitete anfangs sogar kurzzeitig als Polizist, doch fast immer hatte seine Tätigkeit etwas mit Büchern zu tun, ob als Bibliothekar, als Journalist oder als Korrektor von literarischen Übersetzungen.
Schnell geriet er in Konflikt mit der rigiden Literaturdoktrin des Marxismus-Leninismus Immer wieder wehrte er sich, so gut er konnte, gegen den stalinistischen Kunst-Formalismus oder gegen den aufkommenden Nationalismus und die Agitation gegen den so genannten bürgerlichen „Kosmopolitismus“. Anlass für seinen Austritt aus der SED 1950 war die Lektüre der Broschüre von Rudolf Rocker: Der Leidensweg von Zenzl Mühsam über deren Leidensweg in den stalinistischen Gefängnissen. Erich von den Nazis ermordet, seine Frau Zenzl in der Sowjetunion gequält, das war zu viel.
Solange die Mauer noch nicht gebaut war, hatte Kurt Kontakt zu Fritz Linow und den alten GenossInnen um die Zeitschrift Die freie Gesellschaft, für die er unter Pseudonym einige Beiträge schrieb.
Nach dem Bau der Mauer arbeitete er lange für die DDR-Fernsehzeitung „FF Dabei“. Das ständige Anecken, das ständige Wechseln der Tätigkeit, das ständige Neuanfangen ermüdete Kurt, der schließlich Kompromisse machte:
„Eine große Anzahl Artikel sind in diesen Jahren (…) aus meiner Feder geflossen – Reportagen, Feuilletons, Interviews, Meldungen und Glossen –, und es war schon absonderlich, wenn sich in meinem Kopf der Streit zwischen dem Zensor und dem Querdenker abspielte. Siegte der Querdenker, bekam ich den Beitrag meist zurück und musste dann doch dem Zensor das Feld überlassen.“ (S. 175)
Nach dem Fall der Mauer beteiligte sich Kurt kurze Zeit bei der „Vereinigten Linken“ (VL), nahm am Hohenschönhausener Runden Tisch teil und gab ein Jahr lang die „Oranke-Post“ heraus, die Teil einer Bewegung freier Zeitungen auf Bezirksebene war, die bald erstarb und an die sich heute niemand mehr erinnert.
Die VL verließ er, als sich dort „Honeckerhörige Altmarxisten und Jungfunktionäre der Stasi“ (S. 184) breit machten.
Er nahm Kontakt zur Umweltbibliothek, zur Freien-ArbeiterInnen-Union und zur Graswurzelrevolution auf. Bei seinem Heidelberger Redaktionsbesuch fiel mir neben seinem sympathischen Auftreten sein fotographisches Gedächtnis auf. Er konnte sich exakt an einen Schulausflug nach Heidelberg erinnern, den er in den zwanziger Jahren mit seinem Gesangschor gemacht hatte. Er sprach mit großer innerer Befriedigung von seiner Aufgabe als Zeitzeuge für die Wehrmachtsausstellung und den Diskussionen mit Ex-Landsern, die alles verdrängt hatten. In den letzten Jahren seines Lebens reiste er viel, um noch in hohem Alter die Welt zu sehen. Schließlich ließ seine Sehkraft stark nach und er erblindete fast, bevor er nun starb.“ Rael
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Und das restliche Interview mit Kurt Wafner – erschienen im Institut für Syndikalismusforschung – www.syndikalismusforschung.info – möchte ich auch noch übernehmen:
„Tanz mit dem Teufel“
Gab es Konflikte zwischen Proleten und „Intellektuellen“?
K.W. Nein, Spannungen gab es eher nach den verschiedenen Weltanschauungen. Ob man Waffen für den politischen Kampf benutzen sollte oder nicht. Starke Spannungen gab es auch um Erich Mühsam. Von ihm war aus der Zeit der Münchener Räterepublik bekannt, daß er durchaus bereit war, mit Kommunisten zusammenzuarbeiten, wenn es zweckdienlich erschien. Andere, besonders der spätere Verräter Herbert Wehner, waren entschieden dagegen.
Wie sah die politische Arbeit der Anarchistischen Vereinigung aus?
K.W. Es wurden viele kulturelle Dinge unternommen, um das Weltbild des Menschen zu vertiefen, z.B. Theaterbesuche, Literaturlesungen, Museumsbesuche. Aber auch politische Aktionen, wie Plakatieren, anarchistische Vorträge zu Theorie und Tagespolitik und Hofkolonnen, die bei den Menschen für den Wahlboykott und andere Ziele warben. Es gab auch Gedenkfeiern zu Sacco und Vancetti oder dem Haymarket… .
Gab es eine politische Verfolgung von Staatsseite?
K.W. Die anarchistische Vereinigung oder die FAUD waren in der Weimarer Republik nicht verboten, wurden aber von der Polizei seit Ende der zwanziger Jahre kritisch verfolgt. Plakatieren war gefährlich und des öfteren wurden Redner oder Hofkolonnen verhaftet, weil sie zu radikal agitiert hatten. Auch die Zeitung der FAUD, der „Syndikalist“, wurde öfters verboten.
