Kleines Klabund-Buch

Novellen und Lieder

Kleine Selbstbiographie 

Ich bin, da ich dieses schreibe, siebenundzwanzig Jahre alt. Aber ich könnte auch schreiben: drei Jahre, oder: fünfzigtausend. Ich stamme irgendwo aus der Mark. Ich bin ein Preuße. Und meine Farben, die ihr kennt, sind schwarz und weiß. Schwarz, das ist die Nacht, und weiß, das ist der Tag. Ich bin. Tag und Nacht. Ich bin in der Mark geboren, aber früher lebte ich einmal in China und schrieb, mit einer großen Hornbrille betan, kleine Verse auf große Seidenstreifen.

Mein Weg ist noch weit. Wer mich eine Stunde begleiten will, soll mir will­kommen sein. Immer wieder muss ich geboren werden. Ich kann mich noch gut erinnern, dass ich einmal ein Hase war und über die Felder hoppelte und Kohl fraß. Später war ich ein Geier, der den Hasen die Augen auszuhacken pflegte. So mor­dete ich mich selbst. Ich war gut. Ich war schlecht. Ich war schön und hässlich; liebreizend und entsetzlich, feige und tap­fer, herrisch und knechtisch. Ich liebe die Menschen. Aber ich liebe sie nicht mehr als die Tiere oder die Sterne, mit denen ich gerade so zu sprechen vermag wie mit dir, mein menschlicher Bruder. Ich liebe die Frauen. Allen voran die liebste Frau, die wir Tochter und Mutter Gottes war. Sie ist längst an Gottes Thron zurückgekehrt. Dort steht sie, die Lilie in der Hand, und lächelt und weint auf mich herab. – Was ihr kennt, ist nur ein Teil dessen, was ich dichtete. Oft hat mir der Wind die Blätter verweht, auf denen ich schrieb. Ich habe bei meinen vielen Wanderschaften zwei ganze Dramenmanuskripte verloren. Wer sie gefunden hat, soll sie behalten, ob er nun sein Zimmer damit tapeziert oder ob er sie seiner Frau nach dem Nachtmahl vorliest. Immer wieder muss ich mit heißer Klinge die klingen­den Kämpfe in mir zu Ende fechten. Den Kampf der roten und der weißen Rose. Wenn ich einmal verblutet dahinsinke, soll man mir weiße und rote Rosen aufs Grab werfen. Das soll ge­schmückt sein wie ein Brautbett, und ein liebendes Paar soll wie Goldregen darauf niederstürzen. Und noch im Tode werde ich das neue Leben segnen.

Locarno 1919, 29 Jahre alt

Il Santo Bubi

Er saß ganz oben an der Tafel, neben dem Sekretär der Kurverwaltung. Sein rundes, rosiges, glattes Gesicht, große blaue Kinderaugen, ein kahl geschorener, blonder Schädel und die kurzen, schwarzweißkarrierten englischen Pumphosen ließen ihn beim ersten Anblick als einen Gymnasiasten von höchstens 18 Jahren erscheinen. Als ich die Unvorsichtigkeit beging, ihn an der Tafel zu fragen, wann er sich dem Abiturium zu unterziehen gedenke, begegneten seine Blicke den meinen mit einem liebenswürdig überlegenen Spott, und er stellte sich als Referendar Dr. jur. S. vor, nicht ohne seine Titel als Lächerlichkeiten mokant zu betonen. Er war sehr schwer krank, obgleich er niemals hustete und ein blühendes Aussehen zur Schau tragen musste. Er saß an der Tafel zwischen fünf jungen Damen und wurde von ihnen zärtlich verwöhnt und (vielleicht) geliebt. Da er Süßspeise sehr gern aß, stellten ihm die Damen reihum ihren Anteil daran zur Verfügung, und er quittierte über ihre Freundlichkeit mit einem stets neuen und stets anmutigen Scherzwort, nahm sie aber im Übrigen als selbstverständlich und berechtigt entgegen.

Er spielte schlecht Klavier (und wusste es). Dennoch musste er sich jeden Abend nach dem Souper ans Klavier setzen und „In der Nacht, in der Nacht, wenn die Liebe erwacht“ spielen – eine Melodie, die er selbst als niederträchtig blödsinnig empfand, musste spielen, nur damit die jungen Mädchen seine schlanken, schönen, spielerischen Hände in der Bewegung beobachten und verehren und in Gedanken streicheln durften. Dies aber wurde mir bald klar: wie er Klavier spielte, spielte er sich selbst: als eine Operettenmelodie. Aber er spielte sie schlecht. Man hörte deutlich Schmerz und Seele hinter den Misstönen klingen, merkte die Absicht und wurde nicht verstimmt. Im Gegenteil: man fühlte sich in Moll berührt, angeklungen, beinahe gemartert von dem Schauspiel des kranken Menschen, der man selbst war. Der Referendar machte schon fünf Jahre hintereinander Kur, in allen berühmten Höhenorten für Lungenkranke. Tag für Tag acht Stunden liegen, bei gutem Wetter auf der Veranda, bei schlechtem im Zimmer. Spazierengehen war ihm täglich eine halbe Stunde erlaubt. Wenn er die halbe Stunde überschritt, bekam er Atemnot, Temperaturen und kroch auf eine Woche ins Bett.

Ich fragte ihn einmal, ob ich ihm Bücher borgen solle? Er schüttelte dankend den Kopf. Sie langweilten ihn. Er lese nicht einmal mehr die Zeitung. Er sehe den Himmel, er sehe die Wolken, die Berge, die Sterne, und zuweilen ins eigene Herz. Mehr brauche, wolle – und könne er nicht mehr „tun“. Wie er das aussprach, setzte er es ironisch in Anführungszeichen.

Drei Damen waren seine besonderen Trabanten: eine junge Schweizer Lehrerin aus Zürich, eine kleine Bajuvarin aus Kempten im Allgäu, und eine Italienerin. Die Italienerin („Die Königin der Berge“ nannte sie einst Herr K., Xylograph aus Braunschweig), galt als seine Geliebte, denn sie benutzte seinen Privatbalkon mit. Die drei spielten abends mit ihm Bridge (wobei er merkwürdigerweise immer gewann, obgleich doch die Parteien wechselten), kochten ihm auf einem Spirituskocher – was doch eigentlich in der Pension verboten war – seine Milch, (er trank Kindermilch), nähten ihm Knöpfe an, wuschen ihm die Kissen vom Liegestuhl mit Salmiak. Als ihn neulich ein kleines Geschwür am Hinterkopf plagte, musste er sich in die sachverständige Behandlung der kleinen Schweizer Lehrerin begeben, die einen Samariterkursus durchgemacht hatte.

Manchmal saßen sie zu dreien an seinem Bett, und er erzählte ihnen merkwürdige Geschichten, die er selbst erlebt haben wollte, sehr lustige Geschichten in einem traurigen Tonfall, worüber sie sehr lachten. „Il Santo Bubi“ nannten die drei ihn unter sich. Bubi hatte ihn das bayerische Mädel getauft. Il Santo, der Heilige, setzte die Italienerin dazu, denn, sagte sie: er ist gewiss ein Heiliger. Er tut, denkt, spricht nie etwas Schlechtes. Und hat es nie getan. Nur ist er krank. Aber alle Heiligen sind krank.

Kürzlich, bei der Untersuchung, verkündete ihm der Arzt, er könne vorläufig nicht mehr hier oben bleiben. Er müsse ins Tiefland hinab. Möglichst bald. Nach Heidelberg in die Klinik. Zu einer kleinen, ganz unbedeutenden, ganz ungefährlichen Operation. – Wir wissen alle hier, was es heißt, wenn einer der Unsern (wir sind ein Volk, wir Kranken) mit dieser Beschwichtigung in die Ebene zurückgesandt wird. Die Operation ist das letzte Mittel. Und hilft in einem von hundert Fällen. Manchmal schickt man die Leute auch nur hinunter, damit sie hier oben nicht sterben. Wegen der Statistik …

Der Referendar weiß das alles. Während seine drei Trabanten weinen, lächelt er. Er hat eine Extrapost bestellt, die drei werden ihn begleiten.

Ich sprach mit ihm über sein Schicksal, ruhig, sachlich, wie man über Geschäfte spricht. Die Krankheit ist schließlich ein Geschäft.

„Ich werde nicht sterben,“ seufzte er, und sein junges Gesicht verwandelte sich in das eines Greises, „ich kann nicht sterben, glauben Sie mir …“

Am nächsten Tage fand ich zwei Gedichte von seiner Hand auf meinem Platz am Frühstückstisch liegen. Mit einem kurzen Abschiedsgruß. Er war früh um sechs mit der Italienerin davongefahren.

Das erste Gedicht, bissig, von verzweifelter, verzweifelnder Komik, lautet:

Sie müssen ruhn und ruhn und wieder ruhn.
Teils auf den patentierten Liegestühlen
Sieht man in Wolle sie und Wut sich wühlen,
Teils haben sie im Bette Kur zu tun.

Nur mittags hocken krötig sie bei Tisch
Und schlingen Speisen, fett und süß und zahlreich.
Auf einmal klingt ein Frauenlachen, qualreich,
Wie eine Aeolsharfe zauberlich.

Vielleicht, daß einer dann zum Gehn sich wendet
– Er ist am nächsten Tage nicht mehr da–
Und seine Stumpfheit mit dem Browning endet.

Ein andrer macht sich dick und rund und rot.
Die Ärzte wiehern stolz: Halleluja!
Er ward gesund! ( …und ward ein Halbidiot.)

Über dem zweiten Gedicht steht die Überschrift:

Ahasver.

Ewig bist du Meer und rinnst ins Meer,
Quelle, Wolke, Regen – Ahasver.
Tor, wer um enteilte Stunden träumt,
Weise, wer die Jahre weit versäumt.
Trage so die ewige Last der Erde
Und den Dornenkranz mit Frohgebärde.
Schlägst du deine Welt und dich zusammen,
Aus den Trümmern brechen neue Flammen.
Tod ist nur ein Wort, damit man sich vergißt …
Weh, Sterblicher, daß du unsterblich bist!

Il Santo Bubi ist bei der Operation gestorben. Oder ist er nicht gestorben, der kranke Ahasver, der ahasverische Kranke? Lebt er noch? In Heidelberg? Oder sonst wo? Bin ich es vielleicht? Liegt er immer noch acht Stunden am Tag, und geht eine halbe Stunde spazieren, gestützt von seinen Trabanten, daß er beim Glatteis mit seinen schwachen Beinknochen nicht fällt?

Was bedeutet das: tot sein? Il Santo Bubi war gewiss kein richtiger Dichter. Aber wie schön ist jene Zeile „Tod ist nur ein Wort, damit man sich vergisst“ … Damit man sich vergisst.

Der Bär

Diese Geschichte beginnt wie ein Märchen der Brüder Grimm. Es ist aber kein Märchen. Es ist auch keine rechte Geschichte mit dem nötigen Schlusspunkt: eine runde Geschichte etwa, rund und durchsichtig wie eine Glaskugel, mit einer schillernden Moral. Diese Geschichte ist nämlich (beinahe) wahr und hat sich zugetragen in der kleinen Stadt, in der ich kürzlich zu Besuch weilte. Sie ist nichts als eine traurige und lächerliche Arabeske zu dem erhabenen Ereignis des Krieges, das sich draußen (weit von hier, die kleine Stadt weiß nicht wo … ) abspielt.

An dem Tage, an dem Deutschland an Russland den Krieg erklärte, traf in der kleinen Stadt der weit- und weltberühmte Zauberer Francesco Salandrini ein, welcher dort eine Vorstellung seiner großen und geheimen Künste zu geben gedachte. Er vermochte Wasser in Wein und Wein in Wasser zu verwandeln. Er zog den Bauernburschen auf dem Lande und den verblüfften Jünglingen und den kichernden Fräuleins der kleinen Städte nur so die Taler aus Nase und Ohren und ließ sie klappernd in seinen schwarz polierten Zylinder springen, obgleich offensichtlich zutage trat, dass er selber nicht im Besitze eines einzigen dieser silbernen Dinger war. Er zerschlug in seinem bereits erwähnten Zylinder, dem man gewisse magische Kräfte nicht absprechen durfte, ein halbes Dutzend roher Eier und buk ohne Feuer und ohne Pfanne in nichts als eben diesem Zylinder einen veritablen wohlschmeckenden Eierkuchen.

