Klabund – Literaturgeschichte

Die deutsche und die fremde Dichtung
Von den Anfängen bis zur Gegenwart

Herausgegeben von Ludwig Goldscheider
Phaidon- Verlag in Wien 1929
Gesamtauflage: 80 Tausend

Vorbemerkung

Die Dichtung jedes Volkes ist national und übernational zugleich. National in dem Sinn, dass sie auf der Sprache be­ruht, dem eigensten, was ein Volk schaffen kann; in diesem Sinne wird und soll sie immer „völkisch“ sein. Überna­tional, indem sie seelische Strömungen, die von anderen Völkern kommen, aufnimmt, staut, für sich verarbeitet und weitergibt.

Die deutsche Dichtung ist vergleichbar einem Baum, der tief in der deutschen Erde wurzelt, dessen Stamm und Krone aber den allgemeinen Himmel tragen hilft. Es gibt eine deutsche Erde. Der Himmel aber ist allen Völkern gemeinsam.

Die reiche deutsche Literatur des Mittelalters ist ohne den Einfluss der französischen Troubadoure (die heutige ohne Flaubert und Dostojewski), die englische Literatur ohne die Italiener, die italienische ohne den Einbruch des deutschen Blutes in Italien (Kaiser Friedrich II. von Ho­henstaufen : der auch der erste Dichter in italienischer Spra­che und vielleicht der Erfinder des Sonettes war), Goethe ohne die Antike nicht vorstellbar. Es gibt nur ein Volk, das, soweit uns bekannt, ohne den Einfluss anderer Kul­turen zu seinen höchsten Leistungen kam: China. Selbst die Bibel wäre nichts ohne die indischen Mythen, die über Ägypten den Weg nach Jerusalem fanden. Und Christus wandelt in den Spuren Krischnas. Wir wollen unser gei­stiges Auge öffnen und es den Sonnenstrahlen aller Kultu­ren darbieten. „Wir sind Deutsche,“ sagt einmal Hof­mannsthal, „und unserer Sprache, die ja unser Schicksal ist, ist dies Merkmal gegeben, dass in ihr wie in keiner die geistigen Schöpfungen anderer Völker in ihrer Herrlich­keit wieder auferstehen und ihr eigenstes Wesen offenba­ren können, wodurch wir als das Volk der Mitte und der Vermittlung auserlesen und beglaubigt sind.“

Die erste Ausgabe dieses Werkes bestand aus zwei Tei­len, von denen der eine die Geschichte der deutschen Lite­ratur, der andere die Geschichte der Weltliteratur enthielt. Ein knapper Abriss sollte es sein, nicht mehr, ein Wegwei­ser in immergrüne Gefilde, kein kompletter Katalog stau­biger Museen. Und da war auch ein Untertitel: „In einer Stunde“ — es war also ein Buch für Menschen, die keine Zeit hatten, wenigstens keine für die Geschichte der Lite­ratur, keine Zeit, sich lange belehren zu lassen, aber die dann vielleicht viel Zeit hatten für die Dichtungen selbst. Diese neue Ausgabe des Werkes ist ergänzt, aber nirgends ist um der Vollständigkeit willen nur geschichtlich Be­deutendes hinzugenommen. Denn diese kleine Literatur­geschichte verfolgt weder philosophische noch philolo­gische Absichten. Sie ist nichts als der Versuch einer kur­zen, volkstümlichen, lebendigen Darstellung der Welt-Dichtung, was besagt: Der Dichter und der Dichtungen. Sie hat sich als Ziel gesteckt: Die Liebe zur Dichtung zu wecken oder zu befestigen, Wegsuchern zu ihr den Weg zu weisen und zur Hand zu gehen.

Die wesentlichste Änderung, die das Werk in seiner neu­en Ausgabe erfahren hat, ist, dass deutsche und fremde Li­teratur eben als Einheit behandelt werden und dass die An­ordnung des Stoffes chronologisch ist. Dadurch werden auf die einfachste Art wichtige Zusammenhänge klar. Nur die großen Kulturnationen sind in die Ordnung aufgenom­men, die nicht überall streng durchgeführt und die manch­mal notgedrungen sprunghaft ist. Der Inhalt verschiedener Kapitel bildet Überschneidungen: denn nicht über­all können Jahreszahlen allein die Grenzen bilden. So musste zum Beispiel die ganze Literatur des Islam im Zeitraum der Kreuzzüge seine Darstellung finden und fast die gesamte russische Dichtung im Kapitel „Zeit­alter der Psychologie“. Das Schrifttum der Tschechen, Ungarn, Polen, der Völker der baltischen Länder und des Balkans konnte nur kurz behandelt werden und wurde des­halb zu einem eigenen Kapitel vereinigt. —

An der Textgestaltung dieser Neuauflage hat Guido von Kaulla bedeutenden Anteil: er hat das Manuskript, das wesentlich mehr enthält als die Erstausgabe, herangezo­gen, und zu den Teilen, die von der Literatur seit 1920 handeln, Ergänzungen beigetragen.

Erstes Kapitel
URSPRÜNGE

Als untrüglicher Beweis für das Dasein Gottes ragt das mystische Gebäude der Weltliteratur in Raum und Zeit, Traum und Ewigkeit. Mag beim Brand von Alexandria die kostbare Bibliothek in Flammen aufgehen, mit ihr das edelste Erbe der altgriechischen und altägyptischen Dich­tung, mögen chinesische Kaiser die alten Schriften ver­brennen, um jede Brücke nach der Vergangenheit abzu­brechen um der Zukunft willen, mögen katholische Bischöfe die Dichtungen der Azteken oder Araber oder Germanen dem Autodafe überliefern, mag das Schrifttum ganzer Kul­turen für immer verloren sein – so die Literatur von Mykenä, Karthago, Etrurien und Iberien: die Katastrophen im Weltgeschehen können nur die Werke vernichten, aber nicht den Geist, der sie erzeugt. Der ist unzerstörbar wie das Leben selbst. Es ist der Geist Gottes, der wie eine Taube über der Sintflut schwebt…

Was ist selbst von einer uns zeitlich so nahen Kultur wie der griechischen überkommen? Von dem großen griechi­schen Lyriker Bakchylides ist nichts, von dem Komödien­dichter Menander sind zwei Komödien, von Sappho nur Fragmente, von den 67 Tragödien des Aischylos sind 11 erhalten. So wird auch einmal, in 10 oder 100 000 Jahren von uns und unserem Wirken kaum noch ein Hauch über die Erde wehen. Wer weiß, ob selbst der Name Goethe dann noch klingen wird. Ja: die Erde, wie sie einmal einst war, wird nicht mehr sein. Eine materielle Weltanschauung müsste freilich angesichts solcher Aus- und Einsichten ver­zweifeln. Wir, die wir an Gott und seine ewige Wieder­kehr: als Mensch, als Stern, als Tier, als Blüte: glauben: wissen, dass alles nur Variationen seiner Gestalt sind, die sich ewig wandeln und doch ewig gleichbleiben wird. Goethe kann zugrunde gehen. Das Feuer, das er entzün­dete, kann hier verlöschen. Auf einem neuen Stern wird es wieder strahlend aufflammen.

Dichtung ist der höchste Ausdruck jener Kraft, die sich im Protoplasma dunkel regt und die der Pflanze die Sehn­sucht nach dem Licht verliehen. Die Dramen Shakespeares, die Epen Homers, die Lieder Li-tai-pes sind wie Rosenöl, gepresst aus Milliarden Rosen.

Aber keine Rose blühte umsonst, auch die unschein­barste nicht.

Dichtung kommt aus Gott und mündet in Gott. Sie schafft magisch die große Vereinigung zwischen Dingen und Geist, zwischen Denken und Sein, zwischen Welt und Schöpfer. Am farbigen Abglanz erschaut sie das Leben, und Natur hat für sie weder Kern noch Schale. Man könn­te, ein Wort Spinozas variierend, sagen: Die Dichtung ist nicht die Vorstufe zu einem seligen Jenseits, sie ist dieses Jenseits selbst. Oder: Das Jenseits ist nur das anders an­geschaute Diesseits. Denn jenseits dieser Welt gibt es nichts. Noch das Nirwana … ist diesseits. Die Sterne leuchten auch den Toten, diese Blumen blühen auch für sie. Nur dass die verklärten Gesichter sie anders sehen. Mit übermenschlichen oder unmenschlichen Augen. So sehen auch die Dichter diese Welt mit über- oder unterirdischen Blicken. Gott ist der Geist. Und seine Geister sind die Dichter.

Woher kommt die Sprache? Die alten Inder meinten sie sei ein Geschenk der Götter.

Haeckel hat einen homo primigenius alalus, einen sprach­losen Menschen, angenommen und Bleek hat ausgerechet, daß dieser Alale mindestens hunderttausend Jahre ge­braucht hat, um sprechen zu lernen. Ja, aber wie geschah es, dass aus dem homo alalus schließlich doch ein homo sapiens wurde, ein redebegabtes Wesen? Wenn Novalis recht hat mit seinem Satz „Denken ist Sprechen“, so mag das Spre­chen wieder nur aus dem Denken entsprungen sein, es mag eine gewisse Höhe von Erinnerung, Gedächtnis, Vorstel­lungskraft, assoziierendem und kausalem Verknüpfen die Sprache so entstehen haben lassen, wie sich die Körper den Bedingungen anpassen, wie aus Kiemen Lungen werden, wie Schwimmhäute, Flügel und Stoßzähne erworben wer­den oder vorausblickende Instinkte, die die Zeit übersprin­gen gleich einen Raum. Brehm hat Neigung, an eine Sprache der Tiere zu glauben und von einem gibbonartigen Lang­armaffen berichtet er, dass er geradezu singe. Vom musika­lischen Laut her hat schon Darwin das Werden der Sprache erklären wollen, und gewiss ist Schrei und Paarungsruf Ur-element aller Sprache. Ursprünglich sind Rhythmus und melodische Tönung, auch dort, wo wir den Schlüssel nicht so haben wie beim Vogelgesang.

Die ersten Menschen haben nicht anders gesprochen, als die Hunde bellen. Es gibt auch heute noch Menschen, die wie Hunde bellen: das Volk der Orang-Kubu, das in Su­matra lebt, von der übrigen Insel durch Gebirg und Sümpfe getrennt. Die Kubu haben eine Sprache, die ein paar Dut­zend primitiver Laute kennt. Sie haben keine Dichtung, denn sie kennen kein „Jenseits“. Sie haben keinerlei reli­giöse Vorstellungen. Sie wissen nichts vom Tod. Sie glau­ben an nichts. Sie haben keine Grabzeremonie, und wenn einer stirbt, lassen sie ihn liegen, wo er liegt.

Wenn man sich die Sprache der Urmenschen vergegen­wärtigen will, so denke man etwa an die Kindersprache.

Die Kindersprache geht ganz vom Konkreten aus. Sie sucht optische Eindrücke in akustischen Ausdruck umzu­setzen. Sie imitiert die Naturlaute: den Donner des Gewit­ters, das Rauschen des Regens, den Schrei des Tieres. Noch wird nichts abstrahiert. Die gewöhnliche Annahme, dass der primitive Mensch auf einer sehr niedrigen Denkstufe steht, stimmt nach Einblick in die primitiven Sprachen und Literaturen durchaus nicht. Seine Fähigkeit zu abstrahie­ren, ist, wie die eines Kindes, sehr gering. Sein Wissen um das Wesentliche sehr ausgebildet. Die Suahelisprache z. B. setzt, streng logisch denkend, das Verbum vor das Objekt. Für die Hauptwörter hat er nicht nur drei (männl., weibl., sächl.) Kategorien, sondern acht. Überhaupt ist die Gram­matik primitiver Sprachen meist sehr kompliziert. Sie haben keinesfalls die einfache Syntex etwa der englischen und französischen.

Kinder, die ihre Erlebnisse oder Träume erzählen, pro­duzieren naiv wie primitive Dichter. Die erste Ära der Sprachentwicklung ist schriftlos. Organisch wächst die Gestaltung des Erlebnisses aus der Erzählung heraus.

Die erste Schrift ist eine Bilderschrift, die so vollkom­men ausgebildet werden kann wie etwa die ägyptische. Wenn man jemandem mitteilen will, dass man Sehnsucht nach ihm hat: malt man einen Menschen im Gehen, einen Vogel daneben.

Je weiter die Sprachentwicklung fortschreitet, umso mehr verblasst das ursprüngliche Bild, der ursprüngliche Klang, der ein Wort formte. Die abstraktesten Begriffe sind aus konkretester Anschauung entstanden. Begreifen, d. h. etwas mit den Fingern begreifen, betasten. Eine Vor­stellung haben, d. h. etwas vor sich hinstellen wie einen Teller oder ein Glas. Weltanschauung, d. h. Anschauung, optische Anschauung dieser Welt. Der Dichtung eines Vol­kes liegt das Amt ob, die Sprache frisch und lebendig zu erhalten, sie nicht in blutleeren Abstraktionen verdorren zu lassen. Wie ein Baum muss die Sprache aus der Erde hervorwachsen, Blut muss in ihr rollen wie in den Adern der Menschen.

Die Dichtung aller Völker beginnt mit der mündlichen, später schriftlichen Fixierung religiöser Vorstellungen. Die Schöpfung der Idee „Gott“ war die erste. Im Anfang war das Wort. Und das Wort schuf den Gott. Und Gott wurde das Wort.

In der Urzeit ist der Zusammenhang von Dichtung, Mu­sik und Tanz noch offenbar. Die Versform ist zweifellos aus Worten zu rhythmischen Opfertänzen entstanden. Die ältesten Dichtungen, die wir kennen: die ägyptischen, ba­bylonischen, indischen Dichtungen: sind religiöse Dich­tungen fetischistischer, mythologischer, ahnenkultlicher Art. Ihnen gesellten sich bald das Liebeslied und das Mär­chen. Glaube und Aberglaube sind die Eltern der Dichtung. Der Glaube wird zur Voraussetzung der Gestaltung.

Die Urmenschen kennen keine Sünde. Sie wissen nichts von Gut und Böse. Sie leben vor dem Sündenfall. Erst durch den Sündenfall kam Gottes-Furcht und Eros und in ihrem Gefolge die Dichtung in die Welt. Die Erkenntnis der Polaritäten des Daseins schuf die Dichtung, die sich zu allen Zeiten zwischen den Polen Gott und Teufel, Tod und Leben, Mann und Frau, Tag und Nacht, Sommer und Win­ter bewegt. „Wahrheit lässt sich nur durch Erfassen der Gegensätze begreifen“, sagt ein alter chinesischer Spruch. Diese Wahrheit sucht die Dichtung.

Vor dem Altar seines Gottes warf sich der Urmensch nieder und in halbartikuliertem Gebetruf, singend, schrei­end, erflehte er die Geliebte, und seine Wortblöcke banden sich, ihm selbst erstaunlich, zu sonderbaren Rhythmen, die seiner Seele ein Echo riefen. Wie eine Blüte brach ihm das Herz in einer Nacht auf, daß es der Sonne entgegenglühte, eine Schwestersonne. Dass er dem Sonnengott sich als ge­ringerer Brudergott verwandt fühlte, dass er Worte fand in seinem Munde wie nie zuvor. Unbewusstes ward bewusst. Liebe machte den Stummen beredt. Er sang einen heiligen Gesang. Er neigte sich dem Gott, er neigte sich der Ge­liebten, er versank vor sich selbst. Himmel, Erde, Mensch verschmolz in seinem Gedicht. Die Sehnsucht wurde Wort, das Wort wurde Erfüllung. Aller Dichtung Urbeginn ist Furcht und Liebe. Der Weg zur Liebe führt durch Hass und Kampf und Schmerz. Der Urmensch sang den Hass gegen den Feind, den Feind seines Gottes und Räuber seines Wei­bes. Er singt den Schmerz seiner im Weltall verlorenen ein­samen Seele, die dahinfliegt wie ein Meervogel über den Ozean, und nur die Sonne ist ihre Hoffnung. In ihr verehrt er Gottes Auge, das ihn beglänzt, jeden Tag neu, nach fürchterlicher Nacht. Und er sieht auch in sich die ewige Nacht, aus der er nur immer kurz zu Dämmerung und Helle erwacht, und seine Sehnsucht sucht die Nacht immer mehr mit Licht zu erfüllen. Und das Licht zeigt ihm den langen mühseligen Weg des Menschen, welcher aus Finsternis und Sumpf emporführt zu Licht und Gebirg, bis über die Wol­ken, bis an Gottes Thron.

Rhythmisch ist der Schlag des Herzens, rhythmisch das Stoßen des Eros, rhythmisch der Ablauf des Lebens und rhythmisch der Gang der Gestirne, der über allem sich run­det. Rhythmisch sind darum auch die ältesten Götter- und Liebeslieder, die Schlacht- und Heroengesänge, die Sonnen­hymnen und mythischen Gedichte. Die Psalmen der Assyrer, Hebräer und Ägypter sind überdies parallelistisch gegliedert, sie haben den Gedankenreim, der den polarisch klaffenden Zwiespalt überbrückt. So ist von Uranfängen her die Form, d. i. die Sprachgestalt, das Wesenhafte eines lebendigen Gedichtes, ja im eigentlichen Sinne die einzig mögliche Verkörperung eines dichterischen Erlebnisses.

Homer

Zweites Kapitel
DAS MORGENLAND
ÄGYPTEN

Das Wesentliche an der ägyptischen Kunst und Dichtung ist das absolute Denken in Bildern. Nichts ist ver¬schwommen, nichts ist abstrahiert. Der Gedanke steht klar und deutlich im Raum, wie die Pyramiden in der Wü¬ste stehen. Es gibt keine Wahrscheinlichkeit, nur eine Wahrheit. Die Verwesung selbst wird überwunden. Man balsamiert die toten Könige, und auch ihr Leib lebt ewig. Man begräbt sie in der gekrümmten Stellung, die das Kind im Mutterleibe einnimmt, um zu zeigen, daß sie nicht ster¬ben, sondern wieder geboren werden. Der Tote, d. h. seine Seele, der Seelenvogel, stürmt zum Himmel, wie ein Kra¬nich. Er küsst den Himmel wie der Falke. Er fliegt fort von den Menschen. Er ist nicht mehr auf Erden, er ist im Him¬mel, bei seinen Brüdern, den Göttern. Sein „Ka“, seine göttliche Seele, hat heimgefunden. — Immer fordern sie die Ewigkeit heraus. Amenemhet spricht:

Ich baute einen Palast und legte ihn mit Gold aus.
Seine Decken und Mauern waren aus LapisIazuli…
Seine Türen aus Kupfer,
Seine Riegel aus Bronze.
Sie schrecken die Ewigkeit!

Der Horizont ist weit wie der der afrikanischen Wüste. Man sieht kein Ende. Man lebt und lebt. Aber leben heißt schaffen. Keine Zeit hat so an die Gewalt der Schöpfung, der Formung geglaubt. Was tut’s, wenn Tausende beim Tempel- oder Pyramidenbau verrecken? Nicht der Geist, wie der Abendländer sagen würde, sondern das Maß, die Form, der Leib lebt ewig. Die Ägypter glaubten an ihre Unsterblichkeit.
Die ägyptische Dichtung, hymnenartig, religiös, greift wild in die Saiten wie einer ihrer Götter mit Löwenkopf, der die Harfe schlägt. Zu den Dichtungen der Weltliteratur gehören die Sonnenhymnen:

Schön erwachst du, du Sperber des Morgens —,
Du Löwe der Nacht,
Du ehrwürdiger Verklärter,
Herrlicher, der die Augen öffnet,
Du Stier mit dem stoßenden Gliede !
Erhabener, dessen Lauf man nicht kennt —
Wie geheim ist dein Wesen.
Am großartigsten ist Echnatons Sonnengesang, der so anfängt:
Herrlich erhebst du dich am himmlischen Lichtberg,
Ewige Sonne, Ursprung des Lebens!
Wenn dein Glanz im östlichen Himmelsfeld aufsteigt,
Wird die Welt so licht von deiner Schönheit.
Denn du bist schön, du bist groß, du funkelst unirdisch
Und deine Strahlen umarmen all deine Schöpfung.
Siegreich bist du: du nimmst uns alle gefangen,
Bindest uns alle mit deiner Liebe.

Dann wird die Sonne noch gepriesen: große Knospe, die im Ozean aufgeht. Sie wird „Amme der Ungeborenen“ genannt und „Vater der Welt“. Aber auch ihr liebes, schö­nes Kind. Die Paviane preisen sie. Ein goldner Vogel ist sie, der über den Himmel fliegt. Und der Himmel ist ein Meer, auf dem die Schiffe der Gestirne dahinsegeln. Das alles sind poetische Bilder und Vorstellungen, die längst in das Bewusstsein der Menschheit eingegangen sind.

Die Vererbung solcher Bilder im Unterbewusstsein des Einzelnen habe ich an mir selbst oft erfahren. Ich entsinne mich, einen Hymnus von der Sonne geschrieben zu haben, die wie ein Sperber über den Himmel fliegt und den Trian­gel des Frühlings im Schnabel hält. Als ich von den ägyp­tischen Sonnenhymnen noch keine Ahnung hatte. Und doch klingt das Gedicht selbst wie eine Abschrift.

Die Dichtung der Ägypter ist religiös. Priester und Kö­nige sind zugleich auch Dichter. Thot, der Gott der Weis­heit, wird besungen und Isis und Osiris und der Gott mit dem Hundskopf. Die Tiere sind heilig. Vielleicht, weil sie nicht reden und ihre Weisheit als ihr Bild an sich und in sich tragen. Sie sind nicht weise: sondern Weisheit.

Fünftausend Jahre alt sind die ältesten Kapitel des To­tenbuches, das den Mumien in ihre Särge mitgegeben wur­de. In ihren Anfängen zeigt die ägyptische Dichtung deut­liche Abhängigkeit von der babylonischen: einige Assyriologen haben Ägypten sogar als altbabylonische Kolonie bezeichnet.

Gegen Ende des mittleren Reiches (um 1500 v. Chr.) erwacht der Weltschmerz. Erhalten ist ein Gedicht, das ein Selbstmörder vor seinem Tode dichtet:

Zu wem spreche ich heute?
Die Herzen sind frech,
Ein jeder nimmt die Habe des Nächsten.
Zu wem spreche ich heute?
Der Sanfte geht unter,
Der Freche kommt zu allen Leuten hin.
Zu wem spreche ich heute?
Es gibt keine Gerechten,
Die Erde ist ein Beispiel von Übeltätern

und dann lockt er seine Seele:

Heut steht der Tod vor mir
Wie die Genesung vor dem Kranken,
Der sich erheben soll von seinem Schmerzenslager.
Heut steht der Tod vor mir
Wie Duft von Myrrhen,
Wie kühler Hauch am heißen Tage.
Heut steht der Tod vor mir
Wie ein Geruch von Lotosblumen,
Wenn man am Ufer sitzt der Trunkenheit.
Heut steht der Tod vor mir,
Wie eine Heimkehr
Nach langen fahren der Verbannung.

Die ägyptische Kultur hat nichts Minderwertiges oder auch nur Mittelmäßiges hervorgebracht: sie ist eine ein­zige riesige Schöpfung wie die Sphinxallee von Karnak. In den Sonnenhymnen, in den Totengesängen hat sie Un­sterbliches geleistet. Aber auch in kleinen Märchen und Liebesliedern bezaubert sie: so, wenn der Liebende die Ge­liebte in die Sykomore verwandelt, die sie selbst gepflanzt und die nun zu sprechen beginnt „Worte wie Honigseim“:

Komm, begehe festlich den heutigen Tag
Und den morgigen nach dem morgigen…

In den Liebesliedern spricht meist das Mädchen.

Mein Herr ist ein stampfendes Fohlen,
Es findet nicht Rast bei Tage,
Es findet nicht Ruh bei Nacht.

Sie ist eine Wiese mit süßduftenden Blumen und sie will den Geliebten wie eine Wildgans im Netz fangen.

Sehr alt sind die Arbeitslieder, in denen der Rhythmus des Hammers klingt. Das älteste Arbeiterlied der Welt ist der Sang der Kornträger:

Garben und weißen Spelt
Tragen wir Tag für Tag.
Alle Speicher sind voll.
Alle Schiffe gefüllt.
Schon quillt Korn über Bord,
Aber man treibt uns und treibt.
Hungernd gehn wir gebückt:
Unsere Rücken aus Erz,
Unsere Herzen aus Erz
Tragen Tag für Tag.

Der Gott nimmt die Gestalt des gerade thronenden Kö­nigs an, und so apostrophiert Ramesses II. eigentlich sich selbst, wenn er im Epos der Schlacht von Kadesch ruft: „Ich rufe zu dir, mein Vater Amon“. König Amenophtes, Sohn Ramses II., dichtet eine Siegeshymne, Ramesses III. eine theologische Ode.

Die Prosa ist sehr reich. König Cheops weilt im Kreis der Seinen und läßt sich Zaubermärchen erzählen. Aus dem mittleren Reich stammt der Roman vom beredten Bauern. Dann gibt es einen Roman vom Schiffbrüchigen, der auf die Geisterinsel verschlagen wird, mit dem Schlangenkö­nig zusammentrifft und heimkehrt, während die Insel ver­sinkt. Kämpfe mit Riesen sind an der Tagesordnung, und die Liebessehnsucht zweier Liebenden, zwischen denen ein tiefer Kanal fließt, schreit auf: sie konnten zusammen nicht kommen, das Wasser war viel zu tief. Dem neuen Reich gehört das Märchen vom verwunschenen Prinzen an, dem bei seiner Geburt geweissagt wird, er sterbe durch ein Krokodil, eine Schlange oder einen Hund — und der im Laufe seines Lebens durch diese drei Tiere in allerlei Abenteuer gerät. Das Märchen von den zwei Brüdern über­rascht durch plastische Schilderungen ägyptischen Bauern­lebens. Am Ende der altägyptischen Geschichte gerät Ägypten unter griechischen Einfluss. Bei Herodot finden sich noch viele ägyptische Literaturreste in hellenistischer Einkleidung.

BABYLON UND ASSYRIEN

Erst in den letzten Jahrzehnten ist die babylonisch-assy­rische Literatur durch Ausgrabungen einer jahrtausend alten Vergessenheit entrissen worden. Man hat im Boden der alten Städte des Zweistromlandes Bibliotheken gefun­den, die aus tönernen Keilschriftafeln bestehen. Die Babylonier gruben ihre Dichtungen in Stein, denn die Gegend war feucht und sumpfig, Papyrus und Pergament verfielen sofort der Verfaulung und Verwesung. Eine solche Ton­tafelbibliothek besaß der König Assurbanipal um 650 v. Chr., deren Auffindung in Ninive uns die Hauptdoku­mente der babylonisch-assyrischen Dichtung vermittelt, leider nur in Fragmenten. Eines der ältesten ist das gewal­tige Gilgamesch-Epos. „Alles sah er, der Herr des Landes“ beginnt es. Er brachte Kunde aus der Zeit vor der großen Sturmflut. (Die Geschichte der Sintflut, die Utnapischtim erzählt, hat die Bibel übernommen.) „In Keilen ließ schrei­ben der Dulder die ganze Mühsal.“ Gilg, genannt der Wehfroh, ist der Held: zu zwei Dritteln Gott, zu einem Drittel Mensch, wie alle Heroen des Epos. Enkidu ist sein Genos­se, den er sich im Kampf erobert. Es herrscht eine my­stisch-erotische Liebe zwischen ihnen wie zwischen Achil­leus und Patroklus. Sie bekämpften gemeinsam Chumbaba, den Hüter der heiligen Zeder, der Krallen wie ein Geier hat und Hörner wie ein Wildstier. (Aus der heiligen Zeder wurde bei den Germanen die Weltesche, aus Chumbaba der Drache.) Nach Vernichtung des Drachen ziehen Gilg und Enkidu weiter. Schamasch, der Sonnengott, den Gil­gamesch in einer Lapislazuli-Schale Butter trinken lässt, strahlt zu ihm hernieder: „Gilgamesch, wohin läufst du? Das Leben, das du suchst, findest du nicht!“ Aber die Freunde zie­hen weiter und erblicken den Weltberg, Wohnsitz der Göt­ter. Istar, die Göttin der Liebe, entbrennt in Lust zu Gilga­mesch. Der aber verwünscht sie. Da fordert sie ihre Eltern Arm und Antu auf, sie zu rächen. Die senden den Himmels­stier, den Gilg tötet. Enkidu stirbt im Fieber. Gilgamesch kommt zu den Skorpionmenschen. Durch lauter Weh führt sein Weg, bis er den Park der Götter, das Paradies, erreicht, wo Schamasch ihn zur Göttin Siduri weist, die ihm den „Pfad zum Fernen“ zeigen wird, über das Meer, über die Wasser des Todes. Er gelangt in seine Heimat zu­rück, aber Ruhe findet er nicht. Er beschwört Enkidus Geist aus der Unterwelt, das Gesetz der Erde zu künden und ihm den Frieden der Seele zu geben. Enkidu, der Schatten, lächelt traurig. „Ich kann es nicht sagen. Kündete ich dir das Gesetz der Erde, das ich schaute, du würdest dich hinsetzen und weinen…“

Da kehrt Gilgamesch in seinen Palast zurück und legt sich nieder zum Sterben. — Eine erhabene Melancholie tönt aus dem Ende des Liedes. Kampf und Trotz und Lie­be und ewige Wanderung und wildes Ringen um den „Sinn“ des Lebens: es ist alles vergebens …Den Helden fressen die .Würmer „wie ein altes Hemd“. Er sinkt wie Staub in den Staub.

Mythologische Epen sind das Gedicht von Istars Höl­lenfahrt und die Paradiessage von Adaga und Ea.

Die Lyrik der Babylonier und Assyrer erschöpft sich in Hymnen an den Sonnengott Schamasch, den Mondgott Siu, den Wettergott Adad und den Gott des Blühens und Werdens, den Frühlingsgott Tamuz. Beim Aufleuchten Sius jauchzen die Sterne, freut sich die Nacht. Ein hehres Linnen legt er an. In der glänzenden Barke des Himmels fährt er dahin. Um den Tod des Tamuz werden Klage­hymnen gesungen, die die Adonis-Klagen der Griechen vorwegnehmen:

Diese Klage ist um das Feld, worauf Korn und Kraut nicht mehr wächst.

Diese Klage ist um den Teich, worin die Fische nicht mehr glänzen.

Diese Klage ist um die Wälder, worin Tamarisken nicht mehr wachsen.

Die Babylonier zuerst prägen den Begriff der Sünde. In erschütternden Psalmen flehen sie „den unbekannten Gott“ um Gnade für begangene Missetaten an, die er wie Spreu im Winde entführen solle. Aber den Samen des Guten mö­ge er auf ewig in ihre Herzen senken. Und ihre Schlechtig­keit möge er zerreißen wie ein altes Kleid, das zum Tragen nicht mehr nütze, und ihnen den goldenen Mantel seiner Gnade umhängen.

Die Zehn Gebote des Moses sind nichts als eine Varia­tion der Gesetze des Hammurabi, die dieser vom Son­nengott Schamasch um 2000 v. Chr. persönlich empfängt — wie Moses auf dem Berge Sinai die Zehn Gebote von Jahwe. Das Buch Henoch ist vom Gilgamesch beeinflusst und hat seinerseits Dante angeregt.

JUDÄA

 Worauf beruht die ewige Kraft des Buches der Bücher? Sicherlich weniger auf seiner Ethik als auf seiner nie ver­welkenden dichterischen Größe. Alle Literatur des Abend­landes steht im Schatten dieser Sagen und Gestalten, im Schatten dieser Sprache, die rauh ist wie Schlachtgesang und süß wie ein Erntechor, die drohend und beschwörend ist, und die auch das langsam Hinrollende, meerhaft Rau­schende aller großen Erzählerkunst hat.

Die Bibel beginnt mit der Schöpfung der Welt. Gottes Geist schwebt über den finsteren Tiefen und dann schafft er das Licht und die Wesen. Aber Adam und Eva verwir­ken ihre Unsterblichkeit, und der Engel mit dem flammenden Schwerte steht am Tore des Paradieses. Und der Mensch wird in Lust empfangen und in Schmerzen geboren. Die Arche treibt über der Sintflut, es kommt die Taube mit dem Ölzweig. Die Ballade von Kain, das Hirtenlied von Jakob, die spielerisch bunte und tiefe Novelle von Joseph überschwemmen uns mit ihren Melodien. Die Wasser des Meeres weichen zurück vor Moses, die Sonne steht stille im Tale Gideon, die Mauern von Jericho stürzen beim Klang seiner Drommeten. Er stirbt im Anblick des gelob­ten Landes.

Und da sind die Gesetzbücher, die bürgerlichen und die göttlichen, und da sind die Bücher von den Kriegen Jah­wes. Die Bücher der Richter sind märchenhafte Annalen, wie sie die Römer auch haben, aber das Epos Samuel ist von tragischer Gewalt. Saul zieht aus, des Vaters Eselinnen zu suchen und findet ein Königreich. Doch er befragt die Hexe von Endor und der böse Geist überwältigt ihn. Und der rotblonde Knabe David wird König, er, der mit seiner Hirtenschleuder den Riesen Goliath erlegt hat, und der ein Meister ist auf der Harfe. Absalom flieht auf einem Maultier, bleibt an seinem goldenen Haar im Geäst einer Terebinthe hängen und Joabs Spieß durch­bohrt ihn. David wird alt und kalt und da gibt man ihm Abisag bei, die nachts über ihm liegt und ihm Wärme schenkt.

Esther, Makkabäer und Judith sind nationale Epen. Das Buch Ruth: eine Idylle aus der Richterzeit. Die Tragi­komödie Simsons: eine antike Strindbergiade. Das Tri­umphlied der Deborah: der gigantische Kriegsgesang einer Frau. Die Psalmen: kultische Chorlieder. Das Hohe Lied Salomons: ein aus leidenschaftlich erotischem Gefühl ge­borenes Liebesgedicht. — Die Weisheit der Juden ist in den Sprüchen Salomos und Jesus Sirachs enthalten. In der gleichen weltwehen Luft lebt das faustische Buch Hiob.

Die Glut der alten Schlachtlieder und weissagenden Ge­sänge lodert in den Propheten. Jesajas, Judas größter Dichter, träumt aus der trüben Zeit der Knechtschaft den Messias herbei, dessen Lendengurt Gerechtigkeit und des­sen Hüftengurt Glaube sein wird. „Die Wölfe werden dann bei den Dämmern wohnen und der Pardel bei den Böcken liegen. Kalb und junger Löwe werden miteinander weiden und ein kleiner Knabe sie führen!“ Jeremias singt seine schmerzlich-wil­den Elegien über den Fall von Jerusalem an den Wassern Babylons.

O meine Brust, meine Brust!
O Wände meines Herzens!
Ich kann mich nicht halten,
Meine Augen fließen von Tränen.

Der hellenisierte Jude Philo (1. Jahrhundert n.Chr.) versucht eine Versöhnung der jüdischen und „heid­nischen“ Philosophie, indem er das Alte Testament symbolisch auslegt. Nach Jerusalems Zerstörung lebt der Rabbinismus im Talmud (der auch dichterisch wertvolle Fabeln und Parabeln enthält) und anderen Büchern weiter.

Was für ein entsetzlicher und unethischer Gott ist doch Jahwe! Er schafft die Menschen, lässt sie schuldig werden — dann überlässt er sie der Pein und bestraft sie für die Frucht, deren Samen er in sie gelegt. Er ist der Gott der Rache, des grauenvollen Gesetzes: Auge um Auge, Zahn um Zahn — und unsere heutigen Antisemiten und Juden­fresser, die alldeutschen Bramarbasse, wissen gar nicht, wie sehr sie gerade … Juden sind. Denn der Gott der blutigen Gewalt, der strengen Gesetze — das war Jahwe, der jüdi­sche Gott, der Gott der Makkabäer, der gegen den indi­schen Gottesbegriff, der ein Gott der Liebe und des Mit­leids ist, einen großen Rückschritt darstellt, erst Christus hat Jahwe den Garaus gemacht, indem er auf indische Vor­stellungen zurückgriff. Dieser Gott kennt kein Erbarmen: Befiehlt er nicht Abraham, seinen Sohn zu schlachten? Er rächt die Sünden der Väter an den unschuldigen Enkeln bis ins dritte und vierte Glied. Er kennt keine Toleranz; wie sind die holländischen orthodoxen Juden mit dem größten Juden, der nach Christus gelebt, mit Baruch Spinoza umgegangen!

Das Alte Testament ist eigentlich kein Buch für den Schulunterricht. Der Bruch zwischen Altem und Neuem Testament ist nicht zu überkleistern. Man setze vor das Neue Testament die heiligen indischen und chinesischen Bücher und dahinter die deutschen Mystiker des Mittel­alters im Auszug. Dies würde eine wahre Bibel werden.

Krischna, Laotse, Buddha, Christus sind vier Gestalten eines Wesens. Wer die heiligen indischen mit den heiligen christlichen Büchern vergleicht, wird auch in der Legende überraschende Übereinstimmung feststellen. Wie Krischna von der Jungfrau Dewanaki, wird Christus von der Jung­frau Maria geboren, deren Name wieder an den Namen von Buddhas Mutter: Maya: anklingt. Im Vischnupurana wird, wie in den Evangelien von Christus, von Krischna erzählt: dass er im Kuhstall geboren wurde und Hirten und Hirtinnen ihm huldigten. Buddha schon wird, wie Christus, vom Teufel in der Wüste versucht. Buddha schon wandelt, wie Christus, auf dem Meere. Er schon sättigt fünfhundert Menschen mit einem Brot, und als er stirbt, erbebt, wie bei Christi Tod, die Erde, und die Sonne verfinstert sich. Von den sieben Sakramenten der christlichen Kirche finden sich fünf schon bei den Indern (Taufe, Konfirmation, Beichte, Priesterweihe, Ehe). Mönchs- und Nonnenorden gibts bei ihnen seit alters her.

Die Evangelien (Markus, Matthäus, Lukas, Johannes) sind von Judenchristen oder Griechenchristen aufgezeichnet. Das dichterisch geschlossenste ist das Johannesevangelium, das die ergreifendste Darstellung der Passion enthält. Die Apokalypse des Johannes ist voll grandioser und wil­der Visionen eines Weltunterganges. Die vier apokalypti­schen Reiter: Pest, Krieg, Hunger, Tod: jagen durch eine Welt voller Greuel. Einst aber wird Gott die Gottesstadt für ewig errichten und seinen und des Lammes Thron in ihr. Und denen, die ihm dienten, wird ihr Lohn werden. „Sei getreu bis in den Tod, so will ich dir die Krone des Lebens geben!“

INDIEN

Indien ist der heutigen Menschheit Mutter- und Vater­land. Von ihm stammen die Grundlagen aller westlichen Kulturen: die Mythologie und die Sprache. Aus dem Sans­krit haben sich alle westlichen Sprachen entwickelt. Um ein Beispiel zu geben: die heilige Zahl sieben: heißt im Sanskrit: saptä, im Griechischen: heptä, im Latein: septem, Spanisch: siete, Holländisch: selte, Englisch: seven, Fran­zösisch: sept, Rumänisch: schepte, Bulgarisch: sedem, Litauisch: septyn, gotisch: sibun. Die alten Griechen, in ihrer formalen Begabung zu Recht so hoch geschätzt, sind nur die Mittler der Ideen, die zuerst in Indien auftauchten. Aus dem indischen Harakala wurde Herkules, aus Thasaa Theseus, aus Dyaus Zeus, aus Manu Minos und so fort. Die Ilias ist eine Variation des Ramayana, des indischen Heldengedichtes, das die Kriegsfahrt Ramas gegen den König Ravasa von Ceylon verherrlicht, der ihm seine Frau Sita entführt hatte. (Der Sage nach 7500 v. Chr.) In den Veden finden sich astronomische Zeitangaben, die bis etwa 14000 v. Chr. zurückgehen. Aus dem Sanskrit haben sich alle westlichen Sprachen entwickelt. Inder, die nach dem Westen und Norden zogen, brachten ihre Sprache mit.

In den Veden wird die Entstehung der Erde als ein Mythos geschildert, den Darwin im neunzehnten Jahrhundert wissenschaftlich zu begründen trachtete.

„ER erschuf zuerst das Wasser, in das er einen Keim legte. Dieser Keim wurde ein Ei, hellleuchtend wie Gold, strahlend wie ein Gestirn. In ihm entstand Brahma, das Prinzip alles Wesens“, das danach Pflanzen, danach sonderbare Körper, die noch Wasser leben, erschafft und zu immer höheren Lebewesen, bis zu Tier und Mensch, fortschreitet. Die indische Religion kennt die Dreieinigkeit (Brahma = Gottvater, Vischnu = Gottsohn, Siva = Heiliger Geist) wie die christliche. Da die jüdische nur von einem Gott weiß (im Alten Testament) und das Neue Testament die Dreieinigkeit glo­rifiziert, ist kaum von der Hand zu weisen, daß Christi Lehre auf den indischen Mythos zurückgeht, der wohl in einer Geheimlehre über Ägypten nach Judäa gedrungen war.

Religion und Philosophie der Inder sind in den Veden und Upanischaden enthalten. Die Legenden und Dich­tungen desRigveda gehören zu den wundervollsten Dich­tungen der Weltliteratur. Noch ist nichts abstrahiert: alle Vorstellungen sind konkret, plastisch. Idee und Bild sind eins. Gott zieht den Menschen zu sich empor wie einen Brunneneimer, er nimmt die Sünde von ihm wie den Strick vom Kalbe. Der Mensch sendet seine Gebete wie schwär­mende Bienen. Die Sonne dreht sich wie ein Wagenrad. Man sieht: die Bilder sind dem engsten Vorstellungskreis des indischen Bauern entnommen. Die ältesten Veden dürf­ten um 1800 v. Chr. entstanden sein, doch wurden sie erst um 700 aufgezeichnet. Die jüngere Gattung der Sutra umfasst religiöse und weltliche Lehrbücher, die wegen der Ge­drängtheit ihres Ausdrucks dunkel erscheinen. Das Dharmasutra ist das Lehrbuch des Rechts, das Kamasutra das Lehrbuch der Erotik.

Das Ramayana, die indische Ilias, wird dem Dichter Valmiki zugeschrieben. Das zweite große Epos ist Mahabharata, das aus 220000 Versen besteht und Vyasa zum Verfasser haben soll. Karna ist der Held dieser un­geheuren Dichtung, eine Gestalt wie Siegfried und Achil­leus. Die schönsten Episoden sind: Savitri, das Lied von der Gattentreue, und Nal und Damajanti, das Lied der durch dämonische Schuld des Gatten getrennten und wieder vereinigten Liebenden. In der Brautwerbung des Nal für einen Gott klingt das Tristanmotiv an. Auch das kleine Epos Bhagavad-Gita ist im Mahabharata enthalten: das Lied des Gottmenschen Krischna.

Buddha wird als Reinkarnation Krischnas wie ein Licht­strahl empfangen. Um 5 60 v. Chr. wird er geboren, vor 480 geht er ins Nirwana ein. Er lehrt die alte Lehre, die der Kastengeist der Brahmanen geschändet hatte. Immer wie­der muss Gottes Sohn Gott gegen seine eigenen Priester zu neuem Leben erwecken. Die Lieder der buddhistischen Mönche und Nonnen enthalten das Wichtigste der indi­schen Gedankenlyrik, die nicht von Individuen, sondern von der Gemeinschaft gedichtet scheint. Im Suttapitaka finden sich die prosaischen, im Suttanipata die hymnischen Reden des Meisters. Sprüche tiefster Weisheit enthält der „Pfad der Wahrheit“ (Dhaumapada).