Du bist dann in eine andere Gruppe eingetreten?
K.W. Ja, zusätzlich, denn die Leute in der anarchistischen Vereinigung waren alle viel älter als ich. Ich war 1932 erst 14 Jahre alt. Ich war ganz froh, daß mich nach einem Vortrag zwei junge Leute fragten, ob ich nicht Interesse hätte, zur „Freien Arbeiter Jugend“ (FAJ) zu kommen. Freie Arbeiterjugend, schwarzer Wimpel mit roter Schrift, ich war begeistert. Die FAJ war aus der SAJD hervorgegangen und erhielt von der FAUD jede erdenkliche Unterstützung. Die Gruppe bestand aus circa 25 Personen, wir trafen uns einmal in der Woche in einem Jugendheim, und am Wochenende gingen wir auf Fahrt. Das war einer der wichtigsten Bestandteile unseres Gruppenlebens, auf Fahrt zu gehen und all das zu machen, was man aus freiheitlichem Drang heraus tun wollte. Dann gab es auch Vorträge von Erich Mühsam zum Beispiel, was für mich eine sehr wichtige Begegnung war. Er sprach über die Räterepublik, freie Liebe und so fort. Er sprach immer sehr leidenschaftlich und es war schon ein Vergnügen, ihm bloß zuzuhören.
Heute wirft man ihm ja oft Sexismus vor!
K.W. Das zweite Mal, als ich ihn sprechen hörte, sprach er über die freie Liebe und Sexualität, und das war für mich sehr einprägsam, daß er sehr viel Hochachtung vor der Frau forderte von einem Mann, daß er also das genaue Gegenteil von Sexismus meinte.
Er hatte ja auch viele sexuelle Kontakte, habt ihr seine Tagebücher gelesen, das war mehr, als damals bekannt war.
Ich erinnere mich, gerade die Genossinnen damals fanden das nicht besonders gut, freie Liebe ja, aber man darf‘ s nicht übertreiben. Es gab da ja verschiedene Stufen der Sexualreformen und der freien Liebe. Freie Liebe hieß zunächst nur eine partnerschaftliche Beziehung zu jemandem eingehen ohne staatliche oder kirchliche Einmischung. Eine andere Meinung sagte, daß man sexuelle Bindungen jederzeit wechseln sollte, könnte und wollte, je nachdem.
Mühsams Standpunkt war: Wenn man mit einem Partner glücklich ist, sollte man mit ihm zusammensein. Der Mensch war für ihn aber polygam veranlagt, Männer mehr als Frauen, dann sollte man sich keine Beschränkungen auferlegen. Daran muß eine bestehende Partnerschaft nicht unbedingt kaputtgehen, wenn jeder den anderen akzeptiert und jeder tun kann, was sein Leben verschönt, das sei wirkliche Freiheit. Er meinte, jeder Zwang sei verderblich und wenn sich zwei Menschen ganz doll lieben, dann bleiben sie auch zusammen und wenden sich nicht anderen zu. Er hat immer sehr stark gegen die bürgerliche Moral, die Kirche und den Staat gewettert.
Es muß auch gesagt werden, daß Erich Mühsam sehr stark gegen den Feminismus war, er meinte, daß sich Frauen nicht im Arbeitsprozeß aufreiben sollten die Kindererziehung sei eine schöne und wichtige Aufgabe.
Würde man heute Frauen sagen, was Mühsam dachte, würden sie sagen: „Ich will doch nicht am Herd stehen und Kinder kriegen, ich will auch was aus mir machen!“
Heute hat man oft den Eindruck, daß die FAUD damals sehr viel straffer organisiert und auch militanter war, als es die FAU heute ist!
K.W. Also grundsätzlich muß gesagt werden, daß innerhalb der anarchistischen Bewegung eine Vielzahl von Meinungen herrschte. Es hat auch mal einer gesagt, jeder Anarchist habe seine eigene Meinung, das war natürlich überspitzt gesagt. Aber damals gab es schon verschiedene Gruppen wie der pazifistische Kreis um Ernst Friedrich oder aber Anarchosyndikalisten wie Rudolf Rocker oder Erich Mühsam, die sich nicht Pazifisten, sondern Antimilitaristen nannten. Sie meinten, daß man eine revolutionäre Erhebung auch mit Waffengewalt durchführen müsse. Die FAUD war sich in dieser Frage nicht einig, auch in unserer Jugendgruppe gab es mitunter Diskussionen.
Wurde auch in der Weimarer Zeit gegen die Nazis gearbeitet, gab es da Zusammenstöße oder lief es mehr auf Propagandaebene?
K.W. Nein, es gab auch schon Zusammenstöße. Hauptsächlich fanden die Auseinandersetzungen am Ende der Weimarer Republik allerdings zwischen Kommunisten und SA- Trupps statt.