Herrn Salandrinis Gefährt, das mit einigen kleinen Fenstern versehen und ziegelrot angestrichen war, rollte, von einem schwermütigen und betagten Pferde gezogen, über die Oderbrücke rumpelnd in die Stadt ein. In seiner Begleitung befanden sich noch seine Frau: Bella, die Schlangendame, die schwebende Jungfrau, das überirdische Medium und eine Person, welche den prosaischen Namen Hugo führte.

Herr Salandrini, der sich mit Weltgeschichte und Politik noch nie in seinem Leben befasst hatte (und es auch fürder nicht zu tun gedachte, da er Steuern zu zahlen weder willens noch fähig war), verwunderte sich nicht wenig, die kleine Stadt in heller Aufregung zu finden. Alle Leute liefen durcheinander, die Kinder schrien und sangen, und die Frauen sahen besorgt aus den Fenstern.

Nichtsdestoweniger lenkte Herr Salandrini seinen Wagen ruhig und besonnen nach dem Salzplatz, wo an Jahrmärkten die Würfelbuden prunken und die Karussells sich munter drehen, um dort sein „Interessantes Wundertheater“ aufzuschlagen.

Er hatte mit Hilfe der schwebenden Jungfrau gerade den ersten Pflock in die Erde getrieben, einen Strick darum geschlungen und Hugo daran gebunden, als sich federnden Schrittes der dicke Polizist Neumann nahte, der ihn ebenso bestimmt wie freundlich darauf aufmerksam machte, dass er sich die weitere Mühe der Errichtung seines „Interessanten Wundertheaters“ sparen könne. Der Krieg sei erklärt. Die für heute Abend angesagte Vorstellung könne vom Bürgermeister in Anbetracht der ernsten Zeitumstände nicht mehr gestattet werden. Es gehe jetzt um andere Dinge als um den Eierkuchen im Zylinder oder um den gedankenlesenden Bären Hugo. Kein Mensch habe Lust, sich derlei abenteuerlichen Unsinn jetzt anzusehen. Er möge sein „Interessantes Wundertheater“ bis auf günstigere Zeiten suspendieren. Damit entfernte sich der Polizist Neumann, freundlich und bestimmt, wie er gekommen war.

Herr Salandrini war wie vor den Kopf geschlagen. Die Möglichkeit eines internationalen Konfliktes, der ihn um Beruf und Brot bringen konnte, hatte er nie im entferntesten in Berechnung gezogen. Auch Hugo, der gedankenlesende und wahrsagende Bär, hatte ihn davon in Kenntnis zu setzen verabsäumt, ja, er schien selber noch nichts von dem drohenden Unheil, das sich auch über seinem Haupte in dunklen Wolken zusammenballte, zu ahnen. Er saß klein und verhungert neben dem Pflock, knabberte wie ein Kind an seinen Pfotennägeln und starrte mit jenem Ausdruck beseelten Stumpfsinns vor sich hin, der unsere Lachmuskeln ebenso reizt, wie er unser Grauen erweckt.

Herr Salandrini setzte sich auf die Wagendeichsel und sann den ganzen Tag, was er nun anfangen solle, um sich und seine Familie durchzubringen. Er hieß eigentlich Schorsch Krautwickerl und war aus Bamberg. Zum Heeresdienst würde man ihn nicht mehr einziehen, dazu war er zu alt. Im Übrigen war er sich sehr klar, dass er augenblicklich bei niemand auf Verständnis und Teilnahme für seine merkwürdigen Kartenkunststücke und die erstaunliche Begabung des gedankenlesenden Bären Hugo zu zählen habe.

Er sann mehrere Tage. Dann ging er auf das Bürgermeisteramt und bat um irgendeine, wenn auch die geringste, Arbeit. Die schwebende Jungfrau und der Bär blieben in banger Erwartung zurück. Sie teilte schwesterlich mit ihm eine alte Brotkruste.

Herr Salandrini kehrte mit der frohen Botschaft zurück, dass er als Koksarbeiter bei der städtischen Gasanstalt Verwendung gefunden habe. Das war wenigstens etwas, wenn auch nicht viel, denn das Gehalt, das Herr Salandrini empfing, reichte kaum für einen Magen (der Bedarf – in Koksarbeitern ist schon im Frieden nicht nennenswert). Wenn also die schwebende Jungfrau zur Not noch mit versorgt war – vielleicht fände sie in der Stadt eine Stelle als Aufwaschfrau? – , was sollte aus dem kleinen, sowieso schon halb verhungerten Bären, ihrem Liebling, Kapital und Abgott werden?

Am nächsten Tage erschien in der Zeitung ein Inserat: „Edle Herrschaften werden um Abfälle gebeten für den wahrsagenden Bären des Zauberers Salandrini.“

So sättigte sich der Bär Hugo von nun ab an den Abfällen edler Herrschaften, die ihm nicht so reichlich zukamen, dass sie ihn völlig befriedigten. Er saß auf dem Salzplatz, an seinen Pflock gebunden, unter Aufsicht der schwebenden Jungfrau, welche Wäsche ausbesserte, und der Herbstregen wusch seinen Pelz. Es wurde Spätherbst, und der Bär fror. Sein Pelz zitterte und seine müden Augen sahen furchtsam zum bleiernen Himmel empor.

Die schwebende Jungfrau weinte.

Da kam Herr Salandrini auf einen guten Gedanken. Er war ja Koksarbeiter an der Gasanstalt. Er bat den Magistrat um Erlaubnis, den Bären in einen leeren warmen Raum der Gasanstalt, neben den großen Öfen, unterbringen zu dürfen. Der Magistrat, der sich von der Harmlosigkeit des halb verhungerten und schwächlichen kleinen Bären längst überzeugt hatte, gab die Einwilligung, und der Bär hockte nun hinter einer hölzernen Gittertür und blickte mit traurigen Augen in die feurige Glut der Öfen. Hin und wieder besuchten ihn die Kinder des Gasanstaltsinspektors und brachten ihm ein Stück Kriegsbrot oder Küchenreste. Er fraß alles, was ihm zwischen die Zähne gestopft wurde.

Eines Morgens aber lag er tot hinter dem Gitter, und das rosa Licht der Öfen tanzte über sein dunkelbraunes spärliches Fell.

Herr Salandrini war erschüttert, aber als Koksarbeiter hatte er keine Zeit zu langen Meditationen. Die schwebende Jungfrau warf sich schreiend über den toten Bären und das ganze sah aus wie ein Bild von Piloty.

Ob der Bär an Gasvergiftung oder an Unterernährung zugrunde ging, war nicht festzustellen.

Herr Rechtsanwalt K. kaufte Herrn Salandrini das Bärenfell samt dem Kopfe ab. Herr K. ist im Begriff, die Stadt zu verlassen und in Z. eine neue Praxis aufzunehmen. Er wird sich das Fell des wahrsagenden Bären Hugo in seinem Herrenzimmer an die Wand nageln, und wenn er Freunde bei sich zu Gast hat, wird er mit einer großen Gebärde auf das Fell deuten, seine Zigarrenasche nachlässig abschlagen und zerstreut zu erzählen beginnen:

„Als ich noch in den schwarzen Bergen Bären jagte …“

Bartholomäus und der junge Mann 

(Einem Freunde)

Bartholomäus hatte ihn im Odeoncafé kennen gelernt. Das Café war ziemlich gefüllt und er musste sich an einen Tisch setzen, an dem bereits ein junger Mann saß.

Er lüftete den in London gekauften Zylinder und fragte mit seiner leisen gepflegten Stimme:

„Ist hier ein Platz frei?“

Der junge Mann lächelte höflich, aber doch ein wenig verächtlich zu ihm und seinem Zylinder empor und sagte: „Bitte.“

Bartholomäus hörte aus dem Klang des einen Wortes sofort den eingeborenen Münchner heraus.

Er bestellte ein Erdbeereis mit Schlagrahm und prüfte unauffällig den jungen Mann, der ihn – er wusste nicht warum – stark zu beschäftigen begann.

Der junge Mann trug einen einfachen blauen, und dem Stoff nach zu urteilen, sehr wohlfeilen zweireihigen Jackettanzug, der ihm mit einer ungewollten Eleganz zu Leibe stand.

In seinem rotbraunen kantigen Indianergesicht steckte eine Virginia zu zwölf Pfennig.

Zwei harte blaue Augen musterten mit einer heiteren und bestimmten Sachlichkeit bald den, bald die aus dem Publikum.

Die Kapelle spielte den Walzer aus dem Rosenkavalier.

„Eine nette Musik,“ sagte der junge Mann und sprach das letzte Wort zu Bartholomäus herüber.

„Gewiss.“ Bartholomäus pflichtete dem jungen Mann zuvorkommend bei.

„Es ist ein Walzer,“ sagte der junge Mann. „Von wem wohl?“

„Von Strauß,“ beeilte sich Bartholomäus Auskunft zu geben.

„Der Strauß hat noch mehr nette Walzer gemacht, zum Beispiel die Donauwellen,“ setzte der junge Mann das Gespräch fort.

„Das ist ein anderer Strauß“, meinte Bartholomäus, „es gibt sehr viele Komponisten, welche Strauß heißen.“

„Eigentlich ist es ja auch gleichgültig wie die Leute heißen, welche Musik machen,“ gab der junge Mann zu bedenken, „es ist nur gut, dass überhaupt Musik auf der Welt ist. Was hätten wohl die Menschen, wenn sie sterben müssten, ohne einen Walzer gehört oder getanzt zu haben.“

„Sie tanzen gern?“
„So gern wie eine Frau.“

„Und Sie scheinen mir doch einer der männlichsten Männer, die mir je begegnet sind.“–
„»Frauen tanzen immer für andere, ich tanze für mich selbst.“
„Wann haben Sie zuletzt getanzt?“
„Vor fünf Wochen.“
„Wo? Hier in München? Wo tanzt man hier?“
„In Buenos-Ayres.“
„Sie waren in Buenos-Ayres?“
„Ich komme direkt daher.“
„Direkt aus Buenos-Ayres in dies Café?“
„Direkt aus Buenos-Ayres in dies Café! Mein Gepäck – wenn ich mein Bündel Gepäck nennen darf – liegt noch auf dem Bahnhof.“
„Aber Sie sind doch Münchner …“
„Gewiß …“
„Verzeihen Sie die Neugierde: wo haben Sie in Buenos-Ayres getanzt? In einem Varieté?“
„Nein, im Spital.“
„Sie sind kein Berufstänzer?“

Der junge Mann lachte laut und ernsthaft.

„Ich war Krankenpfleger. Ich habe den Sterbenden im Spital, ehe sie starben, noch einmal das Leben vorgetanzt.“

Bartholomäus klopfte sich mit den grauen Glacéhandschuhen nervös und nachdenklich auf die Schenkel.

„Verzeihen Sie,“ sagte er endlich und betonte zögernd und wie ergriffen jedes Wort, „verzeihen Sie, wenn ich noch eine weitere Frage an Sie richte. Ich beginne, Sie als mein Schicksal zu ahnen. (Nicht zufällig trat ich an diesen Tisch …) Alles, was ich je gedacht habe, das haben Sie getan. Sie sind recht eigentlich der, der mein Leben lebt. Ich denke es nur.– Wie alt sind Sie?“

„Siebzehn Jahr!“ sagte der junge Mann und lächelte. Denn er verstand nicht viel von dem, was Bartholomäus sagte.

„Siebzehn Jahr!“ echote Bartholomäus und versuchte, sich zu verwundern, „siebzehn Jahr! Mit wie viel Jahren sind Sie denn von Hause fort?“

„Mit vierzehn.“
„Ausgerückt?“
„Natürlich!“
„Und jetzt –?“
„Bin ich wieder hier!“

„Sie haben Recht: Sie sind wieder hier. Sie sind überall, wo Sie sind. Aber ich bin zum Beispiel nicht da, wo ich bin. Ich sitze gar nicht hier auf meinem Stuhl.“

„Wo sind Sie dann, wenn ich fragen darf?“ fragte der junge Mann belustigt und ließ seine silbernen Zähne glänzen.

„Mein Wille sitzt auf Ihrem Stuhl und nur mein Gedanke aß dieses Erdbeereis … Aber das begreifen Sie nicht, und Sie sollen es auch nie begreifen –.“

Bartholomäus erhob sich.

„Ich habe noch eine Verabredung in der Bar mit dem Dichter Rainer Josefa Fintenfein. Hier ist meine Karte. Ich würde mich sehr freuen, wenn Sie mich einmal besuchen würden. Ich bitte Sie darum. Vielleicht kann ich Ihnen (und mir) ein wenig nützen. Guten Abend.“

Bartholomäus ließ sich von der Kellnerin den Pelz umlegen und verneigte sich leicht.