In vorgeschichtlicher Zeit bestand Gemeinschaft zwi­schen Persern und Indern und die religiösen Mythen der Iranier sind darum den Veden verwandt. Das Avesta ist das heilige Buch der Perser, vom guten Gotte Ahuramazda dem Zarathustra offenbart (ungefähr 900 v.Chr.). Die Welt wird von den Antithesen Sein und Nichtsein, Licht und Finsternis, Wahrheit und Lüge beherrscht, aber: die Wahrheit wird siegen, und einmal wird das Licht ewig glänzen und kein Dämon der Finsternis mehr sein.

Indiens größter Dichter ist Kalidasa (5. Jahrhundert n.Chr.), der Dichter der „Jahreszeiten“, des „Wolken­boten“, der im Epos, im Drama, in der Lyrik sich gleicher­weise hervortat. Goethe sagt von dessen Drama „Sakun-tala“:

Willst du den Himmel, die Erde mit einem Namen begreifen,
Nenn ich Sakontala dir, und so ist alles gesagt.

In den „Jahreszeiten“ ist die tropische Glut Indiens wie in einem Brennspiegel gefasst.

Der Frauen schlanke Anmut ist doch nicht
So leicht wie des Flamingos Schritt am Teich.
Der zarte Mond senkt sein besiegtes Haupt
Erbleichend vor Nymphäen — blütenschwer,
Das schönste Aug ist nicht wie Lotos schön,
Kein Liebesblick wie Wellenlächeln süß. 

Wüst und unerträglich ist der Sommer, wenn der Storch den Teich voll toter Fische flieht, die Elefanten den Sumpf zerstampfen, und die Wasserlilien rings zerfetzt umherlie­gen. Die ersehnte Regenzeit ruft der Elefant mit langem Trompetenton: Im Herbst aber ist Erfüllung.

Im 12. Jahrhundert dichtet Jajadewa die Gitagovinda: Gott Krischna liebt als Hirt die Hirtin Radha. Die sinn­lichste Leidenschaft wird, wie in den katholischen Marienhedern, zum religiösen Hymnus, der Sexus zum Eros, der Eros zum Theos gesteigert.

Das Drama setzen im 8. Jahrhundert der Brahmane Bhavabuti („Malati und Madhava“) und der König Sudraka(„Das Tonwägelchen“ oder „Vasantasena“) fort. Die Gattung der in Indien sehr beliebten allegorischen Dramen vertritt Krischna Misra (11. Jahrhundert) in seinem „Mondaufgang der Erkenntnis“. Die Figuren der Hand­lung sind Abstrakte: Heuchelei, Wollust, Ruhe, Mitleid, Erkenntnis. Der strenge indische Kastengeist schafft sich ein Ventil in satirischen Possen und Komödien, die Könige und Priester verspotten. In der „Versammlung der Strol­che“ raufen sich zwei niedere Mönche um eine Dirne. Sie bitten einen Brahmanen zum Schiedsrichter, der, salomo­nisch, das hübsche Mädchen — sich selber zuspricht…

Pantschatantra ist das älteste der indischen Märchen­bücher. Es ist die Quelle zahlloser Nachahmungen bei allen Völkern. Boccaccio hat es so gut benutzt wie Shakespeare, Goethe wie Lafontaine. Somadewa lässt im 12. Jahrhun­dert das „Meer der Märchenströme“ wallen.

Im Jahre 1913 wird die westliche Welt durch Verleihung des Nobelpreises an Rabindranath Tagore wieder auf die indische Dichtung hingewiesen. Tagore gründet eine Akademie „Die Stimme der Wälder“ und lehrt die jungen Inder sein wie er selbst: sanft, leise, gütig. Er schreibt aus der Tradition seines Volkes kleine und große Dichtungen, die nichts Besonderes, sondern nur Indisch-Typisches dar­stellen und nur dem an indische Symbolik nicht gewöhnten Europäer unerhört klingen. Tagore wie die übrigen heuti­gen indischen Dichter wollen die politische und soziale Freiheit ihres Volkes. Aber der Unterschied zwischen ihrer Art zu revoltieren, und der europäischen, bezeichnet zu­gleich den Unterschied zwischen östlicher und westlicher Seele. Die Inder schaffen in sich eine neue Weltordnung und Weltanschauung, die Europäer außer sich. Der Euro­päer will den anderen überreden, bekehren — geht’s anders nicht: mit Gewalt. Der Inder bietet nur ein Beispiel. Und dieses Beispiel wirkt. Der Europäer kennt nur die Propaganda der Tat, der Inder die des Seins. Der bengali­sche Dramatiker der Gegenwart ist Dwijendral al Roy. Die indische Revolution von 1905 fand ihren Schilderer in Satyendra Nath Datta. Sie ging zurück auf Gandhi, den sein Volk den Heiligen nennt. Er ist der Führer der indischen revolutionären Bewegung. Er verpönt jede Ge­walt; seine Waffe ist der passive Widerstand.

DAS REICH DER MITTE

China wird von dem Gegensatz Kongfutse — „ord­nende Vernunft“ und Laotse — „sinnende Seele“ im Gleichgewicht erhalten. Kongfutse (551—479 v.Chr.) ist der Moralist, der praktische Politiker, dem China sein pa­triarchalisches Staats- und Familienleben verdankt. Laotse ist der Mystiker, der in sich selbst Versunkene, der nur ein sittliches Beispiel geben will, jeder aktivistischen zwangs­mäßigen Verwirklichung ethischer Postulate aber aus dem Wege geht. Er ist der erste, der der stark pazifistischen Nei­gung des Chinesen Ausdruck gibt. „Wer in Weisheit dem Herren der Welt hilft, unterjocht nicht mit Waffen die Welt. Die Welt könnte ihre Waffen gegen ihn wenden.“ Auch ein Spruch von der Not des Proletariers findet sich bei Laotse. „Die unten hungern / weil die oben das ihre fressen j darum hun­gern die unten / die unten sind schwer zu leiten j weil die oben sie immer verleiten / darum sind die unten so schwer zu leiten / die unten sterben so leicht j weil sie so schwer leben / darum sterben sie leicht j man soll ihnen das Leben billig geben / so wird es ihnen teuer werden.“ Laotse wurde 604 v.Chr. geboren. Er verwaltete das Reichsarchiv der Dynastie Chou und schrieb das „Tao-te-King“, das Buch vom rechten Sinn und Weg. Des­sen Lehre: der Mensch soll nicht nach außen, sondern nachinnen leben. Wenngleich das Klimatische bei der Entste­hung des taoistischen Menschen eine Rolle gespielt haben mag, so scheint mir der Trennungsstrich zwischen öst­lichem und westlichem Menschen quer durch die Seele der Menschheit zu gehen, die nur durch das himmlische Gesetz der Wage, der Polaritäten, des Gegensatzes zwischen Tag und Nacht, Tod und Leben, Gott und Teufel, Mann und Weib, Gut und Böse sich in der Schwebe hält. Der Typ des östlichen und des westlichen Menschen, man kann ihn auch den Menschen des (Sonnen-) Aufgangs und den des (Sonnen-) Untergangs bezeichnen, ereignet sich überall: in allen Zeiten und Völkern und Klimaten. Der faustische und der apollinische, der sentimentalische und der naive Mensch sind parallele Polaritäten. Das östliche Denken, wie Laotse es denkt, ist ein mythisches, ein magisches Den­ken, ein Denken an sich. Das westliche Denken ist ein ratio­nalistisches, empirisches Denken, ein Denken um sich, ein Denken zum Zweck. Der östliche Mensch beruht in sich und hat seinen Sinn nur in sich. Seine Welt ist eine Innen­welt. Der westliche Mensch ist „außer sich“. Seine Welt ist die Außenwelt. Der östliche Mensch schafft die Welt, der westliche definiert sie. Der westliche ist der Wissenschaft­ler, der östliche ist der Weise, der Helle, der Heilige, der Wesentliche, der „sein Geschmeide unter einem ärmlichen Gewände verborgen trägt“. Die großen chinesischen Dich­ter sind sämtlich von Laotse beeinflusst, der in seinen Sprü­chen einer der großen Dichterphilosophen ist wie Platon und Nietzsche. Seine Schüler Liä-dsi und Dschuang-dsi haben die Kunst des Gleichnisses, die die Kunst ist, gleichzeitig und gleichräumlich mit den gleichen Worten zu den Menschen vieler Ebenen zu sprechen, auf das höch­ste entwickelt. „Das wahre Buch vom quellenden Urgrund“ trägt den Namen des Liä-dsi, „Das wahre Buch vom süd­lichen Blütenland“ den des Dschuang-dsi. Viele dieser Gleichnisse gehören zu dem Schönsten und Tiefsten, was in menschlicher Sprache gedacht und gesagt wurde. Man lese, man träume den „Schmetterlingstraum“ desDschuang-dsi: „Einst träumte Dschuang-dschu, dass er ein Schmetter­ling sei, ein flatternder Schmetterling, der sich wohl und glücklich fühlte und nichts wusste von Dschuang-dschu. Plötzlich wachte er auf: da war er wieder wirklich und wahrhaftig Dschuang-dschu. Nun weiß ich nicht, ob Dschuang-dschu geträumt hat, dass er ein Schmetterling sei; oder ob der Schmetterling geträumt hat, dass er Dschuang-dschu sei, obwohl doch zwischen Dschuang-dschu und dem Schmetterling sicher ein Unterschied ist. So ist es mit der Wandlung der Dinge.“

Die chinesische Literatur ist so umfangreich wie die Aus­dehnung des chinesischen Reiches. Das älteste Literatur­dokument ist eine Inschrift des Kaiser Yao von etwa 2400 v. Chr., die das Sintflutmotiv anschlägt. Schon damals zeigte die chinesische Kultur einen festen Umriss, der auf eine jahrtausendealte Tradition zurückweist.

Die chinesische Sprache besteht aus lauter einsilbigen Worten, die kurz und prägnant ohne Bindung aneinander­gereiht werden. Die Substantiva werden nicht dekliniert, die Verba nicht konjugiert. Mond steht Berg. Glanz über Wald. Ferne Flöte. Helle Seide. Mädchen tarnet. Dies (etwa) ist die Fiktion eines chinesischen Gedichts. Nur: dass der Reim fehlt. Die chinesischen Gedichte reimen sich. Ver­such eine Improvisation von Li-tai-pe nachzudichten:

Wolke Kleid
Und Blume ihr Gesicht.
Wohlgerüche wehn,
Verliebter Frühling!
Wird sie auf dem Berge stehn,
Wage ich den Aufstieg nicht.
Wenn sie sich dem Monde weiht,
Bin ich weit,
Verliebter Frühling…

Eine Fülle klanglicher Assoziationen (weiht … weit …), bildlicher (Wolke — Kleid, Blume — Gesicht), gedank­licher (wird sie auf dem Berge — eigentlich Youchan, einem heiligen Berge — stehn.) Eine helle Klarheit. Eine verworrene Dunkelheit. Das vollkommene lyrische Ge­dicht.

Der Vokal, je nachdem er getönt ist, gibt dem chinesi­schen Wort den Sinn. Ein Wort kann zwanzigfach gedeu­tet werden. Wird es geschrieben, entfaltet es sich wie eine Blüte noch reicher. Es gibt kein Alphabet. Die Schrift ist eine Sinogrammschrift. Die Schriftzeichen zaubern ohne klangliche Überleitung im chinesischen Bewusstsein farbige Begriffe hervor. Man sieht ein Zeichen — und denkt: Trauer, Armut, Heiligkeit. Man setzt Zeichen zusammen. Spielerisch. Baut Mosaik: Auge … Wasser, gleich Träne. Unendliche Möglichkeiten für den Dichter, der sein Ge­dicht zugleich denkt, malt, formt und singt. Alle Gedichte werden auch gesungen. Nach durch Tradition vorgeschrie­benen Melodien. Für den Chinesen ist nur der lyrische Dich­ter der wahre Dichter. Roman, Novelle und Drama gehö­ren wohl zur Literatur, aber nicht zur Dichtung. Deshalb verzichtet auch der Schriftsteller von Romanen und Dra­men meistens auf seine Signatur und bleibt anonym. Die Redaktion der alten chinesischen Volksliedersammlung des Schi-king (500 v.Chr.) stammt von Kongfutse, der auch der Dichter eines herrlichen „Epitaph auf einen Krieger“ ist.

Der Lyriker Kiü-yüan (um 300 v.Chr.) hat sich von der Reflexion abgewendet, die Dichtung neu belebt und wundervolle Elegien geschaffen. Kaiser Wu-ti (um 140 V.Chr.) hinterlässt ein Ruderlied, das von Schauern des Herbstes, der Einsamkeit und des Alterns durchweht ist. Der lyrische Meister der Hanzeit ist Mei-scheng, der Sänger schwereloser Liebeslieder.

Die Blütezeit der Dichtung fällt in die Dynastie Thang (618907), welche Li-tai-pe, vielleicht den größten Lyri­ker aller Zeiten und Völker, hervorgebracht hat. Li-tai-pe lebte von 702 bis 763 n. Chr. Als ewig trunkener, ewig hei­liger Wanderer wandert er durch die chinesische Welt. Kunstsinnige Herrscher beriefen den erlauchten Vagabun­den an ihren Hof, und oft genug erniedrigte und erhöhte sich der Kaiser zum Sekretär des Dichters, wenn Li-tai-pe nach einem Zechgelage ihm seine Verse im Morgengrauen in den Pinsel diktierte. Der Kaiser, der den Dichter und Menschen brüderlich liebte, machte ihn zum kaiserlichen Beamten, setzte ihm eine Rente aus und gab ihm als Zei­chen seiner Gnade ein kaiserliches Prunkgewand zum Ge­schenk — für einen Chinesen die höchste Ehrung. Li-tai-pe schleifte das kaiserliche Gewand durch alle Gassen der Pro­vinz und ließ sich an Abenden voll Trunkenheit als Kaiser huldigen. Oder er hielt, in des Kaisers Kleidern, rebellische Ansprachen an die Trinkkumpane und das herbeigelaufene Volk. Er starb im Rausch, indem er bei einer nächtlichen Bootfahrt aus dem Kahne fiel. Die Legende lässt ihn von einem Delphin erretten, der ihn, während in den Lüften engelhafte Geister ihn betreuen, aufs Meer hinaus und in die Weite der Unsterblichkeit entführt. Sein Volk vergöt­terte ihn und errichtete ihm einen Tempel; der kunstreich­ste der chinesischen Lyriker wurde auch der volkstüm­lichste. In seinen Versen atmet dasselbe tiefe Naturge­fühl wie in den bunten und leichten Malereien seiner Heimat:

Die Erde trank den Schnee. Wie erste Pflaumenblüte durch die Lüfte rudert!
Die Trauerweiden prunken golden.
Falter, die Flügel violett gepudert,
Tauchen samtene Köpfe in Blütendolden.

Wie eine Insel steht der Kahn im Teich. Der Fischer läßt
Sein Netz behutsam in den dünnen Silberspiegel springen.
Der klirrt, zerbrochen. Er gedenkt der Schwalbe fern im Nest;
Bald wird er ihr das Futter bringen.

Ein berühmtes amerikanisches Gedicht (Bryant’s „An ein Wasserhuhn“) schließt:

Wer deinen Flug von Zorn zu Zone führt,
Durch blauer Himmel unwegsame Weiten,
Der wird, so lang und einsam auch mein Weg,
Zum Ziel auch meine Schritte leiten.

Man vergleiche einen Vierzeiler des Chinesen, der ein ähnliches Motiv aufgriff:

Im Herbst kreist einsam überm grauen Weiher
Von Schnee bereift ein alter Silberreiher.

Ich stehe einsam an des Weihers Strand,
Die Hand am Blick, und äuge stumm ins Land.

Dort: Sentiment und Ressentiment, Dualismus und Zer­rissenheit. Hier: Ruhe, Friede, die Einheit von Mensch und Landschaft. Dort spricht ein kleiner Dichter und ein klei­ner Mensch. Hier ein großer Dichter und ein großer Mensch.

Neben Li-tai-pe ist der elegische Thu-fu (714—764 n. Chr.) zu nennen, der so neben dem älteren Meister steht wie Hölderlin neben Goethe. Pe-kiü-ys (772—846 n. Chr.) tausend Gedichte ließ Kaiser Sien-tsung auf Steine gravieren und die Steine auf einem heiligen Hügel aufstellen. Su-ung-po (1036—1101 n.Chr.) ist der vierte der großen frischen Meister. Er schrieb die schönsten chinesischen Liebesgedichte. Sein „Blumenschiff“ ist berühmt.

Im Meere hinter Brandungsschaum und Riff
Schwimmt wie ein Kormoran das Blumenschiff.

Ich hin nicht gegen seinen Duft gefeit..
Ich heb den Arm. Das Schiff ist allzu weit.

Mimosen hängen traubengleich am Bug.
Ein Fächer schlägt den Takt zum Ruderzug.

Ich werfe eine Blume in das Meer,
Die treibt nun auf den Wellen hin und her.

Vielleicht, daß, wenn der Wind sich abends dreht,
Er meine Blume bis zur Barke weht…

Im chinesischen Drama spielen Helden, Heldenjung­frauen, Zauberer, Dämonen ihre Rolle. Je weniger der Chinese selber ein Held ist und sein will, umso lieber sieht er ihn sich auf der Bühne an. Das chinesische Theater fin­det im Freien oder in einem Tempelhof statt und ist ganz auf Improvisation gestellt. Es gibt keine Dekorationen. Die Kostüme sind reich und prunkvoll. Der Schauspieler zieht sich auf offener Bühne an und um. Die Szenerie wird symbolisch angedeutet. Eine Schale mit Wasser bedeutet einen Wolkenbruch. Eine kleine Flamme einen Weltbrand. Musik von Gong, Geige und Flöte begleitet die Handlung, die durch keinen Applaus unterbrochen wird. Schweigend stehen die Chinesen an Bäumen oder sitzen auf mitgebrach­ten Stühlen. Übrigens sind die bürgerlichen Lustspiele oft von Damen der halben Welt geschrieben, die eine ganze Welt aus ihrem Herzen heraufbeschwören.

Die Prosa zeigt als Haupthelden der Handlung fast immer die gleichen Typen: einen Studenten, der die Tochter eines Mandarinen liebt. Darum rankt sich ein ganzer Rat­tenkönig von Intrigen, oft über viele hundert Bände aus­gesponnen. Der Autor weiß im dritten Band schon nicht mehr, was er im ersten geschrieben, und im zwanzigsten sind die Helden des ersten sämtlich verstorben und haben anderen Platz gemacht. Aber es ist, wie beim Theater, nur ein Kostümwechsel. Entzückend sind die chinesischen Mär­chen, kleineren Novellen, die Geister- und Gespenster­geschichten.

Yang-tschang-tsai – ist der bekann­teste unter den neueren Lyrikern. Tin-tun-ling, der im Hause Theophile Gautiers wohnte, schrieb das Gedicht an den Drachen Tod. Ende des 19. Jahrhunderts erwarb sich der bedeutende Staatsmann Li-hung-tschang auch als Lyriker einen Namen. In neuerer Zeit haben sich die Chi­nesen emanzipiert, aber auch vielfach nach Westen gerich­tet. Sie schreiben französisch und englisch. T’ang-liang-li schrieb ein Buch über „Chinas Erhebung“; ebenso Ku-hung-ming. Cheng Tscheng berichtet die Geschichte seiner Mutter und erzählt dabei vom Wesen des legenden­reichen China. Auch in den Ländern des fernen Ostens sind heute starke Kräfte am Werk, die das Weltbild see­lisch und politisch umgestalten wollen.

JAPAN 

Womit vergleiche ich Japans Seele? Der Kirschblüte, wenn sie im Sonnenaufgang zu strahlen und zu duften beginnt. So singt ein japanischer Dichter. Dies ist ein ganzes und vollendetes japanisches Gedicht: tanka oder Uta genannt. Die meisten japanischen Gedichte sind nach seinem Schema entworfen: 31 Silben in Anordnung von 5 Zeilen: 3 Zeilen Auftakt, 2 Zeilen Nachtakt. Außer dem tanka ist noch das hokku beliebt, das gar nur aus 3 Zeilen besteht. 5 oder 3 Zeilen: nicht länger sind die schönsten und berühmtesten japani­schen Gedichte.

In Frankreich war um 1920 eine literarische Mode aus­gebrochen, die den Dadaismus abzulösen schien. „La nou-velle revue francaise“ veröffentlichte Gedichte von zehn verschiedenen Autoren, deren keines länger als drei Zeilen war und etwa folgendermaßen lauteten:

Ein Skelett tanzt
Und grinst.
Es erinnert sich des Lebens.

Oder:

Das glatte Wasser in der Schale.
Der Hahn, der trinkt, und sein Spiegelbild
Packen sich bei den Schnäbeln.

Diese Gedichte sind nichts anderes als Imitationen des lyrischen Stils der Japaner: des Hokku, dieser kürzesten aller bekannten Dichtformen. Diese Dreizeiler sind das Originalste, was Japans Dichtung hervorgebracht hat. Nichts in der Weltliteratur läßt sich mit ihnen vergleichen — nur das italienische Ritornell hat einen ähnlichen tech­nischen Aufbau. Das Tempo ist prestissimo.

Ein fallendes Blütenblatt
Erhebt sich zu seinem Zweig:
Ach, ein Schmetterling!

Der reglose Reiher,
Wäre nicht sein dünner Schrei,
Ist nur Schneegestöber.

Wie leicht betört man
Beim Duft der Pflaumenblüte
Mit Flötentönen.

Und das Gedicht, das Matsuo Bascho auf dem Schlachtfeld von Hires-Izumi schrieb:

Des Sommers Grün.
All das ist geblieben
Von den Träumen toter Krieger.

Winzig erscheinen uns der Japaner selbst, seine Frauen, Häuser, Geräte, Gedichte. Aber er hat das Menschenmög­liche in der Prägnanz, Plastik und Schärfe des Kurzgedich­tes geleistet. Er übertrifft das römische Distichon an Seele und an Witz. Er oder vielmehr sie, die Japanerin. Die japa­nische Literatur wird von den Frauen sanft beherrscht. Die schönsten Dichtungen sind von Frauen, von Prinzessinnen und Kokotten. Sie haben die japanische Landschaft und den japanischen Eros am zartesten und tiefsten erfasst. Lie­ber als Hitomaro und Akahito (8. Jahrhundert), die in Japan selbst berühmtesten klassischen Dichter—ihre Verse finden sich in der Anthologie Manjoschu —, ist mir die Dame OnonoKomachi, die in der Anthologie Konki-uschu vertreten ist (922 n.Chr.). Eines ihrer Gedichte:

Seit ich im Schlaf
Den Mann gesehen, den ich
Von Herzen liebe,
Seit dieser Zeit erst liebe ich
Der Träume bunte Falter.

Der buddhistische Bischof Henjo bittet in einem Uta den Wind, die tanzenden Hofdamen nicht zu verwehen. Das Gedicht selbst ist nur ein Hauch. In diesen Kurz­gedichten sind die Japaner ganz original, ganz Meister, während ihre sonstige Literatur stark von den Chinesen beeinflusst wurde. Klassische Romane schrieben um 1000 die Damen Ise und Sei Schonagon. Ise, die Geliebte des Kaisers Uda, beschreibt in ihrem Monogatari das Leben des Hochadels in 55 Büchern. Ihr Held ist der Prinz Nari-hira, eine Art japanischer Casanova, den man auf Holz­schnitten manchmal abgebildet sieht, wie er eine Frau oder ein Fräulein entführt. Der Roman ist eine kuriose Mischung aus Frivolität und sanftem Pathos. Ise ist zurückhaltend und ausgelassen, leichtsinnig und schwermütig. Sei Scho­nagon ist zarter und dichterischer. Ihr Buch Makura Jo-schi (Gedanken unter dem Kopfkissen) ist lyrischer kom­poniert. Eine Probe ihrer Prosa:

„Im Frühling liebe ich es zu beobachten, wie die Morgendäm­merung allmählich weißer und weißer wird, bis ein rosiger Schleier die Kämme des Gebirges krönt. Im Sommer liebe ich die Nacht, nicht nur des hellen Mondes, sondern auch die ganz dunkle, wenn die Feuerfliegen sich in schwirrendem Fluge kreuzen oder wenn leiser Regen fällt. Im Herbst ist es die Schönheit des Abends, die mich am tiefsten bewegt, wenn ich den Krähen zusehe, die zu zweien, dreien und vieren zu Horst Riehen. Im Winter, 0 wie schön ist da der Schnee! Aber ich liebe auch die blendende Weiße des Reif­frostes …“

Im 14. Jahrhundert kommt das japanische Drama (No) auf. Die vorgeführten Dramen sind genauso blutrünstig wie unsere Ritter- und Volksschauspiele des Mittelalters. Kellermann erzählt in seinem Japanbuch: „Ich habe Stücke gesehen, wo alle bis auf den Theaterdiener erschlagen wur­den, wo sich feindliche Geschlechter gegenseitig vollkom­men abschlachteten.“ Ihr Held ist meistens ein Samurai, ein kühner Krieger. Andere ähneln den Mysterienspielen und deuten auf die Herkunft des Dramas aus religiösen Kult­handlungen.

Im 17. Jahrhundert entwickelt sich aus dem Drama das Puppenspiel und popularisiert es erst eigentlich. Monza Yemon wird der Menschen wie der Puppen Meister. 1643 bis 1694 lebt der große Matsuo Bascho, der Meister des Hokku, des Dreizeilers. Es gelingt ihm, in drei Zeilen Erde und Himmel zu fassen wie Edelsteine in einen goldenen Ring. Die Einheit von Idealität und Realität ist vollkom­men.

Ein Nachtbild:
Wer winselt?
Weint der Mond? — Du träumst.
Ein Kuckuck schrie.
Oder dies, „Gestörte Stille“ benannt:

Uralter Weiher.
Verträumt. Da springt ein Frosch.
Nun tönt das Wasser.

Im 18. Jahrhundert erscheinen: das Muschelbuch, das Insektenbuch (1788), das Vogelbuch des Malers Utamaro. In ihnen hat der japanische Meister Dreizeiler des Pinsels geschaffen: mit zwei, drei Strichen und Flecken gibt er das naturwissenschaftlich absolut exakte und gleichzeitig tief symbolische Bild eines Grashüpfers, eines Eisvogels, einer Kröte. Eine Anzahl Dichter hat sich vereinigt und zu den Bildern Verse beigesteuert: entzückende Scherzgedichte, denen eine Grille, eine Biene, eine Libelle zum Anlass philo­sophischer oder erotischer Nachdenklichkeiten wird. Das Insektenbuch gehört zu den erstaunlichsten Büchern der Weltliteratur. 1725—1770 lebt die Geisha O-sen. Ihr Ge­liebter war der Maler Harunobu, der sie oft in Holzschnit­ten dargestellt. Mit ihr beginnt eine Blüte der Geishapoesie. Versemachen gilt ja seit alters als eine der Geisha-Künste. Sie lernen es wie Frisieren und Tee zubereiten. Und bei dem jährlichen Kirschblütenfeste in Yedo stellten sie nicht nur sich, ihre Schönheit, ihre fabelhaften Toiletten, son­dern auch ihre Verse zur Schau.

Die großen Meister des japanischen Dramas sind Chi-kamatsu Monzaimon, der historische Stücke dichtet, und Takeda Izumo, der Verfasser des „Kirschblüten­festes“.

Als im 19. Jahrhundert die westliche Zivilisation in Ja­pan einbrach, hat sie viel Unheil angerichtet. Man wurde auf einmal psychologisch sentimental. Die Folge war, daß Heine und Sudermann imitiert wurden. Sehr hübsch und instruktiv ist das „Teebuch“ des Okakura Kakuzo (um 1900). Es versucht, einen moralischen Ästhetizismus zu be­gründen und setzt den europäischen Ismen einen japani­schen Ismus entgegen, den „Tee-ismus“, dessen Gesetz lautet: „Die Philosophie des Tee ist nicht nur Ästhetizis­mus im gewohnten Sinn des Wortes, denn in ihr prägt sich, verbunden mit Ethik und Religion, unsere ganze Haltung gegenüber dem Menschen und der Natur aus. Sie stellt den wahren Geist östlicher Demokratie dar, denn sie macht aus allen ihren Jüngern Adlige von Geschmack.“

Drittes Kapitel
Hellas und Rom

Hellas

Süditalien. Paestum. Ein heißer Sommertag. Man liegt unter den Ruinen des dorischen Neptuntempels. Die sumpfige Ebene atmet warme Feuchtigkeit. Phantastisch rote und gelbe Blumen blühen im First des Tempels und zwischen den Steinfliesen. Farnkraut wuchert. Ein Himmel von frevelhaftem Blau. Fern ein kleines Gebirge. Leise singt das Meer. Eine Büffelherde trabt vorüber. Ihr Hirt: Pan, der die Syrinx bläst. Wer je dies Bild erlebte, weiß, was griechische Kultur bedeutet. Säulen, die den Himmel tragen und fest auf der Erde stehen. Ein unbedingtes Jasagen zur Sonne und allen Sinnen. Licht ist überall und überall eine weiche, warme Luft. Die Götter frieren nicht wie bei uns im kalten Norden, wo man ihnen dunkle Häuser baut, in die kein Regenschauer, aber auch kein Lichtstrahl dringt. Aber in Griechenland: was tat’s, wenn Neptun, des Wasser nie entwöhnt, einen Regenschauer abbekam? Er schüttelte sich triefend und lachte. Nach allen Seiten frei steht sein Tempel, allen Winden, den Schmetterlingen, den Raben, die in ihm horsten, dem treibenden Blumensamen preisgegeben. Die Erde ist flach, keine Kugel, wie Kopernikus später entdeckte, sondern eine ungeheure Ebene, eine riesige Opferschale, auf der alles, was lebt, sich selber dem ersten, dem größten Gott opfert: dem lebendigen Leben. Der heilige Leib ist das Maß aller Dinge: der Jünglingskörper, der Frauenkörper. Der Kopf erscheint unwesentlich. Wen stört es bei der herrlichen Venus im Thermenmuseum in Rom, daß sie keinen Kopf hat? Griechenland siegte, wie Nike von Samothrake, die Siegesgöttin, kopflos. Diesem heißen Lebensgefühl entspricht ein wilder Abscheu vor dem Tode. Die Unterwelt wird in allen griechischen Mythen abschreckend ausgemalt. Die großen Helden der Ilias weinen wie kleine Kinder, wenn es zum Sterben geht. Lieber ein lebender Hund als ein toter Gott. Der Tod: das ist die Tragik des griechischen Lebens, und diese Tragik hat die christliche Kultur von der griechischen übernommen. Sie ist den östlichen Völkern wie Indern und Chinesen völlig fremd, die in einem gewissen Sinn den Tod überhaupt nicht kennen. In den eleusinischen Mysterien, die einen der Hauptfaktoren der griechischen Dichtung bilden, haben die Griechen sich einen geheimen Trost zu verschaffen gesucht, über den Tod hinwegzukommen. Immer wieder läßt Demeter, die Göttin der Erde und der Fruchtbarkeit, jedes Jahr die Ähren reifen: so wird auch der Gläubige, der Myste, wenn er den Leib der Göttin berührt, immer wieder neu geboren werden. Für ihn, den Mysten, sagt Sophokles, „gibt es im Hades ein Leben“. So hatten also die eleusinischen Geheimbündler vor den übrigen Griechen, die im Hades nur armselige Schatten waren, das Bewusstsein des ewigen Lebens voraus. Es unterliegt kaum einem Zweifel, daß die leibliche Vereinigung des Gläubigen mit der Göttin in den eleusinischen Mysterien das Vorbild für die Vereinigung des christlichen Gläubigen mit dem „Leib des Herrn“ im Abendmahl abgegeben hat.

Die großen Epen der Griechen, die sich um die Gestalten von Odysseus und Achilleus ranken, und in deren Mittelpunkt der Troianische Krieg steht, wurden bruchstückweise Jahrhunderte von Rhapsoden vorgetragen, ehe sie ein Dichter wie Homer in der „Bibel des Hellenentums“ ordnete und sammelte (etwa 600 v. Chr.). Herodot sagt: Homer hat den Griechen ihre Götter geschaffen. Das ist wahr und nicht wahr.

Die homerischen Epen sollen in der Umgebung kadmeischer Fürstengeschlechter, also an semitischen Höfen ent­standen sein. Die Bilderschrift der frühen Ägäer ist noch nicht entziffert und so wissen wir nicht sicher, ob die mykenisch-minoische Kultur rein semitisch war; vielleicht ist eine noch ältere arische Epoche vorangegangen. Jedenfalls stand diese Kultur in stetem Austausch mit der hamitisch-ägyptischen und es lassen sich auch durch die ganze grie­chische Zeit orientalische Züge feststellen, die immer wie­der zurückgedrängt werden und die immer wieder mit dionysischer Gewalt emportauchen.

Andrerseits hat die jüngste Forschung Beziehungen der griechischen zur indischen Mythologie nachgewiesen. Wenn auch die jahrtausendelang geglaubte Originalität der grie­chischen Kultur dadurch schwer erschüttert scheint, so geschieht der gigantischen künstlerischen Leistung an sich, wie sie den griechischen Epen zugrunde liegt, kein Ab­bruch. Denn hier tritt zum erstenmal der Charakter der westlichen Kultur zutage (weshalb wir alle, die wir heute in Europa leben, noch „Griechen“ sind — auch wenn wir’s nicht wissen): der Mensch gilt nichts, das Werk gilt alles. Während dem asiatischen Osten das Werk nichts und der Mensch alles gilt. Die homerischen Epen legen so den Grundstein zu aller westlichen Kultur. Homer tritt hinter seinem Werk zurück. Es scheint, als dichte es sich selbst, denn des Dichters Meinung wird nirgends sichtbar. Die Ilias ist das Gedicht vom Zorn des Achilleus und den Kämpfen um Troja. Es schließt mit der Verbrennung der Leiche des Hektor. Die Odyssee schildert die Irrfahrten des Königs Odysseus von Ithaka auf seiner Heimkehr von Troja. Die Götter sind die Veranlasser und Vollstrecker des menschlichen Willens. Aber stärker als Götter und Menschen ist die Ananke, die zwingende Notwendigkeit: bei den Kämpfen um Troja durch die schöne Helena ver­körpert. Götter intrigieren gegeneinander, ganze Völker zerfleischen einander um einer ungetreuen Frau willen. „Der Froschmäusekrieg“ parodiert hübsch mit seinen ge­waltig tönenden Hexametern die großen Heldenepen und zeigt die Gesundheit des griechischen Geistes, der nicht nur die Kraft zum Pathos, sondern auch zur Selbstironie hatte. (Pathos ohne Ironie oder Ironie ohne Pathos sind auf die Dauer unerträglich.) Ein Volk, das immer auf dem Kothurn einherschreitet, wird, wenn es fällt, böser fallen als jenes, das den Kothurn nur an hohen Festtagen trägt und für gewöhnlich in Sandalen oder mit bloßen Füßen umherläuft. Man kann den Olymp nicht im Kothurn er­steigen.

Die Dichtungen Hesiods (800 v.Chr.) bewegen sich einige Stufen tiefer als die Homers. Er hat die Einheit von Gott und Mensch schon verloren. Er träumt vom golde­nen Zeitalter, den Traum, den alle Völker träumen. Auch der Traum des religiösen Kommunismus ist, nur nach vorn gewandt, im Grunde nichts anderes als die Sehnsucht nach dem verlorenen Paradies, nach dem goldenen Zeitalter, dem ein silbernes, dann ein erzenes folgte, in dem die Men­schen den Krieg lernten und gegeneinander wüteten. Die Gegenwart ist das eiserne Zeitalter. Der Mensch muss hart arbeiten. Hart ist sein Herz geworden wie das Eisen, das er schwingt.

Faustrecht gilt. Rings strebt man die Stadt z u verwüsten einander.
Nicht wer die Wahrheit schwört, wird begünstigt, noch wer gerecht ist,

Oder nur gut. Nein, mehr den Übeltäter, den schnöden
Frevler ehren sie hoch. Nicht Recht noch Mäßigung trägt man
Noch in der Hand. Es verletzt der böse den edleren Mann auch.

Und die Scham und die heilige Scheu gehen von den Menschen hinweg zur ewigen Götterversammlung, und trauriges Elend bleibt bei den sterblichen Menschen, „und nicht ist Rettung dem Unheil“, weil die sittlichen Grund­ideen der Menschheit, die Gerechtigkeit und der fried­liche Wettstreit der Arbeit, geschändet wurden. — Den Dichtern zurechnen möchte ich Heraklit (500 v.Chr.), den Dunklen, der wie Hesiod, nicht die Schönheit des Kampfes um seiner selbst willen, sondern die Schönheit der im Kampf errungenen Ordnung preist und dem der Aion, der Gott, ein spielendes, brettsteineschiebendes Kind ist. „Einem Kinde gehört die Herrschaft über die Welt.“ Wer sieht hier nicht chinesische und indische Weisheit in griechischer Verkleidung? Archilochos (750 v. Chr.) von Paros war der erste bedeutende Lyriker, eine wilde, un­gestüme Natur, missachtend die Fesseln jeder Konvention, ein großer Liebender und ein großer Hasser, der seine Ver­lobte Neobule, als sie ihm untreu wurde, mit jambischen Spottversen zum Selbstmord getrieben haben soll. Tyrtaios (um 670 v. Chr.) entflammte mit seinen Kriegsge­sängen die Spartaner während des zweiten messenischen Krieges.

Solon 643—559 v. Chr.) war nicht nur ein berühmter Staatsmann, sondern auch ein trefflicher Elegiker. Simo­nides ist ein Meister des Epigramms. Eines gipfelt in der Aufforderung: Pflege mit treuem Gemüt jeglichen schönen Genuss! Es enthält in nuce die ganze griechische Sittenlehre: ein (nicht lesbar, griechisch) zu sein. Das wahrhaft Schöne ist auch das wahrhaft Gute. Die reine Lyrik blühte in Mytilene auf Lesbos. Alkaios (611—580 v. Chr.) ist ihr Meister, ihre Göttin Sappho (600 v. Chr.), die ihre Zeitgenossen die zehnte Muse nannten. Leider sind nur kärgliche Fragmente ihrer Kunst erhalten, darunter die herrliche Ode auf Aphro­dite.

Die du thronst auf Blumen, 0 schaumgeborene
Tochter des Zeus, listsinnende, hör mich rufen.
Nicht in Schmach und bitterer Qual, 0 Göttin,
Laß mich erliegen!

Sappho hatte einen Kreis schöner Mädchen und Frauen um sich gesammelt, die schwärmerisch an ihr hingen. Die lesbische Liebe und die Knabenliebe sind immanente Be­standteile der altgriechischen Kultur. Wir verdanken ihnen die schönsten lyrischen Gedichte. Der alte Vater Ana­kreon (5 50—465 v. Chr.), der nach einem wein- und liebesseligen Leben fünfundachtzigjährig starb, hat eine ganze Literatur auf dem Gewissen. Seine reizenden, anmutigen Lieder auf Bacchos und Eros sind jahrhundertelang nach­geahmt worden: von Anakreontikern. Ist Sappho der Gip­fel der reinen, so bedeute t P i n d a r den Gipfel der heroischen Lyrik (5 22—442 v. Chr.). Die Veranlassung seiner Oden waren die olympischen Spiele und Wettkämpfe.

Sappho
Seneca

Der Kult der Körper war in Griechenland Religion. Der Schnelläufer siegte mit Gott und der Gott siegte in ihm. So verknüpfte Pindar die Biographie seiner Hel­den mit der Mythologie. Seine Verse haben etwas Rauhes, Abgehacktes, Felsiges, dem süßen Fluss der sapphischen Verse Entgegengestemmtes. Eine tiefe Melancholie über­schattet sie oft: „Von einem Schatten der Traum ist der Mensch.“

Das griechische Drama nimmt seinen Ausgang von den Chor- und Wechselgesängen bei den Zeus-, Dionysos- und Demetermysterien. Silen führt den Reigen der Satyrn. Aus ihm hat sich der Chorführer des griechischen Dramas ent­wickelt.

Die Griechen haben uns den Begriff der Tragödie ver­macht. Ein Mensch zerbricht an sich selbst und seinem Wollen. Alles, was außer ihm geschieht, sind nur Projektionen seines Wesens. Die Schuld muss in ihm liegen. In diesem Sinne ist Wallenstein eine Tragödie. Ibsens viel­beweinte Gespenster nur eine traurige Angelegenheit. Denn Oswald geht nicht an seiner hochgespannten Kraft, son­dern an einem naturwissenschaftlichen Faktum zugrunde. Es gibt eine Schuldfrage, die sich himmelweit von der Po­lemik der Tageszeitungen entfernt.

Ihren ersten Meister hat die griechische Tragödie in Aischylos (525—456 v. Chr.). Er glaubt an eine von den Göttern gestiftete Weltordnung, und Tragik ist es, wenn der Mensch, aus seinem freien Willen heraus, schuldig­schuldlos sie verletzen muss. Alle griechischen Dramen­helden handeln schuldig-schuldlos wie Ödipus, der die eigene Mutter heiratet. Schuld wird oft durch eine zweite Schuld gesühnt in tragischer Verschlingung. Orestes muss, um den Vater zu rächen, die Mutter töten. Von den Dra­men des Aischylos sind sieben erhalten (abgesehen von der Trilogie Orestie): die Perser, die Sieben gegen Theben, die Schutzflehende, der gefesselte Prometheus: die stärkste und tiefste dieser Dichtungen. Im Jahre 468 siegte So­phokles in den tragischen Festspielen über Aischylos. Er war, gegenüber dem älteren konservativen, ein revolutio­närer Geist, was sich schon äußerlich dadurch dokumen­tierte, daß er einen dritten Schauspieler einführte und den Chor beschränkte. Während bei Aischylos der Mythos im Mittelpunkt steht, ist’s bei Sophokles der Mensch. „In dei­ner Brust sind deines Schicksals Sterne.“ Bei Aischylos leuch­teten diese Sterne hoch und kalt im Firmament. Das Mei­sterwerk des Sophokles ist die Antigone, von Hölderlin prachtvoll verdeutscht. Nicht mit zu hassen, mit zu liehen hin ich da.“ Erhalten sind ferner noch die Elektra, die Trachinierinnen, Aias, Philoktet, König Ödipus, Ödipus auf Kolonnos. Pessimismus ist der Grundzug der sophokleischen Dramen:

Nicht geboren zu werden, ist der
Wünsche größter: doch wenn du lebst,
Ist’s das beste, schnell dahin
Wieder zu gehen, woher du kamst.

Euripides (484—406 v. Chr.) ist der modernste der drei großen griechischen Tragiker. Er ist ein Skeptiker, ein Zweifler, ein Rationalist, der die Heroen menschlich, die Menschen in ihrer nackten Leidenschaft darstellt. Die sittliche Weltordnung beginnt, wie Athen am Ende des Peloponnesischen Krieges, zu schwanken. Im Mittelpunkt seiner Dramen stehen keine Helden der antiken Zeit mehr, sondern Frauen, wie Medea, Iphigenie, Elektra, Andromache, Phädra. Und seine Muse ist Aphrodite, um deretwillen Phädra und ihr Stiefsohn Hippolyt so jämmerlich sterben müssen.