Also, direkte Zusammenstöße mit Anarchisten habe ich nicht miterlebt, viele Genossen der FAUD meinten ja auch, daß unser Kampfmittel der Streik und nicht der Gummiknüppel sei. Natürlich waren bei 1. Mai- Demonstrationen, als es Prügeleien zwischen Nazis und den anderen gab, wo dann die Polizei mit Gummiknüppel dazwischen ging, auch Anarchisten beteiligt. Es gab auch die „Schwarzen Scharen“; Anarchisten, die sich uniformierten, was ja eigentlich unüblich war, mit Koppel, Schulterriemen und schwarzem Hemd. Allerdings waren sie mehr im Rheinland und Westfalen verbreitet, als Schutztruppe gegen Nazis und SA.
Ich kann mich erinnern, daß Erich Mühsam im November ’32 schon sehr stark über die drohende Gefahr des Nationalsozialismus gewettert hat, als er wieder einmal in unserer Gruppe war. Es war also damals schon sehr deutlich spürbar, daß bald ein Schwung nach rechts stattfindet.
Es wird oft gesagt, daß die Nazi- Bewegung schon langsam wieder am Abschwellen war, als sie an die Macht gekommen ist, und andere Gruppen, z.B. das Großkapital, Hitler erst zur Macht verholfen haben. War das damals wirklich so spürbar, oder kam der Gedanke erst im nach hinein?
K.W. Nein, das war eigentlich nicht so spürbar. Wir haben uns damals diese Fragen auch nicht so gestellt. Was uns damals schon abschreckte, waren die Theorien Hitlers und der Nazis, die auch schon bekannt waren. In „Mein Kampf“ hat er ja auch ganz klar dargelegt, wie er sich eine zukünftige Gesellschaft vorstellt, nämlich ohne Juden, daß die Deutschen ein „Volk ohne Raum“ seien und den Osten mit wenig Volk, aber mehr Raum urbar machen und kolonisieren sollten. Die Nazis haben doch ein wenig den Nerv der Deutschen für sich vereinnahmt. Also diesen schon immer vorhandenen Antisemitismus, das Nationalgefühl, den Militarismus, die Überheblichkeit und den Hang zum Untertanengeist. Auf der einen Seite nach untern treten und nach oben bücken.
Viele Freunde, Bekannte, auch Genossen oder Leute aus der KPD, die vorher noch gegen Hitler eingestellt waren, waren nach der Machtübernahme plötzlich ganz scheu, wenn man ihnen begegnete. Wenn man sie darauf angesprochen hat, sagten sie dann: „Na, ja, nun wollen wir erst mal warten, so schlimm wie immer geschildert, scheint Hitler ja nicht zu sein, und die Arbeitslosigkeit wird beseitigt, und es ist sauber und mit den Juden, das wird sich wieder geben, usw.“
Uns hat dann sehr verwundert, daß plötzlich Hakenkreuzfahnen aus Fenstern hingen, wo früher rote hingen.
Wieviel Spielraum hatte man eigentlich nach der Machtübernahme, war das sofort spürbar oder konnte man noch einige Wochen oder Monate halbwegs ungestört weiterarbeiten?
K.W. Man konnte noch ein paar Wochen weiterarbeiten, aber es war natürlich spürbar, daß irgendetwas kommen müsse. Nachdem uns in unserem Treffpunkt, dem Jugendheim, gekündigt wurde, haben wir uns zuerst einmal in privaten Wohnungen weitergetroffen, auch in unserer Wohnung. Ich habe die Karl- Marx- Schule besucht, eine Reformschule, und wollte dort mein Abitur machen. Aber unser sozialdemokratischer und jüdischer Direktor wurde abgesetzt und ich nahm an einem Schülerstreik teil und wurde relegiert.
Nach dem Reichstagsbrand wurden viele Leute, auch Erich Mühsam, die auf der Liste standen, abgeholt und zum Teil geschlagen. SA- Leute haben Arbeiter aus ihren Wohnungen geholt, zum Teil ihre früheren Genossen aus dem Rotfrontkämpferbund, und jetzt waren die einen bei den Nazis. Ein Genosse hatte einen Prozeß zusammen mit anderen Anarchisten und mußte 2 Jahre ins Emsländer Moor.
Wir haben uns dann öfter auf Fahrt getroffen, denn in der Natur fühlten wir uns sicherer. Wir versuchten auch, die Bücher, die in der „Gilde freiheitlicher Bücherfreunde“ lagerten, in Sicherheit zu bringen. Die kamen dann in unseren Keller. Am 10. Mai sind dann Bücherberge in Flammen aufgegangen, da hatten wir den richtigen Riecher. Aber zuerst war eine Zusammenkunft noch möglich.
Wie habt ihr auf die Machtergreifung der Nazis reagiert?
K.W. Unsere Haupttätigkeit in den ersten Monaten bestand darin, Berichte von den Inhaftierten zu sammeln. Von Erich Mühsam und anderen, und zu überlegen, wie können wir helfen? Die älteren sammelten Geldspenden und Material, wir jüngeren riefen dazu auf. Ansonsten haben wir versucht, in unserem Umfeld, in der Schule oder Werkstatt auf die Nazigreuel hinzuweisen und zu agitieren. Wir wußten von den Greueln und Schrecken der Nazis schon sehr früh, z.B. Von Zensl Mühsam, die berichtete, wie schrecklich ihm mitgespielt wurde.