Der junge Mann sah ihm nach. Dann sah er auf die Visitenkarte, die Bartholomäus ihm gereicht hatte, schüttelte den Kopf und zündete sich eine neue Virginia an.

Bartholomäus lebte hinfort nur das Leben des jungen Mannes. Das heißt: er ließ sich sein Leben von dem jungen Mann erleben.

Er dachte: es wäre hübsch, jene Schauspielerin zu lieben. Und der junge Mann liebte sie.

Er dachte: es wäre an der Zeit, nach Monte Carlo zu fahren.

Und der junge Mann fuhr nach Monte Carlo.

Der Dichter Rainer Josefa Fintenfein schrieb ein Sonett auf den jungen Mann, welcher im Spital von Buenos-Ayres den Sterbenden zwischen den Betten noch einmal das Leben vorgetanzt hatte.

Der Maler Ramsold Ruck malte ihn als Schiffsjunge mit einem Hintergrund von unerhört wundervollem Blau. Und dieses Blau sollte der südamerikanische Himmel sein.

Der Schauspieler Kalischer Bohnenblust spielte in seiner Maske den Hannibal in der Komödie „Hannibals Brautfahrt“.

Bartholomäus hatte alles dies erdacht, und zum ersten Mal in seinem Leben wurden alle seine Gedanken zu Taten.

Er war eins mit sich, weil er eins mit dem jungen Mann war.

Als der Krieg ausbrach, wurde Bartholomäus von ihm wie von einer Sensation erfasst.

Er meldete sich bei den leichten bayerischen Reitern als Kriegsfreiwilliger.

Aber der schwer Herz- und Lungenkranke wurde als völlig dienstuntauglich bei der Musterung zurückgewiesen.

Der junge Mann zog an seiner Stelle ins Feld.

Und er sang ihm am letzten Abend zur Guitarre noch allerlei Lieder: deutsche und spanische und englische, und zum Schluss sang er das alte Soldatenlied:

„Ich weiß nicht, bin ich reich oder arm
Oder gehts mit mir zum Verderben?
Ich weiß nicht, komm ich noch einmal nach Haus
Oder muß ich vorm Feinde sterben …“

Dann gab er ihm die Hand, sagte: „Adiö, Bartholomäus“ und ging.

Als die Nachricht kam, daß er bei Souchez gefallen sei: durch Kopfschuß beim Sturmangriff –, da wußte Bartholomäus, daß er für ihn gestorben sei.

Er, Bartholomäus, hätte eigentlich so sterben müssen. Ihm war dieser Tod zugedacht.

Aber da er sein Leben nicht gelebt hatte, so war er auch seinen Tod nicht gestorben.

Er begriff, daß es keinen Zweck mehr für ihn habe, sich mit dem Dichter Rainer Josefa Fintenfein in der Odeonbar zu verabreden, im Kunstsalon Dietzel ein Bild von Ramsold Ruck zu kaufen und den Schauspieler Kalischer Bohnenblust in seiner neuesten Rolle zu betrachten.

Er fuhr eines Tages nach Berchtesgaden.

Touristen begegneten ihm noch auf dem Wege nach dem kleinen Watzmann.

Dann wurde er nicht mehr gesehen.

Auch seine Leiche fand man nicht.

In den „Münchener Neuesten Nachrichten“ hieß es, er sei wahrscheinlich in den Schroffen am Königssee abgestürzt.

Der sterbende Soldat

Tag und Nacht sind nicht mehr. Sind versunken wie Segelschiffe hinterm Horizont des Meeres. Ich weiß nicht mehr von Tag und Nacht. Von Sonne und von der grauen Krähen der Dämmerung. Von der Erde und von der runden Kugel des Glücks. Wir marschieren. Wir marschieren bei Tag. Wir marschieren bei Nacht. Wir schlafen in der Nacht. Wir schlafen am Tag. Wir schießen Tag und Nacht. Wenn ich mich umdrehe, steht die Zeit wie eine rosaschwarze Wand vor mir. Kein Tag. Keine Nacht. Kein Monat. Kein Jahr. Nur ein blutendes Feld, blutrote Ackererde, aus dem unsere Leiber wie weiße Blumen in den Himmel wachsen. Wie Tau netzt der Himmel meine Augen. Ich möchte immer blühen. Schmale Lilie. Schwertlilie. Ich habe nie so stark an mich geglaubt. Wenn ich die Hand hebe, werde ich eine Granate im Fluge aufhalten. Ich habe Durst. Nach Wasser. Nach Feuer. Ich will Feuer schlucken wie die östlichen Zauberer. Mein Pferd ist tot. Es muß irgendwo neben oder unter mir liegen. Worauf soll ich nun reiten? Ich werde auf einem toten Engländer in die Hölle reiten. Aber Lilli will es nicht. Sie fasst meine Hand, ich bin ja blind, und wird mit mir den Himmel suchen gehen. Lilli, sag ich, hier riecht es nach Veilchen, hier ist der Himmel. Sie lässt meine Hand los. Ich sehe sie nicht mehr. Da vorn ist eine andere Hand. Eine leuchtende Hand. Rauchgeschwärzt. Sie greift nach dem Haus mit dem Schindeldache. Die Hand wird auf einmal Mund. Sie frisst das Haus. Kaut an ihm. Wenn der Wachtmeister wüsste, daß ich hier so faul liege, während er Appell hält. „Ulan Bubenreuther,“ wird er rufen. „Ulan Bubenreuther …?“ Niemand meldet sich. „Ulan Bubenreuther vermisst …“ Ich habe Durst. Ich möchte etwas trinken. Etwas Heißes. Ich friere. Heißen Tee. Ich muß lachen, wenn ich an die polnischen Juden denke, die uns immer Tee verkauften: „Gebe Sie Münz, Herr, kriege Sie heiße Tei …“ Sie haben keine Heimat. Niemand hat eine Heimat. Nur der Tod. Er ist überall zu Hause. Wo ist die kleine Stadt, in der ich geboren wurde? Die engen Straßen gehen krumm und gebückt vor Alter. Die jungen Mädchen laufen Schlittschuh. Bürger eilen mit wichtigen Mienen zu Geschäft, Versammlung oder Kneipe. Die Oder rauscht unter den Schollen. Die Patina des Marienkirchturms glänzt in der Wintersonne violett und grün. Es muß wer gestorben sein: der Küster läutet die Glocken. Ich will leise mit der Lanze winken. Vielleicht, daß er mich sieht.

Die Briefmarke auf der Felspostkarte

Hauptmann R. schied ungern von seiner schönen jungen Frau, die er vor einem Jahre geheiratet hatte, und die, 18 Jahre alt, noch heute ein Kind war. Er brachte ihr jene väterlichen Gefühle entgegen, die dem Manne über 35 Jahren so leicht werden. Wie sollte er aus der Ferne für sie sorgen? Sie war seiner Sorge ewig bedürftig. Und ein hilfloses kleines Mädchen ohne seine leitenden Blicke, Gebärden und Worte, mit denen er sie bald zärtlich, bald streng wies oder verwies. Sollte er sie ihren Eltern, dem Zahnarzt P. und seiner Gattin, für die Dauer des Krieges anvertrauen? Er war froh, daß er sie deren seelischen Plombierapparaten und Kneif- und Brechzangen entrissen hatte. So ließ er sie in der Obhut einer älteren Tante, welche schlecht hörte, aber vortrefflich und ausdauernd Klavier spielte. Er hoffte, daß Annette (so hieß die schöne junge Frau) den Tröstungen der Musik nicht unzugänglich sei und mit ihrer holden Hilfe die Trennung leichter überwinden werde. Nun ist Chopin nicht die rechte Musik, jemand auf helle Gedanken zu bringen. Aber was blieb dem älteren Fräulein übrig, als Chopin zu spielen? Da sie ihn und nur ihn seit 43 Jahren spielte? Sie spielte Chopin, und Annette lauschte, seufzend und strickend.

Zum Abendbrot erschien jeden Mittwoch und Samstag ein entfernter Vetter von ihr, ein junger Postreferendar, welcher entweder als unabkömmlich erklärt war oder dem ungedienten Landsturm angehörte. Er erzählte ihr von seiner Briefmarkensammlung, und sie lachte gern mit ihm. Eines Mittwochabends küsste er sie im Korridor. Und den Samstag darauf wussten sich ihre Lippen kaum zu trennen. So ineinander verbrannt waren sie.

Hauptmann R. machte Namur und Charleroi mit. Er wurde in den Straßenkämpfen schwer verwundet und in das Lazarett von Lüttich eingeliefert. Hier lag er nun und träumte fiebernd von seiner jungen, schönen Frau, welche noch ein Kind war. Sollte er ihr schreiben lassen, wie es um ihn stünde? Eine nie zuvor begriffene Eifersucht ließ ihn heftiger glühen, da er sein Weib blühend und gesund und sich selber für alle Zeit verkrüppelt und verstümmelt fühlte. Er diktierte der Schwester eine Feldpostkarte: „Liebe Annette, ich liege leichtverwundet im Lazarett von Lüttich, Du brauchst Dir keine schlimmen Gedanken zu machen. Sei umarmt von Deinem getreuen Gerd.“ Aber auf die Feldpostkarte klebte er eine belgische Briefmarke. In den Tagen ihrer Verlobung hatten sie ihre heimlichen Liebesgeständnisse immer in winziger Schrift unter der Briefmarke verborgen.

Die Feldpostkarte langte eines Samstagabends an. „O,“ sagte Annette bedauernd, „er ist leicht verwundet. Aber es geht ihm gut.“ „Zeig einmal die Briefmarke,“ sagte der Postreferendar. „Willst Du sie für Deine Sammlung haben?“ fragte Annette und begann, sie vorsichtig abzutrennen. Leise erschrak sie und las: „Wenn es Dich treibt, im Gedächtnis unserer Brautzeit die Marke zu entfernen, so weiß ich, daß Du mich noch liebst wie einst, und daß Du stark genug bist, auch das Entsetzlichste zu vernehmen und mit heiligem Herzen zu tragen: meine Augen sind erblindet, meine Füße von einer Granate zerrissen. Ich bin nur noch ein Stumpf. Sei stark. Es liebt Dich wild wie je Dein Gerd.“

Annette fasste sich an die Brust. Sie wollte schreien. Der Postreferendar war erblasst. Im Nebenzimmer spielte die Tante einen Chopinschen Walzer. Wie zwei zerschossene Vögel fielen die Augen der Annette tot in sich zusammen.

Der Feldherr 

„Die menschliche Seele“, sagte der junge bulgarische Offizier, der neben mir bei Tisch saß, „ist um vieles dunkler, doppeldeutiger, unvernünftiger, als uns die Psychologen beweisen und weismachen wollen. Besonders im Kriege, wo jahrtausendalte Hemmungen und Traditionen wie verrostete Riegel von morschen Türen springen, der Weg in unerklärlich helle Höhen und unergründlich grauenvolle Tiefen offen wird, offenbart sie die ganze Unerfaßlichkeit ihrer Gefühls- und Willenskomplexe. Da meinen die Psychologen, weil etwas so ist, muß ein zweites so sein. A folgt aus B und B aus C. Man konstruiert einen Parallelismus der (geistigen) Bewegungen aller Menschen und macht die Psychologie zu einer mechanischen Motivenlehre, die in der Literarhistorik und besonders in der Kriminalistik schon manches Unheil gestiftet hat. Man folgert (ein holperiges Wort im Deutschen: es klingt wie „stolpern“) aus Stoff- oder Stilähnlichkeiten zweier Dichtwerke, daß das eine von dem andern beeinflusst sei. Wenn ein Verbrechen verübt und jemand ermordet worden ist: muß das aus dem und dem Grund geschehen sein. Sehr richtig. Aber die Zahl der polizeilich genehmigten und registrierten Motive ist gering: Mord aus Rache, Eifersucht, Erbschleicherei, Raubmord, Lustmord. Man ist bald am Ende. Wie: wenn es bei einzelnen von uns Motive für unsere Handlungen gäbe, die –- unbürgerlich, verwegen und merkwürdig – außerhalb jeder Berechnung stehen? Müsste ein solches Verbrechen bei einigermaßen geschickter Anlage nicht unentdeckt bleiben, da der Dietrich der üblichen Motivenlehre versagt? Diese Erkenntnis (aus der ein Reformversuch unserer Kriminalwissenschaft und unseres Strafrechtes herzuleiten wäre) dämmert gewiss nicht mir zum ersten Male und ist, irre ich nicht, auch schon in Fachzeitschriften diskutiert worden. Aber ich schweife ab. Ich wollte Ihnen noch eine kleine Geschichte aus dem ersten Balkankrieg erzählen. Die Geschichte illustriert anschaulich meine Thesen und leuchtet gleichsam mit einer Blendlaterne in die Höhle des Ewig-Ungewissen, das wir Seele nennen. Metaphysisch heißt sie – und liegt doch unter der Erde. Ihr Zugang ist durch Gestrüpp versperrt, durch das zur Nachtzeit zuweilen die Hoffnung der Sterne mit goldenen Augen blinkt und mit fernen Glocken läutet.