Dramatiker im heutigen Sinne ist auch der Dichterphilo­soph Piaton (427—347 v. Chr.) in seinen Sokrates-Dialogen, die im Gymnasion, beim Symposion, auf den Stra­ßen Athens und im Gefängnis spielen. Er ist für uns der Pol der Antike, der tiefste Denker der Schönheit. Sein „Gastmahl“ berührt uns lebendiger als alle Werke der drei großen griechischen Tragiker, und sein „Phaidon“, der Bericht vom Tode des Sokrates, hat die erschütternde Wucht der Evangelien. Piaton hat die Seele der Menschen und Götter in tausend Mythen versinnlicht. Sein Roman „Vom Staate“ verewigt den Traum von der wahren Men­schengemeinschaft. Aber Platon hat auch Humor, eine mystisch flackernde Ironie, die alle Wirklichkeit zu tanzen­den Schatten ewig thronender Ideen macht.

Aristophanes, der große griechische Komödiendich­ter, lebte zur Zeit des unseligen Peloponnesischen Krieges (43 1404 v. Chr.) zwischen Sparta und Athen, der Hellas m ein Meer von Blut stürzte, Treu und Glauben untergrub, alle bösen Instinkte weckte und hegte, Griechenland an den Rand des Abgrundes brachte und schließlich mit der kata­strophalen Niederlage Athens endete. Vergeblich hatte der Athener Aristophanes in seinen bissigen Komödien zur Versöhnlichkeit und zum Frieden um jeden möglichen Preis gemahnt. Vergeblich hatte er den üblen Kriegshetzer und Bürgergeneral Kleon, die Kriegsgewinnler, Waffen­fabrikanten, Maulhelden, Bramarbasse, Bierbankpolitiker in seinen Komödien „Die Acharner“, „Der Friede“, „Die Ritter“ verhöhnt und attackiert. „Bist ein Lump von Haus aus,“ so apostrophiert ein Sklave einen Metzger, der sich zum Gegenkandidaten von Kleon gemacht hat, „eine Krä­merseele, kurz: ein Staatsmann vom Scheitel bis zur Sohle. Ein Glas dem Genius der Dummheit!“ Lysistrata ruft in der gleich­namigen Komödie die Frauen auf, sich nicht eher ihren Männern wieder hinzugeben, ehe sie nicht Frieden gemacht. Ihr gelingt — leider nur in der Komödie — ihr kühnes Vorhaben. Lakedämon und Sparta schließen Frieden, weil ihre Männer, kurz gesagt, den Liebesstreik nicht durch­halten können, und ein allgemeines Freudenfest schließt das anmutige, leicht- und tiefsinnige Spiel.

Der Hauptvertreter der neuen, bürgerlichen Komödie ist Menander (342—290 v. Chr.). Seine Stücke sind uns, mit einer Ausnahme, nur in lateinischer Bearbeitung erhal­ten. Seine Satire ist völlig unpolitisch, er foppt natura­listisch die Sitten und Gebräuche des damaligen Mittel­standes. Das bürgerliche Lustspiel aller späteren Völker geht auf ihn zurück.

Äsop, ein Sklave aus Samos, ist der Vater der Fabel. Seine Wirkung auf die verschiedenen Literaturen ist kaum abzuschätzen. „Ein Bauernknabe röstete sich Schnecken zum Mahle. Als er sie nun über der Glut zischen hörte, rief er em­pört: „Ihr Unwürdigen! Während eure Häuser brennen, singt ihr!“ Theokrit ist der Meister des bukolischen Gesanges und der Idylle. Er besingt den Schmerz der Kypris um den toten Adonis.

Der Komödie zurechnen möchte ich die geistreichen und graziösen Götter-, Toten- und Hetärengespräche des Spätgriechen Lukian (200 n. Chr.), der sich über die alten Götter weidlich lustig macht. Sein Zeitgenosse Longos schreibt den zärtlichen Hirtenroman von Daphnis und Chloe, das Vorbild der Geßnerschen Idyllen.

Der Vater der griechischen Geschichtschreibung ist Herodot (um 450 v. Chr.), der auf seinen weiten Reisen geschichtliche und märchenhafte Stoffe sammelt und sie mit vollendeter Kunst erzählt. Kritischer, aber auch rheto­rischer ist Thukydides (+ 395 v. Chr.), der die Geschichte des Peloponnesischen Krieges schreibt. Der dritte große frühgriechische Historiker ist Xenophon (f 356), der als Söldner in Persien gedient hat und die „Anabasis der Zehn­tausend“ berichtet; auch hinterlässt er „Erinnerungen an Sokrates“ und ein „Gastmahl“, worin er dem dämonischen Sokrates des Piaton einen Experten der Moral entgegen­setzt. Aus den „Lebensbeschreibungen“ des Plutarch (um 50 n. Chr.), die griechische und römische Porträts parallel stellen — wie Alexander den Großen und Cäsar —, holte Shakespeare die Stoffe zu seinen Römerdramen.

Die Philosophie der Griechen bedient sich in den An­fängen metrischer oder doch rhythmischer Formen. Sie ist Von der Dichtung noch nicht getrennt. Empedokles und Thaies sind Naturphilosophen, die das Weltall als den beseelten Körper eines Gottes empfinden. Die wissen­schaftliche Entzauberung besorgen erst die Sophisten. Ihnen verwandt sind die Rhetoriker, unter denen Demosthenes, der Gegner Philipps von Makedonien, der bedeutendste ist.

Aristoteles, der Lehrer Alexanders des Großen, ist der erste realistische Denker im modernen Sinn. In ihm sammelt sich das ganze antike Wissen. Er ist angeblich der Verfasser von tausend Schriften, von denen die meisten verloren gegangen sind. Das scholastische Denken des Mittelalters beruht auf Aristoteles, aber auch die meisten heute noch gangbaren philosophischen Definitionen und Terminologien stammen von ihm.

Ein Dichter der Lebenskunst ist der Philosoph Epikur. Der christlichen Ära gehört Epiktet an mit seinem „Handbüchlein der Moral“ und den Gesprächen. In griechischer Sprache verfasst sind die stoischen „Selbstbetrachtungen“ des römischen Kaisers Marcus Aurelius. Keine Spur mehr vom heiteren Heidentum ist in den mystischen Schrif­ten des Plotinos, der in Ägypten geboren wird und in Rom stirbt. Die Evangelien haben gesiegt.

ROM

Die lateinische Literatur verhält sich zur griechischen wie etwa die japanische zur chinesischen. Sie ist formal und geistig epigonal. Ohne Hellas kein Rom.

Die Römer stehen dem hellenischen Geist nicht viel an­ders gegenüber als die Modernen. Vergil ist von Homer weiter entfernt als Goethe, Horaz dichtet seine Oden nicht viel anders als Hölderlin. Die Römer sind schon Huma­nisten.

Dabei zerflattert ihre Literatur gemäß der Ausdehnung des römischen Reiches in alle Windrichtungen und bildet kleine Kreise und Individualitäten, die von Rom nur des­halb nicht loskommen, weil es das Sprachzentrum ist. Einen spezifischen Einfluss vermag Rom nicht auszuüben: eben weil es keine künstlerische Kultur besaß, sondern sein Schwergewicht auf militärischem, juristischem und verwaltungstechnischem Gebiete lag. Die dauernde literari­sche Leistung Roms war das römische Recht, das noch heute in Deutschland die Grundlage der Rechtsprechung bildet. Kaiser Justinianus (5 27—565) gab ihm die abschließende Form im „Corpus iuris“.

Von einer nationalen oder populären römischen Dich­tung wissen wir nichts. Wahrscheinlich haben auch die römischen Burschen und Mädchen ihre Neck- und Liebes­lieder gesungen. Erhalten ist nichts. Die ersten lateinischen Dichtungen, die wir kennen, sind einfache Übersetzungen und Bearbeitungen aus dem Griechischen, nicht einmal von Römern, sondern von griechischen Sklaven angefertigt. Ein solcher war Plotus Maccus, der Hausnarr Plautus (f 184 v. Chr.), der, um sich Geld zu verdienen, griechische Meisterkomödien ins Lateinische frei übertrug und unter lebhaftestem Beifall der Römer auch darstellen ließ. Die Stücke sind amüsant, aber gewiss nicht mehr. Auf dem Gymnasium, das ich besuchte, war es Sitte, lateinische und griechische Dramen von den Schülern aufführen zu lassen. So habe ich selbst einmal in den Menaechmi des Plautus mitgespielt, einem Lustspiel, das auf die Verwechslung zweier Zwillingsbrüder hinausläuft. Der Dialog ist sehr geschickt, die Typen in den Operettenhaften Schwänken — sie wurden von Musik begleitet — sind immer diesel­ben: verliebte junge Leute, die zueinander wollen und nicht können, Verschwender, Geizhälse, böse Väter, Kupp­lerinnen, Dirnen und als „Spiritus rector“ der, der die Fäden in der Hand hat: der schlaue Sklave. In dieser Rolle mag Plautus manches persönliche Erlebnis zustatten gekommen sein. Der Erfolg des Plautus rief viele Lustspiel- und Tra­gödiendichter auf den Plan. Es ist nötig, nur einen zu nen­nen (obwohl so mancher von ihnen in edler Bescheiden­heit die Unsterblichkeit seiner Werke selbst besang): Terentius (+ 159 v. Chr.), der im Gegensatz zu Plautus seine Komödien streng den griechischen Originalen anpasste, auf die Gebildeten wirken wollte und ein unvergleichlich besseres Latein schrieb. Die Leichtfertigkeit dieser Komö­dien steht in kuriosem Gegensatz zu den strengen altrömi­schen Grundsätzen, wie sie etwa ein Cato (f 149 v. Chr.) noch vertrat. Aber die Gestalten des Terenz haben wirk­liches Leben und psychologische Perspektive, hinter all diesen bunten Szenen steht ein großer Kunstverstand und hellsichtige Menschenkenntnis.

Die populäre lateinische Posse (fabula Atelland) ent­wickelte sich in der Art des Hans Sachs. Der Bauer wurde verspottet, der Soldat, der Metzger, und die Jungfrau, die keine mehr war. Tragödien wurden parodiert. Wer heute in das Theater San Fernando in Neapel geht, wird finden, daß zwischen der fabula Atellana und der heutigen Neapolitaner Volksposse kein großer Unterschied ist. Improvi­siert wird mit aller südlichen Lebhaftigkeit, und sicher wurden schon damals besonders gelungene Szenen da capo verlangt. So sah ich, daß ein Intrigant von dem Liebhaber an einer passenden Stelle eine schallende Ohrfeige appliziert bekam, die das Publikum so sehr entzückte, dass es die Ohrfeige da capo verlangte. Was auch geschah.

Die lateinische Prosa entwickelte sich langsam. Es wur­den vor allem die Rede und die Selbstbiographie gepflegt. Ciceros Reden werden ihres klassischen Lateins wegen noch heute in den Gymnasien durchgehechelt. Sie sind zum Einschlafen langweilig. Auch seine dick aufgetrage­nen Moralitäten nehmen sich sehr sonderbar aus bei einem Menschen, dessen einzige Eigenschaft die schrankenloseste Eitelkeit war, der er alles, selbst die Wahrheit, opferte. Der große Julius Cäsar drechselte in goldener Latinität sein Bellum Gallicum, eine Rechtfertigungsschrift über den von ihm vom Zaune gebrochenen Gallischen Krieg. Der stärkste Prosaist dieser Zeit ist Sallust (f 34 v. Chr.). Seine „Verschwörung des Catilina“ ist die klassische Erzählung einer Revolution. Lucrez (f 55 v. Chr.) ist der Schöpfer des philosophischen Gedichts „Über die Natur der Dinge“. Er weiß um die Geheimnisse der Erde und der Seele. In manchen Schilderungen, wie in der der Pest, erreicht er eine unglaubliche Plastik. Einen echten und großen Dich­ter hat Rom in Catull (f 54 v. Chr.) hervorgebracht. Die Richtung, der er angehörte, hat eine lateinische Dichtung überhaupt erst begründet. Er und seine auch politisch revo­lutionären Kameraden nannten sich stolz, ähnlich wie heute die junge Generation in Deutschland, „die Jungen“ und griffen den „alten“ Cäsar an, der klug genug war, sich mit Catull zu versöhnen. Das persönliche Erlebnis trat bei Ca­tull in den Zentralpunkt seines Schaffens. Es war die Liebe zu einer verheirateten Frau namens Clodia, die er Lesbia nannte. Er hat alle Stationen seiner Liebe besungen; die Leidenschaft, die Erfüllung, die Treue, die Untreue — bis sein Lied in Leid, seine Liebe in Hass ausklang. Vergil (70—19 v. Chr.) begann mit einer Nachahmung des Theokrit. Von Kaiser Augustus angeregt, versuchte er in der „Aeneis“ das Nationalepos der Römer zu schaffen: in An­lehnung an Homers Epen. Er verfährt dabei nicht beson­ders originell. Aeneas erzählt seine Erlebnisse wie Odysseus. Dido ist eine andere Circe. Die Parallelität geht noch weiter und bis ins einzelne. Seine Psychologie kennt allein den deus ex machina. Im Mittelalter galt Vergilius alles. Dante hat ihn als seinen Lehrmeister bezeichnet. Vergil war wie alle römischen Dichter ein Erbe und Eklektiker: ein Künstler der Form. Aber kein Genosse der großen Eroberer und Herrscher im Reiche der Magie und Welt­beseelung. Es ist nur von der Sanktionierung der latei­nischen Sprache im Mittelalter als Kirchensprache her zu erklären, daß Geister zweiten Ranges wie Plautus, Vergil und Cicero eine so nachhaltige Wirkung auszuüben ver­mochten.

Da ist Horaz (65—8 v. Chr.) schon ein anderer, ein eigener Kerl. Er war ein armer Schreiber bei der Quästur, als er zu dichten begann. Maecenas, das Vorbild aller Mäzenaten, wurde auf ihn aufmerksam und unterstützte ihn. Er schrieb zuerst die sogenannten „Satiren“. Sein Bestes bleiben seine Oden, nach griechischen Versmaßen geformt. Er besang die Freundschaft, den Wein, die Liebe und auch Naturstimmungen werden sichtbar. Der beschneite Soracte steigt auf und wird einem vertraut wie der Fushijama oder der Blocksberg. Horaz‘ Wirkung war, auf dem Wege über das Kirchenlatein, ungeheuer. Noch Klopstock steht auf seinen Schultern. Allerdings ist diese Wirkung eine rein formale. Seelisch weiß Horaz, der schließlich ein bequemer, gescheiter, weinfroher Hofmann wurde, wenig zu geben.

Neben der Ode wurde die Elegie gepflegt von Tibull (+ 19 v. Chr.), einem zarten Idylliker, der es im kriege­rischen Rom wagte, ein Pazifist zu sein. Er hat den Erfin­der der Waffen verflucht und dem Soldaten den Bauer gegenübergestellt: seine friedliche Arbeit auf dem Acker und seine einfachen ehrlichen Sitten. — Ähnlich wie Ca­tull, nur in der Form der Elegie, besingt Properz (+19 v. Chr.) seine Geliebte in allen Tonarten. Auch das Ende die­ser Liebe ist das gleiche; Cynthia wird ihm untreu und „das höchste Glück sinkt in das tiefste Grab“. Der formal Begabteste aller römischen Dichter ist Ovid (43 v. Chr. bis 17 n. Chr.), dessen „Amores“ und „Ars amandi“ noch heute ihre Leser finden. Er ist entzückend frivol, leicht­fertig und jeder Lust leicht hingegeben, der des Verses und der des Kusses. Auf den Schulen liest man noch seine „Me­tamorphosen“ : kleine geistvolle Novellen in Versform, de­ren Pointe immer wieder eine Verwandlung ist, z. B. des Zeus in einen Stier. Ovid wurde (er hatte ein Verhältnis mit einer Prinzessin des kaiserlichen Hauses) von Augustus an das Schwarze Meer verbannt, von wo er allerlei jammervolle Klagelieder nach Rom sandte, die „Tristia“. Um diese Zeit begann Phaedrus, ein Freigelassener, die Fabeln des Äsop in lateinische Jamben zu übertragen und machte sie populär. Die römische Prosa sollte ihren größ­ten Dichter in Petronius (f 66 n. Chr.) finden, dem arbiter elegantiarum, Haushofmeister des Nero. Er schrieb eine umfangreiche Rahmenerzählung in zwanzig Büchern, von der leider nur weniges erhalten ist. Aber das wenige (wie die Novelle der Witwe aus Ephesus oder das Gastmahl des Trimalchio) genügt, ihm neben Catull den höchsten Platz in der römischen Dichtung anzuweisen. Was nach Petronius kommt, ist wenig. Seneca (7—65 n. Chr.), ein Wüstling und Wucherer, verfasste moralische Schriften, in denen dann die kirchlichen Autoren des Mittelalters christ­liche Lehre erkennen wollten. Die zehn barocken Dramen, die ihm zugeschrieben werden, gewannen starken Einfluss auf die Entwicklung der europäischen Dramatik seit Ra­cine.

Persius Flaccus (f 62 n. Chr.) hat in seinen Satiren einige lichte Momente. Martial (+ 102 n. Chr.) ist ein ge­schickter Epigrammatiker und Polemiker. Er ist frech, un­verschämt — aber immer mit Geschmack und Anmut. Juvenals ( 138 n. Chr.) Satiren, in denen er ein abschrecken­des Bild des untergehenden Roms malt, stammen aus ei­nem verzweifelten Herzen. Er wollte mit diesem Sitten­spiegel auf seine Zeitgenossen bessernd einwirken. Die freilich schnitten nur Gesichter und lachten. Man kann ei­nen Karren, der einen Berg herabrollt, nicht aufhalten. Tacitus (f 119 n. Chr.), der Meister der lateinischen Ge­schichtsschreibung, stellte in der Germania den Römern das Beispiel eines kraftvollen, sittenstarken Naturvolkes vor Augen. Was half’s? Rom verging. In den Provinzen lebte die lateinische Literatur noch weiter. Sie hat in Afrika eine holde Nachblüte getrieben in dem Märchen „Amor und Psyche“ des afrikanischen Dichters Apulejus aus Karthago (um 170 n. Chr.).

Rom hatte die Welt besiegt, aber die Botschaft vom Reich, das nicht von dieser Welt ist, zerbrach die Herr­schaft der Sieger.

Die Evangelien sind der tiefste Protest gegen alles, was im antiken Rom verkörpert war: bürgerliches Gesetzbuch und Menschenstaat, Besitzgier und Diesseitslust, Machtvergötterung und äußeres Heldentum. Aber nur eine Or­ganisation des Geistes konnte die Organisation der Ge­walt überwinden. Der tarsische Teppichweber Paulus be­ginnt mit seinen Briefen dieses Werk der Politisierung des Christentums, wie sie der Philipperbrief zeigt. Die Kirche könnte mit Recht in ihm den ersten Papst verehren. Er, nicht Christus, dem jede Dogmatik, Theoretik, Paragraphierung fern lag, ist der Vater der Kirche.

Der Karthager Tertullian dokumentiert (im 2. Jahrh. n. Chr.) mit seiner „Rede für die Christen“ den revolutio­nären Charakter des Urchristentums, dem die Armen und Ärmsten anhingen: denn für sie vor allem hatte der Tisch­lerssohn Christus gesprochen. Selig sind, die Hunger und Durst leiden, die verfolgt werden, um der Gerechtigkeit willen, denn das Himmelreich ist ihrer. Gewiss ist die Spei­sung der Fünftausend und diese Seligsprechung vor allem ganz real, danach erst symbolisch zu verstehen. Es gab im alten Rom, wie Suetonius und andere Geschichtsschreiber zeigen, ein richtiges Proletariat, und diese Proletarier wa­ren es zuerst, die der neuen Lehre anhingen, die dem Hun­gernden Brot, dem Durstenden Milch, dem Verachteten und Verhassten Liebe, dem Gepeinigten und Verfolgten Erlösung versprach. Der religiöse Kommunismus hat im Urchristentum seine stärksten Wurzeln.

Nicht anders als Lenin gegen den „Kapitalismus“ wet­terte Tertullian gegen „Rom“: „ Von gestern sind wir, und doch haben wir bereits eure ganze Welt durchsetzt: Städte, Schlös­ser, Verwaltungen, sogar die Armee, Zünfte, Behörden, den Kaiserpalast, den Senat, das Gericht… Wir werden umso zahl­reicher, je mehr man uns hinmäht…“

Das Werk des Paulus wird von Aurelius Augustinus (f 430) fortgesetzt, in seinem großen Dogmenbau „Vom Gottesstaat“. Augustinus ist aber auch der Verfasser der ersten Autobiographie, der unvergänglichen „Konfes­sionen“.

Die christliche Kirche statuierte das Lateinische als ihre offizielle Sprache. Auch das Kirchenlatein hat noch be­merkenswerte Dichtungen hervorgebracht. Man denke an die Dramen der deutschen Nonne Roswitha von Gan­dersheim, an die Goliardenlieder des 12. Jahrhun­derts (die Studenten singen sie heute noch: Mihi est propositum in taberna mori), an die märchenhafte Prosa der Gesta Romanorum: Legenden aus Rom, an die Franziska­nischen Hymnen, an den St. Galler Mönch Notker Balbulus (Media vita in morte sumus), an die erotischen Ge­dichte des Johannes Secundus (Küsse). Der Hochmei­ster der Scholastik ist Thomas von Aquino (1225 bis 1274), der das Primat des Intellekts, die Vorherrschaft der Vernunft über den Willen lehrt. Italiener wie er sind Jacopone da Todi, der Dichter des Kirchengesanges„ Stabat Mater“, und Thomas von Celano, der der Verfas­ser der Sequenz „Dies irae“ ist. Kirchlicher Hochmut be­hauptet, daß erst das Christentum die antiken lyrischen Formen mit allgemeingültigem Gehalt gefüllt habe. Das ist ungöttliche, blasphemische Überhebung. Die Dramen der Roswitha und die Lieder des Notker bleiben, bei aller Verehrung, die ihnen gebührt, weit hinter Catull und Terenz zurück. Warum ? Weil die Sprache etwas Organisches ist wie Baum und Blume, die aus der Erde hervorwächst, an die Erde gebunden ist und von ihr die Säfte bezieht. Die Römer sprachen nicht nur, sie lebten lateinisch auf lateinischem Boden. Die deutsche Mystik und Minnedich­tung (Marienlieder) bezeugt die wahre christlich-deutsche Dichtung, die nicht in der Schreibstube der Klöster, son­dern im Herzen des Volkes entsprang.

Viertes Kapitel
HEIDEN- UND HELDENZEIT

SKANDINAVIEN-ENGLAND –DEUTSCHLAND

In dem indischen Buch Puratana Sastra heißt es: „Yod-ha, ein Fürst der Hochebene des Himawat (Himalaya), versammelte seine Krieger und stellte ihnen den Reich­tum der Länder in der Ebene vor, besonders den der Stadt Asgartha. Er zog gegen Asgartha, die Sonnenstadt, und eroberte sie nach drei Tagen und vernichtete sie.“ Die Brahmanen aber rüsteten eine Armee, warfen sie gegen Yodha und besiegten ihn. „Er musste fliehen. Mit aller seiner Habe zog er ab, und als die Verfolger zum Hima­laya kamen, fanden sie keinen Greis und kein Kind mehr vor. Yodha und sein Bruder Skanda waren nach Norden geflohen.“ Skanda gab dem Lande, wohin er floh, seinen Namen: es ist Skandinavien. Aus Yodha, seinem Bruder, wurde in der germanischen Mythologie der Gott Odin. Aus der Stadt Asgartha wurde Asgard, die Wohnstadt der Götter.

Die altskandinavische Dichtung, die auf Island blüht, zerfällt in die Eddas, die mythologischen Heroengesänge, in die Skaldenlieder und in die Sagas: märchenhafte No­vellen, die den Gipfel der altgermanischen Prosaschriftstellerei bedeuten.

Die Eddas, deren älteste die Völuspa (Weissagung der Wala) ist, sind in alliterierenden Stabreimen geschrieben und etwa um 1000 n. Chr. aufgezeichnet. Daß kein Volk ohne Anleihen auskommt, beweisen auch sie: die Völuspa ist mit indischen, christlichen und altgriechischen Vorstel­lungen gespickt. Die Wala, die Odin aus dem Höhlengrab zitiert, damit sie ihm die Zukunft des Götter- und Menschengeschlechtes deute, entspricht der griechischen Si­bylle. Ihre Weissagungen sind nur gleichsam klimatisch verändert. Aber beiden gemeinsam ist die Weltuntergangs­stimmung, die übrigens um das Jahr 1000 im Abendland allgemein war. In einem Feuerzauber versinkt die Erde im Meer. Aber aus den Fluten wird eine neue Erde tauchen — das ist indischer Glaube —, und die Asen werden sich wie­der „an dem goldenen Brettspiel“ ergötzen, das Leben heißt. Dieses Gleichnis findet sich wörtlich auch bei dem Griechen Heraklit und bei dem Perser Hafis. Odin, der in vielfältiger Verkleidung bei den Menschen vorspricht (in Havamal), hat verdächtige Ähnlichkeit mit dem Kali­fen Harun al Raschid. Am Weltenbaum hängt er wie Chri­stus am Kreuz. Die Heldensage behandelt Helden wie Helgi, den Hundingstöter, und Sigurd, Gunnar, Brynhilde, Gundrun: die aus dem Nibelungen- und Gudrunlied be­kannten Heroen.

Die Skaldenpoesie zeichnet sich durch eine außer­ordentliche Konzentration des dichterischen Bildes aus. Sie sagt „Wogenwagen“, „Brandungseber“, „Meerhengst“ für Schiff, „Armschlange“ für Ring, „Bogenvögel“ für Pfeile. Wenn sie ein Mädchen mit einer Walküre vergleicht, so identifiziert sie beide. Sie sagt nicht „wie eine Walkü­re“, sondern „die Walküre“. Ihre artistische Technik ist der des sogenannten Expressionismus erstaunlich ver­wandt. Einer der berühmtesten Skalden war Egil Skalagrimsson (900—982), von dem eine „Saga“ erzählt, daß er selbst vor Göttern und Königsthronen den Kopf hoch erhoben trug. Snorri Sturluson (um 1240) ist Islands größter Dichter in der „Heimskringla“, einem Königsbuch.

Dante
Walther von der Vogelweide

Von den Sagas sind die Frithjofsage, die Wälsungensage und viele andere den Deutschen geläufig. Die Helden­sagas wurden in Lügensagas parodiert.

Die Bewahrer der uralten keltischen Gesänge auf der sei Albion waren Druiden und Barden. Über ein Jahrtausend haben diese Gesänge sich von Mund zu Mund wie ein Geheimnis fortgepflanzt, ehe im 17. Jahrhundert Ver­suche gemacht wurden, sie aufzuzeichnen. James Macpherson publizierte 1760 keltische Fragmente und ein Epos „Fingal“, das er dem Barden Ossian (3. Jahrh. n. Chr.) zuschrieb. Was echt und was darin fingiert war, ist bis heute nicht entschieden. Jedenfalls gewinnt man von der Lektüre Ossians einen bedeutenden Eindruck. Wie im schottischen Hochland der Nebel, so liegt über den Kämp­fen und Liebesszenen der alten Galen ein leichter weißer Schleier, der manchmal nur ein Theaterschleier ist, der aber die Gestalten zart ins Unwirkliche enthebt. Der Einfluss Os­sians auf die deutsche Literatur ist kaum zu überschätzen: Goethe, Herder, Klopstock, Hamann bekannten sich be­geistert zu ihm. Napoleon trug den Ossian während seiner Feldzüge bei sich. Keltische Sagen von ungewöhnlicher Schönheit hat in jüngster Zeit Fiona Macleod (Pseudo­nym für William Sharp) herausgegeben, in denen sich auch eine dunkle und dumpfe Lyrik findet, deren Quelle der iri­sche Märchensee Killarney zu sein scheint. So klingt das Robbenlied:

Aoh, aoh, aro, aro, ho-ro !
Ich war ein Mann, nun bin ich Robbe.
Gebt Raum mir, gebt Raum mir, Robben der See!
Ich bin Verlobter der See,
Und dort seh ich die Meerjungfrau,
Und mein Name, fürwahr, ist Manus MacCodrun,
Der Robbenbulle, der einst ein Mann war, awa, awe !

Auf die Kelten folgen die Kymaren, die die Sagenge­stalten des Königs Artus und des Zauberers Merlin schu­fen, auf die Kymaren die Angelsachsen, welche das Epos vom Gotenkönig Beowulf mitbrachten, der im Kampf gegen Drachen und Ungeheuer ruhmvoll unterliegt. Die altenglischen Dichter (Kynewulf, 8. Jahrh.) pfropfen die christliche auf die altnordische Mythologie, und was da­bei herauskommt, ist oft ein kindlicher Unsinn. (Die Jün­ger des friedlichsten aller Menschen, Christi, werden „Kampfhelden“, er selbst wird „der hohe Held“ genannt.)

Karls des Großen Biograph Einhart (+ 840) erzählt, daß Karl der Große die alten germanischen Sagen habe aufschreiben lassen. Leider haben seine frömmelnden Nach­folger, von unverständigen Pfaffen aufgereizt, dafür ge­sorgt, daß derlei „heidnisches“ Zeug ausgerottet wurde, wo es sich zeigte. Unersetzbares ist verloren gegangen. Als Ersatz werden uns blasse, versifizierte Heiligenlegenden und Christusgeschichten aufgetischt.

Aus der Frühzeit sind nur spärliche Reste erhalten. Ei­nes der ältesten deutschen Sprachdenkmäler ist das Wes­sobrunner Gebet, um 800 entstanden, voll großer An­schauung und starker dichterischer Kraft. Erwähnt seien noch die Merseburger Zaubersprüche und das epische Fragment des Hildebrandsliedes.

Unter den Nachfolgern Karls des Großen blüht, begün­stigt von den Priestern, die lateinische Poesie. Das Klo­ster von St. Gallen pflegt neben dem lateinischen Kirchen­gesang auch die Wiederbelebung der Heldensage und die deutsche Dichtung. Notker der Stammler (Balbulus) sammelte Anekdoten über Karl den Großen; Notker der Deutsche (Labeo) übersetzte die Psalmen. Ekke­hard dichtet noch als Klosterschüler den „Waltharius ma­nu fortis“, das Epos von den Kämpfen Walthers mit der starken Hand. Das Gedicht ist in lateinischen Hexametern nach dem Muster Virgil abgefasst. Aus der Zeit der Kreuzzüge (um 1100) stammen die epischen Stoffe, die wir aus Schwabs Deutschen Heldensagen kennen: Herzog Ernst, König Rother u. a.

Das stolzeste Epos der Deutschen ist das Nibelungen­lied (um 1210). Und wir alle kennen seine großangelegte Handlung. Die sagenhafte deutsche Urzeit ersteht in den Rittern der Völkerwanderung noch einmal. Jeder der Hel­den: Siegfried, Hagen, Gunther ist ein Held seiner Zeit, aber mit den strahlenden Attributen der Vorzeit umgeben. „Welch ein Gemälde der menschlichen Schicksale stellt uns das Lied der Nibelungen auf“, schreibt A. W. von Schlegel. „Mit einer jugendlichen Liebeswerbung hebt es an, dann verwegene Abenteuer, Zauberkünste, ein leicht­sinniger, aber gelungener Betrug. Bald verfinstert sich der Schauplatz; gehässige Leidenschaften mischen sich ein, ei­ne ungeheure Freveltat wird verübt. Lange bleibt sie un­gestraft; die Vergeltung droht von ferne und rückt in mah­nenden Weissagungen näher; endlich wird sie vollbracht. Ein unentfliehbares Verhängnis verwickelt Schuldige und Unschuldige in den allgemeinen Fall, eine Heldenwelt bricht in Trümmer.“

Das Gudrunlied (um 1250) klingt sanfter, bürgerli­cher, versöhnender aus. Zwar stehen auch hier Gewalttat und Schande am Anfang. Aber das Lied endet heiter mit einer vierfachen Hochzeit und hellen Blicken in eine rosen­rote Zukunft, da kein Hass und kein Kampf mehr sein wird.

Fünftes Kapitel
RITTER UND MÖNCHE
RITTERLICHE EPIK

Die Kämpfe der Franzosen gegen Sachsen, Longobarden, Sarazenen unter Karl dem Großen geben den Hinter­grund für die Heldenlieder Frankreichs, deren bedeutend­stes das Rolandlied (um 1100). Wie der Ruhm entsteht, in Legende und Dichtung, illustriert hübsch das Roland­lied. Der wirkliche Roland war ein untergeordneter, un­scheinbarer Recke, der, wie der Historiker Einhart erzählt, 778 in Spanien bei einem Rückzugsgefecht ums Leben kam. Aus einem kleinen Soldaten wird das Ideal einer ganzen Rasse, aus einem unbedeutenden Rückzugsgefecht eine Schlacht, die Weltepochen scheidet. Jean Bodel dichtet das abenteuerliche Epos vom Sachsenkriege, das schon zum Abenteuerer- und Ritterroman hinüberleitet, der ent­stand, als der höfische Ritter das Bedürfnis empfand, sich einmal im Spiegel der Kunst zu betrachten. Im Spiegel sah er König Artus und seine Tafelrunde, umgeben von Zau­berern, Nixen, Riesen, Zwergen, Wahrsagern, einem ganzen mythologischen Zirkus. Die Liebe betreibt der romanische Ritter als Gesellschaftsspiel. Nur im Tristanroman er­hebt er sie über sich selbst.

Marie de France, die lange in England am Hofe Heinrichs des Zweiten (um 1150) lebte, dichtete Liebes­novellen in Versen. Unter den anonymen Romanen der Liebenden aus dem dreizehnten Jahrhundert sind „Floire und Blancheflor“ und „Aucassin und Nicolette“ die reizendsten. Chrestien von Troyes (um 1300) ist der Au­tor der Romane von „Iwein“ und „Parsifal“.

Die allegorische Dichtung geht auf Guillaume Loris (um 1270) zurück, der blutjung starb, ohne sein Märchen von der Wunderrose beendet zu haben, die nichts anderes ist als eine Schwester der blauen Blume des Novalis.

Die Angelsachsen werden von den Normannen unter­worfen; das Französische wird in England offizielle Sprache vom 11. bis 14. Jahrhundert. Taillefer singt beim Be­ginn der Schlacht von Hastings (1066) das Rolandlied, Robert Wace schreibt in französischen Versen die Ge­schichte der siegreichen Normannen. Aber das Volk läßt sich seine Sprache nicht rauben. Im 14. Jahrhundert lebt der Dichter der Romanze „Sir Gawein und der grüne Ritter“, deren Stoff Eduard Stucken in seinen Gralsdramen verwendet hat.

Die spanische Literatur beginnt um das Jahr 1000 mit Romanzen, die den Cid und die Heldentaten in den karolingischen ‚und maurischen Kämpfen besingen. Sie wur­den öffentlich gesungen von „Juglares“, d. h. Jongleuren, und schon der Name, der sie mit Schlangenbändigern, Seiltänzern, Athleten auf eine Stufe stellt, besagt von der Missachtung, die man ihnen entgegenbrachte. Aus Ro­manzen und Chroniken entwickelte sich der spanische Ritterroman. Sein Ahne war ein Portugiese, Joao (Vasco) Lobeira, dem der „Amadis“ zugeschrieben wird. Der Amadis hat von der Odyssee, von der Artuslegende, der Legende des heiligen Gregor seine Hauptmotive entlehnt. Seine Mutter setzt ihn in einer Wiege auf dem Meere aus wie die Mutter den heiligen Gregor, und seine odysseischen Fahrten führen ihn nach der Türkei, Frankreich, Deutschland, bis er in England mit Oriana vermählt wird.

So wie die gotische Baukunst, kam auch die ritterliche Epik von Frankreich nach Deutschland. Aber sie ent­wickelte sich hier zu großer Eigenart und kunsthafter Voll­endung.

Mit den Minnesängern wurde die deutsche Literatur sich ihrer bewusst. Zwar gab es noch nicht das Wort, aber der Begriff war vorhanden. Die öffentliche Kritik trat da­mals zum erstenmal in Deutschland auf: es waren die Für­sten, die als Mäzene das erste Recht der Beurteilung für sich in Anspruch nahmen.

Die Themen, die Hartmann von Aue (etwa 1170 bis 1215) in seinen Verserzählungen anschlägt, sind von schönster Intensität: in „Gregorius“ überträgt er den Ödipusstoff auf ein mittelalterliches Milieu. Gregorius liebt und heiratet unwissentlich seine eigene Mutter. Als er die Schande erfährt, sucht er die Sünde zu sühnen, indem er sich prometheisch an einen Felsen schmieden läßt. Nach siebzehn Jahren unerhörter Qual erlösen ihn die Römer; er wird von ihnen im Triumph ob seiner Heiligkeit auf den verwaisten Papstthron erhoben und spricht, unfehl­bar geworden durch sein titanisches Leid, die eigene Mut­ter ihrer Schuld ledig.

Im „Armen Heinrich“ bemächtigt sich Hartmann eines deutschen Stoffes. Ein Ritter wird vom Aussatz befallen. Ein Mittel nur gibt es, ihn zu retten: das Blut einer un­berührten Jungfrau. Aus Liebe zu ihm erbietet sich ein Mädchen, für ihn zu sterben. Aber der arme Heinrich nimmt das Opfer nicht an: trotz teuflischer Versuchung. Da erbarmt sich auf Flehen des Mädchens Gott der Lieben­den : er macht den armen Heinrich gesund und zum reichen Heinrich durch den Besitz der Geliebten. (Die schönste Illustration zu dem Goetheschen Wort: Von der Gewalt, die alle Wesen bindet, befreit der Mensch sich, der sich über­windet).

Ein Zeitgenosse von Hartmann ist Wolfram von Eschenbach (etwa 1170—1220), ein Bayer aus Eschen­bach bei Ansbach. Er war ein armer Teufel wie Walther von der Vogelweide, mit dem er am Hofe des Landgrafen von Thüringen öfter zusammentraf. Als er 1217 dem Hof­leben für immer den Rücken und auf sein kleines Gut heim zu Weib und Kind kehrte, so ist dies durchaus symbolisch zu verstehen. Er hatte die höfische Minne, die schon einen eigenen Komment entwickelte, dessen Verstöße unnachsichtlich geahndet wurden, von Herzen satt und sehnte sich nach einem einfachen ungezierten Wort aus unver­zerrtem Frauenmund. Nach Lippen, die ohne Anfragung einer Etikette auf den seinen lagen, nach einem Herzen, das ihm herzlich zugetan war. Nach einem Kinde, das nicht „Fräulein“ oder „junger Herr“ tituliert wurde, sondern mit dem er reiten und jagen und spielen durfte wie mit sich selbst. Durch Wolfram wurde die Gralssage der deutschen Literatur eingebürgert. Er hatte (1200—121 o) in 24 81 o Ver­sen im „Parzival“ den Ritterroman der Deutschen geschaf­fen ; aber es war schon eine vergangene edlere Zeit, die sich in ihm spiegelte. Der Dichter ist oft nur der Vollstrecker des letzten Willens einer Epoche, der er schon nicht mehr angehört. Der Stoff ist französischen und provencalischen Vorbildern entnommen. Die Idee der Erlösung: christlich. Aber der Leidens- und Freudensweg, den Parzival gehen muss, seine Entwicklung vom ahnungsvollen, aber ahnungs­losen Kind zum seiner Seele bewussten Mann ist ganz wolframsche Prägung. Er ist den Weg des Knaben Parzi­val selbst gegangen.

Gottfrid von Straßburg (um 1210), Wolframs größter Zeitgenosse, war auch sein größter Gegner. Er fand den Parzival dunkel und verworren, zu sehr im höfi­schen Kunststil, ohne einheitliche Handlung und stellen­weise schwer verständlich. Im Tristan stellte er dem Parzival sein Ritterepos gegenüber: von einer leidenschaftlichen Klarheit des Themas und der Formulierung und trotz der Leidenschaft nicht ohne Zierlichkeit und Zartheit. Er hatte von seinem Standpunkt mit der Beurteilung des Par­zival recht. In Gottfrid und Wolfram spitzten sich, wie später bei Goethe und Schiller, zwei dichterische Typen bis ins Polare zu: der Pathetiker und der Erotiker. Wolfram-Schiller, das besagt: Kampf, Forderung, Dornenweg, Ver­blendung und Erlösung, Gottesminne, Jenseits. Goethe-Gottfrid, das heißt: Sein Genuss, selbst des Schmerzes, Blumenpfad, Sonnenblendung, Glanz und Erfüllung: Menschenminne, Diesseits. — Das Epos bricht vor dem Schlüsse ab. Es war Gottfried nicht vergönnt, es bis zu seinem tragischen Ende fortzuführen. Schickung: er mochte die Blume, die er selbst gehegt, nicht brechen. In allen Frauen wird Tristan immer Isold lieben. Er wird im­mer wieder eine Isold finden und er wird eines ewig lieben: seine Liebe.

TROUBADOURE UND MINNESÄNGER

Der deutsche Minnesang und die frühe italienische Lyrik holten ihre Formen und Themen aus der Provence.

Um 1100 dichtet Guilhelm von Aquitanien seine ritterlichen Lieder. Nach ihm sind die bedeutendsten Bernard von Ventadour, Peire Raimon von Tou­louse und Bertrand de Born. Arnaut Daniel hat Pe­trarca beeinflusst.

Im Jahre 1229 endet der Albigenserkrieg, der die Un­abhängigkeit und das Kunstleben der Provence vernichtet. Am Hofe des Hohenstaufen Friedrich des Zweiten in Si­zilien sammeln sich die vertriebenen Provencalen, und hier im Bannkreis dieses großen deutschen Geistes wird die neue italienische Literatur geboren. Nicht in der sizilianischen Volkssprache, sondern in einem sonderbaren Idiom, einer künstlichen, von Provencalismen und Latinismen durchsetzten Sprache, deren Schöpfer vielleicht der hoch­begabte Kaiser selber war. Diese poetischen Spiele waren mehr als bloßer höfischer Zeitvertreib: denn hier erklang zuerst das Sonett, jene schönste Blüte am Baum der italie­nischen Dichtung. Allerdings war die Verwendung, die es fand, zuerst alles andere als eine dichterische: die Wei­fen und Ghibellinen benutzten es, um ihre Polemiken in Versen auszutragen.

Wie im 18. Jahrhundert das Französische, so war im 13. das Provencalische Hof- und Literatursprache. Und wie der preußische König Friedrich der Große nur fran­zösisch, so dichtete der englische König Richard Löwen­herz nur provencalisch. Auch der Mantuaner Sordello, der am Hof von Verona lebte, verschmähte seine Mutter­sprache. Ein Minnesänger in rein italienischer Sprache ist erst Guido Guinizelli (um 1270), dessen Dame aber nicht mehr Frau, Weib, Geliebte, sondern ein platonischer Begriff von Engel ist, wie Dantes Beatrice. Dante selbst nannte den Stil, der sich entwickelte und in dem sich die Elemente seiner Dichtung schon fanden, den dolce stil nuovo, den süßen neuen Stil.

Die religiöse Dichtung war vorangegangen. Der erste bedeutende Dichter in italienischer Sprache war der heilige Franz von Assisi, dessen Sonnengesang ein einziger Hymnus auf Gott und die Sonne, die Erde, Blume, Was­ser und Feuer ist, und der selbst den Tod als Bruder des Lebens begrüßt. Die Franziskaner trugen den Gesang durch ganz Italien, und 1258 sangen die Flagellanten schon Are eigenen schmerzlich süßen Lieder von Traum und Tag.