Die Anarchistische Vereinigung Weißensee löste sich Ende 1934 auf, und ich verlor die meisten Genossen aus den Augen. Viele sind weggezogen oder in die „innere Emigration“ gegangen. Einige beteiligten sich an illegalen Flugblatt- und Antifa- Aktionen. Einige Berliner Anarcho- Syndikalisten nahmen auch in Spanien am Kampf gegen den Faschismus teil. Mir persönlich ist nicht bekannt, daß ein Genosse auf die Seite der Nazis übergelaufen wäre, im Gegensatz zu den Kommunisten, wo das ja öfter vorgekommen ist.
Ich würde mich aber nicht als Widerstandskämpfer bezeichnen, im Vergleich zu der Gruppe Baum oder den Geschwistern Scholl vielleicht.
Was war in der Zeit danach?
K.W. Wir kamen immer noch in unserer Wohnung zusammen, als ein Nazi- Funktionär in unser Haus einzog. Ich begrüßte den, wie ich es gewohnt war, mit „Guten Tag“, statt mit „Heil Hitler“. Der hat mich dann bei der Ortsgruppe angeschwärzt, und die haben mich dann zusammengedonnert, wie ich denn dazu käme, nicht den Deutschen Gruß anzuwenden vor so einem hohen Würdenträger und ob man mir das in der HJ nicht beigebracht hätte. Dann habe ich gesagt, nö, der Hitlerjugend gehöre ich gar nicht an. „Warum bist denn du deutscher Junge nicht in der HJ?“, haben sie mich dann gefragt, und ich habe dann gemacht, daß ich da wegkomme. Zum Glück war ich schon zu alt, um noch in die Pflicht- HJ zu müssen.
Konntet Ihr euch danach noch treffen?
K.W. Wir haben uns danach nur noch auf Fahrt getroffen. Es war zwar nicht gern gesehen, wenn junge Leute außerhalb der HJ nicht im Gleichschritt die Straße entlang liefen, aber viele Wirte waren noch nicht auf Parteilinie umgeschwenkt. Einmal saßen wir in der Kneipe und dann kamen noch ein paar junge Leute in die Kneipe rein. Jungen und Mädchen, auch so mit der Klampfe in der Hand, einer hatte sogar noch ein Akkordeon dabei. Dann beschnupperten wir uns erst mal, und es stellte sich heraus, daß es Leute von der ehemaligen Fichte- Jugend waren. Fichte war eine Sportorganisation, die von der KPD betreut wurde, da gab es Wandern, Schwimmen und Tennis und so. Von diesem Moment an schlossen wir uns zusammen und waren eine gemeinsame Gruppe.
Da es immer gefährlicher wurde, ohne Legitimation auf Wanderschaft zu gehen, beschlossen wir, in eine legale Organisation einzutreten: Den Verband der märkischen Wanderer. Das war eine große Organisation von Heimatforschern, die waren aufgeschlossen gegenüber allen Leuten, die da eintreten wollten, und bildeten so eine Art Auffangbecken für linke, antifaschistisch orientierte Gruppen. Wir hatten unseren Ausweis und waren ungefährdet. Dann sind wir noch in den Heimatbund der kleindeutschen Kleingärtner eingetreten. Da haben wir dann antifaschistische Arbeit geleistet, wie wir sie verstanden haben.
Dort waren viele jüngere Leute aus der HJ und dem BDM, wir haben mit denen geredet und versucht, die zu beeinflussen. Wir haben eine Volkstanz- und eine Laienspielgruppe gegründet. Ich habe mich um das Laienspiel gekümmert, weil das mit Literatur zu tun hatte, mein Steckenpferd von jeher. Die Nazifunktionäre haben dann gesagt: „Jawoll, schön, daß du mitmachst, macht‘ mal, ein richtiger deutscher Junge.“ Die kamen dann gleich mit einer Literaturliste, alles Nazistücke: Blut und Boden, Wehrmacht Wehrpflicht, Volk ohne Raum, rassische Sauberkeit. Ich habe dann gesagt, zu humorlos, zu viele Personen, langweilig und anderes. Stattdessen haben wir dann andere „deutsche Stücke“ aufgeführt, Gerhard Hauptmann und Kleist. Für uns war es schon ein großer Erfolg, wenn wir bei einem großen Abend der Kleingärtner Gedichte von Brecht oder Klabund aufführen konnten, ohne daß sie jemand erkannt hat, was ja auch gefährlich geworden wäre.
Wie lange ging das gut?
