Kleine Wanderung

Von Klabund

Ein rotbärtiger Bezirksfeldwebel erteilt mir höflich einen dreimonat­lichen Urlaub. Auf dem Polizeipräsidium stellt man mir einen Pass aus, Ich lasse ihn vom österreichischen Konsul visieren. Der Konsul visiert ihn. Und mich. Er nimmt mich aufs Korn. Man beginnt auf der Stelle militärisch zu denken. Man erinnert sich seiner preußischen Abstammung und steht stramm. Das blaue Auge des Konsuls glänzt milder. Wien lächelt in seinem Blick. Lud Budapest. Man rührt sieh, ein wenig verlegen, und verneigt sich verbindlich . . .

Ich packe meinen Rucksack. Es ist kein richtiger Rucksack: es ist ein kleiner federleichter brauner Tornister, der sich in der Stadt auch als Handkoffer tragen lässt. Es geht viel in ihn hinein. Ich ziehe ein Paar starke Schuhe an. und nun kann ich fortbleiben, solange ich will: drei Tage . . . oder drei Wochen ., . oder drei Monate.

Ein paar weiße Wolken sind über den blauen Himmel geklext. Es ist nicht so heiß wie die letzten Tage. Der Frühzug nach Garmisch ist be­setzt wie sonst. Wie im Frieden, Tannengrüne Touristen klappern mit beschlagenen Stiefeln durch die Halle. Ältere wohlgekleidete Herren schreiten behutsam mit eleganten Handtaschen, Sie nehmen den Tag be­dächtig wie ihre Handtasche zwischen die Finger. Frauen in lockeren Blusen lachen und winken, Es ist wie sonst. Der Zug geht pünktlich ah. Wie sonst. Er fährt keine Viertelminute länger wie sonst. Diese zwei Worte: wie sonst – sind sie nicht auch ein Erfolg deutscher Gewissenhaftigkeit und deutschen Gewissens, und nicht der geringste? Mag unser Sinn bedrängt oder unser Herz erschüttert sein: Es ist doch (im Grunde) alles wie sonst. Die Welt. Und die Sonne. Und der Mensch. Auch im Frieden bebt die Erde. Speit der Vesuv Feuer. Verschlingt eine Springflut  Galveston. Eisberge treiben auf dem Ozean. Und die „Titanic“ sinkt. Automobile fallen in die Spree und die Seine. Raubmörder schleichen mit tückischen Messern durch verkommene Straßen. Eine Kugel tötet im Kriege. Und im Frieden ein Ziegelstein, ein Blitzstrahl oder ein böses Wort. Vielleicht sind Worte überhaupt viel mächtiger als Taten. Sie machen die Taten erst sichtbar. Was ist der größte Feldherr ohne den Ruhm? Seinen Ruhm schafft das Wort. Und das Wort schafft der Schreiber. Wer wüsste von Achilles, wenn Homer nicht wäre? —

Wir sind nicht schwacher wie sonst und nicht stärker.

Das Korn steht hoch. Rot blüht der Mohn. Wie Kinder in kleinen Röcken laufen die Birken am Wege. Der Starnberger See schlägt sanfte Wellen. Das Gebirge ist morgendunstig leicht in die Decke des Himmels gestickt. Die Sonne schwingt den goldenen Schild überm Herzogsland. Der See glitzert. Und es steigt ein Tag empor, wie es deren viele gab. Und immer geben wird. Es gibt nur eine Sonne. Und sie scheint über Gerechte und Ungerechte: in Polen, in Flandern, in Italien, in New-York. Glaube niemand, er habe die Sonne gepachtet und sie sei engagiert, für ihn zu leuchten. Wir haben alle Platz an der Sonne.

Da ist Murnau. Und der Staffelsee. Hier zweigt die Bahn nach Ober­ammergau ab. Schon fünf Jahre ist es her, dass sie die Passion spielten. Damals sprach man nur Englisch in Oberammergau. Johannes, der Lieblingsjünger des Herrn, ging mit einem Buch herum: Do you speak English? und deklinierte: die Lady, der Lady . . . Pontius Pilatus versuchte sich in einem verstörten Hochdeutsch. Christo hätten die Gentlemen nach der Vorstellung am liebsten die Pferde seiner Droschke ausgespannt, wenn er eine gehabt hätte.

Jetzt liegt. Johannes vor Ypern und verwertet in anderer Weise wie frü­her seine englischen Sprachkenntnisse. Petrus hört in Petrikau die Hähne krähen . . . und Magdalena weint . . .

Aus den „Davoser Blättern“ vom 11. Dezember 1915.