Der deutsche Minnesang war von Vaganten und fah­renden Sängern gepflegt und in Volksliedern von Mund zu Mund gegangen, ehe sich, unter dem romanischen Einfluss der Troubadoure, die deutschen Dichter seiner an­nahmen und die Frau als Geliebte und Gattin auf einen goldenen Thron setzten, wie man ihn auf mittelalterlichen Miniaturen der Madonna mit dem Jesuskinde weihte. Die ersten deutschen Liebeslieder waren so einfach, so herz­lich, so kunstlos und so künstlerisch wie dies:

Du bist min, ich bin din:
Des solt du gewis sin.
Du bist besitzen
In minem herzen;
Verloren ist das slüzzelin:
Du muost imme drinnen sin.

Von Österreich nahm der Minnesang seinen Anfang. Der von Kürenberg sang um 1150 das Lied vom Falken, den er sich mehr denn ein Jahr gezähmt und der ihm dann „in anderiu lant“ entflog. Die zarte Symbolik der Minne­sänger erinnert an chinesische Tuschzeichnungen.

Ein Spielmann, genannt der Spervogel (+ 1180), dichtete die ersten lehrhaften Sprüche und Fabeln, z. B. vom Wolf, der in ein Kloster ging und ein geistlich Leben führen wollte. Der „Klassiker der mittelalterlichen Spruch­dichtung“ ist Freidank.

Etwa von 1170 bis 1230 ritt Herr Walther von der Vogelweide durch die Welt, und mit ihm kam der Ge­sang, wurde zum erstenmal das deutsche Lied Klang und Laut. Will man den Legenden und dem, was er in seinen Liedern erzählt, historischen Glauben schenken, so kam er von Tirol, dort, wo die Berge das Eisacktal vom Him­mel abschließen, wo man den Himmel in der eigenen Brust suchen muss. Er trieb seinen mageren, schlecht genährten Klepper durchs Burgtor von Wien, und die Rit­ter neigten sich vor ihm. Im Bischofssitz von Passau er­klang sein Gelächter, das er dem Bischof wie eine Handvoll Haselnüsse an den tonsurierten Kopf warf. Dem heiligen Vater in Rom war er aus deutschem Herzen feindlich ge­sinnt: er fand, dass die Päpste sehr diesseitige römische Politik und Diplomatie trieben, der die deutschen Kaiser sich selten genug gewachsen zeigten. Er stand auf der Wartburg und sah hinab auf das thüringische und deutsche Land. Wie blühte der Frühling, wie sangen die Amseln!

Wir verstehen noch die Sprache, die Walther sang, auch ohne wissenschaftliche Bildung. Es ist die uralte Sprache unserer Natur und unseres Herzens:

Under der linden
An der beide,
Da unser zweier bette was,
Da muget ir vinden
Schöne beide
Gebrochen bluomen unde gras…
Vor dem walde in einem tal —
Vor dem walde in einem tal —
Tandaradei!
Schone sanc diu nahtegall…

Ein schönes Fräulein lächelte seitwärts, selbstvergessen. Da lächelte Walther von der Vogelweide. Er bückte sich und wand in Eile mit geschickten Fingern einen Kranz aus Butterblumen, die zwischen den Steinritzen auf dem Burghofe blühten, nahm den Kranz, sprang zu dem er­rötenden Mädchen, verneigte sich und sprach:

Nehmt, Fraue, diesen Kranz,
So zieret Ihr den Tanz
Mit schönen Blumen, die am Haupt Ihr tragt.

Und der alte Geiger, mit dem Totenkopf zum Tanz taktierend, strich den Bogen. Tod spielte zum Leben auf.

Der Ritter tanzte mit dem Fräulein. Sie hieß Maria wie die Mutter Gottes selber und war ihm Gottesmutter, Gottes­schwester, Gottestochter all in eins.

Mit Friedrich dem Zweiten ritt Walther von der Vogel­weide 1227 auf den Kreuzzug. Er hasste die Pfaffen und den falschen Gott in Rom. Er wollte den wahren Gott von Angesicht zu Angesicht sehen. Er sang den Kreuzfahrern das Kreuzlied.

In ihm war das All-Leben der Natur und der Zeit. Frühling war in ihm gewesen, als er auszog. Sommer in den Taten und Ereignissen des Mannesalters. Nun sah er Herbst und Einsamkeit, Elend und Bitternis überall. Die Nebelkrähen hingen in Schwärmen über dem deutschen Land. Und in Würzburg war es, wo er, den Blick auf den fließenden Main gerichtet, sein letztes Gebet dichtete: jene schönste Elegie deutscher Sprache:

Owe war {wohin) sint verswunden alliu miniu jär!
Ist mir min leben getroumet, oder ist war?

Im Lorenzgarten, vor der Pforte des neuen Münsters, wurde das Sterbliche von Walther von der Vogelweide 1230 bestattet. Die letzte Zeit vor seinem Tode hielt er sich von den Menschen fern: er stand stundenlang am Main und fütterte die Vögel und die Fische mit Brot­krumen. Und in seinem Testament soll er bestimmt ha­ben, dass aus seiner Hinterlassenschaft mehrere Säcke Körner zu kaufen seien und dass auf seinem Grabe die Vö­gel stets Körner und Wasser vorfinden sollten.

Noch im Tode wollte er seinem Namen Ehre machen: sein Grab noch sollte den Vögeln eine Weide sein. Lest seine Liebeslieder, ihr Liebenden! Klausner Schwermut, weise uns die Kapelle seiner Melancholie 1 Wo im kahlen Winter ein frierender Vogel hungrig an eure Fensterschei­ben pickt: gebt ihm zu fressen, gedenkt des Herrn von der Vogelweide! Solange deutsche Dichtung besteht, wird sein Name unvergessen sein.

Herr Walther von der Vogelweide
Swer des vergäbe, der taet mir leide !

So rief, um 1300, Hugo von Trimberg über sein Grab. Und doch war er vier Jahrhunderte lang so gut wie verges­sen, bis ihn um die Mitte des 18. Jahrhunderts Bodmer und Gleim nicht nur für unsere Literatur, sondern für unser Herz zu neuem Leben erweckten. Walther von der Vogel­weide: das ist die erste große Blüte des deutschen Liedes.

GOTISCHE MYSTIK

Das Nibelungenlied langte aus einer aufgehellten Zeit in eine mythische und heroische Vergangenheit zurück, so wie es die griechischen Dramatiker in ihren Dichtungen gemacht hatten. Im 13. Jahrhundert, da der „Nibelunge not“ aufgezeichnet wurde, war die Heidenzeit seit Hunder­ten von Jahren versunken und im ganzen Abendlande blühte die religiöse Dichtung in der Volkssprache und wuchs über die Theologie empor, die in starrem Latein weitergezüchtet wurde.

Die Blume der deutschen Mystik keimte zuerst in den Klöstern. Schwester Mechthild von Magdeburg (1212 bis 1294) schrieb ihr Buch vom fließenden Licht der Gott­heit: voll seliger Versunkenheit in Christo. In ihren Ek­stasen sah sie Jesus als schönen Jüngling („Schöner Jüng­ling, mich lüstet dein“) ihre Zelle betreten, er war ihr wie ein Bräutigam zur Braut, und ihre himmlischen Sprüche sind wie irdische Liebeslieder:

Ich stürbe gern aus Minne, könnt es mir geschehn;
Denn jener, den ich minne, den habe ich gesehn
Mit meinen lichten Augen in meiner Seele stehn.

Ihre Gottesminne (,,Eia, liebe Gottesminne, umhalse stets die Seele mein!“) galt ihr als oberstes Prinzip: ,,Dies Buch ist begonnen in der Minne, es soll auch enden in der Minne; denn es ist nichts so weise, nichts so heilig, noch so schön, noch so stark, noch also vollkommen als die Minne.“ Mechthild von Magde­burg ist trunken vor Askese. Ihr Geist kennt die Wollust des Fleisches. Jesus ist ihr zärtliches Gespiel und sie seine Tänzerin.

Meister Eckhart (1260—1327, gestorben in Köln), Mechthildas mystischer Bruder, als Ketzer verschrieen, verhält sich zu ihr wie ein Kauz oder Uhu zu einer Libelle. Ihr Leben und Dichten war ein Schweben und Ja-sagen, das seine ein tief in sich Beruhen und ein Entsagen. Er liebte das Leid um des Leides willen: jeder Schmerz war ihm eine Station zum Paradies. Er riss die Wunden, die in ihm verheilen oder verharschen wollten, künstlich wieder auf: dass nur sein Blut fließe. Aber er sagte auch: „Die kleinste Kraft in meiner Seele ist weiter als der weite Himmel.“ Seine Gedanken scheinen verschleiert, ja manche haben dunkle Kapuzen übers Haupt gezogen und sind unerkenn­bar. Sein Buch der göttlichen Tröstung ist ein Trostbuch für die, die am Tode und am Leben leiden und die an sich erfuhren, dass „die Wollust der Kreaturen ist gemenget mit Bitterkeit.“

Ein Trostbuch rechter Art will auch der „Ackermann aus Böhmen“ sein, den Johannes von Saaz um 1400 in die Welt schickte. Der Dichter kleidet seine Trostschrift in die Form eines Zwiegespräches zwischen einem Witwer und dem Tod. Der Witwer fordert vor Gericht (dem Got­tesgericht) sein Weib von dem Räuber und Mörder Tod zurück: „Schrecklicher Mörder aller Menschen, Ihr Tod, Euch ‚geflucht! Gott, der Euch schuf, hasse Euch; Unheils Häufung treffe Euch; Unglück hause bei Euch mit Macht; ganz entehret ü’r immer bleibet!“ so beginnt der Kläger seine Klage. Und der Tod antwortet: „Du fragst, wer wir sind: wir sind Gottes Hand, der Herr Tod, ein gerecht schaffender Mäher. Braune, rote, grüne, blaue, graue, gelbe und jeder Art, glänzende Blumen und Gras hauen wir nacheinander nieder, ihres Glanzes, ihrer Kraft und Vorzüge ungeachtet. Sieh, das heißt Gerechtigkeit.“ In immer verzweifelteren Ausbrüchen pocht der Mensch, aller Menschheit Abgesandter, an das Rätsel des Todes; der ihm sinnlos wie ein Mäher im Herbst unter den Men­schen zu hausen scheint, das Glück des Liebenden und die Tat des Künstlers, die Stellung des Königs nicht achtet, bis Gott selbst das Urteil spricht: „Kläger, habe du die Ehre I du Tod aber, habe den Sieg! jeder Mensch ist dem Tode sein Leben, den Leib der Erde, die Seele uns zu geben verpflichtet.“

Über Meister Eckhart, den kühnsten Denker vor Kant, ist die deutsche Mystik nicht hinausgekommen. Schüler Eckharts waren Johannes Tauler und Heinrich Suso (Seuse). Tauler erscheint in der praktischen Mystik seiner Predigten wie ein Vorläufer Luthers, Suso ist die Nachti­gall des lieben Gottes, ein Sänger süßer, verliebter Lieder für den Herrn der goldenen Erde und des blauen Himmels.

In Italien wie in Deutschland blüht im 10. Jahrhundert das Mysterienspiel. Im Mittelpunkt der altfranzösischen Legendenliteratur steht die Jungfrau Maria, die sogar Dieben ihr Handwerk verzeiht, wenn sie nur vor jedem Diebstahl ein Gebet an sie sprechen. Die Themen der Mysterienspiele finden sich im mittelalterlichen Frankreich wie überall. Die Passion, der Leidensweg des Herrn, wird dramatisiert, wobei der Teufel – die komische Person ist. Das berühmteste englische Moralitätenstück aus dem 14. Jahrhundert ist „Jedermann“ (Everyman), das Spiel vom Sterben des reichen Mannes, durch Hofmannsthals Bearbeitung bekannt.

Den deutschen Mystikern wesensverwandt ist Jan van Ruysbrock (1294 bis 1381), der erste große holländische Dichter in seiner „Geistlichen Hochzeit“. Gott liebt alle Kreatur „im Ausatmen des heiligen Geistes“. Er hält uns und wir ihn „liebend umhalst und umschlungen in wesent­licher Nacktheit“.

DANTE UND BOCCACCIO

Dantes Divina Comedia ist die kristallhafte Verkörpe­rung der katholischen Gedankenwelt des Mittelalters, ge­bunden in die bedingungslose Form und kreisend zwi­schen Himmel und Hölle. Die Erde aber sollte Boccaccio entdecken, der so an die barbarischen Prosaromane der sterbenden Antike anknüpfte, wie Dantes Strophen an den klassischen Virgil. Dante ist eine Vollendung, Boc­caccio ein Anfang. Natürlich hatte auch er seine Tradition und seine Vorläufer: die Gesta Romanorum, die Fabliaux, die bajuvarischen Erzählungen, die Cento Novelle. Aber erst in ihm scheint die Linie unverworren zu beginnen: es ist die Linie, die zur Reformation führt, zu Rabelais und Cervantes, zum barocken Roman und zur Erzählerkunst unserer Tage.

Der Franziskaner Giacomino von Verona ist der erste Dichter, der das Jenseits in den Mittelpunkt seiner Darstellung rückt und besonders im Ausmalen der Hölle sich nicht genug tun kann. Hier beginnt die Bahn, die in Dantes Comedia ihren Endpunkt findet. Dante Alighieri wurde 1265 in Florenz geboren, der Stadt, die er so geliebt und so gehasst hat. Ihm war die chauvinistisch-­politische Moral — Recht oder Unrecht: es ist mein Vater­land — nicht geläufig. Er wollte den Sieg der Idee und rief gegen seine eigene Vaterstadt Kaiser Heinrich den Sieben­ten herbei, in dem er den Träger überstaatlicher Tendenzen ahnte. Er wurde verbannt und starb in der Verbannung 1321, ohne den Tag noch erlebt zu haben, von dem er träumte: in der Kapelle S. Giovanni zu Florenz zum Dich­ter gekrönt zu werden.

Man muss sich darüber klar sein, dass das ptolemäische Weltsystem, das uns in Dantes göttlicher Komödie heute als Mythos entgegentritt, seinerzeit eine Realität war. Man hielt es für wirklich wahr, so wie etwa heute der Gebil­dete das Einsteinsche Weltbild betrachtet. Hölle, Fegefeuer, Paradies: die Fiktionen der Kirche galten ebenfalls als da­seiend, und nicht als Symbole. Dante spiegelte das da­malige Welt- und Zeitbild vollkommen. Er ist nur wenig von ihm abgewichen (z. B. darin, dass er das Fegefeuer aus der Mitte der Erde auf einen hohen Berg verlegt). Der Höllentrichter leitet schnurstracks zum Mittelpunkt der Erde, welcher auch Mittelpunkt des Weltalls ist, über den sich die neun Himmel wölben. Dante glaubt nicht an das, was er besingt; er weiß es. Er kennt keinen Zwiespalt zwischen Wissen und Glauben. Diese Hölle ist er durch­schritten, den Berg der Läuterung emporgeklommen, und das Paradies wird ihm zuteil: als Echo seiner sehnenden Seele, als die Gewissheit Gottes und der Güte. Der Mensch, der im Dies- und Jenseits strauchelt, bedarf der über­menschlichen Hilfe, der guten Geister, die ihn leiten und die Gott ihm schickt. Ein Heiliger (St. Bernhard), ein Dichter (Virgil) und die geliebte Frau (Beatrice), ein Engel und doch ein Mensch „unter grünem Mantel gekleidet in die Farbe lebendiger Flammenführen Dante. Die heilige Zahl 3, schon im indischen Weltbild verehrt und vom christlich-ptolemäischen Dogma (die heilige Dreieinigkeit) über­nommen, spielt eine große Rolle. Dreimaldrei Himmels­wölbungen gibt es, und aus dreimaldrei Stufen baut sich der Berg der Läuterung auf. Luzifer, der im Zentrum der Erde, am Ende des Höllentrichters thront, mit seinen drei scheußlichen Gesichtern, ist durchaus der Widerpart der heiligen Dreieinigkeit. In dreimaldreiunddreißig Gesänge teilt sich das ganze Gedicht. Und die Strophe ist ein Drei-Reim, die Terzine.

In dem aus Sonetten, Kanzonen und verbindender Prosa aufgebauten Gedicht „Das neue Leben“ hat Dante seiner Jugendgeliebten Piccarda Donati ein Denkmal ge­setzt. Die Prosa, der er in lateinischen Traktaten wie „Über die Volkssprache“ und „Über die Monarchie“ Tribut ge­zollt, gewinnt ihre erste Blüte in den „Blümlein des heili­gen Franziskus“, den Legenden um Franz von Assisi. Noch aber galt die lateinische Sprache als Sprache des wahrhaft Gebildeten. Ja, der Humanismus führte eine Er­neuerung der Antike herauf. Der Dichter Petrarca (1304 bis 1374) wurde in Rom auf dem Kapitol zum Dichter ge­krönt, nicht wegen seiner italienischen Dichtungen, die ihn unsterblich machen sollten, sondern wegen seiner latei­nischen Dichtung „Africa“, die den Scipio Africanus be­singt. Er hat die Epistel, die Biographie, den Dialog sti­listisch begründet. Sein herrliches Liederbuch in italieni­scher Sprache, Canzoniere, das dreihundert Sonette und einige Kanzonen, Madrigale usw. enthält, liebte er persön­lich gar nicht und nannte es geringschätzig rerum vulgarum fragmenta: vulgäres Zeug. Die Sonette galten Laura, die er am Karfreitag 1327 zum erstenmal in der Kirche Santa Chiara erblickte.

Um 1300 lebte Cecco Angiolieri, der verlumpte und verluderte Sohn eines Kaufmannes zu Siena. Er hat in über hundert Sonetten sein unseliges Zigeunerleben, seine Liebe zu Becchina, der schönen Schusterstochter, seine Spielwut, seine leere Kasse, seinen Autoritätshass besungen. Das Vater-Sohn-Problem ist nicht erst heute erfunden oder aktuell geworden. Angiolieri hat den wilden Hass gegen seinen Vater künstlerisch gestaltet. Auch vor Attacken gegen Dante ist er nicht zurückgeschreckt.

Giovanni Boccaccio (1313—1375), geboren in Paris, ein Halbfranzose, war ein geistvoller Kommentator des Pe­trarca und Dantes göttlicher Komödie. Von seiner mensch­lichen Komödie, dem Decameron, der klassischen italieni­schen Novellensammlung, sprach er in späteren Jahren als von einer Spielerei nur mit Verachtung. Er zog sich, geängstet von Höllenträumen, in die klösterliche Einsam­keit von Certaldo zurück.

Die Büßerstimmung findet man häufig im damaligen Italien. Katharina von Siena hat ihr in ihren Briefen den edelsten fraulichen Ausdruck gegeben.

Das parodistische Element wagte sich auch hervor, und der erste Dadaist, der Florentiner Barbier II Burchiello, parodierte mit seinem sonetto candocto, dem geschwänzten Sonett, Petrarca. Er reihte die sinnlosesten Assoziationen aneinander.

Boccaccio fand in Sacchetti, Poggio, Bandello, Masuccio („Novellino“) und Straparola („Lustige Nächte“) hochbegabte Epigonen. Französische Novellen im Stile des Boccaccio schrieben Antoine de la Sale, aus der Provence, der um 1400 Italien bereiste, der Ver­fasser der „Hundert neuen Novellen“ und den „Fünfzehn Freuden der Ehe“, und Marguerite, Königin von Navarra (+ 1549), die charmante Autorin des „Heptameron“, frivoler Erzählungen. — Boccaccios bedeutendster Schü­ler aber war ein Engländer. Geoffrey Chaucer reiste 1372 nach Italien. Diese Italienreise sollte die Wiege der englischen Dichtung werden. Chaucer machte die Bekannt­schaft Boccaccios und Petrarcas. Seine „Canterbury Tales“ (Erzählungen der Canterbury-Pilger) sind ohne Boccaccio nicht denkbar. Die gesamte englische Dichtung der kom­menden Zeit steht stofflich unter dem Einfluss der Italiener: man beachte die Quellen zu Shakespeares Dramen. Chau­cer verhalf auch der Allegorie zu Ansehen, die Rose und Distel, Spinne und Fliege zu allen möglichen mehr oder weniger geistvollen Symbolen erhebt.

Im Frankreich des 12. und 13. Jahrhunderts wurden die Fabliaux (eine Art Novellen) zum moralischen Zeitspiegel. Es geht munter in ihnen her. Rosenkränze werden in ihnen nicht gebetet, auch Heilige treten nicht auf, es seien denn sehr wunderliche Heilige, wie verhurte Mönche, oder Fabel­wesen, wie Ehemänner mit Hirschgeweih. Man darf in die­sen Geschichten Vorläufer des Decameron erblicken. Die Tierfabel kam auf. Aus dem großen Äsop wurde ein Äsopchen, ein „Ysopet“. Aus einem kleinen Fuchsmärchen der große Fuchsroman, der Roman de Renard, der unserem „Reineke Fuchs“ zum Vorbild diente. Der Fuchsroman ist politisch und tendenziös zu werten. Reineke Fuchs ist der aufkommende Bürger, der sich seiner Haut mit allerlei Listen zu wehren hat gegen die Fürsten (Löwe) und Herren vom Hofe (Wolf und Bär). — In Bestiarien wurden Fabel­tiere beschrieben. (Franz Blei hat einen späten Nachfahren dieser Bestiarien geliefert, als er die deutschen Dichter der Gegenwart in einem solchen zoologischen Lexikon ab­kanzelte.)

Auch in Spanien war die Dichtung weltlich geworden. Einer der ersten Prosadichter ist Don Juan Manuel (1282—1347), dessen „Graf Lucanor“ Eichendorff über­setzt hat. Es ist ein Anekdotenbuch, jeder Anekdote ist eine moralische Nutzanwendung angehängt. Ein sonder­barer Heiliger ist Juan Ruiz (um 1340). Sein Werk han­delt von der irdischen und himmlischen Liebe. Aber auch die himmlische Liebe ist recht irdisch. Ihre Symbole sind Don Amor und Donna Venus, und eine Nonne, die von der Kupplerin dem Erzpriester, d. h. Juan Ruiz, zugeführt wird. Das Werk ist typisch spanisch: das Christentum wird mit heidnischen Emblemen geschmückt, und Sinn und Sinnlichkeit gehen ineinander über, wie in Kastilien einem heißen Tage eine eiskalte Nacht unvermittelt folgt. Ruiz starb im Gefängnis, das über ihn wegen seiner Dichtungen vom Erzbischof von Toledo verhängt wurde. Wenig spä­ter zeigte sich die Kirche ihren unbotmäßigen Jüngern gegenüber nicht mehr so intolerant. Die entzückendsten und frivolsten spanischen Komödien sind von — Priestern gedichtet.

In deutschen Landen waren es besonders Österreich und Bayern, die die realistische Kunst der Erzählung pflegte.

Die bedeutendste Novelle des deutschen Mittelalters ist der „Meier Helmbrecht“, eine bayrische Dorfgeschichte von Wernher dem Gärtner (um 1240). Es ist eine Art Gegenstück zu Hartmanns „Heinrich“. Es spielt im Deutschland seiner Gegenwart. Ein Bauernbursche, der sich faul und hochmütig als Bauer zu schade dünkt, nach dem Beispiel der Raubritter Straßenräuber, ergriffen und gehenkt wird, ist der sehr unheldische Held dieses Bauernepos. Man wünschte gern, die damalige Literatur hätte mehr realistische Epen (Werke, Novellen, Erzählungen in Versen) dieser Art gezeitigt. Ein wenig bäuerliche Derb­heit, ein wenig Stallgeruch hätte den von Parfümen ver­wöhnten Nasen der Höflinge so übel nicht getan. Und die deutsche Dichtung um deutsche Dichtungen bereichert. Der bairische Ritter Neidhart von Reuenthal (+ 1245) ist aus diesem Gefühl heraus bei den Bauern in die Schule gegangen: um in seinen bäurischen Liedern den Ritter und Bauern zugleich einen Spiegel vorzuhalten.

„Die Fabeln, Novellen und Schwanke waren in der Pflege der Spielleute während des zehnten und elften Jahr­hunderts, und diese Kleindichtung bestand gewiss fort, als sich gegen 1100 die edleren und größeren Gattungen mehr in den Vordergrund der Literatur drängten. Für die Fabel brach die antike Tradition nie ganz ab. Die Novelle war von jeher international, sie war es im zehnten und elften Jahrhundert insbesondere durch die lateinische Poesie, die über ganz Europa Macht hatte. Im zwölften und dreizehn­ten Jahrhundert erhielt sie einen starken Zufluss in neuem Stoff aus orientalischen Quellen, wobei, gerade wie bei den Schriften des Aristoteles und den arabischen Philosophen, spanische und italienische Juden die Vermittlung übernah­men: indische Erzählungen, die einst ins Persische und dar­aus ins Arabische übertragen worden waren, gingen jetzt ins Hebräische und Lateinische und daraus in die Landes­sprachen über.“ (Wilhelm Scherer.)

Die Novelle ist aus dem Märchen, das Märchen aus dem Traum hervorgegangen. (In einigen Novellen des Decameron ist die Beziehung zwischen Novelle und Traum noch ganz deutlich: 6. Novelle des 4. Tages, 7. Novelle des 9. Tages.) Die Novelle darf an Charakter des Wunder­baren, Erstaunlichen nicht verlieren. Kobold, Elfe, Hexe, Dämon sind die bösen und guten Geister, die im unbewach­ten Traum aus der Tiefe der Menschenbrust steigen, und im Märchen zu einer neuen Wirklichkeit verdichtet wer­den. Was Kobold und Dämon im Märchen, das wird, von neuem sublimiert, in der Novelle zum Schicksal. Dieses Schicksal ist nichts anderes als die Ananke des griechischen Dramas. In der Tat ist die Novelle dem Drama ungleich näher verwandt als dem Roman, mit dem sie nur die äußere Form gemein hat. Nicht umsonst hat Shakespeare den Stoff zu vielen Dramen altitalienischen Novellen entnommen. Im Drama wie in der Novelle muss ein Menschenschicksal in einem Punkt kulminiert werden und sich himmlisch em­porschwingen oder sich höllenhaft abstürzen. Das muss in der Novelle noch ungleich konzentrierter geschehen als im Drama. Die Novelle braucht eine (oder mehrere) Pointen. Sie ist der Unterbau der Pyramide, die über Anekdote, Epi­gramm im Witz gipfelt. Eine Novelle muss sich in These und Antithese derart zuspitzen, dass sie, paradox gesagt, ein Witz ist. Um ein klassisches Beispiel dafür zu wählen: des Petronius Novelle „Die Witwe von Ephesus“. Der Witwe von Ephesus haben sie ihren von ihr innig geliebten Mann gehängt. Sie kommt nachts an den Galgen und bittet den Wächter, ihr den Gatten zur Bestattung freizu­geben. Erstes Spannungsmoment. Was wird geschehen? Der Wächter will ihr den Mann freigeben, trotz der Strafe, die ihm bevorsteht, wenn sie sich ihm dafür hingibt. — Der Leser hat diese Entwicklung geahnt. Der Leser muss in der Novelle immer den Weg ahnen, aber er darf ihn nicht wissen. Der Reiz der Ungewissheit muss bleiben. — Die Witwe gibt sich dem Soldaten hin, um den Leichnam zur Beerdigung zu erhalten. Der Soldat nimmt den Leich­nam vom Galgen. Kulmination und Peripetie: Sie lernt den Soldaten noch in der gleichen Nacht lieben, und um ihn vor Strafe zu schützen, hängen sie gemeinsam ihren Gatten wieder am Galgen in die Schlinge. Das Leben ist mächtiger als der Tod.

Diese Novelle ist das klassische Beispiel einer vollkom­men gebauten Novelle: alles ist in ihr in höchster Konzen­tration enthalten: das Märchenhafte, die Dämonie des Schicksals, und eine geradezu prachtvolle Peripetie. Petronius darf als der Vater der modernen Novelle gelten, die von Boccaccio auf ihren Gipfel geführt wurde, beson­ders im zehnten Buch des Decameron, in dem Boccaccio sein Thema: die Macht der Liebe von ihren primitivsten bis zu ihren höchsten Formen zu zeigen, gewaltig türmt und in den Novellen von Nathan und Mithridanes, Messer Gentile, Griselda das Evangelium der reinsten Menschen­liebe verkündet. Sie sind sämtlich genau so entwickelt und zur ersten geahnten, zur letzten überraschenden Peripetie (der Kulmination) geführt, wie die oben zitierte Novelle des Petronius. Um die Novelle von Messer Gentile (die 4. des 10. Buches) kurz zu skizzieren: Gentile liebt eine ver­heiratete Frau hoffnungslos. Sie stirbt. Um sie noch einmal zu sehen, geht er in die Grabkapelle, wie sie aufgebahrt liegt und berührt zärtlich ihre Brust. Erstes Spannungs­moment: Er fühlt ihr Herz leise unter der Brust schlagen. Sie war nur scheintot! Zweites Spannungsmoment: Was geschieht ? Er bringt sie in sein Haus, wo er sie, die jeder für tot hält, verbirgt. Drittes Spannungsmoment: Er lädt ihren Gatten und eine Anzahl Ritter ein, um ihnen das Liebste zu zeigen, was er besitzt. Er erzählt ihnen durch die Blume sein und seiner Geliebten Schicksal und fordert sie zu Richtern auf. Einstimmig geben sie der Meinung Ausdruck, dass dem Erwecker der Toten mit Recht die Frau gehöre. Ihr Gatte fällt den gleichen Spruch. Kulmi­nation: Messer Gentile lässt seine von ihm verborgen ge­haltene Geliebte kommen — und gibt sie dem eigenen Gatten zurück.

Orient

Die orientalische Literatur zwischen 1100 und 1300 zeigt dieselbe Konstellation wie die europäische: Ritter­tum, Minnesang, Mystik. Das Märchen von Sindbad dem Seefahrer hat eine Parallele in der deutschen Odyssee vom König Rother; aus dem 12. Jahrhundert ist „Antara“, der arabische Ritterroman; des Inders Jajadewas Gedichte haben dieselbe sinnliche Gott-Trunkenheit wie Susos Schriften; Dschelaleddin Rumi ist geistig den deutschen Mystikern, in seiner Formkunst den Troubadouren zeit­verwandt. Die chinesischen Ritterromane fallen in die­selbe Ära wie die deutsche höfische Epik, Su-tung-po singt seine Minnelieder in denselben Jahren wie Wilhelm von Aquitanien. Hafis ist ein Zeitgenosse Petrarcas und Boc­caccios. Im Zeitalter der deutschen Mystik hat sich die Geheimlehre der Kabbala und eine jüdische Dichtung ent­wickelt, die die Starre des Talmud durch eine tiefsinnige Märchendichtung und psalmodische Lyrik ausgleicht. Jehuda Halevi, der selbst schon zur Legende wurde, dich­tet um 1100 seine Zionslieder: „Mensch, schüttle ab die Welt wie der Vogel den Nachttau von seinem Gefieder.“ Jehuda Halevi war ein Spanier; im maurischen Spanien aber soll die provencalische Dichtung ihre Wiege gehabt haben. Das kabbalistische Buch Sohar entstand in den gleichen Jahren wie die Divina Comedia. Es handelt sich in all diesen Fällen nicht um gegenseitige Beeinflussungen, son­dern um den Geist einer Zeit, der über die Grenzen aller Länder und Völkereigenheiten hinweg das Schaffen der dichtenden Zeitgenossen, die voneinander nichts wissen, geheimnisvoll zu einer großen Einheit bindet.

Zwischen Ost und West geht ewig die Woge hin und her. Mykenä erzählt von einer semitischen Wanderung;

und die Fahrt der Argonauten war ein Zug ins Morgen­land. Die Perser überschwemmten Griechenland, und Alexander der Große eroberte Persien. Die Mannen Karls des Großen kämpften gegen die Mauren in der Provence, und die Kreuzfahrer zogen nach Syrien. — Arabische Philosophie war längst in der abendländischen aufgesogen worden. Nun brachten die kreuzfahrenden Ritter auch arabische Dichtung nach dem Westen.

Es ist kein Zufall, dass die erste Sammlung arabischer Lieder den Titel „Hamasa“, Tapferkeit, führt. Tapferkeit gilt als die oberste arabische Tugend. Denn der Araber führt ständig Krieg. Seine Begabung ist politisch-imperia­listisch. Reicher Handel blüht schon früh. Man erinnere sich, dass auch Mohammed ein Kaufmann war — und ein Krieger wurde. Er kann sich ein Leben ohne Krieg nicht denken. Auch wenn er Kultur bringt, bringt er sie mit dem Schwert. Er überredet mit Dolch und Messer und streichelt mit der Lanze. Die dichterischen Symbole sind überwiegend kriegerische Symbole. Selbst wenn er die Geliebte besingt, weiht er ihrer Schönheit militärische Epitheta. Die Augen glänzen wie Lanzenspitzen. Sie ist flinker als das Kriegsross. Ihre Brüste sind zwei Schilde. Und ihre Zähne stoßen aufeinander wie blitzende Schwer­ter. Auch Mohammed (571632 n. Chr.), der große Prophet, ist ein großer Krieger. Er ruft in seinen Koran-Suren zum heiligen Krieg. „Bestreitet für Gott, welche sind wider Gott!“ Und er verspricht dem Helden, der in seinem Dienst fällt, das Paradies. Mohammed war auch ein großer Dichter. In der 53. Sure beschreibt er so die himmlische Eriseinung, die ihm zuteil wurde:

Nicht andres ist es als eine Offenbarung, offenbar,
Es hat ihn wissend gemacht der Starke, Streitbare,

Der Mächtige, da ist er emporgefahren,
Und ward am nächsten Himmel sichtbar.
Da kam er näher und ließ sich herab,
Auf Weite zweier Bogenschüsse oder näher,
Und offenbarte seinem Knechte ein Offenbaren.
Nicht hat erlogen das Herz, was es erfahren.
Wollt ihr ihm absprechen, was er gesehen?
Sah er es einmal doch schon niedersteigen
Bei dem Sidrabaum des Endes,
Woselbst der Garten ist des Aufenthalts.
Als den Baum bedeckte Bedeckung,
Nicht wandte sich das Auge da, noch wich es,
Fürwahr, da hat er von den Wundern seines Herrn
das größte gesehen.

Das Dasein Mohammeds wird zur Legende. In der Lyrik tönt oft, so bei Mutamali, das Nomadenmotiv an. Die Geliebte fragt den Jüngling:

Hast du dich der Antilope
In der Wüste zugeteilt,
Und dein zahmes Reh vergessen,
Das in deiner Heimat weilt?

Abu Nowas besingt in süßen Reimen die Knabenliebe, um im späten Alter, als Schnee auf seinen Scheitel fiel, sein leichtes Leben abzuschwören. Hariri(+1121) erfindet die Makame: gereimte Prosa, die sich um Abu Seid schlingt, einen Schalksnarren, der „eine Schlange — stets lauernd neuem Fange — und wechselnd Haut um Haut“. Unerschöpf­lich ist der Reichtum an Märchen. „Tausend und eine Nacht“ bilden noch heute das Entzücken der Jugend. Wer ist nicht mit Sindbad, dem Seefahrer, gereist? Wer hat nicht mit Aladdin an die Räuberhöhle gepocht? Der Erwachsene sollte sich des Zaubers seiner Jugend erinnern und einmal die große, unkastrierte Ausgabe sich vornehmen. Er wird himmlische und höllische Entdeckungen machen. Denn von Himmel und Hölle, allen Listen, Lüsten und Lastern, allen Tugenden weiß Schahrazad ihrem Gatten in den tausend Nächten zu erzählen. Ein be­rühmter Roman ist Antara (12. Jahrh.). Sein Held ist ein Ritter, der manche Ähnlichkeit mit Gilgamesch aufweist. Die meisten Motive, die sich in den Ritterromanen der Spanier finden, klingen auch hier an. Mutamid (11. Jahr­hundert), der maurische Fürst von Sevilla, dichtet in der afrikanischen Gefangenschaft seine ergreifenden Hymnen. Die Kette, mit der er gefesselt ist, singt ihm ihre Lieder, wenn sie klirrt. Nach dem Untergang des Maurentums wird der arabisch-semitische Symbol- und Sprachschatz von den Türken übernommen, die wenig Originales ge­leistet haben und im persischen (der Lyriker Baki) und arabischen Fahrwasser schwimmen. Abu Seid taucht als Nasreddin und türkischer Eulenspiegel auf.

Mehemed Tewfik (19. Jahrh.) gibt seinen Schwänken eine amüsante Form. Die Dame Hallide Edib Hanym (20. Jahrh.), die dem Harem entspringt, schreibt moderne Romane. Ihr assistiert JakubKadri, der sich mit sozialen und Freudschen Problemen herumschlägt.

Die persische Literatur des Mittelalters reicht in ihrer Schönheit und Tiefe an die größten Leistungen aller Zeiten heran.

Die Heldensagen einer großen Vergangenheit sammelte und bearbeitete Firdusi (940—1020) im „Schah-nameh“, dem Königsbuch. 60000 Doppelverse enthält es, und über siebzig Jahre war Firdusi alt, als er es beendete. Statt des ausbedungenen Honorars von 60000 Goldstücken sendet ihm der Sultan Mahumed 60000 Silberstücke. Firdusi, der gerade im Bade sitzt, als der Königsbote ihn trifft, ist empört über den Wortbruch des Fürsten, verteilt die Silberlinge unter dem Boten, dem Bademeister und einem Bierwirt und schickt dem Sultan einen Absagebrief in Versen.

Mahumed wurde schließlich von seinem Unrecht über­zeugt. Er sandte die versprochenen 60000 Goldgulden mit einer Kamelkarawane. Sie begegnete dem Leichenzug Firdusis.

Nizami (f 1180) dichtet Liebesepen und jenes Gleich­nis vom toten verwesenden Hund, vor dem sich alle, die vorübergehen, ekeln. Nur Jesus bleibt stehen und bricht über die unversehrte Schönheit seiner perlenweißen Zähne in Entzücken aus. Goethe hat das Gedicht in den An­merkungen zum Westöstlichen Diwan übersetzt. In den Versen des Derwisches Dschelaleddin Rumi glauben wir manchmal Klänge aus Stefan Georges „Stern des Bundes“ zu vernehmen:

Ich hin der Sonnenstaub, ich bin der Sonnenball.
Zum Staube sag ich: bleibe! und zu der Sonn: entwall!
Ich bin der Morgenschimmer, ich bin der Abendhauch,
Ich bin des Haines Säuseln, des Meeres Wogenschwall.
Ich bin der Mast, das Steuer, der Steuermann, das Schiff.
Ich bin, woran es scheitert, die Klippe von Korall.
Ich bin der Hauch der Flöte, ich bin der Menschen Geist.
Ich bin der Funken im Steine, der Goldblick im Metall.
Ich bin der Verse Kette, ich bin der Welten Ring,
Der Schöpfung Stufenleiter, das Steigen und der Fall.

1123 starb Omar Khayyam (Khayyam bedeutet Zelt­dächer), der durch Fitzgeralds englische Nachdichtung seines Rubaijat in der Schätzung Westeuropas zu einem der berühmtesten östlichen Dichter geworden ist. während man ihn vorher nur als mathematische oder lyrische Kuriosität zu schätzen wusste. Das Rubaijat, eine Samm­lung Vierzeiler, deren jeder für sich Phrase und Para­phrase, Ethos und Symbol bedeutet, ist nicht von Omar selbst, sondern von Hörern und Schülern, in deren Kreise er die Vierzeiler improvisierte, niedergeschrieben worden. Er besingt die Liebe, den Wein, die Vergänglichkeit in ebenso einfachen wie tiefen Epigrammen.

Der Mond wird oft noch über den Syringen
Der Schwermut blasse Kerken nachts entzünden,
Gleich einem Diener dir den Leuchter bringen —
Er wird dich suchen und dich nicht mehr finden…

Saadis (1184—1281) „Rosengarten“, eine Sammlung moralischer Parabeln und Sprüche, ist von Dr. Rosen neu verdeutscht worden.

Persiens größter Lyriker ist Hafis (f 1389), den Deut­schen durch Goethes „Westöstlichen Diwan“ schon ver­traut. Mohammed Schemseddin war ein Priester dessen, dem er seinen Namen und Beinamen verdankt. Hafis, das heißt: Bewahrer des Koran. Aber er hat uns noch Besseres bewahrt als das Andenken seiner ziemlich wein­seligen Priesterschaft: er hat uns in unsterblich leicht und schweren Liedern den Gesang des Vogels Bülbül, der aus seiner Seele sang, aufgefangen.

In welcher Sprache ich auch schriebe,
Persisch und türkisch gilt mir gleich.
Ein Himmel wölbt sich über jedem Reich,
Und Liebe reimt sich überall auf Liebe.

Er dachte tief. Aber er flog in schwebenden Versen hoch, so hoch, dass er den Flug neben Sappho, Catull, Li-tai-pe wohl wagen darf.

Das persische Märchenbuch ist das Tuti-nameh, das Papageienbuch. Ein Papagei erzählt einer jungen Frau eine Geschichte nach der anderen und fesselt sie so, dass sie den beabsichtigten Ehebruch unterlässt.

Im Mittelpunkt des persischen Dramas steht Hussein, der heilige Kalif, der nicht im Kampf gefallen, sondern von Allah entführt wurde und, wie Barbarossa, einmal wiederkehren und das neue persische Weltreich gründen wird. In Karawansereien werden die Legendenspiele dar­gestellt. Die Bühne ist ein kahler Block, auf dem die Schau­spieler ohne jede Dekoration mit Würde und Pathos rezitieren.

Sechstes Kapitel
RENAISSANCE UND REFORMATION
UNTERGANG DES RITTERTUMS

In der Lyrik der Renaissance wird die ritterliche Form starr. Blass schimmert noch der strophische Kosmos der Troubadoure nach, in Wiederholungen Petrarcas, der ihre letzte Verdichtung und Vollendung war. Das ritterliche Epos wird zu romantischen, allegorischen und burlesken Gedichten und Romanen: „Rasender Roland“, „Theuer-dank“ und „Don Quichote“ bedeuten drei Wege der Auf­lösung, einen dreifachen Abschied von der Welt des Rit­tertums. Satire, Ironie und Skepsis flattern auf, wie Fleder­mäuse, die im Gewinkel der gotischen Dome geschlafen haben. Germanien wendet sich von Rom ab; nicht nur im Religiösen, sondern auch im Dichterischen protestiert der Norden. Die nationalen Kräfte erwachen. Wieder einmal rüttelt die Welt an ihren Grenzen, und diese Namen stehen als Beginn: Columbus und Gutenberg, Luther und Bacon.