K.W. Von 1935 – 38. Wir kamen ’38 noch zusammen, aber es wurde dann einer nach dem anderen eingezogen. Es war ja bereits Wehrpflicht und ich erinnere mich, wir haben dann immer einen Abschiedsabend veranstaltet. Das war sehr traurig, wir hatten so ein Lied, „Nie, nie wollen wir Waffen tragen, nie ziehen wir in den Krieg“. Das war ziemlich deplaziert, wenn man wußte, der Betreffende wird morgen mit der Waffe in der Hand über den Exerzierplatz gescheucht. Dann waren wir sehr wenige und kamen nur noch familiär zusammen. Paul Lerm, der Leiter der Volkstanzgruppe, war außerdem noch in einer Widerstandsorganisation, den roten Sportlern, und ist verhaftet worden. Er mußte dann zwei Jahre ins Emsländer Moor. Ich persönlich kam 1939 in den Arbeitsdienst und die Verbindung existierte nur noch mit wenigen Leuten.
Wie bist du zur Wehrmacht gekommen?
K.W. Nachdem ich die gleichgeschaltete Schule verlassen mußte (direkte aktion Nr. 112), schlug ich mich zunächst mit allerlei Gelegenheitsarbeiten durch, da ich mir nicht vorstellen konnte, meinen Traumberuf, Redakteur oder in einem Verlag zu arbeiten, unter der herrschenden Herrenmenschen- Ideologie auszuüben. Einer aus unserer Jugendgruppe brachte mich dann als Physiklaborant in seinem Betrieb bei Siemens- Plania unter. Ich büffelte Mathematik und bestand die Aufnahmeprüfung an der Ingenieurschule. Im April 1939 hätte ich anfangen können, aber da hatte man mich schon in Marsch gesetzt, zum Arbeitsdienst nach Sodargen an der litauischen Grenze. Auf meine Proteste bekam ich nur zu hören, das halbe Jahr müssen sie abreißen, danach können sie immer noch studieren. Aber das war blauer Dunst.
Wie war das beim Arbeitsdienst?
K.W. An die Schinderei auf der Baustelle konnte man sich gewöhnen, aber die ständigen, machtlüsternen Versuche der Ausbilder, meine menschliche Würde zu verletzen, waren schwer zu ertragen. Dazu das Exerzieren, die gebrüllten Befehle: Auf! – Hinlegen! Marsch, Marsch! Die gemeinsten Beschimpfungen, Staub, Dreck und die körperlichen Torturen, das alles griff meine körperliche Substanz an.
Im Sommer 1939 wurde zusätzlich noch eine Ausbildung am Gewehr vorgenommen, hier sah ich meine Chance. Aufgrund meiner Sehschwäche in Folge einer Hornhautentzündung wurde ich vom Dienst mit der Waffe befreit.
Wir hörten noch am 1. September 1939 Hitlers Kriegsgeschrei im Radio an und dann kam der Abmarschbefehl. Wir waren als Baukompanie Soldaten geworden. So marschierte auch ich nach Polen. Die Vertreibung der Jüdinnen und Juden und die Mißhandlungen durch die SS- Herrenmenschen haben mich mit Scham und Entsetzen erfüllt. Aber dann die Untaten der sowjetischen Waffenbrüder, von denen ich eine mit ansah, Flugzeuge aus dem Arbeiterstaat, die Bomben auf polnische Arbeiter und Arbeiterinnen abwarfen. Als die Schlacht geschlagen war, traten wir Eroberer den Heimweg an, mit Marschmusik zog unsere Kompanie im südostpreußischen Johannisburg ein. Am Straßenrand eine jubelnde Menge. Junge Mädchen umarmten und küßten uns, steckten uns Sträuße an die Mützen. Da schwoll so manchem Helden der Kamm, und es war für ihn ein gelungener Auftakt zu späteren Eroberungen, vielleicht in der sonnigen Krim oder dem eisigen Kaukasus?
Wie war die Motivation der Soldaten?
K.W. Es gab auch beim Militär keine einheitliche Linie. Die Alternative zum Militärdienst war ’35/ 36 noch Gefängnis, 1939 war das schon viel strenger. Da gab es schon Todesstrafe oder eine Drangsalierung, der man nicht standhalten konnte. Dieses Heldentum habe ich persönlich und viele andere nicht an den Tag gelegt. Meine Devise war, wenn schon Soldat, dann ein schlechter.
Die Motivation der meisten war auch als Soldat deutsch: Wir sind keine Nazis, Hitler hat Mist gemacht und den Krieg hätte es nicht geben müssen. Aber wenn schon Krieg, dann wollen wir alle so tun, um zu gewinnen, sonst geht es uns noch viel schlechter. Dazu kommt der Gehorsam. Man kann drei Gruppen in der Wehrmacht unterscheiden:
Überzeugte Nazis aus HJ oder Ordensschulen. Es gab damals „richtige germanische“ Ordensschulen. Die wollten den Krieg für Hitler und das deutsche Volk gewinnen.
Die breite Masse der Soldaten, die sagten, wir machen mit, weil wir keine andere Wahl haben.
Diejenigen, die von Anfang an versuchten, Widerstand zu leisten. Wie wir mit kleinen Schritten oder die, die desertierten, und zum Teil zu den Partisanen übergelaufen sind.
Wie war Dein Werdegang als Soldat?