General S., der Führer unserer ersten Armee, erwies sich als ein ungewöhnlich befähigter Feldherr. Er leitete alle Operationen mit einer trotzigen und selbstsicheren Gelassenheit, die ihn auch in Augenblicken persönlicher Gefahr nicht verließ. Ich erinnere mich noch sehr gut (ich hatte die Ehre, dem Stabe des Generals S. anzugehören), wie ein feindlicher Flieger Bomben auf das Hauptquartier warf. Eine Anzahl Soldaten, Chauffeure und Pferde wurden mehr oder weniger schwer verwundet und getötet. Der General zuckte mit keiner Wimper. Er hob den Feldstecher und beobachtete aufmerksam den Aluminiumvogel, der erregt und zitterig über ihm kreiste.

Dem General S. ist der große Sieg bei L. zuzuschreiben, der auf die Theorie der unbedingten Vernichtungsstrategie aufgebaut, seinen Namen in der Kriegsgeschichte unsterblich machen wird. Ich war bei dieser Schlacht als persönlicher Adjutant zum General befohlen und verbürge mich für die Wahrheit der folgenden Anekdote. Sie ist früher zu Ende, als Sie glauben werden, und eigentlich mit einem Satz zu erledigen.

Der General war den ganzen Tag von einer lebhaften Unruhe befallen. Er saß am Kartentisch, zwirbelte an seinem Bart, sah alle fünf Minuten nach der Uhr, kurz: war sinnlich gereizt und erregt, wie ein junger Mann, der seine Geliebte erwartet. Seine Anordnungen gab er nachlässig und zerstreut. Rapport nahm er entgegen, als höre er gar nicht hin, und wir gerieten in Bestürzung und Furcht, ein uns unerklärliches Leiden, das vielleicht seine Entschlussfähigkeit und sein Dispositionstalent beeinträchtige, möchte den General plötzlich befallen haben. – Der Abend brachte uns einen vollkommenen Sieg. Beide feindlichen Flügel waren eingedrückt. Die Verluste des Feindes an Gefangenen und Kriegsmaterial ungeheuer.

Der General fuhr im Auto aufs Schlachtfeld und ritt zu einer kurzen Besichtigung bis zur ersten genommenen Stellung. Sein Gesicht hatte sich verklärt und erheitert. Seine Augen zeigten einen metallenen Glanz, den wir der Freude an dem eben errungenen Sieg zuschrieben. Seine Nervosität hatte völlig nachgelassen. Er tastete mit uninteressierten Blicken über ein paar gefallene Stafetten, einen Haufen Sandsäcke, ein paar tote Infanteristen. ›Gut, – gut!‹ sagte er, und dann ritten wir zurück. „Wissen Sie, Leutnant,“ er warf den Kopf zur Seite und griff in die Tasche, „ich habe eben noch zu guter Letzt einen Brief erhalten.“ – „Von Hause?“ wagte ich zu fragen. „Von Hause. Ja. Ich bin so froh. Ich war den ganzen Tag unruhig. Ich habe gewartet auf den Brief – und da ist er.“ Dann schwieg er und sah in den Horizont. Er seufzte befreit: „Das Experiment ist gelungen.“

Ich dachte an die gewonnene Schlacht und wollte den General von neuem beglückwünschen. Da neigte er die Stirn und sagte leise: „Sie blüht …“

Ich habe vom General später erfahren, was es mit diesen zwei, mir wie Ihnen im ersten Moment unverständlichen Worten auf sich hatte. Der General ist ein leidenschaftlicher Kakteenzüchter. Da hatte er eine kleine Kaktee zu Hause zurückgelassen, die ungewöhnlich schwer zu züchten und zu ziehen war. Ich kenne ihren botanischen Namen nicht oder habe ihn vergessen, denn ich beschäftige mich in meinen Mußestunden mit Ölmalerei, in der ich es zu einer gewissen Fertigkeit gebracht habe – die Kaktee musste in diesen Tagen ihre erste Blüte erschließen. Es war ungewiss. Es war kaum zu vermuten und doch so süß zu hoffen. Das Experiment gelang. Die Kaktee blühte. Was war dem General der Ruhm der großen Schlacht? Die Hoffnung auf Unsterblichkeit? Der Dank des Vaterlandes? Er gab sie dahin leichten Herzens, erschüttert und beglückt von dem Ereignis einer blühenden Blume.“

Der Kammerdiener

Im Gefolge des Grafen R., dem sein außerordentliches Vermögen die kostspieligsten Marotten und Vaganzen gestattete, befand sich ein junger Mann, der, anfangs von wenigen beachtet, im Lauf sonderbarer Geschehnisse, die sich erst von rückwärts gesehen als sonderbar herausstellten, für einen Tag wenigstens das Gespräch nicht nur der engeren Umgebung des Grafen, sondern der ganzen Welt bilden sollte. Der Graf hatte ihn auf Grund vorzüglicher Zeugnisse, die er vorwies, als Kammerdiener engagiert. Albert erwarb sich in den ersten Tagen durch seine feinen und stillen Manieren das weiteste Vertrauen des Grafen. Er las ihm seine Wünsche von Blick und Gebärde ab und verrichtete seine Dienste mit fanatischem Eifer, der den Grafen in nicht geringe Verwunderung versetzte, bis er sich allmählich daran gewöhnte, ja die Behutsamkeit und Unaufdringlichkeit seines Wesens nicht mehr entbehren und immer um sich haben mochte. Albert war etwa zweiundzwanzig Jahre alt. Er trug das schwarze, leise bläulich schimmernde Haar in der Mitte gescheitelt, seine hellen Augen wurden von sehr langen Wimpern beschützt, so daß ein scharfer, blitzender Blick zuweilen wie eine Lanze aus dem Dickicht hervorbrach. Die Nase war ein wenig gehöckert: das Gesicht erschien nicht verunstaltet, seine sonst weichen Züge energischer dadurch gezeichnet. Auf der Oberlippe lag ein schwach bläulicher Glanz. Das schönste an ihm waren seine schmalen, kleinen Hände. Der Graf enthielt sich manchmal nicht, sie zu streicheln. „Du bist ein Aristokrat, Albert“, sagte er lächelnd. „Es ist, als wären sie von den Erinnerungen an ihre Väter so krank und blass.“

„Von ihrer Hoffnung“, erwiderte Albert. Der Graf sah ihn erstaunt an.

Der Graf vertraute Albert auch seine mannigfachen Liebesangelegenheiten. Er gab ihm alle Aufträge mündlich, brauchte nur wenige andeutende Worte zu machen, so begriff ihn Albert völlig. Er war so nicht nur längerer Auseinandersetzungen, sondern auch längeren Nachdenkens, das ihm Albert vordachte, enthoben. Die Mätressen des Grafen sahen den jungen, seiner selbst so bewussten Mann, der wenig redete und immer viel erreichte, nicht ungern. Manch eine verliebte sich in seinen schlanken Gang, der in seiner Gemessenheit etwas Berechnendes, etwas Koketterie offenbarte, und gab ihm verstohlene Winke. Er sah es und lächelte still abweisend und melancholisch.

Eines Morgens, als Albert in das Schlafzimmer des Grafen trat, ihm beim Ankleiden behilflich zu sein, rief ihn der Graf zu sich heran. Er hatte auf der Bettdecke ein rotsamtnes Kästchen liegen, öffnete es durch einen Druck auf einen verborgenen Knopf und entnahm ihm einen goldenen, mit einem riesigen Türkis geschmückten Ring. Ohne etwas zu sagen, griff er nach Alberts Hand und steckte ihn an. Albert zitterte, seine Augen öffneten sich erschreckt, sein Atem keuchte. Dann fiel er vor dem Grafen nieder, Tränen stürzten ihm hervor, und er küsste seine Hände. Dann wieder sprang er plötzlich empor, sah auf den Grafen mit einem entsetzten Blick und stürmte zur Tür hinaus.

Dem Grafen wollte dieser Vorfall einige Tage nicht aus dem Kopf. Derartig überströmende Gefühlsergüsse war er bei seinen Dienern nie gewohnt gewesen, deren Dank für erwiesene Wohltaten sich stets nur äußerlich und kalt gezeigt hatte. War es bei Albert Dankbarkeit, Verwirrung über das kostbare Geschenk, die ihn so aus der Regelmäßigkeit seiner beherrschten und abgezirkelten Bewegungen und Gefühle warfen? Er dachte daran, Albert zu befragen. Er dachte, es wäre psychologisch doch sehr interessant … aber er wagte es schließlich nicht, aus Furcht, ihm unbekannte Wunden seiner Seele ohne Willen aufzureißen. Denn dieser war der erste Diener, der ihm so etwas wie eine Seele zu haben schien. Nach einer Woche hatte er die, wie er endlich meinte, geringfügigen Schmerzen seines Dieners in neuen Abenteuern und Vergnügungen vergessen.

Albert trug den Ring mit einer heiligen Scheu, die ihn nicht aus der Hand gab und auch nicht nachts von den Fingern löste. Vom übrigen Dienstpersonal, von dem er sich, soweit es anging, bisher schon ferngehalten hatte, trennte er sich nun gänzlich, da man, eifersüchtig auf seine bevorzugte Stellung beim Grafen, in groben und gemeinen Worten hinterlistig auf unsittliche Beziehungen zwischen ihm und dem Grafen anspielte. Es tat ihm weh um des Grafen willen, den er so schnöde verdächtigt sah, und er errötete jedes Mal heftig, wenn ihm aus dem Hinterhalt wie ein vergifteter Pfeil ein solches Wort zuflog, aber er schwieg dem Grafen gegenüber, um ihm Zorn und Schmerz zu ersparen.

Inzwischen knüpfte der Graf eine Liebschaft an, die ihn in auch bei ihm ungewöhnliche Verschwendung seines Geldes und seiner Kräfte trieb. Er, dessen Alter nun schon auf vierzig ging, steigerte seine Leidenschaft zu solcher Raserei, daß er seiner Sinne nicht mehr mächtig schien und, um ihre Gunst zu gewinnen, Hunderttausende zu opfern bereit war. Vergebens, daß ihm seine Freunde Vernunft zuredeten, vergebens, daß sein Schwager, zugleich sein bester Freund, Baron F. herzureiste und ihn zu besänftigen und ihn mit allen logischen Mitteln von der Torheit zurückzuhalten suchte. Er ließ kein Argument an sich herankommen, und wie ein unreifer, kindisch zum erstenmal verliebter Jüngling hatte er, der in allen Listen und Lüsten der Liebe Umhergetriebene, keine andere Waffe gegen sie als ein monotones: „Ich liebe sie, ich werde sie ewig lieben, und ich gehe ohne sie zugrunde.“

Albert vermittelte auch in diesem Falle die Korrespondenz und die fast täglichen Zusammenkünfte zwischen dem Grafen und seiner Dame. Er machte auch die größten Anstrengungen, das materielle Interesse seines Herrn zu wahren, was ihm nicht nach seiner Hoffnung gelang. Die Dame, Witwe eines mittleren Beamten und aus niederem Stande (ihr Vater hatte eine kleine Brauerei betrieben), war ebenso schön wie leichtsinnig. Sie sah sich durch die Freigebigkeit und willenlose Hingabe des Grafen plötzlich in den Stand gesetzt, alle, auch die unsinnigsten und überflüssigsten Wünsche zu befriedigen, und obgleich sie ihrem Gatten in ihrer sehr kurzen Ehe eine sparsame Hausfrau gewesen war, verlor sie jetzt jegliches Maß und Übersicht und ließ die Goldstücke zu Tausenden durch ihre kleinen Hände rollen. Ein scheinbar unerschöpfliches Vermögen kann so verrinnen wie ein Fluss in der Wüste.