ROMANISCHE RENAISSANCE

In Florenz, dem Brennpunkt der italienischen Früh­renaissance, am Hofe des Lorenzo von Medici, der selbst sich in allen Dichtarten als Dichter versuchte, wirkte Poliziano, der Autor des ersten italienischen Dramas „Orpheus“. Luca und Luigi Pulci travestieren in ihren Rittergedichten die Karlsepik. Dem Hof von Ferrara wid­mete Bojardo (1434—1494) sein Epos vom „verliebten Roland“. Die italienische Sprache befestigt sich immer mehr und beginnt schon in Klassizität zu erstarren. Lodovico Ariosto (1474—1533) gibt dem „Verliebten Roland“ eine Fortsetzung: den „Rasenden Roland“. Es ist das rasende Leben an sich, das ritterliche und verliebte Abenteuer, das glorifiziert wird; alles ist Vordergrund, klar, eindeutig. Von Hintergrund und symbolischer Be­deutung keine Spur. Der Kondottiere ist der wahre Held, der Genuss das einzige Gesetz, die Liebe die einzige Göt­tin. Sie inspiriert die Stegreifkomödie. Arlechino und Pulcinella treten ihren Triumphzug durch die Welt an. Der Pessimist Niccolo Machiavelli (1469—1527) schrieb das Lustspiel der Renaissance, die Mandragola, über dem als Motto wie über seinen politischen Schriften stehen könnte: „Der Mensch ist schlecht!“ In seinem „Buch vom Fürsten“ wandelt sich der rasende Roland in den rasenden Cesare Borgia, den Gewalt- und Übermenschen, dem sich die anderen, die Untermenschen, zu beugen haben. Denn diese sind seinetwegen da. Die Amoralität des Zeitalters, gegen die Savonar ola vergeblich gewettert hat, tritt noch stärker in Pietro Aretino (1492—1556) hervor, dem er­sten Pamphletisten und Journalisten. Er ist unter anderem der Verfasser der sechzehn schamlosen Sonette zu den „Posizioni“, den ebenso schamlosen Zeichnungen von Julio Romano.

Zu den erlauchtesten Lyrikern der Zeit ist Michel­angelo (1475—1564) zu rechnen in seinen Sonetten an den schönen Cavalieri und an die Dichterin Vittoria Colonna. Er weint, er brennt, er verzehrt sich, und sein Herz nährt sich von seinen Leiden.

Die Lyrik des Cinquecento steht unter dem Stern Petrar­cas. Doch auch das Lehrgedicht macht sich wie in der ersten italienischen Epoche breit: die Syphilis wie die Seidenrau­penzucht werden gleichermaßen langweilig abgehaspelt.

Am Ende der Renaissance steht der nervöse sensible Torquato Tasso (1544—1595), der nicht nur an der Um­welt, sondern auch an sich selbst zu zweifeln beginnt und sich in seiner Gewissensnot von der Inquisition auf seine „Rechtgläubigkeit“ prüfen lässt. Gegen seinen Willen wird sein Epos „Das befreite Jerusalem“ (von Tassoni im „Ge­raubten Kübel“ parodiert) veröffentlicht, dessen Schönheit auf einzelnen Idyllen und lyrischen Stellen beruht, und das als Ganzes eine recht verunglückte Komposition darstellt. Mit mehr Glück hat er sein Thema in dem dramatischen Schäfergedicht Aminta gelöst.

Piaton, Aristoteles und Kabbala waren die Grundlagen der Renaissance-Philosophie, deren Häupter Mar silio Ficino und Pico da Mirandola sind. Im Jahre 1600 wird in Rom der Pantheist Giordano Bruno verbrannt, der Verfasser der „Vertreibung der triumphierenden Bestie“, des satirischen Dialogs „Gastmahl am Aschermittwoch“, der Komödie „Der Lichtzieher“, einer Schrift zur Vertei­digung des kopernikanischen Weltsystems und pantheistischer Sonette. Giordano Bruno führte ein gehetztes Leben, das ihn durch halb Europa brachte. In Genf stritt er mit den Kalvinisten, in Paris hielt er philosophische Vorlesun­gen, er kam nach London, Wittenberg, Prag, Helmstedt, Frankfurt am Main und Padua. In Venedig wurde er von der Inquisition festgenommen, sieben Jahre gefangen ge­halten und dann hingerichtet; als ob geistige Wetterstürze geistlich gebannt werden könnten.

Der erste große Lyriker des mittelalterlichen Frankreich wurde ein Vagant und Vagabund, ein Dieb, Strolch und (vielleicht sogar) Mörder: Francois Villon (um 1450) ein strahlender, schwelender, höllenhafter, himmlischer Mensch. Der in seinem Leben vielleicht kein wahres Wort sprach: und dessen Dichtung wahrer und tiefer als alles, was Monsieur Boileau oder Monsieur Ronsard je an den Tag gebracht. Im Gefängnis hat er die unsterbliche „Bal­lade der Gehenkten“ gedichtet, als er erwartete, mit seinen Kumpanen gehenkt zu werden.

Ihr Menschenbrüder, die ihr nach uns lebt,
haßt euer Herz nicht gegen uns verhärten,
Denn alles Mitgefühl, das ihr uns gebt,
Wird Gott dereinst euch um so höher werten.

 Bekannter ist seine „Ballade vom angenehmen Leben“, mit dem Refrain: Nur wer im Wohlstand lebt, lebt angenehm. Vil­lon, ein geistiger Bruder Johann Christian Günthers, hat die Dunkelheiten seines Lebens in leuchtende Gedichte ge­bannt:

Ohne Heimat in der Fremde
Bin ich ganz auf mich gestellt,
Und mein Herze und mein Hemde
Sind mein alles auf der Welt.

.Um ein Lächeln leichten Mundes
Geh ich schwärmend in den Tod.
Mit den Brüdern meines Bundes
Sauf ich bis zum Morgenrot.

Schwäre hat den Leib zerfressen.
Sonne selbst hob ich verspielt —
Über allem unvergessen
Schwebt die Seele, welche fühlt.

Seine beiden „Testamente“ enthalten Legate, die (in mitreißenden Versen) für die Fähigkeit ihres Spenders zu hintergründiger Satire zeugen. Man soll nicht überschla­gen, dass Villons ewige Verse sehr zeitgebunden entstanden sind: als wüste Pamphlete. Seine Grabschrift hat er sich selbst geschrieben:

Ich bin Franzose, was mich bitter kränkt,
Geboren in Paris, das bei Pontoise liegt,
An einem klafterlangen Strick gehängt,
Und spür am Hals, wie schwer mein Hintern wiegt.

Die „schöne Seilerin aus Lyon“ Louize Labe (1526 bis 15 66) ist die Dichterin von Elegien, die sie selbst kom­ponierte und vortrug, und von lieblichen und schamhaft schmerzlichen Sonetten. Eines von ihnen lautet, in Bindings Übertragung:

O braune Augen, Blicke abgewendet,
O heiße Seufzer, 0 vergossene Tränen,
O dunkle Nächte hingebracht in Sehnen,
O lichte Tage nutzlos hinverschwendet;

O Traurigkeit, 0 endloses Begehren,
O Stunden die vertan, wehes Entsetzen,
O tausend Tode rings in tausend Netzen,
O schlimmere Qualen noch mich zu verzehren.

O Lächeln, Stirn, Haar, Hände — mich verrückend;
O Stimme, Laute, Geige — mich berückend:
So viele Flammen für ein schmelzend Weib!

Dich klag ich an, der du die Feuer fachtest,
Mit Brand und Brand mir nach dem Herzen trachtest:
Kein Funke fiel davon auf deinen Leib.

Im 16. Jahrhundert taten sich sieben Dichter zu einem Bund zur Erneuerung der französischen Kultur zusammen, der sich „Die Plejade“ nannte. Ihr Hauptstern war Pierre Ronsard (1524—1585), der in der „Franciade“ Frank­reich ein Nationalepos schenken wollte, der Dias würdig-Was ihm nicht geglückt ist.

Auf eigenen derben Füßen steht Francis Rabelais (1483—1553) mit seinem „Gargantua und Pantagruel“

Der Weltwanderer Gargantua ist ein riesiger Fresser und Säufer, sein Sohn Pantagruel besucht die Universität Paris. Beider Erlebnisse sind konkav und konvex gespiegelte Ab­bilder des damaligen Frankreich. Derb, zynisch, wild, un­sentimental und lebendiger als das Leben brüllt und speit Rabelais seine Satiren von sich.

Englisches und jüdisches Blut hat Michel de Mon­taigne in sich, der im Jahre 1580 seine Essays veröffent­licht, diese Apotheose der Skepsis. Er glaubt nur an eines: an die Moral. Gerade diese wird am meisten von Pierre de Brantome bezweifelt, dem Verfasser der anstößigen „Lebensgeschichten der erlauchten und der galanten Da­men“.

Portugal war zu seiner Blütezeit das Land der Ent­deckungen zur See. Indien spülte ihm der Ozean wie eine kostbare Perle in den Schoß. Von den Fahrten und Kämp­fen zur See, von den indischen Abenteuern handeln die portugiesischen Epen, vor allem die „Lusiaden“ des Camoens, der, mit Friedrich Schlegel zu reden, „uns mit Recht statt vieler anderer Dichter und einer ganzen Literatur gelten kann“, so leicht, so bunt, so üppig ist sein Werk. Ihm voran gehen Gil Vicente (1470—1536), der Komödien­schreiber, Goldschmied von Beruf, der aus dem ersten Golde, das aus Indien kam, die berühmte Monstranz von Beiern stanzte — und Sa de Miranda (1495—1558), der Dichter von Sonetten, Eklogen und pastoralen Dramen. Luiz de Camoens (etwa 1525—1580) war ein leiden­schaftlicher Verfechter der Größe seines Vaterlandes mit Degen und Feder. Er sollte den Niedergang noch erleben. Von seinen Irrfahrten nach Indien rettete er nichts als das Manuskript seiner „Lusiaden“ und die Liebe zu der schö­nen Mulattin Luisa Barbara. Der König setzte ihm 1572 ein Jahresgehalt von 75 Mark auf drei Jahre aus. Als die „Lusiaden“ erschienen, das Epos der kriegerischen und geistigen Größe Portugals, das schönste Geschenk, das je einem Volk als Volks dargebracht wurde, kümmerte sich kein Mensch darum. Als er 15 80 starb, wurde er ohne Sarg und ohne Leichentuch begraben, da er nichts, nicht einmal einen Fetzen Leinen, sein eigen nannte. Er hatte nur sein Exemplar der „Lusiaden“ bei sich, das er dem Priester ver­machte, der ihm das Sakrament gab. Auch als Lyriker hat Camoens Unvergängliches geleistet.

DEUTSCHLAND: VOLK UND REFORMATION

Während die von Walther, Gottfrid usw. geschaffene Kunstdichtung entartete, das heißt: im Konventionellen erstarrte, erlebte die deutsche Volksdichtung, das Volks­lied und das Märchen, im 14., 15. und 16. Jahrhundert ihre üppigste Entfaltung. Die schönsten der von Herder, Ar­nim und Brentano, Erk und Böhme später aufgezeichneten Volksliedersind damals entstanden. Die Dichter der von den Gebrüdern Grimm gesammelten Kinder- und Haus­märchen wandelten als Landsknechte, Gumpelmänner, Va­gabunden und Gott weiß was durch die deutschen Lande. Ihnen waren Tier und Blume, Berg und Teich wie Bruder und Schwester vertraut. Sie hatten kein ander Bett als die Erde, keine andere Decke als die Sternendecke des Him­mels. Ein verlassener Ameisenhaufen war ihr Kopfkissen. Eichhörnchen hüteten ihren Schlaf, und der war voll von Träumen wie ein Kirschbaum im Juni voll von Kirschen. Da gaben sich der Froschkönig, die Bremer Stadtmusikan­ten, der Teufel mit den drei goldenen Haaren, der Räuber­hauptmann, Frau Holle, Daumerling, Schneewittchen, Dok­tor Allwissend, das kluge Schneiderlein, der Vogel Greif und viele andere wunderliche und seltsame Wesen ihr heimliches Stelldichein. Und der Vogel Greif schnaufte: „Ich rieche, rieche Menschenfleisch…“, aber dann ließ er sich doch von seiner Frau übertölpeln (wie listig sind die Frauen, wenn sie lügen!). Die neidische und eitle Königin befragte den Spiegel an der Wand: Spieglein, Spieglein an der Wand, wer ist die schönste im ganzen Land ? Und der Spiegel antwortete: Frau Königin, Ihr seid die schönste hier, Aber Sneewittchen über den Bergen bei den sieben Zwergen ist noch tausendmal schöner als Ihr.

Auf einem Lindenbaum saß ein Vogel, der sang in einem fort: Kywitt, kywitt, wat vorn schöön Vagel bün ick … Aber dieser Vogel war kein richtiger Vogel. Es war ein Mensch, der sich nach seinem Tod in einen Vogel verwan­delt hatte. Denn wir Menschen sterben nicht. Das Volks­lied und das Volksmärchen lässt unsere Seele wandern. Vo­gel und Blume können wir werden: ja Blume auf unserem eigenen Grabe, dann kommt wohl die Geliebte, begießt uns mit Tränen, oder sie pflückt und drückt uns, Veilchen oder Lilie,, an den Busen. Sind wir aber böse, so werden wir verflucht und verzaubert in Werwölfe. Im Volkslied werden die Urmythen der Menschheit, die Urmythen der Kreatur wieder lebendig. Die Wurzeln von Märchen und Volkslied gehen tief in die Vorzeit zurück, da des Menschen Frömmigkeit vom Diesseits, seine Augen von Sonne, Him­mel und der weiten, weiten Welt ganz erfüllt waren. Ihm war der Tod nur eine andere Art des Lebens. Verwandlung. Eine Tür fällt ins Schloss, und eine andere geht auf. Auf Tag folgt Nacht, aber wieder Tag. Er war nicht zer­rissen in Leib und Seele. Die waren eins. Die Märchen und Lieder sind so bunt wie die Natur selbst. Wie die Sonne über Gerechte und Ungerechte scheint, so fühlt der Dich­ter mit allen seinen Kreaturen, auch den erbärmlichsten, irgendein armseliger Straßenräuber (der arme Schwarten­hals) steht ihm so nahe wie die zwei Königskinder, die zueinander nicht kommen konnten, „das Wasser war viel zu tief“. Goethe und ein gut Teil der neuhochdeutschen Poesie sind ohne das deutsche Volkslied, Volksmärchen, Volks­epos nicht zu denken. Ungezählte anonyme Autoren schu­fen die Tradition der deutschen Literatur, auf der die kom­menden weiterbauten. Im 14. bis 16. Jahrhundert wurde der Grundstock gelegt zu jenem Gebäude des 18. Jahr­hunderts voll vollendeter Klassizität, das den Namen Goethe tragen sollte. Aber auch Matthias Claudius, Clemens Brentano, Eichendorff, Heine haben mit den Bausteinen gearbeitet, die jene bescheidenen Männer schichteten. Viel­leicht sind ihre Werke der lauterste Ausdruck des deutschen Kunstwillens und des deutschen Geistes, der dann am tief­sten ist, wenn er aus dem Unbewussten steigt, dann am reinsten, wenn er aus den dunkelsten Quellen schöpft. Diese Dichter ohne Namen tragen den Himmel in ihren Händen, aber sie stehen mit beiden Beinen fest auf der Erde.

Die Entwicklung des Menschengeschlechtes geht in Wellenbewegungen vor sich, wobei Wellenberg und Wel­lental einander folgen und der Scheitelpunkt des Wellen­berges sich nur langsam erhöht. Mit Walther von der Vo­gelweide, Gottfrid von Straßburg, Wolfram von Eschen­bach und dem Nibelungenliede hatte die junge deutsche Dichtung eine Höhe erreicht, von der sie bald wieder ab­stürzen sollte. Das Rittertum zerfiel und mit dem Ritter­tum die Ritterpoesie. Teils artete sie in allegorische Spiele­rei, teils in aufgeblasene Geckerei aus. Die Dichtung floh barfüßig und barhäuptig auf die Landstraße und fristete im Munde der Fahrenden von Dorf zu Dorf, von Haus zu Haus ihr Leben. Ins 15. und 16. Jahrhundert fällt die Blüte­zeit des deutschen Volksliedes. Zuweilen nahm sie ein Klo­ster auf. Dann sangen die Nonnen ein Lied, wie das geist­liche Trinklied der Nonnen am Niederrhein:

Laßt uns singen undfröhlich sein
In den Rosen
Mit Jesus und den Freunden sein,
Wer weiß, wie lange wir hie sollen sein
In den Rosen.

Setzt das Gläschen an den Mund
In den Rosen.
Und trinkt es aus bis auf den Grund,
Ihr findet den heiligen Geist zur Stund
In den Rosen…

Zuweilen wieder fand die Poesie einen wohltätigen Unterschlupf bei braven Bürgersleuten. Das Bürgertum war im Aufstieg begriffen. Es gab wohlhabende Bürger, deren Söhne sich das Dichten leisten konnten. Sie meinten, die Dichtung würde sich hinter dem Ofen, in der Wärme, in dem Dunst satter Behäbigkeit recht wohl fühlen. Sie stopften ihr den Magen mit allerlei guten Dingen, aber sie taten des Guten zuviel, und die Poesie wurde dick und plump wie ihre braven Frauen. Von der graziösen Hand­habung der Sprache durch Meister wie Gottfrid oder Wal­ter blieb nicht viel übrig. Der Rhythmus fiel auseinander — was Hebung, was Senkung —, man zählte einfach die Silben zusammen. Aus dem tönenden Minnesang wurde ein tönerner Meistergesang. Der Tiroler Oswald v. Wol­kenstein (+ 1445), ein „weitbereister“ Mann, der als aufrechter Ritter oder abenteuernder Ruderknecht oder Liebhaber von Edelfräulein und Bauerndirnen immer eines verstand: ein untadeliger Gentleman zu sein, versuchte noch einmal in seinen klangvoll und inhaltlich und rhythmisch kühnen Gedichten den ritterlichen Pegasus aufzuzäumen. Er brach unter ihm zusammen; seine Zeitgenossen nahmen das Zaumzeug und schnitten die Flügel von dem ver­endenden Tier. Sie klebten sie ihren schwerfälligen Dorf- und Stadtgäulen an und bildeten sich nun ein, sie würden fliegen. Die ritterliche Rüstung schepperte als viel zu groß um ihre dürren Glieder. Auch wagten sie, ihrer Unzulänglichkeit irgendwie bewusst, schon nicht mehr einzeln als Individualisten aufzutreten. Sie dichteten kollektiv gleich in ganzen Gruppen, Gilden und Vereinen. Sie imitierten die Form ohne den Geist. Diese Form ist lehr-und lernbar. Man wird, wie beim Handwerk, erst Dichter­lehrling, dann Dichtergeselle, dann Dichtermeister. Wobei Dichter- und Bäckermeister oft dasselbe sind. Aber die Brote geraten ihnen besser als die Gedichte. In den Meister­singerschulen wurde nach der Tabulatur das Dichter-Abc gelehrt. Um 1450 wird die Buchdruckerkunst erfunden. Um 1450 wurde die erste Meistersinger schule in Augsburg gegründet. Wenige Jahre später finden sie sich in fast allen größeren Städten. Sie fechten Wettkämpfe miteinander aus. Sie überbieten sich in der Erfindung verschrobener und gekünstelter Versmaße.

Der Vollender und Überwinder des Meistersanges ist Hans Sachs, geboren 1494 m Nürnberg, das eine der be­rühmtesten Meistersingerschulen sein eigen nannte. Hans Sachs war Schuhmacherlehrling, als ihm der Weber Nunnenbeck die Anfangsgründe der Meistersingerkunst bei­brachte. Er ging wie ein rechter Schuster auf die Wander­schaft, kehrte, nachdem er so viele Erfahrungen gesammelt als er Schuhe besohlt hatte, 1519 in seine Heimat zurück, die durch Peter Vischer und Albrecht Dürer zu einem Haupt- und Vorort deutscher Kultur geworden war. Seine eigentlichen Meistergesänge (über viertausend) sind un­bedeutend, da und dort überraschen sie durch ein originel­les Bild oder eine witzige Wendung. Freier entfaltet sich sein Talent schon in seinen Sprüchen (etwa achtzehntau­send), die in ihren kurzen Reimpaaren klingen, als wären sie mit dem Schusterhammer zusammengeklopft. Hans Sachs war einer der ersten, die sich in Nürnberg zu Luther bekannten. Einzigartig zeigt er sich in seinen (über tausend) Schwänken und Fastnachtsspielen. Sein Humor ist der Hu­mor der deutschen Seele. Seinen Witz hat er aus seiner Handwerksburschenzeit bis in sein 82. Jahr hinübergeret­tet. Er hat es in seinen Schwänken auf moralische Wirkung abgesehen; aber diese moralische Wirkung erstickt in einem Gelächter oder tritt zurück hinter dem Wie der Darstel­lung. Wir nehmen die Menschen aus seiner Hand entgegen wie aus Gottes Hand: so wie sie sind: Gut und böse. Wie langweilig wäre die Welt, wenn alle Menschen brav wären und alle eine moralische, einheitliche graue Tugenduniform trügen. (Gott selber würde sich zu Tode langweilen und kurz vor seinem Tode noch den Teufel neu erschaffen.) Wenn es nur noch Hasen auf der Welt gäbe und keinen Fuchs mehr, der den Hasen frisst, und keinen Jäger, der sie beide schießt und sich den Hasen braten lässt! Dies nur nebenbei zu Hans Sachs.

Europa krachte damals in allen Fugen. Die ersten Wehen der Reformation kündeten eine neue Ära an. Sebastian Brant aus Straßburg (1457 – 1521) hatte als Sohn eines Gastwirtes früh offene Augen für die Lächerlichkeiten und Laster seiner Mitmenschen bekommen. In Übergangszei­ten, wo die Begriffe schwanken und wie Karten eines Kar­tenspieles durcheinandergemischt werden, pflegen sich alle närrischen Eitelkeiten der Menschheit wie in einem kon­kaven Spiegel noch ins Breite zu verzerren und zu vergrö­bern. Sebastian Brant studierte Jurisprudenz — ohne das Recht irgendwo zu finden. Er promovierte an der Univer­sität Basel. 1494 erschien sein „Narrenschiff“. Auf dieses hatte er alle Narren zu Gast gebeten, die er nur auftreiben konnte. Aber das Schiff erwies sich als zu klein. Die Säu­fer, die Gecken, die Spieler, die Kirchenschänder, die Geizhalse, Wucherer, Studenten, Ehebrecher, Huren füllten es bis über den Rand.

Zwanzig Jahre nach dem Narrenschiff legte Knecht Rupprecht 1519 den Deutschen die erste Ausgabe des Volks­buches von Till Eulenspiegel auf den Weihnachtstisch: „Ein kurzweilich Lesen von Dil Ulenspiegel.“ Die hatten eine Freude wie wohl seit hundert Jahren nicht über ein Buch. Noch im 16. Jahrhundert erschienen achtzehn deut­sche Ausgaben; es wurde sofort ins Vlämische, Niederlän­dische, Englische und Französische übersetzt. Woher die­ser spontane Erfolg ? Brants Narrenschiff war eine mehr oder weniger literarische Angelegenheit gewesen, im Eu­lenspiegel sah und lachte das Volk sich wieder einmal sel­ber ins Gesicht. In allen Fastnachtskomödien war er ja schon als Kasperle oder Hanswurst figürlich aufgetreten, hier hatte man seine in wohlgesetzte Worte gebrachte Bio­graphie des komischen Heldenlebens. Eulenspiegel tritt auf als Richter der Menschheit: er richtet sie mit einem schiefen Zucken seines Mundes, mit der sofortigen Reali­sierung ihrer Ideen, deren Wert und Möglichkeit dadurch ad absurdum geführt werden. Er ist zugleich leicht- und tiefsinnig. Seine Spaße exemplifizieren das Chaos.

Eulenspiegel, der ernsthafte Schalk, ist die Typisierung der einen Seite des deutschen Ideals, dessen andere Seite (ob Rück- oder Vorderseite der Medaille, bleibe dahin­gestellt) den Doktor Faust, titanischen Ringer um die letz­ten Probleme, zeigt.

1587 erschien zu Frankfurt a. M. die erste Ausgabe der „Historia D. Johann Fausten / dem weitbeschreyten Zau­berer und Schwarzkünstler / Wie er sich gegen den Teuffei auff eine benandte Zeit verschrieben / Was er hierzwischen für seltsame Abenthewer gesehen j selbs angerichtet und getrieben / biss er endtlich seinen wol verdienten Lohn empfangen“. Dieses Buch ist die Quelle der gesamten Faustliteratur geworden. Die Urbilder des Faust und Till Eulenspiegel haben wirklich gelebt. Viele Städte bewahren noch heute Erinnerungen an Dr. Faust. Etwa fünfzig Jahre nach seinem Tode entstand die Sage. Till soll zu Mölln in Lauenburg begraben sein, wo noch heute sein Grabstein gezeigt wird.

Aber auch andere Sagen, wie die vom Ewigen Juden, Von Ahasver, und die Geschichten und Taten der Schild­bürger (die wahrhaft unsterblich sind), gingen damals im 16. Jahrhundert in die Literatur der Volksbücher ein.

Vorher waren schon Schwankbücher, wie Jörg Wickrams „Rollwagenbüchlein“ oder des Bruders Johannes Pauli „Schimpf (Scherz) und Ernst“ (i 5 22), Mode gewor­den: Bücher, die heitere oder moralische Anekdoten er­zählen.

Die letzten bedeutenden Satiriker aus der Reformations­zeit sind der Franziskaner Thomas Murner in Straßburg (1475—1537), ein fanatischer Gegner Luthers, dem er in der Schrift „von den großen lutherischen Narren“ wie eine Bulldogge an die Kehle springt und Johannes Fischart (15451590), ein eifriger Parteigänger der Reformation, in deren Dienst er seine scharfe Feder stellte. Seine formale Begabung war ebenso erstaunlich, wie seine Erfindungs­gabe gering. Sein Hauptwerk ist eine Paraphrasierung von Rabelais „Pantagruel“ vermischt mit Sebastian Brant’schen Motiven. Origineller sind seine kleinen polemischen Schrif­ten und ein Gedicht wie die „Flöhhatz“ und Gedichte, die sich da und dort verstreut finden, wie dieses Zeclüied, das ganz zum Volkslied geworden ist:

Der liebsten Buhlen, den ich han,
Der leit beim Wirt im Keller,
Er hat ein hölzerns Röcklein an
Und heißt der Muscateller.

So wie die sprachliche Erneuerung um 1800 von Goe­the, die um 1900 von Nietzsche ausging, so war die um 15 00 von Luther ausgegangen. Es scheint, dass zu einer sol­chen Umwertung der Sprache mehr gehört als bloß dichteri­sche Begabung. Denn Luther, Goethe und Nietzsche brach­ten ja nicht nur neue Bilder und Rhythmen, sie brachten vor allem eine neue Weltanschauung und Weltdeutung.

Luther wurde 1483 in Eisleben als Sohn eines herrischen Vaters geboren. Er verbrachte seine Jugend missmutig, störrisch, verprügelt, und richtete schon früh sein Auge von der Misere nach innen. Sein Vater hat ihn hart ge­schlagen: dass er wie ein Stein oder ein Stück Holz schien. Aber hinter der harten Schale verbarg sich ein weicher und süßer Kern. Sein „Hier stehe ich, ich kann nicht anders, Gott helfe mir, Amen!“ wird immer ein Fanfarenruf aller aufrechten Männer sein. Sein Reformationswerk war eine historische Notwendigkeit. Aber die Historie wandelt sich von Jahrhundert zu Jahrhundert, von Jahrzehnt zu Jahr­zehnt. Auch über Luthers Reformation ist das letzte Urteil von der Geschichte noch nicht gefällt. Unsere heutige evangelische Kirche spricht in ihrer aufklärerischen, kah­len, gottlosen Nüchternheit nicht für eine lange Dauer. Die Zeit will wieder fromm werden. Luther war ein religiöser Mensch, die Lutheraner sind theologische Dogmatiker oder rationalistische Moralisten. Sie bezweifeln das Wunder, wollen Natur- und Kirchengeschichte unter denselben Pfaffenhut bringen: aber wer das Wunder bezweifelt, be­zweifelt Gott selbst. Luther hat die damalige Christenheit, unterstützt von der humanistischen Vorrevolution des Gei­stes, von der römischen Knechtschaft befreit, aber er hat den Deutschen den schlechtesten Dienst erwiesen, als er in den Bauernkriegen Partei für die Fürsten ergriff und durch seine sophistische Auslegung der Bibel im monarchisti­schen Sinne („Gebt dem Kaiser, was des Kaisers ist… es ist Euch eine Obrigkeit gesetzt von Gott, der sollt Ihr Un­tertan sein…“) die Deutschen unter die absolute Tyrannei der Fürsten brachte und Tyrannei und Sklaverei nun gar noch ethisch zu fundieren trachtete. Hier trieb der einst in seiner Jugend vom Vater in ihm gezüchtete und heran­geprügelte Autoritätswahn hässliche Blüten. Daß der „Un­tertan“ den Deutschen auch heute noch so tief im Blute steckt, das ist nicht zum wenigsten auf die Philosophen des Staatsrechts und des Machtwahns: Bismarck, Hegel, Lu­ther zurückzuführen. Luther aber war ihr bedeutendster und also verderblichster Vertreter.

Erscheint seine historische Stellung in zweifelhaftem Lichte, so ist seine Stellung in der deutschen Literatur ein­deutig fest und steil gefügt. Die Bedeutung der lutherschen, 1534 vollendeten Bibelübersetzung kann nicht überschätzt werden. Es ist, als hätte Luther die neue deutsche Sprache überhaupt erst geschaffen. Aus so mangelhaften Vorlagen wie der sächsischen Kanzleisprache und der obersächsischen Mundart zimmerte er wie ein Geigenbauer jenes klingende Instrument, auf dem entzückt und berauscht wir heute noch spielen dürfen. Er aber war der Töne Meister wie Arion: und wenn er sprach, dann schwieg die Nachtigall, dann hob der Esel lauschend den behaarten Kopf — dann ver­stummten selbst die Humanisten mit ihrem lateinischen Geplauder, und Ulrich von Hutten konnte auf einmal deutsch statt lateinisch denken und dichten. „Ich hab’s ge­wagt.“ Die deutsche Sprache war den gelehrten Herren bis­her zu grobschlächtig gewesen für ihre Spitzfindigkeiten. Sie wollten nichts mit dem Pöbel gemein haben, und es war ihnen gerade recht, dass man sie in der Menge nicht verstand. Nun aber hörten sie erstaunt, gleichsam zum erstenmal, den Klang der deutschen Sprache. Das war wie Möwenschrei über der Elbe, wie Amselsang im Frühling, wie Herbstwind in den Sandsteinfelsen, wie Quellengeriesel im Eichenwald. Und einer nach dem andern tat sein in Schweinsleder gebundenes lateinisches und griechisches Lexikon in den Bücherschrank zurück und legte die luthersche Bibel auf den Schreibtisch und fand darin sein Mor­gen- und sein Abendgebet. Auch Luthers Flugschriften, wie „Von der Freiheit eines Christenmenschen“, flogen durch das Land, und in Kirchen und auf Straßen sang es: „Komm, heiliger Geist, kehr bei uns ein.“ Und sie, die tumben Bauern, die im Vertrauen auf seine Lehre und ihren Lehrer sie in die Tat umzusetzen versuchten (denn was ist die Idee ohne die Tat ? Das ist wie Seele ohne Leib, wie Duft ohne Blume): sie starben, als sie von ihm verlas­sen wurden, hingeschlachtet von den Schwerthieben der Söldner, mit dem Ruf: „Ein feste Burg ist unser Gott…“

Luthers kernige und fröhliche Tischreden, von seinen Freunden aufgezeichnet, beweisen, was für ein großer Redner er war. Er steckte damit wohl alle heutigen Volkstribunen in die Tasche: nur schade, dass er selber kein Volks-, sondern ein Fürstentribun war.

Die Niederlande wurden in der Reformationszeit die Geburtsstätte des Humanismus. Die großen demokrati­schen Handelsstädte Amsterdam und Antwerpen hatten ihm mit ihrer frischen Seeluft und freieren Lebens Gestaltung den Boden bereitet. Erasmus von Rotterdam schrieb sein „Lof der Zotheid“ (Lob der Narrheit) wie seine übrigen Schriften lateinisch, wurde aber bald ins Hol­ländische übersetzt.

Shakespeare

SHAKESPEARE UND CALDERON

Calderon

Aus dem vierzehnten bis sechzehnten Jahrhundert stam­men die schottischen Volkslieder und Balladen, die später der Bischof Percy sammelt und Herder überträgt.

Die englische Kunstlyrik entwickelt sich unter der Ein­wirkung Italiens. Es wurde Mode, nach Italien zu reisen. Thomas Wyatt widmete der schönen, vielgeliebten Anna Boleyn seine Sonette. Der Graf von Surrey führt den Blankvers ein, in dem dann Shakespeare seine Dramen schrieb. Edmund Spenser (1552—1599) dichtet die be­rühmteste Allegorie: von der Feenkönigin, mit der natür­lich Königin Elisabeth gemeint war. Spenser bedeutet für die Weltliteratur so gut wie nichts. In der englischen Dich­tung war sein Einfluss größer als der Shakespeares.

Thomas Morus veröffentlicht 1516 den lateinisch ge­schriebenen Staatsroman „Utopia“, der ein Echo platoni­scher Gedanken ist.

Die beste englische Prosa dieser Zeit schreibt Francis Bacon (15 21—1628), bei dem alle Gedanken zu Bildern werden. Er hat auch der Naturwissenschaft neue Wege ge­wiesen, indem er (wie später Goethe als Naturforscher) von der Anschauung ausging und einen Zusammenhang aller Wissenschaften in der Einheit der Idee fand.

Das englische Drama begann wie überall mit dem My­sterienspiel vor der Kirche. Aber, fast ohne Übergang, eruptiv bricht es plötzlich los und schafft in einem Zeit­raum von kaum dreißig Jahren Meisterwerk über Meister­werk. Denn so einsam, wie wir uns Shakespeare (1564 bis 1616) heute vorzustellen geneigt sind, ragte er nicht in seine Zeit. Da ist eine Anzahl Dichter, wie Christian Marlowe, John Webster, John Lily, Ben Jonson, John Ford, Otway, die ihm mindestens bis an die Schul­ter reichen. Die dramatische Produktion Englands zur Zeit der Königin Elisabeth ist bis heute nicht erschöpft, obgleich Generationen von Dramatiker schon von ihr gezehrt haben.

Wie China das Land der Lyrik, musste England, „das Land ohne Musik“, das Land des Dramas werden. Denn in England gilt nur die Sache, die Tat und die Tatsache. Das Herz nur, soweit es für eine Sache — die nur die Eng­lands sein kann — schlägt. Shakespeares Dramen machen die ganze Welt, machen Italien, Böhmen, Spanien zu Ko­lonien Englands, und selbst die Helden der Antike, ein Cäsar, ein Coriolan, sind nur verkappte Lords. Souverän steht Shakespeare über seinen Geschöpfen. Wie England seine großen Kolonialerfolge seiner Toleranz den unter­worfenen Völkern gegenüber verdankt, so läßt Shakespeare die Charaktere, die er sich unterwarf, gleichsam tun, was sie wollen, nicht, was er will. Er steht, unbeteiligt, außer­halb. Es sind nicht seine Schmerzen, die sie fühlen, nicht seine Spaße, die sie treiben. Sie werden schuldig: aus der Freiheit heraus, die Gott und Shakespeare ihnen gaben. Aber niemals identifiziert er sich mit ihnen wie etwa Schil­ler mit seinen Helden. Er sieht Lear im Sturm mit Edgar und dem Narren vorüberrennen, er sieht die Erinnyen auf der Spur Macbeths wie Zeus vom Olymp. Und er lächelt nur, wenn Romeo und Julia Arm in Arm erwachen. Ihm flößt selbst der furchtbare Richard III. keinen Schauder ein. Er erteilt Hamlet keinen Rat, wie er handeln soll im Zwiespalt seiner Seele. Er lässt ihn den Irrgarten des Le­bens bis an sein dunkles Ende durchtaumeln, als schon an der Leiche Ophelias die Wasserratten nagen. Hamlet ist das Drama des Relativismus, Othello die Tragödie der Eifersucht. Welch himmlische Heiterkeit beschwingt die Szenen des Sommernachtstraums. Die Komödie der Irrun­gen tollt dahin wie die beiden Kasperldiener. Nichts Gött­liches, nichts Tierisches, nichts Menschliches war ihm fremd. Seine Sonette sind an einen schönen Knaben ge­richtet. Von seinem erotischen Gedicht „Venus und Adonis“ behaupteten ihm Missgünstige, es wäre die Lieblings­lektüre der elisabethanischen Dirnen. (Was nur für diese sprechen würde.)

Shakespeare ist der Genius des Dramas, wie Li-tai-pe der der Lyrik, Dostojewski der des Romans, Homer der des Epos, Dante der der Allegorie. Aber sie alle überragt ein Deutscher: Goethe: dessen Leben selbst das vollkom­menste Dichtwerk war, das je gelebt wurde.

Vor Shakespeare schreibt Marlowe seinen Timurlan, seinen Faust, John Lily die Komödie „Alexander und Campaspe“, in der sich schon jener spezifisch englische Hu­mor eines Wilde und Shaw ankündigt. Diogenes: das ist kein anderer als der Lord der Wildeschen Komödien, der nur in Aphorismen redet. „Das verlorene Venedig“ John Otways kennen wir durch Hofmannsthal, den „Volpone“ von Ben Jonson durch Stefan Zweigs Nachdichtung. John Webster schafft die grandiose Tragödie der „Herzogin von Amalfi“, die in heimlicher Ehe mit ihrem Haushof­meister lebt. Einige Szenen darin: die Herzogin im Irren­haus, die Begegnung der beiden Brüder gegen Ende des Dramas, die Werbung der Herzogin um Antonio: gehören zum Besten,- was die englische Tragödie hervorgebracht hat. Diese sollte bald von der höchsten Höhe in die tiefste Tiefe stürzen. Die Puritanerrevolution unter Cromwell machte nicht nur den Stuarts, sondern auch den schönen Künsten den Garaus. 1642 wurden die Theater geschlos­sen. Unerbittlich verfolgten die Puritaner alles, was damit zusammenhing, und sie haben verschuldet, dass jahrhun­dertelang das englische Drama daniederlag. Sie haben das englische Volkslied so gut wie ausgerottet. (Musik, Ge­sang, Tanz, Schönheit, Lied: das alles sind Attribute der Sünde.) Noch heute krankt die künstlerische Kultur Eng­lands an den Nachwehen jener Revolution.

Der spanische Gaunerroman entwickelte sich als Reak­tion auf die Ritterromane. Wenn man immer Rebhühner, Schnepfen, Gänseleberpastete in mehr oder weniger mora­lischer Sauce serviert bekommt, kriegt man Appetit, end­lich mal wieder die Bekanntschaft von Donna Cecina (Rauchfleisch) und Don Tocino (Speck) zu machen. Hurtado de Mendoza führte den „Lazarillo“ 1554 den Spa­niern vor, der in seinem Lebensweg manche Ähnlichkeit mit dem Simplizissimus des Grimmelshausen hat. Lazarillo beginnt sein zweifelhaftes Leben als Blindenführer, dient schließlich einem schäbigen und mürrischen Hidalgo, einem Ablaßkrämer, einem Tamburinmaler, und endet damit, dass er der Mitgift wegen die Hure eines Priesters heiratet. Der Erzlump Don Pablo, den Quevedo (1580—1645) auf die Beine stellt, übertrifft den Lazarillo noch in phantastischen Schicksalen. Quevedos „Träume“ sind von Moscherosch frei ins Deutsche übertragen worden, wie überhaupt im 16. Jahrhundert der spanische Einfluss in den Literaturen Europas allgewaltig war, den am nachhaltigsten Miguel Cervantes (1547—1616) ausübte. Der Spanier Ganivet schreibt: „In der spanischen Kunst übertrifft nichts den Quijote, und der Quijote ist nicht nur auf spanische Art geschaffen worden, sondern ist unser typisches Werk, das Werk als solches, da Cervantes ein Konquistador war, der größte aller Konquistadoren. Denn während andere Kon­quistadoren für Spanien Länder eroberten, eroberte er Spanien selbst, obwohl er in einem Gefängnis eingeschlos­sen saß.“ Seine Gestalten treibt er an wie ein Maultiertrei­ber seine Tiere. Den Quijote, der Ritter von der traurigen Gestalt, ist das Symbol Spaniens geworden wie Faust das Deutschlands und die Brüder Karamasow das Russlands. Er ist edel und tölpisch, grotesk und heroisch, kindisch verliebt, phantastisch gläubig. Er lebt sein Leben nicht in dieser Welt, glaubt auf Wolken zu reiten, während er im Sumpf steckt, eine zarte Heilige zu lieben in der dicken Magd Adonza Lorenzo, die sich aufs Schweinepökeln besser versteht als auf seine Hymnen. Er kämpft, wie wir alle, verzweifelt mit Windmühlen und Hammelherden. Er trägt eine Zukunft mit sich herum, die schon längst Vergangen­heit wurde. Wo ist noch Ritterlichkeit, Edelmut, Galan­terie zu finden? Dahin, dahin … Das Leben zerrinnt uns in den Händen wie eine Handvoll Wüstenstaub. Wie ge­scheit benimmt sich da Sancho Panso, nicht wahr, der die winzigste Realität der erstaunlichsten Ideenwelt vorzieht und aus allen Bitternissen noch Honig saugt.