K.W. Als ich aus Polen zurückkam, wurde ich zum Wehrdienst gemustert und trotz meines Augenleidens k.v. (kriegsverwendungsfähig; d.V.) geschrieben. Ich kam zu einer Artillerieeinheit nach Frankfurt/ Oder. Die Rekrutenausbildung war noch schärfer als der Drill beim Arbeitsdienst: Exerzierdienst bis zum Umfallen, systematisches Brechen des Selbstbewußtseins, das stupide Gewehrgriff- Klopfen, Stechschritt und die mit beinahe wissenschaftlicher Akribie durchgeführte Einweisung in die Funktion der Geschütze.
Meine Devise war natürlich Distanz halten, zu nichts melden. Nach den Schießübungen wurde ich erneut zum Augenarzt geschickt, und infolge dessen wurde der Vermerk k.v. in meinem Soldbuch durch g.v.H. (garnisionsverwendungsfähig Heimat; d.V.) ersetzt, und ich kam in den Innendienst. Eigentlich hätte es mich froh stimmen sollen, aber ich wußte, so manch einer meiner Kameraden hätte nur zu gern eine kleine „Macke“ gehabt. Ich glaube, die meisten beneideten uns, aber die Zackigen ließen uns spüren, daß wir für die „Drückeberger“ waren.
März ’41 kam ich dann zur Bewachung französischer Kriegsgefangener nach Berlin, von wo ich in Folge des Überfalls auf die Sowjetunion nach Rußland gelangte. Die eroberten Ostgebiete galten auch als „Heimat“, so daß ich mich nicht erfolgreich widersetzen konnte.
Auf dem Marsch nach Rußland machte ich die Bekanntschaft von Rudi Kuhn. Wir lagen auf einer sommerlichen Wiese und unterhielten uns: „Diktaturen schüren den Krieg“, wagte ich zu sagen, man konnte sich ja nie vor Spitzeln sicher sein. „Kannst Du dir eine Gesellschaft ganz ohne Staat vorstellen“, fragte er. Da wurde ich hellhörig: „Wie Bakunin sie beschrieb, oder Kropotkin…?“. Da wurde er hellhörig: „…oder die anarchistischen Gewerkschaftler der FAUD?“ Wir frischten gemeinsame Erinnerung an Versammlungen und Vorträge auf, und von dem Moment an haben wir zusammengehalten. Rudi Kuhn war Schneider und in der FAUD aktiv gewesen.
Auf dem weiteren Vormarsch habe ich dann in einer zerschossenen Bibliothek Arno Erlecke kennengelernt. Ich stand gerade vor den Regalen und betrachtete die Bücher, als Arno mit einem Buch von Rosa Luxemburg neben mir stand: „Das sollte man gelesen haben“, sagte er leise. Arno war in der KPD gewesen und seiner Weltanschauung treu geblieben, er brachte dann auch den vierten Mann mit. Willy, war ebenfalls in der KPD gewesen und hatte einige Monate in einem der ersten Kz‘ s verbracht. Er war Maurer und hatte sich mit dem Polier, einem Nazi angelegt. Wir vier sind dann die nächsten zwei Jahre zusammengeblieben.
Wie wart Ihr eingesetzt, wie habt Ihr als Gruppe zusammengehalten?
K.W. Unsere Einheit war zur Bewachung der russischen Kriegsgefangenen in Minsk eingesetzt. Rudi und ich hatten Innendienst, aber die anderen beiden waren direkt zur Bewachung der Gefangenen eingesetzt. Wir haben versucht, uns so menschlich wie möglich zu verhalten, mal was zuzustecken. Wir haben da auch in der Gruppe viel darüber diskutiert, wie verhält man sich bei einem Fluchtversuch. Denn die Mannschaften, denen die Gefangenen entkamen, wurden, falls diese wieder zurückgebracht wurden, zur Erschießung eingeteilt. Schlimm war es, als die Partisanen kamen, einmal weil da zur Kampfeinheit ausgesiebt wurde und andererseits, weil fast täglich Gefangene flohen. Willy hat eine Gruppe Gefangener entkommen lassen und wurde nun zur Hinrichtung eingeteilt. Das war für ihn ganz furchtbar, was kann ich bloß tun, hat er gesagt und sich dann sinnlos betrunken, in der Annahme, dann zurückgestellt zu werden, Aber er ist von der Feldgendarmerie abgeholt worden, und wir haben ihn nie wieder gesehen.
Über weltanschauliche Fragen haben wir kaum diskutiert, ob Anarchismus oder Diktatur, das war im Moment ganz unwichtig. Die waren Kommunisten, wir Anarchisten, wir haben nur gedacht, wie können wir helfen. Ein Mensch, der den gleichen Feind wie ich hat, ist erst mal mein Partner.
Wie sind die anderen Landser damit klargekommen, an so einer Erschießung teilzunehmen?
K.W. Es gab so eine Art stillschweigende Übereinkunft, über diese Dinge nicht zu sprechen. Man schweigt und verdrängt. Es ist wieder so ein Fall, in der Theorie ist alles glatt, aber in der Praxis ist die Situation: er oder ich. Ich bin glücklicherweise in diese Situation nicht gekommen.