Albert sah, wenn dem Treiben der Dame nicht Einhalt geboten wurde, den Ruin des Grafen voraus und sann, ihn zu retten. Sein Einfluss bei dem Grafen war in diesem Falle sehr gering. Logik verfing nicht. Er sagte: „Gehe ich zugrunde, so gehe ich mit ihr zugrunde.“ So musste er ein Mittel finden, auf die Dame irgendwie einzuwirken. Der Zufall brachte ihm hier erwünschte Hilfe.

Die Dame, der überspannten Liebkosungen des Grafen müde – ihre Liebe zu ihm war ja immer nur recht oberflächlich und durch sein Vermögen sehr mitbestimmt gewesen –, verlangte nach Zerstreuungen und Abenteuern, die alle Theater- und Varietélogen, die ihr der Graf zur Verfügung stellte, nicht gewähren konnten. Da sie täglich Gelegenheit hatte, Alberts sehr bescheidenes, aber unbeugsames Auftreten zu bewundern, das durch die verkniffene Selbstzucht, die er übte, noch gesteigert wurde, argwöhnte sie in ihm, was Bildung in den Dingen der Welt anbetraf, einen ihr Verwandten. Der Graf dünkte sie hin und wieder von einer beängstigenden Feinheit des Geschmacks in Sachen der Kunst, der Musik zum Beispiel, und so fühlte sie sich bald zu Albert im rechten Sinne des Wortes hingezogen. Er hielt ihres Schicksals Fäden in seiner Hand gespannt.

Sobald Albert diese Stimmung der Dame erkannte, war er darauf bedacht, sie zu erhalten und klug zu schüren. Er sah, wenn er mit ihr sprach, ihr gerade und forschend ins Gesicht, und sie sog eine dunkle Wollust aus seinen Blicken, daß sie oft in der Rede stockte und nicht weiter wußte. Er achtete darauf, zufällig ihre Hand zu berühren, was ihre Lippen zittern machte, und trieb sie also in eine Leidenschaft, nicht weniger glutvoll und schrankenlos als die, welche der Graf zu ihr fühlte.

Als Albert die Dame sich fügsam genug glaubte, trat er eines Nachmittags in ihr Boudoir, und ohne weitere Vorrede sagte er ihr mit einer Festigkeit, welche die Traurigkeit seiner Blicke milderte: er wolle ihrer Sehnsucht zu Willen sein, sofern sie sich ihm eidlich verpflichte, er sagte das Wort „eidlich“ zweimal, während er auf seine Hände sah, die die Dame mit bangem Entzücken anstarrte, eidlich verpflichte, das Vermögen des Grafen fürder zu schonen und über eine bestimmte Summe monatlich nicht hinauszugehen, indem er ihr die notwendigen Folgen einer weiteren Verschwendung in schwarzen Bildern vor Augen führte. Die Dame, obgleich sie das Erniedrigende ihrer Lage dumpf ahnte, war dennoch von Begierde so geschwächt, daß sie ohne weiteres einwilligte, den ihr vorgesprochenen Schwur nachsprach und weinend, in einen Sessel sank. Albert trat auf sie zu, küsste sanft ihr Haar und versprach, in einer der nächsten Nächte ihr seine Liebe zu schenken. „Gib mir ein Pfand“, sagte sie unter Tränen, da sie fühlte, daß er ihr vielleicht noch entgleiten könnte. Er ließ ihr den vom Grafen ihm geschenkten Ring zum Pfand und verabschiedete sich.

Der Graf erinnerte sich nicht, seinen Diener je so aufgeräumt und fröhlich gesehen zu haben wie diesen Abend beim Auskleiden. Albert erzählte ihm die lustigsten Schnurren von der Umgebung, von den Freunden des Grafen und porträtierte einige in ihren menschlichen Schwächen und Albernheiten so gut, daß der Graf aus dem Lachen nicht herauskam. Am Ende aber wurde Albert ernst, und als er ihm gute Nacht wünschte, war er von heftiger Unruhe befallen. Er zögerte, dann packte er wild die Hand des Grafen und bedeckte sie mit vielen Küssen. Der Graf, dem die Hitze und Inbrunst der Küsse unheimlich vorkam, zog seine Hand schnell zurück.

Am nächsten Morgen trat Albert, der den Grafen noch im Schlafzimmer vermutete, ohne anzuklopfen in sein Arbeitszimmer. Wie Loths Weib blieb er erstarrt am Türpfosten stehen. Er hatte den Grafen und die Dame in einer intimen Liebkosung überrascht. Die Dame, glutrot vor Scham, vor ihrem wirklichen Liebhaber sich so bloßgestellt zu haben, verbarg schluchzend den Kopf in den Kissen des Diwans. Der Graf aber fuhr empört auf, und indem er in seiner Verlegenheit und Wut, daß Albert noch immer in der Tür stand, keine Worte fand, wies er ihn mit hastiger, zorniger Handbewegung, in der der Ekel zitterte, hinaus.

Albert aber stand steif und erstarrt, die Augen gläsern und leer wie zwei tote Kugeln auf den Grafen gerichtet. Dann begann sein Leib zu beben und sich zu krampfen, seine Nasenflügel vibrierten, er riss mit beiden Händen an der Portiere, und mit einem entsetzlichen Schrei biss er sich in sie hinein, um mitsamt der Portiere, die sich von ihrer Stange löste, polternd zu Boden zu fallen.

Der Graf trug die ohnmächtig gewordene Dame in das Nebenzimmer und gab den inzwischen vom Lärm herbeigerufenen Leuten Anweisung, Albert in sein Zimmer zu bringen und sofort einen Arzt zu holen.

Albert lag wie tot auf der Matratze. Vor seinen Lippen schimmerte bläulichweiß ein Anflug von Schaum, die Farbe der Hände und des Gesichts war gelblich-grau.

Der Arzt kam. Bei der Untersuchung war nur der Graf noch zugegen. Als der Arzt Albert das Hemd aufriss, wandte er sich plötzlich mit einem verwunderten und fragenden Blick an den Grafen.

„Es ist ein Mädchen“, sagte er leise.

Da schlug Albert die Augen auf, und als er den Grafen sah, lächelte er ein wehmütiges Lächeln, das um Verzeihung bat: „Der Ring …“

Es war ihr letztes Wort. Am Abend starb sie. Sie hatte den Anblick, den Geliebten leiblich in den Armen eines andern Weibes ruhen zu sehen, nicht überleben können. Für eine Woche bildete das Schicksal dieses Mädchens, von den Zeitungen phantastisch aufgeputzt, das Tagesgespräch der ganzen Welt. Der Graf aber wurde in seinem Tiefsten erschüttert und verfiel in eine Melancholie, aus der ihn kein Weib mehr zu retten vermochte. Er gab ihr den Ring mit ins Grab und mit dem Ring sein eigenes Leben.

Katharina 

„Du wirst närrisch“, sagte Lapa, „du darfst nicht mehr allein in einer Kammer schlafen, sonst flennst und betest du die ganze Nacht, statt nach rechtschaffen erfüllter Tagesarbeit und einem kurzen, Gott wohlgefälligen Gebet – Gott liebt die langen Gebete nicht, sie schmecken ihm wie übermäßig verdünnter Wein – den traumlosen Schlaf der guten Menschen zu schlafen. Ich werde eine Magd entlassen, damit du im Hause zu tun bekommst und keine Zeit hast, deinen Schrullen nachzujagen, in feuchte Grotten zu kriechen, die dich nichts angehen, und Berge zu sehen, wo keine sind.“

Katharina neigte das Haupt.

Ein Lächeln wiegte sich auf ihren schmalen Schultern.

Lapa schrie böse: „Jakob Benincasa, das Schwein, dein Vater, ist wieder einmal besoffen nach Hause gekommen. Er hat unser Bett beschmutzt und die ganze Stube verunreinigt. Ich habe in der Küche auf einem Stuhl schlafen müssen. Du wirst das Zimmer sogleich in Ordnung bringen. Carlotta, die Magd, kann sofort gehen.“

Katharina erhob das Haupt. Sie sah, wie ihre Mutter sich entfaltete: eine goldene Blüte, und sah die heilige Maria als Biene summend dem Kelch entschweben.

Wenn ich meiner Mutter diene, diene ich der Muttergottes, dachte sie. Mein Vater sei Christus, meine Brüder gleichen den Aposteln und Bonaventura, meine Schwester, entflieht im Mönchsgewand dem väterlichen Hause, sich selig so zur Euphrosyne wandelnd. Ich aber, ihre Zwillingsschwester, weihe meine Dienste unter dem Namen Smaragdus dem Kloster meines elterlichen Hauses, und erst, wenn ich gestorben bin, wird man begreifen und erfahren, daß ich ein Weib war…

Als Jakob Benincasa in das Schlafzimmer trat, wo Katharina mit Feudel und Eimer beschäftigt war, die Spuren seiner Trunkenheit emsig zu entfernen, schien es ihm, als ob eine weiße Taube sich von ihrem Scheitel erhebe und leise schwingend durch das geöffnete Fenster verwehe.

Er eilte sogleich in das Wirtshaus „Zum fröhlichen Federigo“ zurück und lud die dort versammelte Gesellschaft zu einem kräftigen Trunk auf seine Kosten ein. „Will sich deine Tochter Katharina nun endlich vermählen“, lachte der bucklige Schuster Ciseri, „oder welche Freude treibt dir den Zapfen aus dem Spundloch?“

„Ich weiß“, wisperte der lange Steinmetz Bosco, „seine Frau bekommt in neun Monaten das dreizehnte Kind. Eben hat er es ihr und sie es ihm mitgeteilt. Da weiß seine Seligkeit keine Grenzen …“

„Ich glaube“, am Fasse dröhnte der Hammer des Wirtes, „er hat ein gutes Geschäft gemacht. Die hohen Damen von Siena haben ihm Auftrag gegeben, ihre ergrauten, vom Liebesaussatz zerfressenen Haare blond zu färben oder ihnen, wo sie überhaupt keine Haare mehr haben, den Schädel am Schöpf schwarz anzustreichen. Wenn er nur von jeder Dame einen Taler erhält, so macht das sicherlich ein kleines Vermögen.“

„Komödie“, wieherte Jakob Benincasa. „Euch sind die Sinne irre. Ihr tappert, Maulesel gleich, gesenkten Kopfes durchs Gebirge. Fresst biedere Kräuter, die um eure Hufe wachsen. Seht ihr den Wasserfall am Felsensturz? Die leise Gemse braun im Horizont? Den Geier Blitz? Die blaue Blume Schnee? Der Menschen Dörfermoos?“

„Junge“, der Maler Simon Martini warf seine Worte wie Farbenklexe in den grauen Raum, „du dichtest wie Petrarca. Musst es drucken lassen.“

„Meine Tochter Katharina ist eine Heilige“, Jakob Benincasa brüllte. Er stieß mit seinen Ellenbogen rings am niedern Gewölbe. „Deshalb wollen wir uns alle heute betrinken. Denn ich, Jakob Benincasa, bin der Vater dieser Heiligen. Und wenn sie heilig ist, so steckt der Same der Heiligkeit wohl auch in mir. Denn von Lapa kann sie die Heiligkeit nicht haben. Lapa ist eine bösartige Hündin.“ Der Maler, der bucklige Schuster und der lange Steinmetz klatschten in die Hände. Der Hammer des Wirtes dröhnte den letzten Schlag. Jetzt flog der Zapfen aus dem Spundloch.

„Wenn deine Tochter Katharina eine Heilige ist“, sagte der kleine Goldschmied Ambra, „dann musst du ihr bei mir einen Heiligenschein machen lassen. Ganz aus Gold.“

„Hat sie schon Wundmale an den Händen und Füßen?“ fragte Pedamonte, welcher mit Edelsteinen handelte. „Du musst ihr Rubinen in die Wunden setzen lassen.“

„Wenn sie sich geißeln will, wie es alle rechten Heiligen tun, so bedarf sie einer dauerhaften Geißel oder einer Peitsche mit Nägeln. Ich halte mich der heiligen Kundschaft bestens empfohlen“, dienerte der Waffenschmied Marchetti.

Der Maler Simon Martini zeichnete Katharinens Bild mit Kreide auf den Tisch.

„Sie ist so schön, wie wenige Frauen in Siena sind“, sagte er leise.

Jakob Benincasa bebte.

Der Diditer Petrarca trat an Martini heran, legte die Hand auf seine Schulter und beugte sich zart vor, die Zeichnung zu betrachten.

Seine Stirn leuchtete wie eine ewige Lampe, und seine Lippen bewegten sich wie zwei Schmetterlingsflügel.

Ferdinand Cortez

Er schrie wie ein Jaguar im Schlaf.