Cervantes schrieb noch andere Romane, Novellen, Dra­men und Zwischenspiele, von denen das „Wundertheater“ die hübschesten Einfälle zeigt. Auf der Bühne aber ver­mochte er nicht recht Fuß zu fassen, denn inzwischen hatte sich „das Wunder der Natur“, Lope de Vega (1562 bis 1635), wie Cervantes selbst schreibt, „zum Alleinherrscher in der Monarchie der Komik erhoben und sie seiner Herr­schaft unterworfen“. Lope de Vegas Fruchtbarkeit ist un­erschöpflich. Sie wuchert wie eine tropische Pflanze. Hun­dert und aber hundert Tragödien, Komödien folgen ein­ander, und es heißt, er habe alle drei Tage ein neues Büh­nenwerk geschaffen. Und dies inmitten eines wilden, aben­teuerlichen, von Frauengunst und philosophischen und theologischen Disputaten, Reisen, Duellen, Entführungen bis an den Rand gefüllten Lebens — bis er 1609 die Kutte nimmt und sich der Inquisition verschreibt. 1632 beziffert er selbst die Zahl seiner Komödien auf über fünfzehnhun­dert. Er dichtet, wie andere atmen. Er lächelt: so ist’s ein Lustspiel. Er zieht die Brauen: der Knoten des Dramas ist geschnürt. Er zieht im Duell den Degen: so ist’s ein Degen­stück. Er wirft den Mantel ab: ein Mantelstück geschieht. Er kennt keinerlei historische, geographische, logische Wahrheit: nur die seines Spieles, das eines greisenhaften Kindes Spiel ist, welches mit drei Jahren Schach spielen lernt. Auf einen gewollten und gerundeten Charakter kommen hundert schablonierte. Er hat nicht immer Zeit, seine Lehmfiguren fertig zu formen. Unfertig stellt er sie dann in die Gärten und Paläste seiner Szenerien. Sie werden schon selber mit sich „fertig“ werden — wenn sie nur erst am Leben sind. Das Leben ist die Hauptsache. Dramatische Vorwürfe waren für ihn die Entdeckung Amerikas, der Brand Roms, Beiisar und Rienzi. Das Königtum spielt eine metaphysische Rolle. Im „Stern von Sevilla“ tötet ein Freund den anderen um des Königs willen, dem das Schick­sal aller seiner Untertanen in die Hand gegeben. In den Komödien dominiert die Liebe, d. h. die Leidenschaft. Der Liebende hat zu allem Recht. Ein Ritter liebt zwei verhei­ratete Frauen. Ein Mord aus Eifersucht ist leicht verziehen. In den Liebeskomödien der Spanier ist der maurische Einfluss offenbar. Man meint zuweilen, die türkische Moral zu vernehmen. In den äußerlichen Mitteln ist Lope nie wähle­risch. Die Menschen werden wahnsinnig und wieder ver­nünftig, wie es ihm gerade passt, und es kommt ihm gar nicht darauf an, Damen von ihren Liebhabern, Fürsten und Herzogen, ohrfeigen zu lassen, um die Stimmung zu be­leben. Das meiste, was über Lope gesagt ist, mag auch von Calderon (1600—1681) gelten. Auch er nimmt den Kap­lanshut, aber sein Leben verläuft ungleich stiller als das seines großen Bruders. Seine Religiosität ist nicht nur glän­zender Firnis, Schauspiel und Prunk in Prozessionen, er ist der Katholik der Seele und der katholische Dichter par ex-cellence. Im Mittelpunkt seiner heroischen Dramen steht der Begriff der Ehre, wie er am reinsten im „Richter von Zalamea“ zum Ausdruck kommt, in dem man auch die Anfänge eines sozialen Dramas entdecken kann. Er war für Goethe und die Romantiker der Dramatiker an sich. Als Goethe den „Standhaften Prinzen“ las, musste er inne­halten, und das Buch fiel ihm in der Erregung aus der Hand. „Der wundertätige Magus“ hat zweifellos den Faust beeinflusst. Er ist das bedeutendste seiner geistlichen Schau­spiele, neben der „Andacht zum Kreuz“, deren Sinn: das ärgste Verbrechen, Brudermord und Blutschande, wird ge­sühnt durch Glauben und Buße. Der Glaube allein, nicht die Tat, macht selig. Kein Verbrechen ist so groß, dass Gott es nicht verzeihen könnte. Das Symbol des Kreuzes spielt überall fatalistisch in das Stück hinein. Der Held trägt ein Muttermal in Kreuzform, wird unter einem Kreuz als Kind aufgefunden usw. „Das Leben ein Traum“ behandelt zum erstenmal das Motiv, das Grillparzer, Holberg in seinem Jeppe vom Berge, Hauptmann in Schluck und Jau und viele andere aufgenommen haben. — Der Mord ist eine alltäg­liche Angelegenheit des ritterlichen Spaniens. Im „Maler seiner Schmach“ wird der Gatte für die Ermordung seiner ungetreuen Frau und ihres Liebhabers hoch gepriesen. Von anderen Dramatikern der klassischen spanischen Epoche sind noch Moreto mit der „Donna Diana“, Tirso de Molina (1585—1645) mit seiner Don Juan-Tragö­die und dem reizenden Intrigenstück „Don Gil mit den grünen Hosen“ und Alarcon (f 1659) zu nennen, der, verkannt und missachtet, dem publico vulgär, dem Pöbel, die Leviten liest und Corneille des Plagiats an einer seiner Komödien beschuldigt.

Shakespeare und Calderon, das ist ein Gipfelgegensatz, den Schiller später—um sich seiner Stellung Goethe gegen­über klar zu werden — mit „naiv“ und „sentimental“ be­nannte. Es ist derselbe Gegensatz wie zwischen Gottfried von Straßburg und Wolfram von Eschenbach, zwischen Boccaccio und Dante, zwischen Kongfutse und Laotse, zwischen Moses und Christus. —Shakespeare-Calderon: von diesen beiden Höhen aus lässt sich alles übrige ihrer Zeit werten und einordnen. Es ist eben jene Polarität, die sich um jene Zeit äußerlich als Katholizismus-Protestantismus schied.

Siebentes Kapitel
DIE ZEIT DES GROSSEN KRIEGES
BAROCKES DEUTSCHLAND

Luther starb 1546 in Eisleben. Von seiner geistlichen Lyrik nahm das evangelische Kirchenlied seinen Anfang. Ihre schönsten geistlichen Lieder verdankt die evangelische Kirche Paul Gerhardt (1607—1676, starb in Lübben als Prediger). Ein einfaches Gemüt paart sich mit einem streit­baren Gotteseifer und einem unbeirrbaren poetischen Form­gefühl. O Haupt, voll Blut und Wunden ! Wach auf, mein Her\, und singel Befiehl Du Deine Wege! Ich bin ein Gast auf Erden!

Wir alle, die wir Evangelische (ach! keine Evangelisten mehr …) sind, haben als Kinder diese Lieder in der Kon­firmationsstunde auswendig gelernt und in der kahlen Dorf­kirche gesungen. In ihnen durfte sich das kindliche Gemüt Gott wahrhaft nah fühlen. Die Musik dieser Verse strich uns, wenn der lahme Küster die Orgel spielte, wie mit Va­terhänden über die Stirn, und unsere kindlichen Sorgen be­schwichtigte das singende Geständnis, das unsere Lippen hauchten: Ich weiß, dass mein Erlöser lebt… Abends aber, wenn nach des Tages Arbeit wir mit Vater und Mutter und mit den Knechten und Mägden vor der Tür in der lauen Sommerluft saßen, eine Kuh verschlafen im Stalle muhte. die Hühner auf der Stange hockten, den Kopf im Gefieder, dann stimmte mein Großvater an, und wir fielen alle leise ein:

Nun ruhen alle Wälder,
Vieh, Menschen, Stadt‘ und Felder,
Es schläft die ganze Welt:
Ihr aber, meine Sinnen,
Auf, auf! ihr sollt beginnen
Was eurem Schöpfer wohlgefällt.

Der Tag ist nun vergangen,
Die güldnen Sterne prangen
Am blauen Himmelssaal.
So, so werd ich auch stehen,
Wenn mich wird heißen gehen
Mein Gott aus diesem Jammertal.

Der erste protestantische Mystiker und der erste deut­sche Philosoph war der „Schuster von Görlitz“, Jakob Böhme (1575—1624), der allerlei himmlische Visionen hatte, während er auf seinem niederen Schemel hockte, in hartem Rhythmus auf den Schuh über dem Leisten klopfte und in das gläserne Licht seiner Schusterkugel starrte. „Aurora oder Die Morgenröte im Aufgang“ hieß sein erstes Buch, in dem er zur lebendigen Anschauung Gottes und in den Mittelpunkt der Natur gelangt zu sein glaubte. Der Schuster von Görlitz erweiterte in dunkeln, ringenden Spekulationen die enge Welt des protestantischen Christen­tums zum deutschen Pantheismus. Aus diesem anima­lischen Allgefühl, das von dem kristallhaften Zusammen­schluss des Spinoza völlig verschieden ist, kam sein tie­fes Mitgefühl für das Leiden der Kreatur: ,,Wenn alle Berge Bücher wären und alle Seen Tinte und alle Bäume Schreib­federn, noch wäre es nicht genug, all den Schmerz in der Welt zu beschreiben.“

Von der lutherischen zur katholischen Kirche trat Angelus Silesius über, der im Todesjahr Jakob Böhmes ge­boren war. (Eigentlich Johannes Scheffler, aus Breslau, 16241677.) Als Abglanz der deutschen Mystik sind noch Viele von seinen 1675 Sprüchen aus dem „Cherubinischen Wandersmann“ lebendig. Aufgehen in Gott, Vergött­lichung des Menschen: das ist der in tausend Gedanken und Melodien wiederkehrende Inhalt seiner sprachlich schönen Zweizeiler:

Ich sterb und leb auch nicht: Gott selber stirbt in mir:
Und was ich leben soll, lebt er auch für und für.

Die Braut verdient sich mehr mit einem Kuß um Gott,
Als alle Mietlinge mit Arbeit bis zum Tod.

In Gott wird nichts erkannt: er ist ein einig Ein.
Was man in ihm erkennt, das muß man selber sein.

Und Gott ist mehr in mir als wenn das ganze Meer
In einem kleinen Schwamm ganz und beisammen war.

Ich weiß, daß ohne mich Gott nicht ein Nu kann leben,
Werd‘ ich zu nicht, er muß vor Not den Geist aufgeben.

In den Schlussreimen des Angelus Silesius fand die „ägyptische Plage“ des dreißigjährigen Krieges prägnan­ten und überaktuellen Ausdruck. — Ein Glaubensgenosse des Angelus, der Jesuit Friedrich von Spee (1591 bis 1635, aus Kaiserswerth) veröffentlichte ein Lyrikbuch „Trutznachtigall“, voll kurzer poetischer Christ- und Trauergesänge. Hoffnungen und Resignationen streiten in seinen Strophen um die Palme. Allzu tief drückt der Jesuitenhut auf seine Stirn und hält schattend die Sonne von ihm fern. Auch sein Lächeln ist ein schmerzliches Lächeln. Die Heiterkeit verfliegt plötzlich wie eine Schwalbe und es bleiben nur die Runzeln. Er ist aber ein Dichter ganz eige­ner Prägung. Sein schönstes Gedicht, jenes Frühlings­gedicht:

Der trübe Winter ist vorbei,
Die Kranich wiederkehren,
+Nun reget sich der Vogel Schrei,
Die Nester sich vermehren;
Laub allgemach
Nun schleicht an Tag

Die Blümlein sich nun melden;
Wie Schlänglein krumm
Gehn lächelnd um
Die Bächlein kühl in Waiden.

Auch die Volkslieder blühten noch weiter, und sogar die Dialektdichtung blieb bestehen, obwohl Luther eine allge­meine Schriftsprache geschaffen hatte. Damals sang Simon Dach das Hochzeitslied „Ännchen von Tharau“, das noch heute in Deutschland nicht verklungen ist.

Neben dieser volkshaften und religiösen Dichtung ging die ästhetenhafte und gelehrte, die von Martin Opitz (1597—1639) und seiner lehrhaften Tätigkeit herkam. Es ist heute leicht, sich über eine Menge seiner Unarten und Albernheiten lustig zu machen: sein Verdienst um die He-ung des allgemeinen Niveaus kann nicht bestritten wer­ben. Ohne Opitz kein Gottsched, ohne Gottsched kein Herder, ohne Herder kein Goethe. Es ist schon ein Segen, aß es ihm gelang, in seinen Abhandlungen „von der deut­chen Poeterey“ wieder die natürliche Betonung der Silben einzuführen (die Meistersinger hatten die Silben einfach gezählt). Daß er den Alexandriner aus Frankreich einschmug­gelte, finde ich nicht so verdammenswert.

Friedrich von Logau, ein Schlesier (1604—1655), ist zwar ein Opitzianer, aber doch ein Logau. Er schießt wie ein Knabe mit dem Flitzbogen auf die Laster seiner Zeit. Hin und wieder saust ihm dann ein Pfeil mit Metallspitze Von der Bogensehne. Etwa dieser: „Gewaffneter Friede“:

Krieg hat den Harnisch weggelegt, der Friede zieht ihn an.
Wir wissen, was der Krieg verübt, wer weiß, was Friede kann?

Paul Fleming (1609 – 1640) wandelte als Planet im Gefolge der opitzschen Sonne. Aber es sollte ihm gelingen, eigene Bahnen zu finden und sie zu überstrahlen. Seine zärtliche Liebe zu Elsabe schenkte der deutschen Dichtung einige ihrer schönsten Liebesgedichte. Fabrikanten von protestantischen Gesangbüchern haben es sich nicht neh­men lassen, ihre dogmatische Giftmischerkunst daran zu versuchen, und umgekehrt wie einst Christus, Wein in Wasser zu verwandeln. Sie setzten nämlich für Elsabe Je­sus, und wenn im Liede Elsabe ihr Jawort gibt, so modeln sie das in: „Jesus gibt sein Ja auch drein.“ Zu dieser Verballhornung hat Jesus sicher sein Ja nicht drein gegeben. Er wird im Himmel sanft gelächelt haben, denn er kennt seine Pfaffenheimer.

In der Lyrik der Schlesier Hofmann von Hofmanns­waldau (1617—1679) und Daniel Caspar von Lohen­stein (1635—1683) spielt Venus, prunkvoll aufgeputzt, eine triumphierende Rolle. Wenn sie, wie zuweilen bei Hofmannswaldau, vom Venuswagen steigt, ihr überlade­nes Geschmeide abtut und ein hübsches breslauer Bürger­mädchen wird, braunhaarig, braunäugig, rotwangig: da wird sie uns lieb und vertraut, wir setzen uns gern zu ihr ins Gras und lassen uns ein ihr zu Ehr und Preis verfertig­tes Lied des Herrn von Hofmannswaldau mit leiser Stimme ins Ohr singen. Und manchmal erstaunen wir über den tie­fen Herzenston:

Wo sind die Stunden
Der süßen Zeit,
Da ich querst empfunden,
Wie deine Lieblichkeit
Mich dir verbunden‘?
Sie sind verrauscht, es bleibet doch dabei,
Daß alle Lust vergänglich sei.

Caspar von Lohenstein huldigte seinerseits neben der Venus den Göttern Mars und Mors. Er schrieb schwulstige Tragödien von schauerlicher Bluttrünstigkeit. Der Entfaltung der Sitten und der Entwicklung der Tugend war die Zeit des dreißigjährigen Krieges nicht gerade günstig. Im großen und im kleinen wurde geplündert, gemordet und vergewaltigt. Der Fürst vergewaltigte das Land, der Lands­knecht die Bauernmagd. Zum Besten des Vaterlandes und zu höherer Ehre Gottes wurden die abscheulichsten Taten getan. Der Wiener Hofkapuziner Abraham a Santa Clara (1644—1709) wetterte in seinen Reden und Predig­ten mit gewaltigem Aufwand an schnurrigem Pathos gegen die Sittenlosigkeit, wobei er wenig genug ausrichtete. Der Elsässer Moscherosch(1601 – 1669) malte in seinen „Gesichten Philanders von Sittewald“ die Verrottung der Zeit, die ihre höchste dichterische Formung in Christoph von Grimmelshausens (aus Hessen, 1625—1676) Roman „Abenteuerlicher Simplicius Simplicissimus“ fand. Neben dem Grübler Faust, dem weisen Narren Eulenspiegel kann man den reinen Toren Parsival als die dritte Verkörperung der deutschen Seele ansprechen. Parsival heißt bei Grim­melshausen Simplex (deutsch: der Einfältige). Er wird als Knabe Waise, da die Soldateska ihm Vater und Mutter er­schlägt. Er flieht in den Wald und gelangt zu einem Ere­miten. Aber der Krieg treibt ihn in die Welt, die ihn, durch all ihre Abenteuer und Menschen, durch Zucht- und Un­zucht, Gelächter und Todestraurigkeit hindurchhetzt, bis er am Ende das wird, was er eigentlich immer war: fromm wie der Eremit, der ihm einst das Vaterunser beibrachte. Alle Anfechtungen überwindet die Seele, die groß und ein­fach in sich selber ruht, wie eine Perle in der Muschel. Der Hintergrund des Romans ist das zerrissene und zertretene Deutschland des dreißigjährigen Krieges. Andreas Gryphius (aus Großglogau, 1616—1664) erlebte das allgemeine Elend seiner Zeit am eigenen Leibe und an eigener Seele nicht typisch wie Grimmelshausen, sondern individuell: und es gelang ihm, es bis zur reinsten lyrischen Gestaltung zu verklären. Das Leitmotiv seiner Gedichte ist das christliche Symbol von der Vergänglichkeit des Men­schen und der Eitelkeit alles Irdischen. Dieses ursprüng­lich religiöse und fast kirchlich-dogmatische Gefühl ver­tieft sich in seinen Sonetten grandios künstlerisch zur Welt­anschauung einer erschütternden Resignation und eines er­haben schmerzlichen Pessimismus.

Wir sind ja nunmehr ganz, ja mehr denn ganz verheeret.
Der frechen Völker Schar, der rasenden Posaun,
Das von Blut fette Schwert, die donnernde Kartaun
Hat allen Schweiß und Fleiß und Vorrat aufgezehret.

Die Türme stehn in Glut, die Kirch ist umgekehret,
Das Rathaus liegt im Graus, die Starken sind zerhaun,
Die Jungfern sind geschändt, und wo wir hin nur schaun,
Ist Feuer, Pest und Tod, der Herz und Geist durchfähret.

Hier durch die Scham^ und Stadt rinnt allzeit frisches Blut,
Dreimal sind schon sechs Jahr, als unsrer Ströme Flut,
Von Leichen fast verstopft, sich langsam fortgedrungen;

Doch schweig ich noch von dem, was ärger als der Tod,
Was grimmer denn die Pest und alle Hungersnot:
Daß auch der Seelen Schatz so vielen abgezwungen.

Elegie und Ironie wohnen nahe beieinander. In Gryphius‘ Lustspiel „Horribilicribrifax“ schwingt er spöttischen Mundes die Geißel über Halbbildung und Phrasentum, die sich als Folge der Überschätzung alles Militärischen, bemerkbar machten. Der aufschneiderische Maulheld Horribilicribrifax ist eine köstliche Figur, die wir heute noch leibhaftig herumlaufen sehen. Einen bürgerlichen Maulhelden nahm sich Christian Reuter, ein Leipziger Student (1665—1710), eine unstete Vagantennatur, die irgendwo im Elend verdarb und starb, zum Vorbild; es ist der Signor Eustachius Schelmuffsky, dessen wahrhaftige kuriose und sehr gefährliche Reisebeschreibung zu Wasser und zu Lande auf das vollkommenste und akkurateste er an den Tag gab. Diese lügenhafte Reisegeschichte, die Schelmuffski über Schweden, die Bretagne, Rom bis nach Indien führt (sie ist dem hochgeborenen großen Mogul dem Älteren, weltberühmten Könige oder vielmehr Kaiser in Indien gewidmet…), ist einer der besten komischen Romane der Deutschen und nebenbei ein ergötzlicher Zeitspiegel.

IM GEISTE CROMWELLS

Der Dichter des Puritanismus wurde der blinde John Milton (1608—1674), der, nachdem er das Augenlicht im aufopfernden Staatsdienst verloren, nur noch nach innen sehen konnte: und in seinem Herzen „das verlorene Para­dies“ entdeckte. Auf einer italienischen Reise, wohl im Ge­denken an Dante, kam ihm der Plan: Satan empört sich mit den bösen Engeln gegen Gott — Michael ruft die guten dagegen auf; als er verwundet wird, übernimmt Christus, wie ein General Cromwells, „den Oberbefehl“; er siegt; Gott sucht sich in Adam und Eva engelähnliche Wesen zu schaffen; aber der Satan verführt sie; Erzengel Michael ver­treibt sie aus dem Paradiese mit der prophetischen Mah­nung, daß einst der Gottessohn durch sein Opfer das ver­lorene Paradies wiedergewinnen werde. Engel und Men­schen sind blasse Schemen. Blut und Fleisch zeigt nur der Satan.

In den Niederlanden dichtet Pieter Hooft Lieder ita­lienischen Stiles und preziöse Dramen, die Joost van den Vondel, ein Zeitgenosse Rembrandts, durch eine hinter antiker Maske verborgene leidenschaftliche Aktualität übertrifft. „Palamedes oder die gemordete Unschuld“, das ist Oldenbarneveldt, der die Republik gegen Moritz von Oranien verteidigt und als Greis auf dem Schafott endigt. Spä­ter trat er zum Katholizismus über und schrieb die Legende „Peter und Paul“ und das Mysterium „Luzifer“, das an Miltons puritanisches Werk erinnert, der gegen Gott rebel­liert und den Himmel zum Palast, zum Thron den Regen­bogen, zum Mantel das Sternenzelt, zum Schemel den Erdball fordert, aber in der Geisterschlacht dem Engel Michael unterliegt und aus Rache sich die Menschen unterwirft.

Zur Literatur welches Landes soll man die lateinischen Schriften des Juden Baruch d’Espinosa, genannt Benedictus Spinoza, rechnen? Seine Familie kam aus Portugal, geboren wurde er am 24. November 1632 in Amsterdam, das die damaligen Juden ihr „neues Jeru­salem“ nannten. Spinozas Muttersprache war Spanisch. Holländisch schrieb er die erste Fassung seiner „Ethik“ und manche seiner Briefe — aber mit der holländischen Natio­nalliteratur hat er nichts zu tun. Er lebte in puritanischer Enthaltsamkeit und starb, arm wie ein Bettelmönch, im Jahre 1677. Spinoza ist der umwälzendste Denker der neuen Zeit. Seine Lehre ist nicht Philosophie, sondern Religion. Man nennt ihn einen Pantheisten. Er lehrte, daß es nur eine Substanz gebe, nämlich Gott, und die Welt sei eine Selbstdarstellung Gottes. Das menschliche Denken soll sich aus verworrener Niederung erheben, es soll die Dinge in ihrer „schönen Notwendigkeit“ er­kennen, es soll zur höchsten Seligkeit, zur erkennenden Liebe Gottes (amor Dei intellectualis) führen. Im Men­schen, der Gott liebt, liebt Gott sich selbst. Spinoza lehrte die große Einheit und er lehrte den Weg.

Cervantes
Rabelais

RINGS UM VERSAILLES

Die sogenannte klassische Epoche des französischen Theaters hat das Unausstehlichste, Langweiligste und Plat­teste hervorgebracht, was je auf der Bühne eines Kultur­volkes sich anspruchsvoll darstellte. Racine und Corneille, Meister in der aristotelisch aufgebauten Handlung, aber herz- und sinnlos, bleiben weit hinter den griechischen Dichtern, weit hinter Engländern zweiten Ranges, weit hinter den spanischen Dramatikern zurück. Für Racine kommen als „tragisch empfindende Wesen“ überhaupt nur Götter, Heroen und Personen des Hofes in Betracht. Der gewöhnliche Mensch — bei dem jede Dichtung zu begin­nen hat — war ihm ein Nichts. Der Äschylustknabe Pierre Corneille(1606—1684) dramatisierte heroisch den „Cid“. Hier einige Verse aus der großen, zu allen Zeiten besonders gerühmten Szene des dritten Aktes, die in ihrer Lächerlichkeit den tierischen Ernst des Stückes angenehm unterbricht:

Chimene: Gib mir nicht Anlaß mehr, zu stören meine Ruh.
Rodrich: Laß sterben mich!
Chimene: Geh, geh!
Rodrich: Und was beschließest du?
Chimene: Den Flammen süß zum Trotz, die meinen Eifer schmähen,
Will tun ich, was ich kann; den Vater mein zu rächen.
Doch trotz dem heißen Drang der töchterlichen Pflichten,
Kann ich nur wünschen, niemals etwas auszurichten.

Corneille schrieb ferner „Horace“, „Cinna“, „Polyeucte“ (ein Märtyrerdrama), bis der sophoklessig gestimmte Jean Racine (1639—1699) ihn aus der Gunst des Pu­blikums verdrängt: mit patriotisch verkappten Stücken wie „Andromaque“, „Britannicus“, „Mithritade“. Sein bestes bleibt „Athalie“. In der Behandlung des Verses erweisen sich beide Klassizisten als Meister.

Charles Perrault (1628—1703) sammelt, ein franzö­sischer Grimm, die französischen Volksmärchen. 163 5 grün­dete der Kardinal Richelieu die Academie Francaise, die die oberste Wächterin der französischen Literatur darstel­len sollte. Sie begann ihre Tätigkeit mit der Herausgabe eines normgebenden Diktionärs. Francois Malherbe und Boileau regelten die Verskunst. Jetzt schrieb man, wie man strickte oder kochte: alles nach der peinlichen Regel des Kochbuchs. Man kochte Gedichte, indem man horazisch gewürzte Sonette wie Kohl aufwärmte. Aber die Nachahmung der Antike ebbte ab.

Die Klassik hat einen Gegenpol in einer romantischen Bewegung, der man den großen Fabeldichter Lafontaine die novellistischen Satiren des Cyranode Bergerac (des­sen Abenteuer Edmond Rostand im zwanzigsten Jahrhun­dert erfolgreich dramatisiert), den komischen Roman eines Paul Scarron zuweisen kann.

In Moliere hat der französische Geist eine seiner großen Erfüllungen gefunden.

Moliere (1622—1673) hat die Menschen, die erschuf, nicht nur erlebt, er hat sie auch gespielt. Er trat in seinen eigenen Stücken auf und ließ sich als Sganarelle verprü­geln. Während Corneille Schemen kommandiert, erschei­nen bei Moliere wirkliche Menschen. Im Mittelpunkt steht immer ein bis ins peinlichste genau geschilderter Charak­ter, der an sich und in sich komisch oder tragikomisch wirkt und der doch gleichzeitig ein Laster symbolisiert: den Geiz, die Heuchelei, den Hochmut („Tartuffe“, „Der eingebildete Kranke“, „Der Geizige“). Er verspottet auch, wie in den „Pretiosen“, geistige Moden seiner Zeit. Der Heuchler „Tartuffe“ bildet den Höhepunkt des französischen Theaters. Schon Goethe hat den tragischen Zug in Molieres Komödien festgestellt, der besonders im „Misan­throp“ und im „Geizhals“ die Komödie weinend über­grinst. Molieres Tod ist selbst eine Tragikomödie. Erspielte den eingebildeten Kranken, eine seiner Lieblingsrollen: als aus dem Spiel unversehens Ernst wurde — und der ver­spottete Tod ihm den Puls zudrückte, den er sich „im Spaß“ gefühlt.

Am Hofe Ludwig des Vierzehnten bildete einen belieb­ten Zeitvertreib das Erfinden von schlagenden Epigram­men und geistvollen Aphorismen. Ihr Meister ist der Her­zog von Larochefoucauld, dem sie in den Armen schö­ner Hofdamen einfielen. Er ist Skeptiker und Realist. Einem alten Vicomte, der ihm Vorhaltungen wegen seines Lebens­wandels machte, erwiderte er: „Die Greise lieben es, gute Ratschläge zu erteilen, um sich darüber zu trösten, daß sie nicht mehr in der Lage sind, schlechte Beispiele zu ge­ben…“

Der größte Denker der Franzosen ist Blaise Pascal (1623—1662), dessen mystische „Gedanken“ in unsere Zeit hineinragen.

Jean de la Bruyere fand für seine satirische Mystifi­kation „Die Charaktere des Theophrast“ keinen Verleger und schenkte darum das Manuskript der schönen Tochter eines Verlegers, die ihren Papa schließlich zur Herausgabe überredete. Er hat es nicht zu bereuen gehabt: Das Buch wurde ein Sensationserfolg.

Achtes Kapitel
DAS ZEITALTER DER REVOLUTION
VOLTAIRE UND ROUSSEAU

In Montesquieus (1689—1755) „Persischen Briefen“ läuten schon die ersten Sturmglocken der kommenden Re­volution. Die Republik ist die einzig menschenwürdige Staatsverfassung, denn niemals kann ein Despot gerecht sein. Kurios, daß gerade die „höchsten Kreise“ besonders entzückt von dem Buch waren. Aber immer haben ja die Renegaten der herrschenden Klasse die Revolution der auf­steigenden ins Werk gesetzt. Die Französische Revolution von 1789 ist von abtrünnigen Adligen (Mirabeau), die deut­sche Bauernrevolution von abtrünnigen Rittern (Florian Geyer), die russische Proletarierrevolution 1917/18 von ab­trünnigen Bürgern (Lenin) inszeniert worden. Die rebel­lierende Masse verfügt nicht über das geistige Rüstzeug, das ihr von „oben“ zugetragen werden muß.

An Schärfe und Witz übertraf Montesquieu Herr von Voltaire (1694—1778), der Freundfeind Friedrichs des Großen, Verächter der Autorität, der Kirche, die er in Pamphleten angriff — um danach zur Beichte zu gehen. Überhaupt ist der Charakter dieses „Aufklärers“ zwiespäl­tig genug. Edelstes und Gemeinstes paarte sich in ihm in einer skurrilen Harmonie. In „Candide“ bekämpft er den hohlen Optimismus „von der besten aller Welten“. Er plä­diert für einen schöpferischen Skeptizismus, der heute in den philosophischen Schriften des Deutschen Otto Flake um neues Leben ringt. Im Formalen seiner Dramen ist et ein D6-Racine\ Seine Tendenz ist der Racines strikt ent­gegengesetzt. Er ist der stärkste Schrittmacher der Revo­lution. Von seiner satirischen Dichtung ist die „Jungfrau von Orleans“, die Parodie eines Heldenepos, das bedeutend­ste : scharf wie Lauge und offen bis zur Schamlosigkeit. Den französischen Königen geht es insgesamt übel. Kopfschüt­telnd liest man die Urteile namhafter Literarhistoriker, die aus diesem „verlotterten“ Werk her begreifen wollen, daß die Revolution 1785 notwendig wurde. Das heißt: sie in­augurieren der Muse der Geschichte, sie habe die Revolu­tion gegen Voltaire angezettelt, während sie doch mit Hilfe von Voltaire gegen die unhaltbar gewordenen Zustände in Staat und Gesellschaft, die Voltaire angriff, losbrach. Die ewige Verwechselung von Ursache und Wirkung.

Mit Voltaire kämpfte der Enzyklopädist Denis Dide­rot (1713—1784). Auch in seiner Brust rangen zwei See­len. Er schrieb „den Neffen Rameaus“, einen Typ Mensch, den er in seinen theoretischen Schriften heftig bekämpfte.

Auch der Dritte im Bunde: Jean Jacques Rousseau (17121778), war ein Zwitter, ein Literat: er lebte anders, als er dachte und forderte. Er huldigte einer theoretischen Güte, um praktisch sich oft genug (gegen seine Frau und Kinder!) auf das übelste aufzuführen. Er war aus der Klasse, die emporwollte, Sohn eines Uhrmachers, voller Halbbil­dung, aber voll glühender, gewissenloser Sehnsucht nach Wissen. Er hasste den Staat und die Gesellschaft, die ihn verkommen ließen. Er untersuchte „den Ursprung und die Gründe der Ungleichheit unter den Menschen“. Er schrieb »das Naturevangelium der Erziehung“, den Roman „Emi­le“. „Die neue Heloise“ ist das Buch der „schönen Seele“, die bald Mode wurde. In den „Bekenntnissen“ entblättert Rous­seau seine „schöne“ und hässliche Seele. Von Rousseau beeinflusst ist St. Pierre in der Idylle „Paul und Virginie“.

Nach Larochefoucauld findet der Aphorismus zwei Mei­ster in Vauvenargues und Chamfort. „Die großen Ge­danken kommen aus dem Herzen“, schrieb Vauvenargues, und seine kamen gewiss aus dieser Quelle.

Beaumarchais schreibt das Intrigenstück „Barbier von Sevilla“ und „Figaros Hochzeit“, die auch der Polter­abend der Revolution heißen könnte. Arglos agierte die Königin Marie Antoinette die Rosine im „Figaro“, um bald darauf das schöne Haupt auf den Richtblock zu legen. Der Genuss als oberstes Prinzip wurde immer unverschäm­ter verfochten. Choderlos de Laclos gab Unterricht in der Verführung junger Mädchen („Gefährliche Liebschaf­ten“), der Marquis de Sade pervertierte ihn. Retif de la Bretonne zeichnet meisterhafte Satiren der Revo­lution in den „Revolutionsnächten“. Lesage schreibt seinen „Gil Blas“, einen Sittenroman im Stile der Spa­nier. Ein Nachahmer des englischen Familienromans war der Abbe“ Prevost, der Verfasser der wundervollen Ge­schichte der „Manon Lescaut“. Prevost hatte ein merk­würdiges Leben und einen noch seltsameren Tod: er wur­de als Scheintoter seziert. Den galanten Roman pfle­gen Crebillon d. J., Nerciat, d’Aucourt und der Lustspieldichter Marivaux. Hierher wären auch die fal­schen Memoiren des „Chevalier de Faublas“ zu rechnen, deren Verfasser Louvet de Couvray ist. Der Aretino dieser Zeit ist der Graf Mirabeau, der Politiker und Erotiker.

1792 sang man die „Carmagnole“:

Was will das Proletariat?
Daß keiner %u herrschen hat!
Kein Herr soll befehlen,
Kein Knecht sei zu quälen,
Freiheit! Gleichheit! allen Seelen!
Vorwärts, Brüder, zur Revolution!
Kaltes Blut, heißer Mut!
Vorwärts, es wird gehn,
Wenn wir getreu zusammenstehn.

Was will das Proletariat?
Sich endlich fressen satt.
Nicht mit knurrendem Magen
Für feiste Wänste sich schlagen,
Für sich selbst was wagen.

Was will das Proletariat?
Daß keiner mehr dien als Soldat.
Ewigen Frieden wollen wir
Und die Kugel dem Offizier.
Will leben. Bin Mensch. Kein Hundetier.

Was will das Proletariat?
Für den Bauern Acker und Saat.
Nicht Gutsherr noch Gendarm,
Die machen ihn ärmer als arm.
Land für alle! Alarm! Alarm!

Was will das Proletariat?
Weder Eigentum noch Staat!
Die Tyrannei zu Falle!
Die Erde für alle! Den Himmel für alle!
Vorwärts Brüder zur Revolution!
Kaltes Blut, heißer Mut!
Vorwärts, es wird gehn,
Wenn wir getreu zusammen stehn.

Der Lyriker der Revolution ist Andre de Chenier (17621794), der, selber entflammter Revolutionär, von den Jakobinern als nicht radikal genug guillotiniert wird. Er wusste sein Schicksal voraus:#

So wie ein letzter Hauch, ein letzter Strahl des Gottes
Den Tag verklärt an seinem Schluß,
Rühr ich die Leier noch am Fuße des Schafottes,
Wer weiß, wann ich’s besteigen muß!

Die Jakobiner hatten dem kommenden Kaiser den Weg bereitet. Napoleon Bonaparte zog die Bilanz der Revolu­tion.

NORDISCHES ROKOKO

In England hatte der Puritanismus längst sein Pathos und seine Ideenkraft verloren, und alles, was davon übrig­geblieben, war die Prüderie. Die englische Prüderie, die durabelste aller Prüderien: sie hat es bis auf den heutigen Tag verstanden, mit der Ausschweifung und der Habgier unter einem Dache zu wohnen und mit ihnen keinen Streit zu bekommen.

William Congreves frivole Konversationsstücke, wie „Liebe um Liebe“ (die Herren haben alle Hirschgeweihe und die Damen sehr wenig an), werden nicht mehr ge­spielt, obgleich sie auf dem Weg zu Shaw liegen. In Ge­orge Lillos bürgerlichem Trauerspiel „Der Kaufmann von London“ bekommts ein Wüstling tüchtig ab. Er bringts bis an den Galgen. Jonathan Swift (1667—1745) bringts weiter: als größter europäischer Satiriker bis zum europäischen Ruhm, der ihn nicht vor Wahnsinn schützt. „Gullivers Reisen“ sind eine bitterböse politische Satire. Unter Zwergen ein Riese benimmt sich Gulliver tyran­nisch, frech, roh; unter den Riesen ein Zwerg wird der­selbe Gulliver klein und hässlich, hündisch kriechend. In einem letzten Teil werden die Pferde und Esel dem Men­schen als Muster vorgestellt. Über die Ursachen der Kriege, die sozialen Missstände werden Dinge gesagt, wie sie schärfer nie formuliert worden sind (sein Vorschlag, Kin­der zu schlachten). John Gay (1688—1732) schreibt Fa­beln wie ein Gentleman sie schreibt: Moral diskret ver­borgen wie die Hand unter dem gelben Handschuh. In seiner „Bettleroper“ (Brechts Dreigroschenoper ist eine Neubearbeitung) bringt er das Londoner Räuberunwesen auf die Bühne. Wycherly, Farquhar und die Aben­teurerin Aphra Behn schreiben Komödien, in denen sie Moliere nachzuahmen versuchen, aber ins Obszöne ver­fallen.

Das Studium der Theologie wird Mode, der große Naturforscher Newton erklärt die Offenbarung Johannis und der Philosoph Locke schreibt über die Vernunftmäßigkeit des Christentums. Die entstehenden unpolitischen Wochenschriften (Spectator) bereiten dem Familien-man den Weg. Seine Hauptvertreter sind der tugendhafte Samuel Richardson, der die arme verführte Clarissa zur Heldin eines achtbändigen Romans macht, und der leichtsinnigere Henry Fielding (1707—1754), der die Welt mehr komisch nimmt. Lawrence Sterne (1713 bis 1768) übertrifft sie beide an innerer Wahrhaftigkeit. Als Yorick macht er eine empfindsame Reise durch Italien und Frankreich. Oliver Goldsmiths Roman „Land­prediger von Wakefield“ erklärte Goethe für einen der besten Romane aller Zeiten. Uns will Goldsmiths Stil heute verstaubt erscheinen. Wie lebendig dagegen ist noch „Ro­binson Crusoe“, das Lieblingsbuch unserer Kindheit: das Leben und die ungemeinen Begebenheiten des weltbe­rühmten Engländers, der durch Sturm und Schiffbruch, nachdem seine Reisegefährten elendiglich ertrunken, an der amerikanischen Küste, bei dem Ausfluß des großen Stromes Orinoko, auf eine einsame Insel geraten, achtund­zwanzig Jahre darauf gelebt und zuletzt durch Seeräuber wunderbarerweise davon befreit wurde. Die Erlebnisse eines schiffbrüchigen Matrosen auf einer einsamen süd­amerikanischen Insel, die Daniel Defoe nach Angaben Alexander Selkirks aufzeichnete. Sein Roman „Moll Flan-dcrs“ ist ebenfalls noch lesenswert. Die Sittenlosigkeit der Zeit spiegeln die Romane Smollets (1721—1771). Ein kleines Rokokokunstwerk, elegant und amüsant, ohne tiefere Bedeutung ist des „Königs der Reime“ Alexander P o p c s Epos „Der Lockenraub“: ein Lord raubt der Dame seines Herzens eine Locke. Zu der Staatsaktion werden Gnomen und Elfen, Götter und Helden aufgeboten. Mit Swift gemeinsam führt er eine Zeitlang ein Gedankentage­buch in Aphorismen. Edward Young (1681—1765) ist in seinen Satiren ein Schüler Popes. Sein elegisches Ge­dicht „Nachtgedanken“, von dessen sechstausend Versen fünftausend leicht entbehrt werden könnten, machte ihn zu einer europäischen Berühmtheit. Kurz vor Youngs Tod veröffentlichte Macpherson seine Ossiangesänge, über die ich oben sprach. Der Ruhm Ossians ließ den sechzehn­jährigen Chatterton nicht schlafen, und er entdeckte in einer alten Truhe Verse des Mönches Rowley aus dem 15. Jahrhundert, vergiftete sich aber törichterweise, als der recht gut gelungene Bluff aufgedeckt wurde. Mit Sheridan, dem Ankläger des indischen Gouverneurs Hastings, nahm das Lustspiel („Die Lästerschule“) wieder einen bescheidenen Aufschwung.

Die Neuausgrabung Ossians lenkte die allgemeine Auf­merksamkeit auf das Volkslied. Was Wunder, daß der schottische Bauer Robert Burns (1759—1796)» der an schottische Traditionen anknüpfte, bejubelt wurde mit seinen kleinen Liedern, die er drucken ließ, um die Über­fahrt nach Jamaika herauszuschlagen; denn er wollte aus­wandern. Der Erfolg war so, daß er blieb. Er wurde von Mäzenen nach Edinburg geholt und mit Geld und Ehren überschüttet, was ihm schlecht bekam. Sein Leben klingt an den Schweden Bellman an: er säuft und verkommt wie er. Aber seine Lieder sind doch milder, demütiger. Es weht in allen ein Hauch Puritanismus. Er wagt es nicht, sich’s mit dem lieben Gott ganz zu verderben. Viele seiner Lieder erinnern an Eichendorff. Was Burns für Schottland, ist Thomas Moore (1779—1852) für die grüne Insel.

Seine trotzigen und traurigen irischen Melodien sind der Stolz Irlands.

Die norwegische Volksdichtung hat sich aus den Sagas entwickelt. Bauern sind ihre Autoren, Naturmenschen, die mit Naturgeistern wie Troll und Nisse auf du und du stehen. Diese Bauern waren dem nüchternen Protestantis­mus so abgeneigt, daß sie seine ersten Sendlinge ermor­deten. Aus dem Bauernstande stammt Peter Daß (1647 bis 1708), der die „Nordlands Trompet“ blies. Dem prote­stantischen Geist der Aufklärung zahlte aber schließlich auch Skandinavien seinen Tribut in dem dänischen Ko­mödiendichter Ludwig Holberg(i 684—1754), der seine satirischen Dramen („Jeppe vom Berge“) schrieb, um den Menschen „zu bessern“. Aber die guten Leute wurden nicht besser, zur Strafe sandte ihnen der Himmel den Brand von Kopenhagen (1728), der den Sieg des Pietismus zur Folge hatte: der verbot jede Lustbarkeit und also auch das Theater.

Als 1770 Minister Struensee die Zensur aufhob, waren die erste Folge die leidenschaftlichen Angriffe des jungen Sozialisten Malte Conrad Bruun gegen Regierung, Geistlichkeit und Adel in seinem „Aristokratischen Kate­chismus“. Johannes Ewald dichtet seine von Klopstock beeinflussten Bardengesänge, wie „Kong Kristian“. Eben­falls unter deutschem Einfluss steht der ruhelose Welten Wanderer Jens Baggerseen (1764—1826), den es von Lü­beck nach Kopenhagen, von Kopenhagen nach Hamburg, Von Wieland zu Klopstock, von Klopstock zu Voltaire trieb.

Am Beginn der schwedischen Literatur steht Carl Michael Bellman (1740—1795), der verliebte, trunkene Zecher, der Präsident des bacchanalischen Ordenskapitels, Liebhaber der schönen Nymphe Ulla Winblad, der das schwedische Rokoko mit Göttern aus Stockholms Ka­schemmen und Tavernen belebt. Er zecht mit Eros und Thanatos, bis er in den Armen einer Vorstadtvenus be­soffen entschläft. Korporal Movitz, der ewig hüstelnde, der mit dem Tod Brüderschaft getrunken, weckt ihn am Mor­gen mit einem Waldhorn oder einer Klarinette. Dann reißt er die Laute von der Wand und singt seine wilden, ver­teufelten, göttlichen Lieder („Fredmans Episteln“), die anders klingen als die Bußpsalmen „Lucidors des Unglück­lichen“ (Lasse Johansson) oder das Turteln der „trauernden Turteltaube“ (Charlotte Nordenflycht). In ihnen stiebt der schwedische Schnee, knackt das Eis des Mälarsees, dampft der Punsch, prutzeln die Bratäpfel, heulen Wölfe, lachen halb­nackte Mädchen und toben die Trolle in einem Karneval alt­griechischer Masken, zu dem der Tod die Bassgeige streicht.