Schlimm war es mitanzusehen, wie sich die eigenen Kameraden beim Transport der Kriegsgefangenen ins Lager mitunter aufgeführt haben. Die Gefangenen kamen am Güterbahnhof in der eisigen Kälte ’41/ 42 an, bis zu -40 Grad Celsius. Viele waren schon erfroren oder konnten nicht mehr laufen. Die paar, die noch laufen konnten, mußten 7 Kilometer durch die ganze Stadt. Wer nicht mehr konnte, wurde sofort per Genickschuß ermordet. Die Straßen waren voller Leichen. Daran waren auch viele Hilfstruppen beteiligt, Ukrainer, Letten, Weißrussen. Die haben Hitler zunächst als Befreier von den Bolschewisten gesehen, aber ihren Irrtum schnell erkannt. Da gab es allerdings auch überzeugte Nazis, die wollten der SS beweisen, wie „gut“ sie sind.
Wie weit war das Wissen über die Greueltaten in der Armee verbreitet?
K.W. Offiziell durfte nichts verlauten. Es gab auch Briefkontrollen und harte Strafen. Die meisten Landser haben aber von sich aus geschwiegen, untereinander und zu Hause, die Familie sollte vom Krieg nichts mitbekommen.
Von Erschießungen und der systematischen Vernichtung der Kriegsgefangenen durch Kälte, Hunger und Krankheiten wußten alle im Lager und auch an der Front. Da gab es ganz andere Verbrechen als im Hinterland, die Frontbereinigung zum Beispiel, bei der die Dörfer verbrannt und die Menschen erschossen wurden. Unsinnig ist auch der Gedanke, die Wehrmacht sei ein sauberer Haufen, SS und Polizeitruppen hätten die Verbrechen begangen. Die Gefangenenerschießungen, der Massenmord durch Hunger und Kälte, das war die Wehrmacht. Die Judenmassaker in der Zitadelle von Kowno/ Kaunas, in Dünaburg. All das war auch denen bekannt, die nicht unmittelbar beteiligt waren. Genauso wie jeder, der denken konnte, wußte, daß es Kz‘ s gab und die Judenvernichtung.
Unsere Gruppe, wir haben versucht, das Schweigen zu durchbrechen und auch zuhause von den Verbrechen berichtet.
Es war uns auch wichtig, Kontakt zur russischen Bevölkerung zu bekommen. Ich hatte dann auch Freundschaften, offiziell war das ja verboten, „Verbrüderung mit den Eroberten“. Aber man konnte das tarnen, man hatte halt ein Mädchen und das wurde dann stillschweigend akzeptiert. Sexuelle Bedürfnisse waren ja nun mal da bei den Landsern, und Bordelle gab es nicht genug. Wir jungen Männer, hatten sowieso das Interesse mit einer Frau zusammenzukommen. Ich hatte im Verlauf dieser zwei Jahre auch russische Mädchen, und es war mir wichtig, auch Kontakt zu deren Familien zu bekommen und zu sehen, wie sie leben.
? Wie erklärst Du dir diese Unmenschlichkeit in der deutschen Wehrmacht? Zum Großteil waren es ja ganz normale Menschen.
K.W. Ich kann mir das nur so erklären, daß bei dem deutschen Volk ein Haß auf Fremde und Andersartige schon immer vorhanden war. Und dann war natürlich der Gedanke, wehe, wenn wir den Krieg verlieren, was dann mit uns passiert. Da ist es besser, jetzt auszurotten, was noch auszurotten geht. Oft wurde mit Argumentation Wut geweckt, wie, ein Heckenschütze hat einen Soldaten erschossen. Es gab einen Befehl, für einen deutschen Soldaten 100 Einwohner zu ermorden. Auch das Bewußtsein, Macht zu haben, war ein wichtiger Faktor in der Wehrmacht.
Ein Argument ist sicher auch, daß der Krieg verroht, wir haben das dann umgekehrt erlebt, 1945 das Verhalten der Roten Armee in den eroberten Gebieten, Vergewaltigungen und so weiter.
Wie lange warst du in Minsk, wie ging es weiter?
K.W. Anfang ’43 wurde ich beauftragt, eine Theatergruppe zu organisieren, und bekam doch noch den ungeliebten Gefreitenwinkel. Seit Winter ‚ 43 griffen infolge der sich abzeichnenden militärischen Niederlage die Erschießungen der Gefangenen immer weiter um sich. Ich unternahm einen erneuten Vorstoß, untauglich zu werden, und wurde nun schließlich aufgrund meiner Sehschwäche a.v.H. (arbeitsverwendungsfähig heimat; d.V.) geschrieben.
Der Leiter des Physiklabors bei Siemens- Plania machte sich für mich stark und ich bekam eine u.k.- Stellung (unabkömmlich; d.V.) in Berlin. Während meines Aufenthaltes bei der Wehrmachtsentlassungseinheit stand plötzlich Herbert Teschow vor mir, einer der beiden jungen Männer, die mich 1931 angesprochen hatten, in die Freie Arbeiterjugend einzutreten.