Morgens saß ein goldner Kolibri vor seinem Fenster und rief.

Die Palmen in den Kübeln am Eingang zum königlichen Schloss rissen sich los und fassten Wurzeln in seinem Traum.

Ein Rosenkakadu krächzte: Dieb! Dieb!

Kolumbus wandelte, in blauer Rüstung gebieterisch wie ein Gott über den Horizont.

Er kannte die kleine Provinz Estramadura innen und außen.

Was bedeutet jener kahle Hügel, he?

Siebenmal schon hatte man ihn bestiegen; gleich braun und dreckig war das Land umher ein jedes Mal. Ja; brauner und dreckiger mit jedem Mal.

Jener Olivenwald?

Bestenfalls ein einmaliger Vorwurf zu einem Gobelin. Aber die Tat? Die Wirkung? Das Wesentliche der Welt? Wo?

In jenem weibischen Speckbauch? Von einem Pfaffen schwanger?

Dort das Dorf: – Medeleir – wesentlich, weil man dort gezeugt, getragen wie ein Kalb, geboren im Heu, gewollt im Trank, gezeugt im Rausch eines oeriodischen Saufsacks?

Hinaus aus diesem flachen Kreisrund! Aus Staude und Strauch zu Stamm und Wölbung.

Schatten sein in diesem Allzuhellen. Die neue Welt beschatten.

Europa verweste.

Granada fiel in Asche wie ein ausgebranntes Holzscheit.

Wo flammte noch ein heldisches Gestirn?

Könige wälzten sich weibisch in Lotterbetten. Ritter dienten um Gold.

Dichter um eine warme Suppe wie Hunde.

Aber die große Tat: Hat in sich selbst genug. Sie will nur sich.

Eine Welt hebt der Held aus dem Weltmeer wie den aufgehenden Sonnenball.

Kolumbus stand am Bug der Schiffe.

Er glaubte an Amerika. An die neue Welt. Und darum fand er sie.

Leb wohl Vater.

Du wirst von mir hören, wenn ich die Striemen, die du mir in den Rücken schlugst, vergessen habe.

Leb wohl Ines.

Ein letzter Kuss.

Dein Sohn soll Fernandez heißen.

Die Wellen schlagen ans Ufer: Sie schlagen den Takt der Ruder.

Sie schlagen im Takt meiner Pulse.

Das Weltmeer ist mein Herz.

Die neue Welt – mein Wille.

Don Diego fuhr auf einer Karte mit einer Gänsefeder um die Welt.

„Ihr konspiriert gegen mich? Missbraucht mein Vertrauen? Ich werde euch hängen lassen!“

Cortez riss an der Kette, dass sie klirrte.

„Umso besser. Am Galgen werde ich dem Himmel näher sein. Denn diese verfluchte Erde liegt mir im Magen wie ein allzu fettes Gericht in Öl gebackener Kartoffelklöße.

Ich speie sie aus meinem Munde.“

Er stieg den Galgen empor wie ein Tänzer. Er legte sich selbst die Schlinge um den Hals. Er drehte sich einmal von Osten nach Westen, von Norden nach Süden.

Die ganze Insel war ein Piedestal für seinen Galgen.

Aber draußen im Süden – schwamm dort nicht eine Reihe von Delphinen auf die Insel zu?

Klang nicht Geläut von kleinen Glocken? Löste sich nicht in der Ferne ein Böllerschuss?

Cortez warf die Schlinge von sich. Er stand auf der obersten Sprosse der Leiter und schrie: „Don Diego! Eure Flotte ist aus Amerika zurück!“

Don Diego stürzte an die Reede.

Schon dröhnte Posaunenchor, Fahnen schwenkten, die Wimpel wehten.

Am Mast des Admiralschiffes stand, mit Stricken umwunden, ein nackter brauner Mann und brüllte.

Aber jenes, was dort in der Sonne glänzte? Jenes sanfte Geschöpf zwischen den Tauen und Trossen liegend: Mir auserwählt?

Don Diego umarmte den Admiral. Aber Cortez stürmte auf das Achterdeck, hob die Indianerin aus den Tauen auf seine Arme und stürzte durch eine Gasse von Soldaten und Matrosen in den Olivenwald.

Don Diego schickte nach Cortez: „Ich schenke euch den Galgen! – Wo habt ihr die Amerikanerin?“

Cortez zuckte die Achseln.

Don Diego: „Ihr wollt nach Amerika?“

Cortez kniete nieder und küsste dem Statthalter den kotigen Reiterstiefel: „Helft mir!“

Diego: „Ihr müsst den Stier bei den Hörnern packen! Webt mir Soldaten! Matrosen! Räuber! Gesindel! Es gilt eine prächtige Fahrt! Wir wollen die neueste Welt erobern! Kolumbus ist ein Feldprediger gegen uns: Er ist ein Weltweiser, der uns die neue Welt wies; wir wollen sie besitzen.

Ich gebe Euch fünf Schiffe! Fahrt nach Mexiko!“

Die Verwandlung des Harun al Raschid

Harun al Raschid hatte in der Verkleidung eines jungen Gelehrten die Zuneigung einer Dame gewonnen, die in ihm nur den schönen und edlen jungen Mann liebte, da sie von seinem fürstlichen Stande nicht wusste. Harun al Raschid dachte hin und her, wie es ihm gelänge, das Haus ihres Vaters zu betreten, ohne dass der Ruf der Dame Schaden leiden möchte. Und er verfiel auf folgendes Mittel: Er ließ ihr mitteilen, dass er in der Verkleidung eines Harun al Raschid das Haus ihres Vaters, der einer seiner höheren Beamten war, betreten werde und dass sie nicht erschrecken möge über den Missbrauch von Namen und Art des erlauchten Kalifen; denn er nehme dieses Wagnis nur aus Liebe zu ihr auf sich. Die Dame ebenso entsetzt wie entzückt, umarmte ihren jungen Gelehrten in der Gestalt des Kalifen, der aus seinen vielen Verwandlungen nun auch noch zu der letzten gekommen war: Sich aus sich selbst in sich selbst zu verwandeln…

Die zwei Reiche 

Frieden war auf Erden, denn die Erde war Friedlich, und der Mensch war friedlich, und friedlich war der Himmel und des Himmels Sohn. Man sprach nicht um zu sprechen. Man sprach Gedachtes. Das Leben war einfach und ernst. Die Heiterkeit wohnte im Herzen und nicht in den Schenken. Man hatte das Seine zu tun: Das Feld zu beackern, das Vieh zu hüten, das Weib zu lieben. Man hatte das Seine zu denken: Den Lauf den Gestirne und der Goldkäfer zu verfolgen, den Gang der Schildkröte zu beachten und aus dem zerstreuten Blütenstaub der weissagenden Pflanze Schi die Zukunft zu lesen. Der Städte gab es wenige. Die Kinder wurden gemeinschaftlich erzogen von der Gemeinde. Nur heilige Feste wurden nach dem heiligen Rituell gefeiert. Die Kleidung war wie der Staub der Erde: Braun. Den Toten nur zuliebe trug man am Totenfest Gold. Die Greise, die Waisen, die Witwen wurden aus den öffentlichen Mitteln ernährt. Es gab keine Bettler. Jeder hatte zu atmen, zu essen, zu lächeln, zu leben. Der Sohn diente dem Vater, die Tochter der Mutter, gatte und Gattin dienten sich gegenseitig. Wer da stürzte, dem wurde geholfen, sich zu erheben. Am Grabe des Guten weinte jedermann. Der Fürst ritt auf einem Maultier durch die Städte, wie ein bescheidener Beamter, und er weilte am liebsten bei dem Alten auf dem Berge zu Gast. Dort saß er zu dessen Füßen, und während der Tau von den Bäumen tropfte, die Grillen zirpten, ein Schwarm von wilden Gänsen kreischend den Horizont zerriss, sprach der Alte zu ihm und senkte eine Saat in seine Seele, die spross in ihm und seinen Landeskindern zu herrlicher Blüte.

Aber die Zeiten wandelten sich und die Menschen. Man verlernte gut zu denken und also Gutes zu tun. Einfachheit wandelte sich in Vielfachheit, stille Beschaulichkeit in laute Betrachtung, edle Herrschaft in rohe Tyrannei. Sanfter Zuruf in wilden Schrei. Die goldenen Gewänder ihrer früheren Feste trugen sie tagtäglich, nachtnächtlich, und ihren Toten gaben sie armselige Symbole in den Sarg- Statt die Toten in sich immer neu zu erwecken zu immer neuem Leben (denn solches ist der Sinn des Todes, der nur scheinbar ein Tod, wie dieses Leben nun scheinbar ein Leben) lispelten sie: Lasst die Toten tot sein und uns – leben. Was soll uns die alte Zeit, die Zeit der alten Weisen und der alten vom Berge? Wir wollen eine neue, eine funkelnagelneue Zeit. Die soll glänzen wie dieser Kupferkessel, in dem ein Hühnchen schmort, oder wie der gläserne Pokal dort voll Wein und Klugheit. Die soll leuchten wie unsere tausend Städte nachts; von Millionen papiernen Ampeln oder wie die Patina auf der Riesenkuppel des Tempel zu Tscheu-kong. So sprachen sie und sprachen Unbedachtes. Sie sprachen nur, um zu sprechen, und dachten nur um zudenken. Und also ward die Einheit von Gedanke und Handlung zerrissen in eine böse Zweiheit. Und die Dreieinigkeit von Seele. Sinn, Sein ward zerrissen in eine Dreiuneinigkeit. Seele bleib Seele und für sich. Sein blieb Sein und für sich. Sinn bleib Sinn und für sich. Der Sohn diente dem Vater nicht mehr und die Tochter nicht mehr der Mutter. Und die Frau war die Sklavin des Mannes und der Mann der Sklave der Frau. Bettler saßen zerlumpt vor den Heiligtümern, und die Heiligtümer saßen zerlumpt vor den Bettlern. Dass Volk hungerte. Die Witwen wurden geschändet. Die Waisen missbraucht. Die Greise erfroren in den Winternächten. Jeder erzog sein Kind nach seiner Schlechtheit.

Der Fürst aber ritt auf einem mit Silber aufgezäumten Schimmel inmitten einer Kavalkade adliger Reiter zum Alten auf dem Berge. Er galoppierte über die Reis- und Maisfelder, die Hufe seiner Rosse zertrampelten die Ernte, der Zuruf seiner Begleiter entehrte die Frauen, welche auf dem Felde arbeiteten, und den demütigen Gruß der Bauern erwiderte er nicht. Die Tagelöhner warfen sich winselnd vor sein Pferd. Das tänzelte über sie hinweg.

Und er band sein Streitross, auf dessen weißem Fell noch das Blut von Feinden verharschte, an den Torpfosten der Einsiedelei. Die Ritter ließen sich davor auf dem Rasen nieder und begannen zu lärmen und zu zechen. Einige hoben den Bogen und schossen mit Pfeilen nach den kleinen Singvögeln im Gezweig oder den Schwänen, die auf dem einsamen Waldteich ruderten.

Der Fürst trat prunkend, die Hand am diamantenen Degenknauf, in die Hütte. Da saß der Alte vom Berge in seinem 111ten Jahr, eisgrau, vor einem Buch mit drei Siegeln. Und der Fürst hob die Hand und sprach: Sei gegrüßt, großer Wu, großer Zauberer.