Holt mir Wein in vollen Krügen!
— Notabene: Wein vom Sundgau —
Und ein Weib soll bei mir liegen! .
— Notabene: eine Jungfrau —
Ewig hängt sie mir am Munde,
— Notabene: eine Stunde…

Ach, das Leben lebt sich lyrisch,
— Notabene: wenn man jung ist —
Und es duftet so verführisch,
— Notabene: wenn’s kein Dung ist —
Ach, wie leicht wird hier erreicht doch,
— Notabene: ein Vielleicht noch…

Laß die Erde heiß sich drehen,
— Notabene: bis sie kalt ist —
Deine Liebste sollst du sehen,
— Notabene: wenn sie alt ist —
Lache, saufe, liebe, trabe,
— Notabene: bis zum Grabe…

JAHRHUNDERT FRIEDRICHS

Fabricius Campanus führt den italienischen Namen singani für Zigeuner mit kühner Etymologie von cinclo her, einem kleinen Vogel „zu teutsch Bachsteltze genannt, welcher so elend, daß er keinen beständigen Ort hat…“ Nicht erst Henry Murger (der sie in seiner „Boheme“ po­larisierte) hat die symbolische Beziehung zwischen Künstler und Zigeuner (bohemien) aufgedeckt. Schon bald nachdem die Zigeuner unter ihrem erlauchten König Zundl erstmals die deutschen Lande durchstreiften, hat man sie mit den Moritatenerzählern, den Wahrsagern, Kunstreitern und allem Jahrmarktsvolk in einen Topf ge­worfen, daß man sie bald nicht mehr auseinanderkannte. Von den Moritatenklexern bis zu den Malern, von den Moritatenerzählern bis zu den Dichtern, von den Flöten­bläsern bis zu den Komponisten ist nur ein Schritt. Bach­stelze — Zigeuner — Feuerfresser — Zeichendeuter — Dichter: eine geschlossene Kette: immer kämpfen zwei Seelen im Dichter: die eine, die ihn zur ewigen Heimat, die andere, die ihn auf die ewige Wanderschaft lockt. Und wenn die zweite übermächtig wird, daß er den Weg von Hause und nach Hause vergisst, wenn er wild in die Weite schweift ins Grenzenlose greift, keine Gesetze anerkennt als die, die er sich selbst errichtet: dann wird er zum völligen Zi­geuner, zu jenem Typ, der in der Literaturgeschichte aller Völker (wie in der Entwicklungsgeschichte der Nomade) immer wieder zu Beginn einer Epoche erscheint, ihr Jo­hannes, ihr Vorläufer. In Deutschland ist dieser Johannes: Johann Christian Günther (1695—1723)- Wie ein Sturmwind braust der Schlesier, als Götterbote einer neu­en Zeit, in die deutsche Dichtung. Er schmiedete ihr die Waffen, mit denen sie später unter Goethe den himmlischen Sieg erfechten sollte. Was wäre der Sturm und Drang ohne Günther? Was Goethe ohne Günther geworden, der ihm die Wege bereitete. Wie in Frankreich der Vagant Francois Villon, so steht in Deutschland der ahasverische Wan­derer Johann Christian Günther, Student und Vaga­bund, der Unstete, der Schweifende, am Anfang der neuen lyrischen Dichtung. Nur wer den Mut zu Ab-und Seitenwegen hat, der wird auch neue Wege finden. Darum sind alle diese Pfadfinder von schwankender Menschlichkeit und durchweg, wenn auch nicht immo­ralisch, so doch amoralisch gerichtet. Sie sind verdammt, Lasten und Laster einer Generation vorwegzunehmen und zu schleppen, die nach ihnen kommt. Diese hat ihre Frei­heit der Unfreiheit, ihre schwebende Leichtigkeit der stampfenden Schwere jener zu danken. Jene sind wie Stie­re, diese wie Sonnenadler. Der junge Goethe als Student in Leipzig: das ist eine wörtliche Neuauflage des jungen Günther. Der nie ein alter Günther werden sollte, denn er starb im 28. Jahre an einem Blutsturz. Diesen Blutsturz er­lebte auch Goethe in Leipzig: aber er überstand ihn und ging gekräftigt aus der Krise hervor. Günther hatte sein Blut verströmt. Sein junges Leben und Dichten ist ein Ver­brennen und Verbluten. Er ist der erste Dichter, der sich bewusst außerhalb der bürgerlichen Gesellschaft stellt und der dadurch jenen latenten Konflikt mit seinem starrköp­figen Vater heraufbeschwor, der nicht wenig zu seiner Er­bitterung und Verbitterung und zu seinem vorzeitigen Zu­sammenbruch beigetragen hat. Gar so leicht wurde es dem Kinde nicht, von selbst gehen zu lernen in einer Welt, die sich ihm philisterhaft entgegenstellte, und die Ablösung von der Nabelschnur, die ihn in den Eltern mit dem Bürgertum verband, geschah nicht ohne Krämpfe und Schmerzen. Er hatte Feinde „ringsum“. Seine wilde Leier wünschten Tau­sende ins Feuer, „denn sie rasselt allzuscharf“. Wie ein von allen gemiedener räudiger Hund lief er durch Deutschlands Straßen. Da übermannte ihn die Verzweiflung, daß er zu sterben wünschte, weil Leonore selbst ihn erlassen.

Ach Gott, mein Gott, erbarme dich!
Was Gott? Was mein? und was Erbarmen?
Die Schickung peitscht die ausgestreckten Armen,
Und über mich
Und über mich allein Kommt weder Tau noch Sonnenschein,
Der doch sonst auf der Erden
Auf Gut‘ und Böse fällt. Die ganze Welt
Bemüht sich, meine Last zu werden.

Aber er reißt sich wieder empor, die Tränen versiegen, die Faust ballt sich:

Ich will hoffen. Die Hoffnung siegt!
Die Geduld ist meine Stärke,
Die Gelassenheit mein Schwert,
Wer sich mit Verachtung wehrt,
Tut im Streiten Wunderwerke,
Bis Gewalt und Bosheit liegt.
Ich will hoffen. Hoffnung siegt!

Und abends, auf der Dorfstraße, wenn er ein schönes Mädchen am Zaun stehen sah, konnte er wieder lächeln. Er lächelte und lachte ihr und sang ihr zu:

Schönen Kindern Liebe singen
Ist das Amt der Poesie,

und reichte ihr galant den Arm und spazierte mit ihr in den Wald oder auf den Kirchhof, und auf den Gräbern der Toten blühten die Küsse der Lebenden und Liebenden wie Jasmin und Tulipan.

Gelangt er bei seiner Wanderung in eine Universitätsstadt, versammelt er eine Genossenschaft junger trunkner Menschen um sich und singt ihnen das schönste deutsche Studentenlied:

Brüder, laßt uns lustig sein,
Weil der Frühling währet,
Und der Jugend Sonnenschein
Unser Laub verkläret;
Grab und Bahre warten nicht;
Wer die Rosen jetzp bricht,
Dem ist der Kranz bescheret.
Unsers Lebens schnelle Flucht
Leidet keinen Zügel,
Und des Schicksals Eifersucht
Macht ihr stetig Flügel;
Zeit und Jahre fliehn davon,
Und vielleichte schnitzt man schon
An unsers Grabes Riegel.

Wo sind diese? sagt es mir!
Die vor wenig Jahren
Eben also, gleich wie wir,
Jung und fröhlich waren?
Ihre Leiber deckt der Sand,
Sie sind in ein ander Land
Aus dieser Welt gefahren.

Wer nach unsern Vätern forscht,
Mag den Kirchhof fragen;
Ihr Gebein, so längst vermorscht,
Wird ihm Antwort sagen.
Kann uns doch der Himmel bald,
Eh die Morgenglocke schallt,
In unsre Gräber tragen.

Moliere
Voltaire

Johann Christian Günther! Sein Lorbeer grünt, wie er sel­ber sang, auf die Nachwelt hin. Sein Name dringt „durch Sturm und Wetter / der Ewigkeit ins Heiligtum“.

Mit Günther gleichaltrig ist der Ostpreuße Johann Christoph Gottsched (1700—1766), der der deutschen Literatur mit professoraler Weisheit und deutend erhobe­nem Zeigefinger: dies darfst du! und: dies darfst du nicht! auf die Beine helfen wollte. Ich weiß nicht, ob er Günther gekannt hat. Jedenfalls hätten ihn seine Wildheit und sein Feuer bestürzt und erschreckt. Er war für das Manierliche und Moralische. Bürgerlich-wohlanständig, klar, deutlich und nüchtern hatte die Poesie zu sein. In seinem „Versuch einer kritischen Dichtkunst für die Deutschen“ stellte er eine enge und beschränkte Theorie auf und verlangte mit der Geste eines Diktators, daß sich jeder Dichter (immer mal wieder!) strikt danach zu richten habe, ansonst der Herr Lehrer ihm eine Fünf ins Büchel schreibe. Das Wich­tige an Gottscheds dramaturgischen Leistungen ist das Wagnis, das Experiment. Andere erst sollten aus seinen Erfahrungen lernen. Er übersetzte Aristoteles aus dem Französischen und stellt das Gesetz der Einheit von Ort, Handlung und Zeit auch für die deutsche Bühne fest. Dann spuckt er sich (sozusagen) in die Hände, krempelt seine Ärmel auf und setzt sich hin, nach seiner eigenen Theorie ein Musterdrama als Vorbild für alle dramendichtenden Musterknaben zu schreiben, den „sterbenden Cato“; nach seiner Lektüre kann man nur wünschen, daß Cato nicht geboren worden wäre, so hätte er auch nicht zu sterben brauchen. Zwei große Verdienste aber dürfen Gottsched nicht abgestritten werden: Sein Kampf gegen die Verhunzung der deutschen Sprache und sein Kampf für das Thea­ter als Kunstinstitut: Das Theater war damals zu einer Jahrmarktsunterhaltung herabgesunken, bei der Roheit, Schwulst und Albernheit abwechselnd das Szepter führten. Gottsched gelang es, die berühmte Schauspielerin Caro­line Neuber für seine Pläne zu gewinnen und sie stellte ihm ihre Bühne zur Verfügung. — Nicht vergessen soll ihm werden, daß er das deutsche Buch-Drama zum Büh­nen-Drama zu erlösen trachtete. Es ist selbstverständlich, daß Gottsched, dessen menschliche Eigenschaften: Über­heblichkeit und Sucht nach Intrige verunziert wurden, viele Gegner fand. Die Schweizer Bodmer(1689—1783) und Breitinger (1701—1776) traten, der erste mit einer „Abhandlung vom Wunderbaren“, der zweite mit einer „Kritischen Dichtkunst“ gegen ihn auf. Bodmer ficht für das Recht der Phantasie und des goldenen Gefühls gegen Gott­scheds graue Theoreme und rationelle Vorschriften. Gott­sched hat sich seine Weisheit bei den Franzosen geholt, die Schweizer wiesen als Beispiel für ihre Theorie, die kei­ne Theorie sein wollte, auf die Engländer, besonders auf Miltons „Verlorenes Paradies“. Übrigens formulierten sie, verführt durch Miltons malerische Begabung, eine Uber­einstimmung von Dichtung und Malerei, die es nicht gibt, und sind letzten Endes mit ihrer moralischen Phantasie Spießer wie Gottsched, nur mit umgekehrten Vorzeichen.

Der Liebling des Lesepublikums wurde Christian Fürchtegott Geliert (aus Sachsen, 1715—1769). Denn er vereinigte die damaligen Richtungen harmonisch in sich: Gottscheds Steifheit, Bodmers „moralische“ Phantasie, Hallers gebirgiges Barock und eine milde pietistische Fröm­migkeit, die seit Gerhard und Gryphius aus der deutschen Dichtung nicht verschwunden war. Auch der ungezügelte Günther hatte den religiösen Ton aufgenommen und nicht verklingen lassen. Zu Gellerts Volkstümlichkeit trug nicht wenig sein ehrenfester, lauterer Charakter bei. In ihm durfte das Bürgertum sein Ideal sehen: selbst Friedrich der Große, der in seiner französischen Schrift „Von der deutschen Literatur“ vor der deutschen Dichtung absolut keinen Respekt zeigte, verneigte sich huldigend vor dem kleinen Leipziger Professor der Beredsamkeit und Moral. Seine Fabeln, Erzählungen und geistlichen Lieder plät­schern sacht und sanft daher, hie und da mit einem Schuss gutmütiger Bosheit versehen, gerade so boshaft, daß es nicht weh tut. Weh tun wollte diese personifizierte Güte niemandem. Er war nicht nur ein Fürchtegott, sondern auch ein Fürchtemensch und Fürchtetier. Daß das Tier in ihm wie in jedem Menschen lebendig war, beweist eine in mancher Fabel durchbrechende Lüsternheit, die zu unter­drücken seine ganze moralische Kraft notwendig war. Denn er war zu krank, um einer animalischen Lust recht und wahrhaft leben zu können wie der Hamburger Fried­rich von Hagedorn (1708—1754)» der Anführer einer ganzen Schar galanter Herren, die in erster Linie Kavalie­re, in zweiter erst Dichter sein wollten und die Anbetung der Muse und der geliebten Frau höchst zweckmäßig ver­einten.

Auf dem Wege über die Romanen waren Horaz und Anakreon zu den Deutschen gekommen. Bei dieser Wan­derung hatten sie manches von ihren ursprünglichen Rei­zen verloren und manches an neuen Reizen hinzubekom­men. Anakreon war in Frankreich ein leichtfertiger, ele­ganter Schürzenjäger, Floraz im Gefolge der päpstlichen Höfe ein überaus witziger, wohlbeleibter, immer leicht an­getrunkener Domherr geworden, dem ein Kranz voll Wein­laub die Tonsur verdeckte, und bei dem die schönen Da­men von Rom und Ravenna gern und willig beichteten, denn er sprach sie lächelnd von vornherein aller Sünden ledig. Anakreon und Horaz sind die Väter des französi­schen und des deutschen Rokoko: die griechischen Götter, nach französischer Mode aufgeputzt, Eros und Silen führten den trunkenen Reihen der Poeten, die sich griechische Namen gaben, wie Dämon oder Bathyll, und ihrer lieb­reizenden Schäferinnen: Phyllis oder Chloe gerufen. Das ländliche Leben wurde Mode. Aber es war nur ein Auf­putz. Die Damen frisierten sich als Bäuerinnen, ihr Herz war von der Natur recht weit entfernt, jede Berührung mit der wahren Natur und ihrer Derbheit erschreckte sie. Sie kleideten sich in Hirtenkleider, die ein Pariser Modekünst­ler entworfen hatte, und hüteten auf wohlgepflegten Wie­sen kurz geschorene, weiß gewaschene, saubere Lämm­chen, mit rosa Bändern am Hals und einer kleinen Glocke daran. Und die Hirtenstäbe der Herren waren mit Silber und Gold besetzt. Die anakreontische Lyrik beginnt, un­geschickt angeschlagen, schon bei den Pegnitzschäfern in Nürnberg um 1644 zu erklingen, einer der sogenannten Sprachgesellschaften, die im Anschluss an die Meistersin­gerschulen entstanden. Die Dichter dieser Gesellschaft, zu denen auch der gute Philipp Harsdörffer gehört, der Erfinder des „Nürnberger Trichters“ (mit dem er den be­dauernswerten Zeitgenossen die Poesie künstlich eintrich­tern wollte), führten je einen Hirtennamen und als Sym­bol je eine Blume im Dichterwappen. Hagedorn und seine Kameraden sind begabter als ihre Vorläufer im 17. Jahr­hundert. Wie entzückend ist dieses Gedicht von Hage­dorn:

Du holder Gott der süßesten Lust auf Erden,
Der schönsten Göttin schönster Sohn!
Komm, lehre mich die Kunst, geliebt zu werden;
Die leichte Kunst, zu lieben, weiß ich schon.

Komm ebenfalls und bilde Phyllis‘ Lachen,
Cythere, gib ihr Unterricht!
Denn Phyllis weiß die Kunst, verliebt zu machen,
Die leichte Kunst zu lieben weiß sie nicht.

Die Hainbündler, die Stürmer und Dränger, der junge Goethe: sie konnten lange nicht von den hier angeschla­genen Tönen loskommen.

Aber außer Goethe gelang es noch einem Lyriker, seiner im Walde der Anakreontik geschnitzten Flöte eigene Töne zu entlocken: Johann Georg Jacobi (aus Düsseldorf, 1740 bis 1841) „Ihm war die Grazie (übrigens das Lieblingswort der Epoche!), die so mancher Anakreontiker sich mühsam anlernen musste, angeboren“ heißt es im Vorwort zu seinen „Sämtlichen Werken“. Verse wie die „An ein sterbendes Kind“ gerichteten, sind rhythmisch so kühn und neu, dass sie von Goethe sein könnten. Auch sonst erinnert er an Goethe:

Komm Liebster, es neigen
Die Wälder sich dir,
Und alles mit Schweigen
Erwartet dich hier.

Der Himmel im glatten,
Umdämmerten Quell!
Dies Plätzchen im Schatten,
Das andre so hell!

Im Schatten: der Liebe
Dich lockendes Glück,
Dir flüsternd: es bliebe
Noch vieles zurück.

Es blieben der süßen
Geheimnisse viel,
So festes Umschließen,
So wonniges Spiel!

Da rauscht es! Da wanken
Auf jeglichem Baum
Die Äste! Da schwanken
Die Vöglein im Traum.

Dies Wanken, dies Zittern
Der Blätter im Teich —
O Liebe, dein Wittern!
O Liebe, dein Reich!

Der zürcherische Dichter und Maler Salomon Geßner (1730—1788) ist der Schöpfer der deutschen Idylle und, im Gegensatz zu Hagedorn, dem lyrischen, der prosaische Anakreontiker. Sein Talent ist begrenzt, aber innerhalb der Grenzen seines Talents bewegt er sich mit vollendeter Sicherheit und Anmut. Wir werden erst dann den ewigen Frieden haben, wenn arkadische Dichter wie er wahrhaft populär geworden und ihr Sinn beherzigt wird.

Ist Opitz als Privatdozent, Gottsched als außerordent­licher Professor der deutschen Literatur anzusprechen, so darf man Gotthold Ephraim Lessing (1729—1781) den Titel eines ordentlichen Professors und vortragenden Rates mit dem Prädikat Exzellenz nicht vorenthalten. Er ist nicht so langweilig wie die, die sich bei ihm langweilen. Aber er ist auch nicht der beschwingte Genius und Fackel­träger, zu dem man ihn hat empordichten wollen. Ernst, behutsam und bedächtig suchte er mit seiner Laterne das Dunkel der deutschen Dichtung zu erhellen, und es ge­lang ihm, über viele dämmerige und nachtschwarze Stellen Licht und Erkenntnis zu verbreiten. Das besorgte er be­sonders mit seinen „Briefen, die neueste Literatur betref­fend“. Da rief er Shakespeare, den Zauberer aus dem Wun­derland der Wirklichkeit, zum Zeugen auf gegen Gott­scheds Schablonenidealität. Da hob er den Mythos von Faust ans Licht, entdeckte entzückt das deutsche Volkslied und einen verschollenen Poeten wie Friedrich von Logau. Die Briefe sind an den Leutnant Ewald von Kleist gerichtet der im Heere Friedrichs des Großen focht und selber einige hübsche Gedichte und die sanfte Idylle vom Frühling ver­fertigt hatte. Die Schrift „Laokoon oder über die Grenzen der Malerei und Poesie“ hat zu seiner Zeit alarmierender gewirkt als heute in den Primen der Gymnasien. Die klare Unterscheidung von den Möglichkeiten von Harmonie und Differenz zwischen Malerei und Poesie tat dazumal bitter not. Denn die sogenannte beschreibende und malende Poesie, von Opitz eingeführt, von Haller, Matthisson und vielen minderen fortgeführt, drohte in ihren Auswüchsen die gerade nur erst hügeligen Ansätze einer neuen Dich­tung völlig zu verflachen. Indem er die Plastik als räum­lich, die Dichtung als zeitlich (nicht im historischen Sin­ne) bedingt definierte, eröffnete er auch Perspektiven auf Raum und Zeit, auf Traum und Ewigkeit schlechthin. Er rief den Dichtern zu: Nicht rasten! Nicht ruhen! Ruhe, Beharrung ist das Zeichen der bildenden Kunst. Ihr müsst, berlinisch gesprochen, Leben in die Bude bringen. En avant! Vorwärts! Tempo! Professor Lessing gerät hier in Feuer. Auch in der „Hamburgischen Dramaturgie“ (1767 bis 1769) zeigt er sich reichlich temperamentvoll, wie er mit den französischen Klassikern herumfährt, daß ihnen nur so der Puder aus den Perücken staubt. Er restituiert Aristoteles und versetzt die wahre tragische Handlung in die Seele des Menschen. Den Regeln, die er in der Ham­burgischen Dramaturgie aufgestellt, versucht er in einigen Dramen nachzuleben. Da und dort spürt man in ihnen das Konstruierte, Theoretische und Hypothetische, besonders in „Philotas“. In „Miss Sarah Sampson“ wagt er schon 175 5 das Drama von jeder Staatsaktion zu entkleiden und steigt ins gut, ins schlecht bürgerliche Milieu hinab. Er wollte beweisen, daß nicht bloß eine Prinzessin, sondern auch ein einfaches Bürgermädchen seine Tragödie erleben kann. Die französischen Klassiker reservierten prinzipiell das Tragische den Herren und Damen vom Hofe und den Göttern. In „Minna von Barnhelm“ haben wir, trotz man­cher Schwächen im einzelnen, eine wirkliche Dichtung. Professor Lessing lege seinen ersten Titel ab und sei Dich­ter Lessing genannt. Mit dem Prinzen von Homburg ist der Major von Teilheim einer der wenigen sympathischen preußischen Charaktere in der deutschen Literatur. In „Emilia Galotti“ tritt Lessing unter der Maske des Odoardo als Richter den Fürsten seiner Zeit entgegen. Und sei hier nicht mehr Dichter, sondern Richter Lessing genannt. In „Nathan dem Weisen“ fasst Lessing seine drei bisheri­gen Berufe noch einmal zusammen: hier ist er der Philo­soph, der Dichter, der Richter. Hier predigt er die allge­meine Toleranz, die große Liebe. Der christliche Tempel­herr, der Mohammedaner Saladin und der Jude Nathan feiern den Bruderbund der Menschheit. Die gute Idee ist nichts ohne die gute Tat. Gut denken heißt: gut sein. Zwei Jahre nach Vollendung des Nathan vollendete Lessing sich selbst.

Das Größte an Klopstock (aus Quedlinburg, 1724 bis 1803) ist sein patriarchalisches Pathos. Es scheint, als hätte er schon Schulpforta mit neunzehn Jahren als Pa­triarch und Weltmeister verlassen. In seiner Abschieds­rede klingt das hohe Bewusstsein einer erlauchten Beru­fung. Ich will, so rief er, der Milton der Deutschen wer­den! Und er ist es geworden. Alles, was er gewollt hat, hat er gekonnt. Wie ein Priester hat er seines Amtes gewaltet. Und wenn er, seine Bardengesänge, die Bardiete singend, den deutschen Göttern opferte, war das Gotteshaus gefüllt mit andächtigen Jünglingen und Jungfrauen, die in ihm den Stellvertreter des deutschen Gottes auf Erden, den deutschen Papst, sahen. Er goss den deutschen Wein in griechische Pokale: in seinen „Oden“, die die fremde Form vergessen lassen, so deutsch sind sie. Er ist spröder und barocker als Hölderlin und unserem Empfinden schwerer zugänglich — aber die Bekanntschaft mit ihm wiegt die mit Dutzenden heutiger Lyriker auf. Der Meister Klop­stock fühlte sich zeitlebens als „der Lehrling der Griechen“. Sein episches Hauptwerk ist der „Messias“, ein Gedicht von Sünde und Erlösung in zwanzig hexametrischen Ge­sängen. Es schildert den Weg des Gottessohnes vom Him­mel durch die Hölle zur Erde und wieder zum Himmel: am schönsten in seinen hymnischen und lyrischen Stellen. Hin und wieder verleitet ihn das priesterliche Ornat zu zeremoniellen Gesten und oratorischen Phrasen. Eine Ent­wicklung hat Klopstock in sich nicht vollzogen. Es sei denn, daß man die freiere rhythmische Behandlung in ei­nigen seiner letzten Oden als Vorstufe zu goetheschen Hymnen betrachtet wissen will.

Zwei seelische Richtungen suchten um die Mitte des 18. Jahrhunderts einander den Rang streitig zu machen: eine schwärmerische und eine rebellische. Die schwärme­rische ging von Klopstock und seinem Gefolge: dem Hainbund (Hölty, Voß, Matthisson, dem Schweizer Salis-Seewis, Claudius u. a.) aus; die zweite blühte aus wilden Studentenkameradschaften empor, und ihr Meister hieß Johann Christian Günther. Sie selber aber nannten sich nach einem „Sturm und Drang“ (1776) betitelten Drama eines der ihren, des Maximilian Klinger: Stürmer und Dränger. Klinger war ein Freund Goethes, und aus ihrem Kreise ist, betreut von Herders wachsamem Auge, der Stürmer und Dränger hervorgegangen, der sie alle über­stürmen und zurückdrängen sollte: Goethe. Hainbündler wie Stürmer und Dränger hatten die Brüderlichkeit, die Weltumarmung, die Menschlichkeit auf ihre Fahnen ge­schrieben, und Freundschaft galt ihnen als ein heiliges Wort. Die bedeutendsten Mitglieder des Hainbundes waren Johann Heinrich Voß (1751—1826) und Ludwig Hölty, der 1776 im jugendlichen Alter von achtund­zwanzig Jahren starb, der Apollo und Adonis des Bundes: gepriesen als der Liebling der Götter. Unter seinen zarten Gedichten ist der „Auftrag“ das rührendste:

Ihr Freunde, hänget, wann ich gestorben bin,
Die kleine Harfe hinter dem Altar auf,
Wo an der Wand die Totenkränze
Manches verstorbenen Mädchens schimmern.

Der Käster zeigt dann freundlich dem Reisenden
Die kleine Harfe, rauscht mit dem roten Band,
Das, an der Harfe festgeschlangen,
Unter den goldenen Saiten flattert.

„ Oft“, sagt er staunend, „,tönen im Abendrot
Von selbst die Saiten, leise wie Bienenton;
Die Kinder, hergelockt vom Kirchhof,
Härtens und sahn, wie die Kränze bebten.“

Voß, der später die Redaktion des Bundesorganes, des Göttinger Musenalmanachs, übernahm, darf eigenen dich­terischen Wert höchstens als Idylliker („Luise“, „Der sieb­zigste Geburtstag“) beanspruchen. Zu den harmlosen, aber hübschen Hexametern war er angeregt worden durch Über­setzungen der homerischen Odyssee (1781) und Ilias, die an Wert und Wirkung den herderschen Stimmen der Völ­ker in Liedern nicht nachstehen und den Blick der Deut­schen auf das griechische Heldenepos lenkten. Wenn Achil­les und Hektor in Deutschland so volkstümliche Figuren geworden sind wie Siegfried und Hagen, wenn Zeus und Hera in der Götterwelt Wodan und Freya den Rang strei­tig machen, so ist’s das Verdienst von Voß, dem Ganymed, der lockige Schenke, im olympischen Saale dafür einen be­sonderen Humpen Nektar kredenzen möge!

Im Pantheon des Hainbundes standen die Hermen von Ossian, Klopstock und Herder, dagegen erscholl an die Adresse Wielands (1733—1813, aus Schwaben) in jeder Bundessitzung ein dreifach kräftiges Pereat. Dieser war in ihren Augen ein allzu ungezogener Liebling der Grazien. Seine scharmanten Frivolitäten, sein graziöser, klingender Stil, spielend wie eine Wasserkunst im Schlosse irgend­eines Rokokofürsten, fanden nicht Gnade vor ihren Augen. Sie ziehen ihn der Sittenlosigkeit, der Undeutschheit und traten seine Dichtungen mit Füßen oder verfertigten sich aus seinen reizenden Perioden Fidibusse, mit denen sie ihre Knasterpfeifen entzündeten, und Don Sylvio von Rosalva, der Jüngling Agathon und die zärtliche Musarion gingen wehklagend und seufzend in Flammen auf. Hatten die Hainbündler recht, dem armen Wieland so übel mitzu­spielen? Doch wohl nicht. Im Grunde war er ihnen ver­wandter als sie ahnen oder fühlen konnten. Auch er war ein Schwärmer wie sie — aber er ging nicht wie sie durch eine, er ging durch tausend Schwärmereien hindurch und war von Pietisten bis zum Wollüstling, vom Hetärenprie­ster bis zum Anbeter der mütterlichen Frau so ziemlich al­les, was man sein kann. Was seine vielen Wandlungen ver­klärt: er war alles mit der gleichen Leidenschaft und Wahr­haftigkeit. Als Lyriker hatten die Hainbündler für Wie­lands Kunst der Erzählung kein Verständnis. Sein großer Roman „Agathon“ (1766), die Entwicklung eines Men­schen zu sich selbst, in einem stark stilisierten Altgriechen­land sich begebend, wird immer ein Markstein in der Ent­wicklung der deutschen Prosadichtung sein, die auch durch den komischen Roman „Die Abderiten“ (1780), eine Verspottung des Spießertums, Bereicherung empfing. Goe­the weihte von allen Schriften Wielands dem Heldenepos „Oberon“ (1780) den Lorbeer, und zwar im wörtlichsten Sinne: nach seinem Erscheinen sandte er Wieland einen Lorbeerkranz. Der „Oberon“ ist das erste Werk, das man neben Maler Müllers „Genoveva“ den Auftakt der Ro­mantik noch mitten in der Klassik nennen könnte. Abend­land und Morgenland gehen so phantastisch ineinander über wie die wirkliche und die Geisterwelt. Auch mit sei­ner prosaischen Shakespeareübersetzung nahm Wieland eine Tat der Romantik vorweg, die durch die Schlegel-Tiecksche Übertragung des großen Briten vollendet wer­den sollte. Seine Übersetzung des Lukian machte uns mit der Götter- und Hetärenwelt der späten Antike hei­ter vertraut.

Im Hainbund waren einige, die zwar nominell ihm nahe­standen, innerlich aber dem Sturm und Drang zugerechnet werden müssen. Unter ihnen ist vor allem Gottfried August Bürger (1747—1794) zu nennen, dessen titani­schem Wollen (wie den meisten Stürmern und Drängern) nur ein sehr menschliches Gelingen beschieden war. Hin und her gerissen zwischen zwei Frauen schwebte er zwi­schen Himmel und Erde, bis ihn die Erde gnädig in ihren Schoß zurücknahm. Er war ihr einer ihrer liebsten, aber auch unglücklichsten Söhne. Seine Lieder an Molly sind von einer rasenden Leidenschaftlichkeit, der die Zügel durchgehen wie einem wildgewordenen Hengste. Voll­kommen bewährte er sich in seinen Balladen. Deren schön­ste: Leonore: auch durch Aufnahme in die Schullesebücher nichts von ihrem Glanz verloren hat; eine Prüfung, die von Schillers „Glocke“ nicht bestanden wurde. Auch die Le­gende von „Münchhausens wunderbaren Reisen“ (1786) muß ihm herzlich gedankt werden, so wie wir dankbar bei dieser Gelegenheit des alten Musäus (1735—1787) ge­denken wollen, der die Volksmärchen der Deutschen, darunter die Schnurren vom grobschlächtigen, schlesischen Waldgott Rübezahl damals gerade sammelte und nach­erzählte.

Waren die Hainbündler mehr besinnlich und lyrisch, so waren die Stürmer und Dränger mehr sinnlich und drama­tisch, heute würde man sagen: mehr politisch, mehr akti­vistisch gerichtet. Sie litten unter der sozialen und politi­schen Ungerechtigkeit des Zeitalters. Das Motto Schillers, das er über „Die Räuber“ setzte: In tyrannos! kann man über die ganze Richtung setzen. Die Stürmer und Dränger waren die deutschen Vorläufer und Brüder der französi­schen Revolutionäre von 1789. Wie Wilhelm II. dem Er­wachen der deutschen Dichtung aus dem patriotischen Winterschlaf nach dem siegreichen Krieg von 1870/71 zur Selbstbesinnung, zur Erhebung, zur Vergeistigung von seinem Standpunkt mit dem größten Recht misstrauisch gegenüberstand — denn einer Revolution des Geistes pflegt eine solche der Tat auf dem Fuß zu folgen: so stan­den die damaligen Souveräne dem Ansturm der Stürmer ablehnend und erbittert gegenüber, denn es ging ums Gottesgnadentum, es ging um Autokratie oder Demokratie schon damals. Es handelte sich darum, ob die deutschen Fürsten — heute würde man sagen: die Kapitalisten — ihre Untertanen als Schlachtenfutter nach Amerika ver­kaufen könnten wie ein Stück Vieh, um aus dem Erlös ihre lasterhaften Gelage zu bestreiten, oder ob der Mensch ein Mensch wie sie, ob es nicht unvergängliche „Menschen­rechte“ gäbe, die niemand wagen dürfe anzutasten, der nicht ein Hundsfott oder Lump sein wolle. In den „Räu­bern“ und in „Kabale und Liebe“ zog Schiller gegen die Tyrannen vom Leder. Und es ist nicht zu verwundern, wenn Karl Eugen von Württemberg „diese janze Rich­tung“ einfach nicht passte. Schiller wurde 1782 vierzehn Tage in „Schutzhaft“ genommen; als der Fürst ihm wenig später überhaupt untersagte, weiterhin „Komödie“ zu schreiben, machte Schiller dieser Komödie ein Ende und floh aus Württemberg ins Ausland. Sein Gesinnungsgenosse, der Schwabe Christian Schubart (1759—1791), musste die Auflehnung gegen die Tyrannei mit der Hölle einer zehnjährigen Gefangenschaft auf dem Hohenasperg büßen. Er schleuderte den Fürsten die Verse der „Fürstengruft“ wie Pfeile entgegen.

Jakob Reinhold Lenz (17511792) schrieb sein Drama „Die Soldaten“, in dem er die Immoralität des Sol­datenlebens attackierte. Sein Leben wie sein Dichten zer­rann ihm wie Wasser zwischen den Händen. Die Erschei­nung Goethes blendete ihn, so daß er die Welt der Er­scheinungen nicht mehr zu sehen vermochte und einer uto­pischen Welt verfiel, die halbe Wahrheit und ganze Dich­tung nicht mehr auseinanderzuhalten verstand. Wäre er nur der Lenz geblieben, der er war! Vielleicht daß er zu einem fruchtbaren Sommer gereift wäre! Aber er wollte ein Goethe werden. Sein größerer Bruder, Georg Büchner, hat ihm mit seiner Novelle „Lenz“ ein dauerndes Monu­ment errichtet, das mit den „Soldaten“ und einigen sanf­ten Versen bleiben wird.

Maximilian Klinger (1752—1831), ein Frankfurter, dessen eines Drama der Bewegung den Namen gab, war eine bedächtigere Natur, obgleich seine Dramen selbst aus allen Fugen zu gehen scheinen. Auf einen Brudermord mehr oder weniger kommt es ihm darin nicht an. Er ist voll furor teutonicus und politicus. Im reiferen Alter resigniert er. In seinen „Betrachtungen“ sind aus den Ungetümen und Unholden, die die Fürsten im Sturm und Drang wa­ren, schwache Menschen geworden wie wir alle.

In der Tendenz steht der Satiriker Georg Christoph Lichtenberg (aus Darmstadt, 1742—1799) Montaigne, den französischen Aphoristen und vor allen d-:n englischen Aufklärern nahe. Den Stürmern vielleicht in seinen noch heute aktuellen zeitpolitischen Bemerkungen, z. B.: „Ich möchte was darum geben, genau zu wissen, für wen eigentlich die Taten getan worden sind, von denen man öffentlich sagt, sie wären für das Vaterland gethan worden“. Lichtenberg, Deutschlands größter Aphoristiker, war neben Lessing der hellste Kopf seiner Zeit und der klare Glanz seines psychologischen Tiefblicks leuchtet in der Sprache seiner unerschöpflichen Sätze.

Als der eigentliche Prosaiker der Sturm- und Drang-Richtung ist Wilhelm Heinse (17461803) anzusehen. , Sein Renaissanceroman „Ardinghello und die glückseligen Inseln“ predigt die Idee der Kraft, der Schönheit, der leiblichen und seelischen Nacktheit, der Scham- und Hüllenlosigkeit. Geschrieben in einem bezaubernden Stil, dessen Wohlklang nur noch von Hölderlin im Hyperion und spä­ter von Jean Paul erreicht wird, bezaubert er auch durch die amoralische Anmut seiner Gestalten und durch die tropisch bunte Ausmalung des Schauplatzes. Das Bachanal am Ende des ersten Buches, der Brautraub durch die Korsaren: das ist ebenso fabel- und anektodenhaft erfunden, wie glänzend durchgeführt. Der Starke hat Recht. Aber er siegte nicht durch seine Stärke, durch rohe Gewalt allein: sie muß sich mit Natürlichkeit, mit Geist, der Mut muß sich mit Anmut paaren. Heinses Genie war eine brünstige ‚Flamme. Aber wer feuersicher ist (und nur der sollte sich ins Feuer wagen), wird gestählt und gefestigt durch sie hindurchgehen.

Johann Gottfried Herder (17441803) ist einer der Lehrmeister der Deutschen. Wären die Lehr- und Schul­meister der Deutschen alle geartet wie er: was ließe sich aus ihnen machen! Aber der Teufel stopft ihnen Wachs in die Ohren und verklebt ihre Augen mit Pech; also dass sie taub und blind dem ersten besten Eselstreiber folgen, der sie in den Abgrund führt.

Über der festen Grundlage einer allgemeinen, philoso­phischen und philologischen Bildung wölbte sich bei Her­der in den Gewittern seiner Zeit der Regenbogen eines großen Geistes und eines hellen Herzens. Shakespeare, Rousseau und Hamann, der mystische Magus aus dem Norden, waren des Lehrmeisters Lehrer. Auf einer Reise nach Paris lernte er Diderot, einen der geistigen Urheber der Französischen Revolution, kennen. In Straßburg ge­schah jene denkwürdige Begegnung mit Goethe: der schwärmerische Jüngling empfing aus dem Munde des ge­reiften und gelehrten Mannes den mächtigsten Ansporn, die liebevollste Leitung. Herder war ein Denker des Ge­fühls. Manchmal schlägt der Blitz der apriorischen Logik in seinen Gedankenwald, ihn und uns belehrend, daß die Bäume nicht in den Himmel wachsen. Aber um den ver­kohlten Stamm schlingen sich liebend und lieblich die rein­sten Gefühle, die weißesten Winden. Sein „Briefwechsel über Ossian und die Lieder alter Völker“ (1773) bedeutet weniger durch die aufgestellten Thesen (Unterschied zwi­schen Kunst- und Volksdichtung), als durch die flammen­de Liebe, die hier und anderswo in seinen Schriften die Wissenschaft durchlodert. Sein Aufruf, die alten Volkslie­der zu sammeln, war eines der wichtigsten Manifeste des deutschen achtzehnten Jahrhunderts. Er ist der Schöpfer dieses Wortes: Volkslied. — 1778/79 durfte er in seinen „Stimmen der Völker in Liedern“ dem deutschen Volk ein prachtvolles Dokument der Volkslieder aller Zeiten und Zo­nen vorlegen: die fremdländischen Lieder in Übertragungen von ihm selbst. Schon vorher war er in den Fragmenten über die neuere deutsche Literatur gegen Affekt- und Effekt­hascherei, gegen die französische und griechische Mode aufgetreten und hatte das Rousseausche „Zurück zur Na­tur!“ für die deutsche Dichtung formuliert: „Zurück zur Natürlichkeit! Zu den Quellen deutscher Sprache und deutschen Volkstums! Die Kunstdichtung kann nur auf dem Acker der Volksdichtung gedeihen. Zerstört die gläsernen Treibhäuser, und laßt das freie Wort über die Blüten Eures Geistes brausen ! Wel­che Blüte darin umkommt, die ist nicht wert, daß sie geblüht bat.“

Goethe

1777 kam Herder auf Goethes Veranlassung als General­superintendent nach Weimar. Hier schrieb er, von Goethes Gedankenarbeit kameradschaftlich unterstützt, die „Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit“, den er­sten groß angelegten Versuch, die Geschichtswissenschaft aus einer Statistik von blutrünstigen Raub- und Erobe­rungskriegen und den Daten der erlauchten Herrscher zu einer Geisteswissenschaft, zu einer Wissenschaft vom Wer­den und Wesen der Menschheit zu erweitern. Eine Kapitel­überschrift wie diese: Die Erde als Stern — wieviel besagt und beleuchtet sie schon im Gegensatz etwa zu: König Otto der Faule, der üblichen Überschrift der in Deutsch­land so beliebten Geschichtsschreibung. Die letzten Le­bensjahre Herders verbitterte seine Entfremdung von Goethe und Schiller: in Schiller befehdete er den Schüler Kants, in Goethe sah er sich selber strahlend überwunden. Als er die Augen schloss, setzten sie ihm auf seinen Grab­stein seinen Wahlspruch, den ewigen Wahlspruch aller Jünglinge (Herder war auch als Greis ein Jüngling geblie­ben): Licht! Liebe! Leben!

„Das Jahrhundert Friedrichs“ nannte Kant sein Zeit­alter, das Zeitalter der Aufklärung. Er setzte das Aufklä­rungswerk Lessings fort und auch sprachlich blieb er in der Bahn Lichtenbergs und Lessings. Von Kants Stil sagte Goethe, er sei so klar, dass man in ein hell erleuchtetes Zim­mer zu treten meine, wenn man ein Buch von ihm auf­schlägt. Dunkel und schwierig ist Kant nur in seinen Haupt­werken („Die Kritik der reinen Vernunft“, 1781, und „Kritik der praktischen Vernunft“, 1788). In seinen klei­neren Schriften, besonders der „Anthropologie“, „Zum ewigen Frieden“ und den „Beobachtungen über das Gefühl des Schönen und Erhabenen“ zeigt er Humor, Menschen­kenntnis, Phantasie. Kant und Herder waren Gegner, denn sie waren ihrer Natur nach antipodisch. Kant hatte Herders „Ideen“ kritisiert und darüber sein philosophisches Haupt geschüttelt, und Herder war darnach der reinen Vernunft mit Ingrimm zu Leibe gerückt, er hatte Kants Abstrak­tionen mit Natur und Geschichte konfrontiert und er hatte gezeigt, dass die Vernunft sich selbst ad absurdum führe, wenn sie rein sein wolle. Es war das eine Zwietracht, in der keiner von beiden im Unrecht war: denn das Auge kann nicht hören und das Ohr nicht sehen.