Er war nun davon bedroht, noch an die Ostfront zu kommen und weihte mich in ein Vorhaben ein, das über Leben und Tod entscheiden sollte: Der Griff eines durchgerosteten Wäschekessels brach, und siedendes Wasser verbrühte Herberts Beine. Noch während er im Krankenhaus lag, wußte er nicht, ob man ihm den Unfall abnehmen würde, oder ob er wegen Selbstverstümmelung vors Kriegsgericht müßte. Wir verbrachten noch viele schöne Stunden zusammen.
Das Kriegsende habe ich hier in Berlin, in Hohenschönhausen erlebt. Ich saß im Keller und wartete auf die Befreier. Ich sage bewußt Befreier. Viele Historiker und Libertäre fragen, ob man Befreier sagen darf, aber für uns, die vom Nazireich Geschundenen, war es zu allererst ein Akt der Befreiung.
Wie hast Du die Vergangenheitsbewältigung wahrgenommen?
K.W. Ich war erschreckt, als ich feststellen mußte, daß viele Naziverbrecher wieder in Ruhm, Amt und Würde kamen, im Westen vor allem. Im Osten wurde auch vertuscht. Aber da war man schon näher an der Wahrheit, die führenden Nazis sind nicht wieder in ihre Sessel gekommen. Die kleinen Mitläufer kamen auch wieder in die Partei, die sollten sich bewähren.
? Wie hätte die Vergangenheitsbewältigung stattfinden sollen?
K.W. Man hätte radikal mit der Nazivergangenheit aufräumen müssen, man hätte den Nazis keine Chance geben dürfen, sich wieder so hochzuarbeiten, damit dieser ganze Neonazismus nicht wieder so entstanden wäre. Man hätte Menschen wie Filbinger aus dem öffentlichen Bereich ausschalten müssen. Man hätte verhindern müssen, daß sich in der Bundesrepublik eine Gruppe von Menschen zwar nicht zum Faschismus bekennt, aber sagt, die Wehrmacht war ein sauberer Haufen.
Aus: „Direkte Aktion“, 19. Jg. (1995), Nr. 112/113.
Eine sehr lesenswerte Autobiographie Kurt Wafners ist am 1. Oktober 2001 unter dem Titel „Ausgeschert aus Reih‘ und Glied. Mein Leben als Bücherfreund und Anarchist“ beim Verlag Edition AV . ISBN 3-9806407-8-7 erschienen. Jochen Knoblauch schreibt:
„…Den deutschen AnarchistInnnen fehlte es immer an lebendiger Geschichte. Regelmäßig erschienen zwar Klassiker, aber Geschichte, die von GenossInnen an die Jungen weitergetragen wurde ist spärlich vorhanden. Um so wichtiger erscheint mir, die jetzt im Herbst erscheinende Biographie des Ost-Berliner Anarchisten Kurt Wafner, der in den Tagen der November-Revolution am 29.11.1918 in der Frankfurter Allee geboren wurde. Ursprünglich hieß er mit Nachnamen Wawrzyniak und seine Vorfahren waren eine Mischung aus polnischem Landadel und französischen Emigranten, den Hugenotten. Sein Vater stirbt früh, 1923, und seine Mutter versucht sich selbst durchzuschlagen. Sein “Weltbürger”-Onkel Bernard, der Mitglied der “Anarchistischen Vereinigung Weißensee” brachte dem Jungen Kurt die Anarchie nahe, und so beginnt Kurt Wafner bereits mit 13 Jahren die anarchistischen Klassiker zu lesen. Wafner lernte in diesem bewegten Berlin noch Persönlichkeiten wie Erich Mühsam, Ernst Friedrich, Theodor Plivier und Rudolf Michaelis kennen.
Das Nazi-Deutschland überlebte er als “Schwejk”, und jene Dame in der Stadtbücherei, die ihn kurz nach 1933 noch mit Strenge den Hitlergruß abrang, wurde zu DDR-Zeiten seine Vorgesetzte, als er dort den Bibliothekarsberuf ausübte. Danach folgten noch Berufe wie Verlagslektor, Chef der “Roman-Zeitung”, Hörspielautor, Journalist u.a. Als Anarchist und Anti-Militarist war sein aufrechter Gang nur all zu oft eine Tortur, und er geht in seinen Erinnerungen nicht zimperlich mit sich selbst um, es gibt nichts zu beschönigen, und einiges liest sich sicherlich etwas hilflos, doch es lohnt sich in jedem Fall die Lebenserfahrungen dieses Mannes nachzulesen. Geschichte kann durchaus spannend sein.
Weitere Berichte von Kurt Wafner zum Widerstand gegen die NS- Herrschaft befinden sich in der „Schriftenreihe über den Widerstand in Berlin von 1933 bis 1934“, Hrsg.: Informationszentrum Berlin/ Gedenkstätte deutscher Widerstand.
Und auch erwähnenswert: Von Kurt Wafner sind Manuskripte und Feature, hauptsächlich über Klabund, im Deutschen Rundfunkarchiv in Babelsberg überliefert.