Der Alte stand auf. Sein Gesicht war verwittert wie ein ewiger Berg. Aber die Augen darin: Blaue Blüten. Sein Haupt war sanft beschneit. Aber Sonne lag auf dem Schnee. Und er sprach und er sprach das Gedachte: Sei gegrüßt Fürst! Verzeihe die Hoheit meiner Niederkeit, wenn sie den Rang richtig stellt, den du ihr gegeben. Der, den du einen Wu nennst, einen großen Zauberer, ist ein Ju, ein kleiner Mensch, der nur bemüht ist, nach der Drei zu rechten und zu richten. Du kommst, mich zu fragen nach der guten alten Zeit, denn eine neue schlechte Zeit ist heraufgezogen wie ein Gewitter. Der blaue Himmel ist verhüllt. Die Klarheit in Dämmerung übergegangen. Statt der Sonne regiert der Blitz und satt des Zephirs der Sturm. Statt dem Tau trieft der Regen, statt der Nachtigall singt der Donner. Ihr seid aus Euch herausgegangen, satt in Euch zu gehen. Ihr habt Euch vermessen, Blumen züchten zu wollen, von den Kiefern und Früchte von den Veilchen. Ihr habt Krieg geführt mit der Waffe des Schachtelhalmes und euer Friede war ein Kampf mit Messern. Bruder hasste den Bruder, Weib das Weib. Un-wesen trieb sein Wesen. Das wesentliche – floh. Leg ab deinen goldnen und die goldnen Ringe an beiden Fingern, die du den Ahnen aus den Gräbern stahlst“ Leg ab deine triumphierende Maske der Herrschaft, die dein Gesicht verzerrt. Tu ab die taten, die du tatest, Reiß nieder die Paläste, die du bautest, verschenke deine Unedelsteine den Armen, die vor den Tempeln eines fremden Gottes lungern. Jage dein Gefolge, dies adlige Gesindel, in die steppen zu ihren Geschwistern: Den Aasgeiern und Schakalen. Erhebe die elendste Hure aus dem elendsten Teehaus der Hauptstadt zur Fürstin, und danach komme wieder nur mit einem Schurz bekleidet, ohne Pferd, ohne Gefolge, ohne Maultier: Zu Fuß am selbstgeschitzten Stabe. Und ich will dich lesen und denken und handeln lehren aus diesem Buch mit den drei Siegeln, welches genannt ist: I-hi-wie oder die Lehre vom heiligen Dreiklang. Denn drei ist die heilige Zahl. Ist Himmel, Erde, Mensch. Das Ich, das Du und das Es. Dies ist’s, was ich dir sage. –

Und der Fürst erschrak bis in sein tiefstes, bis in sein drittes Herz.

Er fand nicht Worte zum Abschied oder Dank.

Schweigend verließ er die Einsiedelei.

Und trat schweigend unter die Genossen.

Ihr Gelächter verstummte, ihr Becherklang verhallte.

Die Sehne auf dem Bogen, zum Abendstern gespannt, zersprang.

Sie sahen die Stirn des Fürsten: In die war plötzliche eine Rinne gegraben. Und es war die Narbe einer nie geheilten Wunde.

Er sprach: Ich habe den Drachen Lung gesehn. Er rauschte und fuhr durch die Luft, und es war ein wind, der mich zu Boden warf. Und meine Stirn schlug an einen Stein und sprang auf und siehe: Es war Ungeziefer, was aus meinem Hirn quoll: Läuse und Krebse und Raupen. –

Die Abendröte stand über dem Kieferwald.

Der Fürst zerriss sein seidenes Gewand. Er riss von seinem Pferd den Sattel, das kostbare Riemenzeug, die Decken und Gewänder.

Und nackt bestieg er das nackte Pferd und ritt in den Abend.

Und ritt gegen Sonnenuntergang bis in die große Wüste und ward nicht mehr gesehn.

Einige aber sagen, er sei bis in das Abendland Ta-tsin gekommen und habe dort die Weisheit des Alten vom Berg gelehrt, habe ein hohes Alter erreicht und sei selbst ein Alter vom Berge geworden.

Von dem heiligen Kind Sankt Quiriakus

In Apulien lebte ein Edelmann namens Rogerius. Der war trotzig und hochmütig und glaubte nicht an die heiligen Zeichen und Wunder. Als er einst vor einem Bilde Sankt Franziski stand, spottete er seiner Wun­denmale und sprach: Die Wundmale des Herrn haben dir, o sogenannter Sankt Franziskus, deine Brüder, die Franziskaner, nur auf das Bild gemalt, damit es um so erbarmungswürdiger anzusehen sei. Kaum hatte er dies gesprochen, so verspürte er in der Luft ein Sau­sen, als sei ein Pfeil von der Sehne des Bogens ge­schnellt- und einen brennenden Schmerz in der linken Handhöhle, daß er laut aufschrie. Er besah seine Hand und sah, daß sie eine Wunde enthielt wie das Wund­mal des Herrn oder Sankt Franziski. Und in der Wun­de steckte ein kleiner Pfeil. Alsobald er ihn herauszog, trat auf dem Feldweg – denn das Bild des Sankt Fran­ziskus hing in einer kleinen Kapellennische an der Straße – ein kleines Kind auf ihn zu, einen Heiligen­schein um den blonden Kopf und Pfeil und Bogen in der Hand. Ich bin, sprach es, Sankt Quiriakus, das heilige Kind. Ehemals, in der heidnischen Zeit, ehrte man mich als den Knaben Eros oder Cupido. Dazumal reizte ich mit meinen gefiederten Pfeilen das Herz so manches Menschen zu leicht-fertiger Lust und Liebe.

Nun aber bin ich ausersehen zu heiligen Dingen. Ich schieße mit meinem Bogen die Wundmale in die Hän­de und Füße der heiligen Märtyrer. Du ungläubiger Thomas hast dem heiligen Zeichen nicht glauben wol­len; so hab ich dir mit meinem Pfeil den sichersten und – das Kind lächelte – treffendsten Beweis gege­ben. Das heilige Kind Sankt Quiriakus trat herzu, zog den Pfeil dem Edelmann aus seiner Wunde, die ihn heftig schmerzte und brannte, und entschwand lang­sam in einem Ährenfelde zwischen den Kornähren. Dann und wann zuckte sein rothaariger Kopf noch wie eine Mohnblume auf und ging wieder in den Wogen des Kornes unter. – Der Edelmann aber kniete vor dem Bilde Sankt Franziski nieder und erflehte Verzeihung auf sein sündiges Haupt. Die wurde ihm von Sankt Franziskus gewährt, so daß die Wunde sich noch am gleichen Abend zu schließen begann.

Durch des heiligen Kindes Quiriakus‘ Verdienst bewahre uns, allwaltender Gott, vor Stolz und Un­glauben. Amen.

Sankt Jemand und Sankt Niemand 

Sankt Jemand und Sankt Niemand, zwei Pilgerime, begegneten einander auf der Landstraße des Lebens.

Sankt Jemand sprach: Wo kommst du her, Bru­der? Du bist so gar betrübt.

Sankt Niemand sprach: Ich komme aus dem Nichts und schreite ins Leben. Und du? Du siehst gar fröh­lich drein?

Sankt Jemand sprach: Ich gehe aus der Welt, das Scheiden wird mir leicht. Ich wandle ins Nichts.

Sankt Niemand sprach: Bruder, die Sonne steigt auf und versinkt. Der Mond nimmt zu, nimmt ab. Früh­ling, Sommer, Herbst und Winter wechseln wie Tod und Leben. Du stirbst. Ich werde geboren. Wenn ich einst sterbend dahinsinke, wirst du wieder den Pil­gerstab aus meinen Händen nehmen. Heilig ist das Leben. Heilig ist der Tod. Jemand ist heilig und heißt Sankt Jemand. Niemand ist heilig und heißt Sankt Niemand. Gott hält die Wage in seiner Hand: die Wa­ge der Gerechtigkeit. Da schwebt in der einen Schale das Leben; in der andern der Tod. Sie wiegen gleich. Und also besteht nur die Welt. Und also sind nur du und ich. Ich war‘ nicht ohne dich. Du wärst nicht ohne mich. Leb wohl. Stirb wohl. Wir begegnen uns immer wieder.

Sankt Jemand und Sankt Niemand gaben einander die Hand zum Abschied. Der eine schritt berg­auf, der andere bergab. Sie sahen sich noch mehrmals um. Endlich verschwanden sie zu gleicher Zeit: der eine hinter einem Felsen der Höhe, der andere tief im Tal. Die Sonne versank, und leise begann das Horn des Mondes im Abend zu tönen.

Allerseelen

Heut lag es wie Schnee in der Luft.

Ich dachte, es würde schneien. Die Wolken hingen bis zwischen die Häuser und wehten wie Laken vor den Fenstern.

Der Rauch aus den Schornsteinen wand sich wie schwarze Papierschlangen im Karneval um die Dächer.

Schließlich regnete es. Ein langer langsamer Regen.

Ein Regen, der sich selber zum Missmut regnen muß.

Die Lichter der Laternen in der Ludwigstraße stachen wie goldene Bajonette durch den Asphalt und glänzten in der Tiefe. Wenn man heruntersah, glaubte man zu fliegen.

Ein matter Vogel, mit dem klirrenden Flügelschlag des Abends.

Zeppeline fuhren als Trambahnen über den Asphalthimmel. In den Augen der Frauen dämmerte der Herbst.

Heut ist der Tag aller Seelen.

Heut wollen wir nicht Leib sein. Auch nicht heiliger Leib oder Leib des Herrn. Leib der Frau. Nur Seele. Schneegewölk. Sinkendes Laub. Singender Wind.

Wie viele Gräber muß ich heute besuchen. Wie viele Gräber will ich suchen, die ich nicht finden werde.

Im Waldfriedhof, zwischen den Bäumen, liegen die Gräber wie tote Tiere. Da ein Igel. Dort ein Fuchs. Ein Reh. Einige Kaninchen.

Der Regen fällt wie Tannennadeln von den Bäumen. Ich sitze auf einem Grab. Weil ich müde bin. Müde des Irrens in der Wildnis des Krieges.

Ich weiß nicht, auf welchem Grab ich sitze.

Ich habe nicht hinter mich gesehen auf die eiserne oder marmorne Tafel.

Wer du auch seist: der du hier unter dem Moose liegst: du bist mein Freund.

Nimm den Schmerz des Lebenden um deinen Tod, um den Tod aller deiner Brüder, nimm ihn in deiner braunen rauschenden Tiefe gern und gnädig an.

Du ruhst auf dem Grunde des Meeres aller Dinge wie ein schöner Seestern und die silbernen Wogen ziehen über dich hin wie Schwalben.

Wie sind wir einst im blühenden Licht des Frühlings geschritten, jubelnde Genien.

Wie jung warst du, mein Freund, ein springender Hirsch. Hamburg war deine Heimat und du warst voll Rauch des Hafens und voll Weite des Meeres. Voll roter Korallen und klingend vom Geläut hanseatischer Türme.

Wir wohnten in Tegernsee zusammen im Gasthof zum Alpbach, am Eingang des Tales, das nach Schliersee herüberführt.

Jeden Morgen ließen wir uns im Kahn auf die Höhe des Sees treiben. Dann lagen wir der Länge lang auf dem Rücken im Boot und du sagtest, du könntest selbst am hellsten Tag die Sterne sehen.

So scharfe Augen hattest du.

Am Abend liebten wir ein und dasselbe Mädchen. Enzianblaue Augen und rote Haare. Ein Eichhörnchen. »Oachkatzl,« sagte sie immer und lachte. Sie liebte uns beide, aber ich glaube, sie liebte dich mehr als mich. Weil du dem heiligen Franz in ihrem Gebetbuch so ähnlich sahst.

Was du immer werden wolltest, wurdest du jetzt: Erde. Ewige Erde. Humus wurdest du und deine Kraft wuchs in die Bäume hinein.

Diese Tanne, die ich umarme und die mir brüderlich die Wangen streift: du bist es. So bist du zugleich über- und unterirdisch.

Zugleich Tod und Leben.

Der ich armselig durch die Oktobernacht des Daseins taumle, dunkel und frierend, mit der Ungewissheit des Lebens und der Gewissheit des Sterbens: ich bin weniger als du, mein toter Kamerad, und nur wie eine blaue Blume auf deinem Grabe. Meine Hoffnung ist nur eine Hoffnung des Schmerzes, und mein Glaube nur der Glaube aller Seelen.

Kind in der Wiege

Dies weiß ich: Dass ich mich gegen das Erwachen wehrte. Mit Händen und Füßen sträubte ich mich gegen das Geborenwerden. Wenn die Inder verkünden, dass die Seelen sich zur Geburt drängen, so kann ich von mir das Gegenteil beschwören. Ich spielte mit vielen Zarten und guten Wesen auf der Lotoswiese. Es war ein ewiges Hin- und Widerneigen von uns wie von Blumen im Winde. Eine sanfte rosa Dämmerung umhüllte uns: nicht Tag, nicht Nacht. Unendliche Wohlgerüche fluteten.

Jeder war jedem gut. Und keine Seele ahnte auch nur von Bosheit oder Tücke.

Nun, da ich am Leben bin, in weißer Wiege liege, fühle ich im tiefsten Herzen, dass mit dem Nabelstrang auch das gleichsam seidene Band riss, das mich mit der Seligkeit verknüpfte.

Mit schmerzlich großen Augen sehe ich nur manchmal meine Mutter, welche sich blond und lächelnd über mich neigt.

Und wie ein Schwalbensittich rauscht kaum hörbar durch mein linkes kleines Hirn die Erkenntnis: In jenem Blick der Mutter, mit dem sie mich abends bettet, ist ein Strahl des verlorenen Paradieses eingefangen. Und leise hebe ich die Hände, der Strahl zu halten.

Die kleinen Lieder für Irene

Soll ich kleine Lieder singen,
Wie ich oftmals tat?
Sonne schon und Nachtigallenschwingen
Naht.

Unterm Schnee die Quellen rauschen
Schon dem Frühling zu.
Laß uns lächeln, laß uns lauschen!
Du!

Rinnt nicht auch in deinen Tränen
Schon der Mai?
Liebend Berge sich an Berge lehnen.
Sei!

Eine Tanne steht im jungen Triebe,
Wo der Marder schlich.
Winter wankt. Die Föhne stürmen. Liebe
Mich!

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Gott hat uns leicht und schwer gemacht.
Du hast geweint. Ich hab gelacht.
Du hast gelacht. Ich hab geweint.
So Sonn und Mond am Himmel scheint.

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Ewig werden Tränen rieseln
Und der Regen der Gewitter.
Götter gleichen ganz den Kieseln.
Galle schmeckt im Mund so bitter.

Schmerz beißt schamlos in die Brust sich,
Und zum Kriege trommeln Rippen.
Zur Verwesung krümmt die Luft sich,
Und der Kuss zerspaltet Lippen.

Berge stehen zwischen Herzen.
Zwischen Augen fließen Flüsse.
Brüste trennen Panzer erzen.
Zwischen Händen fallen Schüsse.

Eisenketten selbst zerreißen
In der festesten Vereinigung.
Und die kalten Gletscher gleißen,
Und die Parze lacht der Peinigung.

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Wo weilt mein Mädchen?
Auf dem Berge
Bei einem Zwerge
Weilt mein Mädchen.

Wo weilt mein Mädchen?
Auf der Wiese.
Ein roter Riese
Küsst mein Mädchen.

Wo weilt mein Mädchen?
Im Erlengrunde.
An ihrem Munde
Flattert ein Falter.

Wo weilt mein Mädchen?
Über der Erde.
Zwei schwarze Pferde
Entführten mein Mädchen.
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Wenn die Matten rosa dämmern
Und die Sonne schön erscheint,
Eile ich mit meinen Lämmern,
Wo man gut es mit uns meint.

Wolke zieht und Wiese schwebend
Aus der Tiefe uns herauf.
Und wir weiden, liebend lebend
An des Baches Silberlauf.

Naht mein Mädchen, mich zu grüßen,
Nehme ich das jüngste Lamm,
Und ich sinke ihr zu Füßen
Opfernd wie einst Abraham.

Liebes Mädchen, nimm die Gabe!
Wenn mein Wangenrot erblich,
Weide es auf meinem Grabe
Und gedenke dann an mich.
____

Du hast die Sonne durch dein Aug berückt,
Dass sie die goldnen Strahlen heller zückt.

Du hast den Mond bezaubert in der Nacht,
Dass er noch tags vor deinem Fenster wacht.

Als einst dein Fuß an einen Stein gerührt,
Den Stein ein Flügelpaar ins Weite führt.

Als deine Hand an meiner Stirne lag,
Da ward die ewige Nacht zum ewigen Tag.

Als du dich mir geschenkt mit Leib und Blut,
Vertraute Gott die Tochter meiner Hut.

____

Du wehst um meine Wangen,
Du lächelst aus dem Licht.
Ich bin von dir umfangen
In herbstlichem Gedicht.

Ich bin von dir umründet,
Ich bin von dir umhallt.
Ich bin mit Dir verbündet:
Gestalter und Gestalt.

Ich bin von dir umgeben,
Ich bin von dir umkreist.
Mein Sterben und mein Leben
Sind Geist von deinem Geist.

­_____

Einmal noch den Abend halten
Im versinkenden Gefühl!
Der Gestalten, der Gewalten
Sind zuviel.

Sie umbrausen den verwegnen Leuchter,
Der die Nacht erhellt.
Fiebriger und feuchter
Glänzt das Angesicht der Welt.

Erste Sterne, erste Tropfen regnen,
Immer süßer singt das Blatt am Baum.
Und die brüderlichen Blitze segnen
Blau wie Veilchen den erwachten Traum.

______

Man erwacht im Sanatorium.
Eimer klirrt, es klatscht der Besen.
Heiliger wie ein Oratorium
Tönt der Tag: geweint … gewesen …

Gütig gehn des Arztes Schritte,
Eine Schwester hüpft daneben.
Aus der Finsternisse Mitte
Schlägt ein Uhrenschlag ins Leben.

Emsig schon an der Tabelle
Träumt ein Assistent bedeutend.
Und ich ziehe an der Schelle,
Tee und Tag zum Bette läutend.

______

Die Stunde steht, die Wunde brennt,
Die Sonne sinkt vom Firmament.
Du bist bei mir. Ich bin bei dir.
Das Zimmer ist voll Goldgetier.

Hier kriecht es schwer, dort fliegt es leicht –
Wie ist die Wand so bald erreicht!

Dein kühler Mund auf meiner Stirn –
Die himmlischen Raketen schwirrn.
Die Seele stürzt. Ich weiß es nicht,
Warum mein Aug in Tränen spricht.

______

Wiegenlied für mich

O ich liege weit
Außer Raum und Zeit,
In der Sonne lieg ich still und weiß.
Schnee bekränzt mich licht,
Himmel mein Gedicht,
Und die Wälder läuten laut und leis.

Aus der Tiefe steigt
Blond ein Haupt und neigt
Seiner Locken liebliches Gespenst,
Seele du der See, Seele du der Schnee,
Seele, Seele, Sonne wie du brennst!

______

Wenn ich in Nächten wandre
Ein Stern wie viele andre,
So folgen meiner Reise
Die goldnen Brüder leise.

Der erste sagts dem zweiten,
Mich zärtlich zu geleiten,
Der zweite sagts den vielen,
Mich strahlend zu umspielen.

So schreit ich im Gewimmel
Der Sterne durch den Himmel.
Ich lächle, leuchte, wandre
Ein Stern wie viele andre.

______

Hingen Wang an Wangen,
hingen Blick an Blick.
Viele Frauen sind mit mir gegangen,
und nur eine sah zurück.

Viele haben schön bei mir geschlafen,
und nur eine ist erwacht.
Mein zerzaustes Segel fand den Hafen,
und mein Tag fand seine Nacht.

______

Schwester,
Das Fieber brennt.
Vögel bauen mondene Nester
Aus Firmament
Das rote Kreuz auf deiner Binde
Geschmiedet rot –
O Mutter, komm zu deinem Kinde,
Zu deinem Tod —

______

Wiegenlied für Irene

Einen Sommer lang
Goldne Glocke schwang,
Rief zu immer holderem Tag.
Schlugst das Aug du auf,
Lag mein Kuss darauf,
Und dein Herz in meinen Händen lag.

Einen Sommer lang
Lied und Lachen klang,
Und wir waren ganz vor Glück entbrannt.
Schlang und Eidechs kam,
Und gezähmt sie nahm
Süßigkeit aus deiner guten Hand.

Einen Sommer lang
Mit dem Engel rang
Ich, dass ewig dieser Sommer sei.
Ach, ich war zu schwach,
Und im Herbste brach
Sensenmann das Ährenglück entzwei.

Dieser Sommer war
Voll wie hundert Jahr,
Die des Gottes Gnadenblut durchdrang.
Schenke sein Geschick
Unsrem Kind ein Glück
Viele, viele, viele Sommer lang.

_____

Wiegenlied für ihr Kind

Lass die Augen zu!
Lächle Engeln du –
Anblick dieser Welt zerreißt die Stirn.
Welt ist Leu und Wolf,
Welt ist grauer Golf,
Wie im Sturm die weißen Segel irr’n.

Selig ohne Schuld,
Gläubig in Geduld,
Harrst dem Leben du entgegen: rein,
Wird es wild wie heut,
Wird es voll Geläut
Und voll Engelglück und Frühling sein?

Schummre, schlummre tief!
Als der Gott dich rief,
Deine Mutter Erde lag in Wehn.
Ach, vielleicht dein Sohn
Wird im Frieden schon
Hand in Hand mit seinen Brüdern gehen.

So setzt ich ohne Ruhe
Schlaflos hier Strich um Strich
War nichts so gut wie du,
War nichts so bös wie ich.

Nichts war so schwarz wie ich,
Nichts war so blond wie du.
O bleibe, ewiglich,
Ruhlose, meine Ruh.
______

Im Nebenzimmer hallt ein fremder Schritt.
Die Uhr schlägt sieben. Du trittst nicht herfür.
Ein wolkenhafter Schatten war’s, der glitt
Und wölbte sich gespenstisch aus der Tür.

Ich bereitete die Arme dennoch ihm
Entgegen, da er schattig dir verwandt.
Steil stieg die Stirn. Ein goldner Cherubim
Stand strahlend, schwang die Palme und entschwand.
______

Was ist aus mir geworden?
Kaum weiß ich wer ich bin.
Ich warf mich über Borden
Ins dunkle Wasser hin.

Mein Glück ist die Makrele,
Mein Bruder ist der Fisch.
Ich werfe meine Seele
Auf sie verschwenderisch.

Zuweilen scheint’s, als riefe
Ein Sonnenblick ins Licht.
Doch meine grüne Tiefe
Durchdringt, durchblinkt er nicht.

______

Ich seh’s an deinem Bilde, auch du leidest,
So himmelweit von mir entfernt zu sein.
Ich fühl, wie du die Engelspiele meidest
Und wie du traurig bist, besternt zu sein.

Ich bin nur deines Schattens schmaler Schatten.
Du bist so hell. Ich bin so dunkel ganz.
O wirf den goldnen Käscher nach dem Gatten
Und zieh hinüber ihn in deinen Glanz.

______

Du nahmst in deinen Händen
Mein Herz mit
in den Katafalk.
Ich bröckle aller Enden
Wie Kalk.

Bald werd ich nicht mehr ich sein,
Nur immer du.
Und Friede wird für mich sein
In deiner Ruh.

Mein Schmerz, er wird verschmerzt sein
Von mir.
Mein Herz, es wird geherzt sein
Von dir.

______

Und schwäng ich schwärmerisch den Herrscherstab,
Dem Volk ein Wächter, und dem Ruhm ein Rufen:
Es führen alle groß und kleinen Stufen
Doch nur zu deinem Grab.

Bekämpfe ich mit Feuerschwert das Arge,
Und würd ich dies und jenes tapfer tun,
Mein Lohn kann doch nur sein: in einem Sarge
Mit dir  zu ruhn.

______

Wie mancher vor des Fürsten strengem Schein
In knabenhafter Niederkeit erstirbt:
So sterbe ich vor dir. Die Grille zirpt.
Und dieser Tag wird wohl der letzte sein.

Ach, daß ich dennoch übers Grab hinaus
Die Arme ewig nach dir breiten werde!
Ich kehre nie zu meinem Vaterhaus,
Und fremde Erde ist wie keine Erde.

______

Komm zur Stunde der Gespenster,
Daß kein Blick dich mehr berühre.
Komm mit einem Stern durchs Fenster,
Mit dem Windstoß durch die Türe.

Leg zu mir dich in die Kissen,
Laß uns Wang an Wange schweigen,
Bis in flammenderen Küssen
Wir uns zueinander neigen.

Nimm mich mit dir, wenn du scheidest
Beim Gesang der Philomele.
Leiden will ich, was du leidest,
Selig sein in deiner Seele.

______

Sonne scheint und Mond versinkt,
Ziegen klettern an den Hügeln.
Mädchen sind mit bunten Flügeln
Wie die Sittiche beschwingt.

Berg steht veilchenviolett.
Die Kastanienblätter knistern,
Und von ihren Kindern flüstern
Liebende ich goldenen Bett.

Bin ich Echo? Bin ich Ruf?
Schwimmend fühl ich Tränen steigen;
Und ich muss die Kniee neigen
Vor dem Grabmal, das ich schuf.

______

Jeden Tag muss ich gewöhnen
Mich aufs neu an dieses leben.
Glocken hin und wieder dröhnen.
Wolken auf und nieder schweben.

Und ein Strom von Tränen fließ ich
Aufwärts wie ein Regenbogen.
In den Himmel schon ergieß ich
Meine Wellen, meine Wogen.

Engel neigen ihre Wangen,
Kühlen ihrer Augen Brände.
Und der schönste kommt gegangen,
Und er netzt sich seine Hände.

© Hartmut Deckert geschrieben nach Klabund