Friedrich Schiller (1759—1805) ist der Dichter der Jugend. Denn er ist ein revolutionärer Dichter. Und die Jugend wird gegenüber einem konservativen oder sta­gnierenden Alter immer revolutionär gesinnt sein. In den „Räubern“ wird jemand aus Verzweiflung über die Schlech­tigkeit der Welt zum schlechten Kerl: um den Teufel mit Beelzebub auszutreiben. Wäre dieses Drama heute ge­schrieben, man würde es ein bolschewistisches Drama nen­nen. (Schiller war Ehrenbürger der Französischen Revo­lution, der er als Idee begeistert huldigte, und von der er sich später, als die Realität weit hinter der Idee zurückblieb — wie es in Revolutionen immer zu sein pflegt —, angewidert wegwandte.) Diese Räuber wollen die ganze Welt zugrunde richten, um auf den Trümmern eine neue, bessere Welt zu erbauen. Karl Moor schreitet in mancher­lei Verwandlungen durch Schillers Werke. Er ist Fiesco, der Verschwörer, der sich den Mantel des Monarchen um die Schulter schlägt. Er ist Ferdinand, der gegen die kon­ventionelle Despotie und die Despotie der Konvention rebelliert. In Carlos und Marquis Posa hat sich der geistige Revolutionär dupliziert. Verteidigen die „Räuber“ noch die Eventualität eines gewalttätigen Umsturzes, so erscheint „Don Carlos“ dagegen, auch in der Sprache durch seine Jamben gemildert, als Drama einer geistigen Revolution. Von innen heraus sollen Staat und Menschheit, Staatsbür­ger und Menschen erneuert werden. „Sire, geben Sie Ge­dankenfreiheit“ — aus dem freien Gedanken wird die freie Tat sprießen. Wie Spinoza auf Goethe, so hat das Studium der Kantischen Philosophie auf Schiller den nach­haltigsten Eindruck gemacht. Kants ethische Maximen, besonders der kategorische Imperativ, werden in Schillers späteren Gedichten und Dramen immer wieder illustriert und paraphrasiert, die oft nur um der ethischen Forderung willen geschrieben scheinen und damit nur allzu oft außer­ künstlerischen Motiven dienen. Er steht mit seinem mora­lischen Pathos dem animalischen Pathos (jenseits von gut und böse…) eines Goethe ganz entgegen und ist auch vom romantischen Pathos eines Kleist, Grabbe oder Büchner meilenweit entfernt. In seiner Abhandlung über „Naive und sentimentalische Dichtung“ hat er Definitionen vom Wesen der Dichtung und des Dichters gegeben und er hat darin über sich (den sentimentalischen-politischen) und Goethe (den naiven-erotischen Typ) das Beste und Klarste gesagt, was sich darüber nur sagen lässt. Zwölf Jahre nach dem Don Carlos, im Jahre 1799, vollendete Schiller den Wallenstein: die Schicksalstragödie des Herrscherwillens. Der Schatten des aufsteigenden Bonaparte fiel über das Werk. Auch Wallenstein ist ein Rebell, aber faute de mieux. Er kann einen Größeren, einen Mächtigeren nicht ertra­gen: denn er fühlt in sich das Prinzip der Macht recht­mäßig verkörpert. Er fällt durch den Verrat seines Freun­des Piccolomini. In den drei Teilen vom „Wallenstein“ ist Schülers Werk gegipfelt. Den vielen männlichen Rebellen in Schillers Dramen tritt eine Revolutionärin zur Seite: Maria Stuart, der weibliche Typ des Revolutionärs, deren Aktion sich zur Passion wandelt, die die revolutionäre Tat durch ein revolutionäres Herz ersetzt. Nach Maria Stuart (i 800) wendet sich Schiller noch einem zweiten weiblichen Helden zu: der Jungfrau von Orleans, der Verkörperung religiöser Vaterlandsliebe. Im „Teil“, seinem letzten Dra­ma, gestaltet Schiller die Idee der „Freiheit“ und nimmt noch einmal die Partei der „Unterdrückten aller Länder“. Es berührt sich in mehr als einem Punkt mit seinem Erst­lingsdrama, den „Räubern“. Keine philologische oder mo­ralische Spitzfindigkeit wird übrigens darüber wegtäuschen können, dass dieses Drama in der Tat des Teil den politi­schen Meuchelmord verteidigt, ja verherrlicht, und keines dürfte sich besser für eine Festvorstellung, vor Terroristen gegeben, eignen. Der individuelle Terror findet hier seine glänzendste Gloriole. — Teil scheint mir eine aus der Tiefe von Schillers Unterbewusstsein getretene Figur seiner Ju­gendzeit, die gegen Geßler (Herzog Karl Eugen), das symbolhaft verdichtete Bild des deutschen Duodeztyran­nen, den tödlichen Pfeil richtet, um sich endgültig von ihm zu befreien. Als Lyriker steht Schiller weit hinter dem von ihm verkannten Hölderlin, hinter Goethe, Günther, Eichendorf zurück. Manchmal streift er ans Lächerliche, so wenn er seiner Laura in schwäbelnden Reimen vorwirft:

Abgepflücket hast du meine Blume,
Hast verblasen all die Glanzphantome
Narreteidigst in des Helden Raub.
Meiner Plane stolze Pyramiden
Trippelst du mit leichten Zephirtritten
Schäkernd in den Staub.

Auch mit seiner Minna hat er nicht mehr Glück: er muss sie daran erinnern, dass sie mit seinen Geschenken geschmückt einhergeht, ohne des edlen Spenders zu ge­denken:

Meine Minna geht vorüber,
Meine Minna kennt mich nicht?…
Von dem Sommerhute nicken
Stolpe Federn, mein Geschenk!
Schleifen, die den Busen schmücken,
Rufen: Minna, sei gedenk!

Und doch gelang ihm auch manchmal das wirklich Er­habene, so zum Beispiel in der Ode „Die Größe der Welt“:

Die der schaffende Geist einst aus dem Chaos schlug,
Durch die schwebende Welt flieg ich des Windes Flug,
Bis am Strande
Ihrer Wogen ich lande,
Anker werf, wo kein Hauch mehr weht
Und der Markstein der Schöpfung steht.

Hölderlin

Man sollte dieses gedanken- und rhythmenschwere Ge­dicht ganz nachlesen. Aber man wird nicht weit darüber hinauslesen. Das Rosa seiner Liebeslyrik ist staubig. Seine Gedankenlyrik gibt mehr Gedanken als Lyrik. Nur als Balladendichter darf er hohen Rang beanspruchen. Aber seine Größe liegt in seinen Dramen. Man hüte sich, ihn weder zu über- noch zu unterschätzen. Unschuldig schul­dig ist er an jener Kriegervereinspathetik, die sich, beson­ders seit 1870, in die geschwellte Brust warf und schillersche Formen und schillersche Rhetorik mit leeren chauvini­stischen Rodomontaden füllte. Gegenüber solcher „Ideelichkeit kann die goethische „Sachlichkeit“ nur heilsam wir­ken, wie sie auf Schiller selbst heilsam gewirkt hat.

Um diese Zeit lebten fern allen literarischen Bestrebun­gen, aber mit der Tradition der deutschen Dichtung aufs tiefste verbunden, zwei der liebenswürdigsten deutschen Dichter, die man, wie die siamesischen Zwillinge, immer nur zusammen nennen kann: Matthias Claudius (1740 bis 1815), der „Wandsbecker Bote“, und Johann Peter Hebel (1760—1826), der „Rheinische Hausfreund“. In der Gesamtausgabe der Schriften des „Wandsbecker Bo­ten“ befindet sich am Eingang eine Zeichnung von Freund Hein, dem Tod. Obgleich die Zeichnung ein Skelett dar­stellt, ist der Tod gar nicht schrecklich anzusehen; streng, aber freundlich steht er da. Mit Freund Hein verkehrte Claudius auf vertrautem Fuße. Er war ihm der Freund trotz aller Schmerzen, aller Dunkelheiten, die er bringt.

Ach, es ist so dunkel in des Todes Kammer,
Tönt so traurig, wenn er sich bewegt
Und nun aufhebt seinen schweren Hammer
Und die Stunde schlägt.

Sein „Abendlied“ gehört zu den deutschesten deutschen Gedichten.

Der Mond ist aufgegangen,
Die goldnen Sternlein prangen
Am Himmel hell und klar.
Der Wald steht schwang und schweiget
Und aus den Nebeln steiget
Der weiße Nebel wunderbar.

Sein „Rheinweinlied“: das trunkenste Trinklied. Und wel­che menschlich warme, allem Phrasentum der Zeit über­legene Gesinnung! Kein Duckmäuser. Einer der offen sei­ne Meinung vertrat. Johann Peter Hebel, Volksfreund und Volksdichter wie er, ist sein jüngerer Bruder. Ich ken­ne keinen Schriftsteller in Deutschland, der zu erzählen weiß wie der ehemalige Theologieprofessor Johann Peter Hebel. Gewiss: er predigt Moral. Aber in welcher Sprache!

Das ist ein Deutsch, wie es einfacher und tiefer, zwecklo­ser und klangvoller nicht erdacht und geschrieben werden kann. Und die Moral, die er einer schönen Geschichte an­hängt, wie nebensächlich ist sie und nur als Schlusspunkt von Bedeutung! Die Hauptsache ist ihm der Mensch oder das Ding „an sich“, das er betrachtend formt und schmerz­lich sinnend oder lächelnd in seinen Vortrag stellt. Wir sind alle wie Kinder vor ihm, und wenn wir in der Däm­merung in den Himmel sehen und die Sterne hervorkom­men: die Venus oder die Juno, die funkelnden Himmels­frauen, und wir ihn fragen: „Vater, was ist mit den Sternen und mit dem Himmel?“ — dann wird er uns über die Haa­re streichen und leise sprechen: „Der Himmel ist ein großes Buch über die göttliche Allmacht und Güte, und sieben viel be­währte Mittel darin gegen den Aberglauben und gegen die Sünde, und die Sterne sind die goldenen Buchstaben in dem Buch. Aber es ist arabisch, man kann es nicht verstehen, wenn man keinen Dol­metscher hat. .“ Ein solcher Dolmetscher ist uns der rheini­sche Hausfreund, der alte Johann Peter Hebel.

Neuntes Kapitel
DAS ZEITALTER GOETHES
DEUTSCHLAND

Wenn Goethe (geboren am 28. August 1749 in Frank­furt als Sohn eines wohlhabenden Bürgers) heute lebte, würden ihn die kritischen Anwälte der jüngsten deutschen Dichtung wegen seiner Vielseitigkeit der „Gesinnungs­losigkeit“ zeihen. Er schrieb nebeneinander am Werther, am Faust, an einem groben Fastnachtsspiel. Er trug die größten Gegensätze in sich, aber es war ihm gegeben, sie alle bis zur Reife auszutragen. Er erkannte die Notwendig­keit und Größe des deutschen Volksliedes so gut wie die erlauchte Erhabenheit einer pindarischen Ode oder die nüchterne Trunkenheit eines Horaz. Er bewegte sich in der Gedankenwelt eines Plato, die alle Dinge auf eine Ur-idee zurückführt, so sicher wie in den Wäldern Spinozas, welcher lehrte, vor jedem Baum, vor jeder Blume, vor je­dem Käfer anbetend ins Knie zu sinken, denn ,,Gott ist in ihnen und über ihnen und durch sie wie in mir und über mir und durch mich“. Zucht und Gebundenheit der Antike, das Über-alle-Grenzen-Schweifen der deutschen Volksseele, Dionysos und Faust, Eros und Eulenspiegel durchdrangen sich in ihm zu höherer Einheit. An seiner Wiege haben die neun Musen wie die sieben Schwaben Pate gestanden. Er brauchte nur „Tischlein, deck dich!“ rufen wie in dem deutschen Märchen, so war der Tisch des Lebens für ihn gedeckt. Er war vielleicht der glücklichste Mensch, der je gelebt hat: er war an jedem Tage, in jeder Minute und Se­kunde seines Lebens mit sich selbst und seinem Ziele einig. Es gab kein Schwanken in ihm. Immer schritt er festen und schlanken Schrittes, Ephebe und Mann, geradeaus, den Bück auf das Herz der Welt gerichtet. Seine Fähigkeit, Leid und Schmerz von sich abzustoßen, da sie seine klaren Teiche nur trüben konnten, in denen so rein sich Mond und Sonne spiegelten, ging bis zur Brutalität gegen sich und seine Mitmenschen. Er musste sich ganz behaupten. Er handelte in Notwehr. Im Alter nahm er künstlich kon­zipierte Steifheit zu Hilfe, um jene Menschen von sich fern­zuhalten, die ihn seiner selbst beraubten. Es war jene hoch­mütige Geheimratsgeste, von der so manche Besucher sei­nes Hauses in ihren Briefen und Tagebüchern entsetzt und enttäuscht erzählen. Er saß wie Archimedes im Garten auf einer Bank und zeichnete mit einem Stock im Sande seine Kreise, die niemand stören durfte als Wind oder Regen. Denn diese waren Naturkräfte wie er.

In seinem Leben spielen die Frauen die entscheidende Rolle. Seine Männerfreundschaften: mit Herder, mit Merck, mit Knebel, Tischbein usw. waren trotz betonter Herzlich­keit oder Interessiertheit doch nur Episoden. Von allen Männern, die seinen Weg kreuzten, ist für uns Nachleben­de der getreue Eckermann der gewichtigste, der, jahrelang sein Sekretär und Famulus, in seinen „Gesprächen mit Goethe“ uns die lebendigste und persönlichste Darstel­lung seines Wesens und Wirkens hinterlassen hat. Goethes Genie fand seine Befruchtung und Erlösung aber immer erst durch die Genien der Frauen, die er liebte. Sie sind die unbewussten Mithelferinnen an seinem Werk, das deutsche Volk hat alle Ursache, sich vor ihnen in Dankbarkeit und Ehrfurcht zu verneigen und schnüffelnden Philistern, so­genannten Literarhistorikern, die sich nicht schämen, Schmutz auf sie zu werfen, gebieterisch die Tür zu weisen. Kätchen Schönkopf, seine Leipziger Studentenliebe, zwitschernd wie ein Kanarienvogel, aber launisch wie ein Pa­pagei, Friederike Brion, die elegische Sesenheimer Pfar­rerstochter; die blonde Charlotte Buff, Braut seines Freundes Kestner, der wir den zärtlichen Briefroman „Werther“ verdanken; die wie aus einer griechischen Gemme ge­schnittene Frau von Stein, die glücklichste und unglück­lichste Liebe seines Lebens, die treue und gute Christiane Vulpius, der er so wacker seinerseits die Treue hielt, allen Intrigen des Weimarer Hoflebens zum Trotz, die er, der Minister, als Geliebte in sein Haus zu nehmen wagte, die er endlich, längst nachdem sie ihm einen Sohn geboren, dankbar zu seiner rechtmäßigen Gattin machte und die ihm unendlich mehr bedeutet hat als eine oberflächliche Literarhistorik wahr haben will. Sein einsames Herz bedurfte ihrer Herzlichkeit. Sein Sinn ihrer Sinnlichkeit. Und dann die vielen Namenlosen, die er liebte, die Frauen in Thü­ringen, in der Schweiz, in Italien. Und endlich die Suleika des „Westöstlichen Diwans“, die den alternden Dichter zur letzten wilden Trilogie der Leidenschaft entflammte. Welch ein Reigen von Frauen 1 Wir wollen keine geringer achten, auch jene namenlosen nicht, ihnen allen sei der Kranz des Lorbeers auf die schönen Stirnen gedrückt.

Im deutschen Sängerkrieg auf der Wartburg hat Goethe sich den ersten Preis ersungen: im Drama durch „Faust“ und „Iphigenie“, in der Prosa durch „Wilhelm Meister“ und die „Wahlverwandtschaften“, in der Lyrik durch „Ganymcd“, „Wanderers Nachtlied“, „An den Mond“, die „Trilogie der Leidenschaft“ und vieles andere, nicht zuletzt durch die tiefsten Gedichte deutscher Lyrik, die im „Westöstlichen Diwan“ zu finden sind. Er beherrschte die konträrsten Stile. Sang wie ein Kind zu Kindern:

Ich komme bald, ihr goldnen Kinder!

Und, aus dämonischer Tiefe, die Worte steigen wie Nickel­männer und Elfen aus einem tieftiefen Brunnen, so tief wie der Brunnen auf der Burg von Nürnberg, dessen Ende wir nicht sehen:

Sieh, die Sonne sinkt!
Eh sie sinkt, eh mich Greisen
ergreift im Moore Nebelduft,
entlohnte Kiefer schnattern
und das schlotternde Gebein —
Trunkener vom letzten Strahl,
reiß mich, ein Feuermeer
mir im schäumenden Aug‘,
mich Geblendeten, Taumelnden,
in der Hölle nächtliches Tor.

Das ist in der Postchaise am 10. Oktober 1774 von ihm ge­dichtet, und ich wette, wenn ich es einem Dichter unserer Zeit vorlese, und er kennt das Gedicht nicht zufällig, so wird er es erschüttert für einen Gipfel moderner Lyrik er­klären und etwa auf Werfel als Verfasser raten, während ihm die Verse: „Ich komme bald, ihr goldnen Kinder“ nur ein mitleidiges Lächeln entlocken. Und mit dem weißgoldenen Rokokogedicht „Mit einem gemalten Band an Friederike Brion“ wird er auch nicht viel mehr anfangen können:

Kleine Blumen, kleine Blätter
Streuen mir mit leichter Hand
Gute junge Frühlingsgötter
Tändelnd auf ein luftig Band.

Aber diese Verse aus der „Harzreise im Winter“

Im Dickichtschauer
drängt sich das rauhe Wild,
und mit den Sperlingen
haben längst die Reiher
in ihre Sümpfe sich gesenkt —

klingt ihm das nicht wie von dem jungen, im Krieg gestorbenen Lyriker Georg Trakl?

Die Vision der Welt in der Übersteigerung des Herzens auszusagen, die Ekstase als These, der Schrei des Herzens als oberstes Prinzip, und in der Form: das Schleudern erratischer Blöcke, das ist nicht erst von heute. Das haben Goethe, Hölderlin, Klopstock schon gekonnt. (Und gar die Griechen und Chinesen: Pindar, Li-tai-pe —!)

Die heutige Dichtung ist nicht unverständlicher oder absonderlicher als irgendein hymnisches oder ekstatisches Gedicht von Goethe, mit dessen Grundformen sie sich be­rührt. Das muss immer wieder einmal betont werden. Vor allem jenem Teil des heutigen Lesepublikums gegenüber, der unserer gegenwärtigen Dichtung mit Achselzucken, Lächeln und Überhebung gegenübersteht, unter Berufung auf den klassischen Maßstab. Dieser Maßstab ist falsch. Dutzende moderner Einzelerscheinungen sind läppisch oder unerfreulich. Dies darf nicht hindern anzuerkennen, daß ihr Kern so echt ist wie der jeder echten Dichtung. Daß sie als Reaktion auf den Mechanismus und Rationalis­mus der Zeit vor und nach dem Kriege historisch notwen­dig war und ist. Und daß sie die Unterstützung durch Volk und Staat braucht und verdient. Nur dann wird die deut­sche Dichtung, die zweifellos seit der tristen Zeit von 70 wieder im Aufschreiten ist, zu einem neuen Gipfel kom­men, der jenseits von Im- und Expressionismus, jenseits aller Ismen liegen wird, wenn sie getragen wird von För­derung und Zuruf der Mitlebenden.

Wir kommen von Goethes Lyrik; wir wollen wieder zu ihr zurück. Immer wieder wollen wir zu ihr. Denn je­der Gang zu ihr ist wie ein Heimweg ins Vaterhaus.

Zum Sehen geboren,
Zum Schauen bestellt,
Dem Turme geschworen,
Gefällt mir die Welt.
Ich blick in die Ferne,
Ich seh in der Näh
Den Mond und die Sterne,
Den Wald und das Reh.
So seh ich in allen
Die ewige Zier,
Und wie mirs gefallen,
Gefall ich auch mir.
Ihr glücklichen Augen,
Was je ihr gesehn,
Es sei, wie es wolle,
Es war doch so schön!

Goethe Handzeichnung (Faust: Prolog im Himmel)

Mit diesem vielleicht herrlichsten goethischen Gedicht, dem Lied des Türmers, sind wir mitten im „Faust“, der rundesten Ballung, der beseeltesten Verdichtung des deut­schen Wesens. Durch dieses Drama schreitet der Dichter selbst in tausend Gestalten: er ist der junge Doktor Faust, der im sinnierenden Gespräch sonntags vor dem Straßburger Tor spaziert, und doch die Augen so weit offen hat, die hübschen Sonntagsmädchen zu betrachten. Es ist Goe­the, der mit seinen Kommilitonen Frosch und Brander im Leipziger Ratskeller soff, bis er unter den Tisch fiel. Es ist Goethe, der Friederike-Gretchen verführt, der der Wal­purgisnächte viele in Thüringen und im Harz erlebte, der als Minister am Hof des Kaiser-Herzogs wirkte, und der endlich als Philemon einen Greisenabend beschließen darf in der seligen Gewissheit, dass er die Ernte bis zum letzten Halm in die Scheuer gebracht. Die Idee des Faust ist die Idee des Menschen schlechthin, wie wir Deutschen ihn sehen. Aus dumpfem Dunkel steigt er empor ins Licht. Mögen Wolken es oft verschatten, mag der Wan­derer auf dem steilen Wege straucheln: nur nicht müde werden, nicht nachlassen, aufwärts, vorwärts, aufwärts!

Der Weg — das ist das Ziel. Der Wille — das ist der Zweck.

Wer immer strebend sich bemüht / Den können wir erlösen, singen die Engel in der höheren Sphäre, Fausts Unsterb­liches tragend. Goethe selbst hat in einem Gespräch mit Eckermann (6. Mai 1827) sich solchermaßen über den Faust geäußert: „Da kommen sie und fragen, welche Idee ich in meinem Faust %u verkörpern gesucht! Als ob ich das selber wüsste und aussprechen könnte? — Vom Himmel durch die Welt zur Hölle; das wäre zur Not etwas; aber das ist keine Idee, son­dern Gang der Handlung. Und ferner, dass der Teufel die Wette verliert, und dass ein aus schweren Verirrungen immerfort zum Bessern aufstrebender Mensch %u erlösen sei, das ist ^war ein wirksamer, manches erklärender, guter Gedanke, aber es ist keine Idee, die dem Ganzen und jeder einzelnen Szene im beson­deren zugrunde liege. Es hätte auch in der Tat ein schönes Ding werden müssen, wenn ich ein so reiches, buntes und so höchst man­nigfaltiges Leben, wie ich es im „Faust“ zur Anschauung ge­bracht, auf die magere Schnur einer einzigen durchgehenden Idee hätte reihen wollen. Es war im ganzen nicht meine Art, als Poet nach Verkörperung von etwas Abstraktem zu streben. Ich empfing in meinem Innern Eindrücke, und zwar Eindrücke sinnlicher, lebensvoller, lieblicher, bunter, hundertfältiger Art, wie eine rege Einbildungskraft es mir darbot; und ich hatte als Poet weiter nichts zu tun, als solche Anschauungen und Eindrücke in mir künstlerisch zu runden und auszubilden und durch eine leben­dige Darstellung so zum Vorschein zu bringen, dass andere die­selben Eindrücke erhielten, wenn sie mein Dargestelltes hörten oder lasen… Je inkommensurabler und für den Verstand unfasslicher eine poetische Produktion, desto besser.“ Der letzte Satz wäre das beste Motto für eine Geschichte der Dichtung. — Wer je auf einer Puppenbühne, wie sie in den bayrischen Messen noch umherziehen, das alte Pup­penspiel vom Doktor Faust in fast ursprünglicher Form gesehen hat, wird wissen, wieviel Goethe ihm stofflich und kompositorisch verdankte. Er hat den Kasperl, im Pup­penspiel Diener des Faust, aus seinem Spiel eliminiert und seine Rolle Mephistopheles übertragen. Trotz Goethe be­steht dieses Puppenspiel künstlerisch noch heute jede Kri­tik. Eulenspiegel (Kasperl) und Faust: den komischen und tragischen Charakter des deutschen Wesens nebeneinan­der zu stellen: ist ein Beweis für die naive Genialität des Puppenspieldichters, der seinerseits auf dem 1587 erschie­nenen Volksbuch von Doktor Faust und den Fastnachts­spielen des Mittelalters fußt. — In „Götz von Berlichingen“ (1773 erschienen) schrieb Goethe nach shakespeareschem Muster das erste Szenendrama und löste den stren­gen Aktbau eines Lessing in viele lebendige Einzelszenen, deren Lichter in der Schlussszene zu einer großen Flamme zusammenlohen. Der „Egmont“ (1788 erschienen) zeigt Verwandtschaft mit dem Götz in Szenenführung und Cha­rakterisierung. Durch seine sittliche Kraft erhebt sich der Unterlegene (Egmont) über den tyrannischen Sieger (Al­ba). Die Liebe Egmonts zu einem kleinen Bürgermädchen antizipiert die Liebe Goethes zu Christiane. In dem opern-haften letzten Bilde erscheint ihm auf dem Wege zum Schafott die Geliebte, die Insignien der beiden hehrsten Ideale: Liebe und Freiheit, in ihren Händen haltend. — Neben dem Faust gebührt der „Iphigenie“ unter den goetheschen Dramen der Kranz. Das Gretchen im Faust ist ein einfaches Kind voll unbewusster Reinheit und Jung­fräulichkeit, in Iphigenie wird die Reinheit sich bewusst und lauterster Wille und durchdachteste und durchfühlte­ste Wahrheit. Lieber Arges leiden als Böses auch nur den­ken, auch das Beste nicht durch Lüge erreichen wollen: ist das thematische Motiv. Sprachlich ist das Werk von der ersten bis zur letzten Zeile vollkommen. Die schön­sten Jamben der deutschen Sprache erklingen, und sollten deutsche Dichter je einmal wieder Jamben schreiben wol­len: sie mögen zuerst die Iphigenie lesen, und sie werden es schamvoll bleiben lassen. Das Drama „Tasso“ ist der „Iphigenie“ benachbart: stilistisch und geistig. Die Hand­lung soll an einem mittelalterlichen Hof vor sich gehen: aber sie geschieht recht eigentlich im Herzen des Dichters. Die Prinzessinnen sind nur Figuren seiner eigenen Phan­tasie, und auch sein Feind Antonio kriecht aus einer dunk­len Ecke seines Gefühlslebens. „Iphigenie“ und „Tasso“ wurden von der Nation ziemlich kühl aufgenommen: die Revolution in Frankreich hielt die Welt in fieber­hafter Spannung. Wir haben schon längst wieder eine neue Revolution, die jener an Gewalt nicht nachsteht: der Be­freiung des Bürgers, die 1789 erfolgte, soll die Befreiung des Arbeiters folgen, die mit der russischen Revolution unter Lenin eingesetzt hat. Aber alle Revolutionen über­dauern wird das heilige Lächeln der Iphigenie und der Schrei des Dichters im Tasso:

„Denn wenn der Mensch in seiner Qual verstummt, Gab mir ein Gott zu sagen, was ich leide.“

Denn hier geht es nicht um die Befreiung einer Klasse oder Rasse, sondern um die Befreiung des Menschen. Goethe selber war kein politischer Mensch in des Wortes streng­ster Bedeutung. In „Wilhelm Meisters Lehr- und Wander­jahren“, dem groß angelegten Sittengemälde seiner Zeit, wird das Verhältnis des Menschen zum Staat oder Staats­begriff nicht einmal gestreift. Das Theater steht im Mittel­punkt des Interesses. Der Held entwickelt sich vom Thea­ter zum Leben, hin, vom Schein zum Sein. Zarte und zärt­liche Frauen, wie Philine und Mignon, begleiten und be­fördern seinen Weg. Wie die „Lehrjahre“ in ihrer bersten­den Fülle das prosaische Seitenstück zum Faust bilden, so die „Wahlverwandtschaften“ in ihrer Gedrungenheit und klaren Kürze das Seitenstück zur Iphigenie. Von seinen Prosawerken sei noch die „Campagne in Frankreich“ mit ihrer desillusionistischen Betrachtung des Krieges und seine Selbstbiographie „Aus meinem Leben: Dichtung und Wahrheit“ genannt: die wie ein Prolog oder Epilog zu Wilhelm Meister klingt und als Roman wie als Quelle zu Goethes Leben gleichen Wert besitzt.

Goethe starb nach der Vollendung seines Faust im 83. Jahre am 22. März 1832.

Jean Paul
Novalis

Mit Heinse und Geßner bildet Jean Paul (Friedrich Richter aus Wunsiedel, 1763—1825) das Triumvirat der früh-romantischen Prosadichter, von dem die heute leben­den Deutschen so gut wie keine Ahnung mehr haben: sonst wären sie bescheidener in ihrer Selbstkritik und im Glauben, wie herrlich weit sie’s gebracht haben. Jean Paul ist der größte unter den dreien, und einer der größten deutschen Dichter überhaupt.

Freilich, es ist nicht leicht, zu ihm zu gelangen. Er hat sein Schloss mit Dornenhecken, Fallgruben und Selbst­schüssen umgeben. Sein Zaubergarten ist von üppiger Wildnis. Gepflegte, glatte Wege gibt es da nicht. Rehe gra­sen vor seinen Fenstern. Und die Schwalben fliegen ihm ins Arbeitszimmer, und auf seiner Schulter sitzt, wenn er schreibt, eine Dohle. An den Wänden hängen Spinnweben. Nachts, wenn er im Garten wandelt, ist der Mond sein Gefährte. Seine Gefährtinnen sind Elfen, die ihn umspie­len und deren schönste ihn menschlich liebt wie ein Mensch einen Menschen. Sie heißt Liane. Und da der Mond nun zum Zenith steigt und die Bäume von seinem Glänze trop­fen, winkt sie leise den Genossinnen, und sie entschwinden, Vergehen strahlend im Mondstrahl. Sie zieht den Dichter ins Moos hinab, wo die Leuchtkäfer zwischen ihren Küssen brennen. Und der Mond sinkt herab, und die Sonne steigt herauf. Wie eine rote Rose erblüht sie zwischen den Narzissen der Morgendämmerung.

Jean Paul war im Anfang des neunzehnten Jahrhunderts der berühmteste, geliebteste und beliebteste deutsche Dich­ter. Zu seinen Füßen saßen die schönsten Frauen, und sie seufzten und zerdrückten heimliche Tränen in den Wim­pern, wenn er ihnen aus seinem „Titan“ und aus dem „Sie­benkäs“ vorlas mit tönender Stimme oder zu ihnen über das Immergrün unserer Gefühle sprach. Aber nicht nur die Damen lauschten ihm. Er hatte bei aller Empfindsam­keit das sichere Bewusstsein der Grenzen unserer Empfin­dungen, und der ewige Zwiespalt zwischen Wahrheit und Wirklichkeit, er war auch ihm offenbar. Er überbrückte ihn mit seinem Lächeln und seinem Gelächter. Seine ko­mischen Erzählungen geben Kunde davon. Jean Paul war ein glücklicher Mensch. Das Leben und die Liebe und der Ruhm, er genoss sie in vollen Zügen. Seinem lyrischen Bruder im Geiste: Friedrich Hölderlin (aus Lauffen am Neckar 1770—1843), genannt der Unglückliche, blieb alles dies versagt. Mit vollen Segeln wollte er über die Wo­gen der Welt segeln, aber zerfetzt trieb sein Segel zurück. Er war zu schwach gewesen. Und höhnisch sauste um seine Stirne der Sturm. Wer kannte ihn? Wer wusste, wer er war? Schiller protegierte ihn so lange, als er schillerisch dichtete. Als er begann, seinen eigenen Gesang zu singen, wandte er sich von ihm. Im „Hyperion“ blättert Hölderlin sein in­neres Leben vor uns auf. Er litt unendlich: unter seiner Liebe zu Diotima, unter seinem Hass gegen die Gegenwart. Ganz schwang er sich aus ihr und lebte nur als Vergange­ner oder Zukünftiger. Sein Volk begriff ihn nicht. Bittere Worte fand er für die Deutschen, die bittersten, die ihnen wohl je von einem Deutschen aus liebender Seele gesagt worden sind (im vorletzten Briefe des Hyperion an Bellarmin). Als Hölderlin 1803 aus Bordeaux zurückkehrte, wo er eine Hauslehrerstelle verwaltet hatte, erschien er den Freunden verwirrt und auseinandergefallen. Er gab über das Erlebnis, das ihn wie mit einem Eisenhammer auf die Stirn geschlagen hatte, keine Auskunft. Diotima starb zehn Tage nach seiner Rückkehr. Er mag im medizini­schen Sinne wahnsinnig geworden sein. Er hat aber immer eine tiefe Klarheit des Gefühls bewahrt und behalten. Es war ihm einfach der Nabelstrang zerrissen, der ihn mit der Realität verband. Er schwebte in den Wolken und wusste von dieser Erde nur noch gerade so viel, wie ein verklär­ter Geist, der von ihr erlöst und nun auf eigenem Gestirn wandelt. Die Gedichte aus seiner sogenannten Wahnsinns­zeit gehören zum Dunkelsten, aber auch zum Tiefsten, was aus der deutschen Lyrik entsprossen ist: Schwarze Rosen, Blumen der Passion.

Aus der Zeit der beginnenden Umdunkelung ist „Die Hälfte des Lebens“:

Mit gelben Birnen hänget
Und voll mit wilden Rosen
Das Land in den See;
Ihr holden Schwäne,
Und trunken von Küssen
Tunkt ihr das Haupt
Ins heilig nüchterne Wasser.

Weh mir, wo nehm ich, wenn
Es Winter wird, die Blumen, und wo
Den Sonnenschein
Und Schatten der Erde?
Die Mauern stehen
Sprachlos und kalt,
Im Winde
Klirren die Fahnen.

Als die Klassiker ihre Tempelbauten errichteten, da kroch nach und nach viel Winde und Efeu die dorischen Säulen empor: viel Epigonentum, das den steilen Weg zum Himmel, den sie gestemmt, benutzen wollte. Es gab aber auch Zimmerer und Maurer, die bauten trotzig ihre pro­fanen Häuser neben die Hallen; können wir’s nicht im gro­ßen, so wollen wir’s ihnen im kleinen gleichtun und wenig­stens im kleinen eigen sein. Oder sie bauten, wie die Klas­siker nach oben in den Himmel, nach unten in die Erde hinein: sie rissen die Erde auf und legten Stollen und Gän­ge an: das Geheimnis des Dunkels und des Halbdunkels wurde entdeckt. Jene waren Sonnen-, diese Goldsucher. Bei diesen Bergwerksarbeiten gelangten sie dann nebenher zu allen möglichen Erkenntnissen, die sie nicht gesucht hatten, die ihnen in den Schoß fielen. Sie lernten das Le­ben der unterirdischen Tiere, der Engerlinge und Maul­würfe, beobachten und kamen an den Ursprung mancher Wurzel. Dann und wann trafen sie mit ihrem Spaten auf ein historisches oder prähistorisches Skelett. Sie brachten es ans Licht und suchten es zu bestimmen. Und wenn sie auch keine Entdeckung machten wie Goethe mit seinem Kieferknochen: sie entdeckten die Lebendigkeit des To­des. Der Tod war ihnen (Novalis lernte es beim Tod sei­ner Braut, der mädchenhaften Sophie von Kühn, begrei­fen) kein rein tragisches Problem mehr: schicksalhaft ver­hängt, konnte er selbst den Überlebenden beseligen, wie er den Toten vollendete, dem Überlebenden auch zur Voll­endung dienen. Die Menschen, die dem Leben von der anderen Seite beizukommen suchten, das waren die Ro­mantiker. Es ist klar, dass diese Umkehrung der Erdkugel, dies Auf-den-Kopf-Stellen der Dinge und Begriffe, dies Die-Sterne-auf-die-Erde-Herunterholen in der extremsten Fassung zum Paradoxon einerseits, zur Anbetung des Frag­mentes anderseits führen musste. Weder Tieck noch Brentano sind der Versuchung überspitzter Experimente ent­gangen.

Brentano
Heine

Einzig Novalis und Eichendorff, jener der edelste und zarteste, dieser der kräftigste und letzte Schoß am Strauch der Romantik, haben sich zur Vollendung ent­wickelt. Der Hang, mit sich selber und den anderen Zwie­sprache zu halten, führte zur ernsten und heiteren Gesel­ligkeit, in deren Mittelpunkt die Frauen der Romantik standen. Neben den nicht nur geistreichen, sondern gei­stigen Persönlichkeiten einer Rahel Varnhagen (1771 bis 1833), in deren Salon die ganze damalige Literatur ver­kehrte, der Dorothea (1763—1839) und Karoline Schlegel (1763—1809), steht Bettina von Arnim (1785—1859), die Schwester Clemens Brentanos und spä­tere Gattin Achim von Arnims. Bettina-Goethes „Brief­wechsel mit einem Kinde“ ist ein typisches Produkt ro­mantischen Geistes: halb wahr, halb erfunden, Dichtung und Wahrheit, tief echt — und dennoch da und dort, der Wahrheit zuliebe — verlogen. Die Briefe, die Bettina im wirklichen Leben geschrieben, gehören zu den aufschluss­reichsten Quellen, zu den zartesten Blüten der Romantik.

Aus den Tiefen der deutschen Volksseele hoben Achim von Arnim (aus Berlin, 1781—1831) und Clemens Brentano (aus Ehrenbreitstein, 1778—1842) jene wun­dervollen Volkslieder, die sie in „Des Knaben Wunder­horn“ sammelten. Sie selber freuten sich wie Kinder daran — und Kinder waren alle Romantiker irgendwie und ir­gendwo, abgesehen von den würdigen Brüdern Schlegel, den wissenschaftlichen Verfechtern der Theorie und (manchmal) Spiegelfechtern. Arnim und Brentano machte es einen Heidenspaß, in „Des Knaben Wunderhorn“ ei­gene Gedichte einzuschmuggeln. Wie Kinder erzählten sie sich auch mit Vorliebe Märchen oder ließen sie sich von den Gebrüdern Grimm („Deutsche Kinder- und Hausmärchen“) erzählen und schrieben Märchendramen. Im Märchen und im kleinen Liede gelang ihnen ihr Schönstes, wenngleich sie auch im Romane rühmliche Leistungen auf­zuweisen haben. Brentano: „Gockel, Hinkel und Gackeleia“ und die „Geschichte vom braven Kasperl und vom schönen Anner!“; Tieck: das Drama „Genoveva“, die No­velle „Der blonde Eckbert“ und den Renaissance-Roman „Vittoria Accorombona“; Novalis das Romanfragment „Ofterdingen“. Sie träumten so gern und sangen sich gegenseitig mit ihren Wiegenliedern in Schlaf. Und in ihren Schlaf tutete der Nachtwächter Bonaventura: schön und schauerlich. Aber sie hörten ihn längst nicht mehr. In ihren Träumen klagte die Flöte. Die kühlen Brunnen rauschten. Golden wehten die Töne nieder. — Hatte man ausgeschla­fen und ausgeträumt, ritt man am Morgen in die Land­schaft, speiste draußen in einem Dorf zu Mittag, tanzte mit den Dorfschönen und traf sich abends zu gelehrtem Ge­spräch mit den Schlegels. Man disputierte über die Shakespeareübersetzung August Wilhelm von Schlegels (aus Hannover, 1767—1845) oder über Friedrich von Schlegels (1772—1829) „Sprache und Weisheit der In­der“. Friedrich Schlegel sprach mit Feuereifer über die öst­lichen Kulturprobleme, aber er hörte es nicht gern, wenn man ihn an seinen erotischen Roman „Lucinde“ erinnerte.

Ludwig Tieck (aus Berlin, 1773—1853) war der fruchtbarste Schriftsteller der Romantiker, wenn auch nicht ihr künstlerisch stärkster. Viele Märchen (wie sie die beiden „Sprachgewaltigen“, die Brüder Grimm, gesam­melt hatten) hat Tieck dramatisiert — oft mit zeitgenössi­scher Ironie durchsetzt: z. B. im „Gestiefelten Kater“, worin er das theatralische Unwesen der Modedramatiker jener Zeit, der Iffland und Kotzebue, verspottet. Tieck war ein belesener, kluger, vielseitiger Kopf. Eine seiner schön­sten Novellen ist „Des Lebens Überfluss“.

Vom Märchen zum Traum, vom Traum zu den Geistererscheinungen ist nur ein Schritt. Bei Geistern und Ge­spenstern kannte sich vortrefflich der genialische E. Th. A. Hoffmann (aus Königsberg, 1776—1822) aus. In der Komposition von Erzählungen hat er in Deutschland so leicht nicht seinesgleichen. Vor dem Schlafengehen soll man sie nicht lesen. Man hat leicht eine schlaflose Nacht und kommt am Ende dazu, sich vor sich selbst zu fürchten. Solche Dämonen beschwört der unheimliche Zauberer aus unserer eigenen Brust heraus. Die lagern wie die Alpe auf der Bettdecke und verlassen den in Angstschweiß Geba­deten erst, wenn der Morgen graut.

Ganz in der katholischen Welt ging Novalis (Fried­rich v. Hardenberg aus Wiederstedt, 1772—1801) auf. Ihm war die Geliebte gleichbedeutend mit der Madonna.

Ich sehe dich in tausend Bildern,
Maria, lieblich ausgedrückt,
Doch keins von allen kann dich schildern
Wie meine Seele dich erblickt.

Ich weiß nur, daß der Welt Getümmel
Seitdem mir wie ein Traum verweht,
Und ein unnennbar süßer Himmel
Mir ewig im Gemüte steht.

In den „Hymnen an die Nacht“, der wahren Göttin der Romantik — die Klassiker hatten den Tag geliebt und ge­priesen, die Sonne war ihr Symbol; das Symbol der Ro­mantiker : der Mond — gab Novalis sein Tiefstes. Im „Of­terdingen“ gewinnt Novalis einen Ansatz zu großer Epik, aber sein Leben ist schon zu Ende gebrannt. „Ich bin dem Mittage so nahe“, schrieb Novalis an Karoline Schlegel, „dass die Schatten die Größe der Gegenstände haben, und also die Bildungen meiner Phantasie so ziemlich der wirklichen Welt entsprechen.“

Der Aphorismus war eine Lieblingsform der deutschen Romantiker. In ihren Händen wurde er etwas ganz ande­res als er in seiner französischen Heimat gewesen war. Dort war er ein Witz, oder bestenfalls ein Blitz. In Deutschland wurde er zum Fragment: zu einem kleinen Ausschnitt aus einem Ungeheuern Denkprozess; Bruchstück aus einer Kreislinie, die um Erde und Himmel läuft mit dem Radius Unendlich; Tropfen aus einem Ideenmeer; winzig wie der Same einer Ureiche, aber ebenso ungeheuer viel in sich bergend. Der romantische Aphorismus war kein philoso­phisches System, aber enthielt andeutend und deutend Dutzende von Systemen. Nietzsche wurde der letzte Erbe dieser formlosen Form, die sich zu dem französischen Aphorismus so verhält wie die freien Rhythmen von Goe­thes „Prometheus“ zu einem Sonett von Petrarca. Der or­thodoxe Meister des romantischen Fragments war Fried­rich Schlegel. Novalis aber war der Erfüller. Die Frag­mente des Novalis sind eine ungeheure Welt, in der die Ge­danken so lebendig agieren wie die Personen in Shake­speares Dramen.

Wie Hölderlin so hat man auch Heinrich von Kleist (aus Frankfurt a. d. O., 1777—1811) der Romantik zuge­rechnet. Mit Unrecht. Beide stehen ihrem Wesen nach außerhalb der ganzen Bewegung, sie haben einen anderen Stil-Willen, ein anderes Kunstideal als das der Romantik. Beiden fehlt übrigens die typisch romantische Ironie. Wohl hat Kleist in seinem Schaffen manche Konzessionen an den herrschenden Zeitstil gemacht — auch Goethe hat seinen Tribut an die „Sturm- und Drang „-Zeit entrichtet. Fessel und Entfesselung: das ist Kleists Leben und das tragische Element seiner dahinrasenden emporgeschleuderten Dra­men. Er macht die märkische Sandheide zum Märchen­land. Er realisiert den Traum. Er gestaltet aus einem Rausch der Sachlichkeit. Aus einem Fanatismus zum Ab­soluten. Er entzaubert die Phantasie.

Bei ihm rauscht kein Brunnen in der verschlafenen Som­mernacht: sondern ein Krug geht zum Wasser — bis er bricht. („Der zerbrochene Krug“.) Den intellektuellen Frauen der Romantiker stellt er jene süße, kindliche, unwissende, reine Gestalt des Käthchens von Heilbronn gegenüber: die liebt, weil sie lieben muss. Die unerschütterlich an ihr Herz glaubt, das Gott ihr verliehen, und die gekrönt war, längst ehe sie gekrönt ward. Welch ein Gegensatz zwischen ihr und der rasenden Amazone Penthesilea, die den Pelion auf den Ossa türmen will, um den Himmel : erreichen. Aber die Berge bröckeln aus ihrer Hand, und schließlich stürzen sie donnernd über ihr zusammen. Es ist die Tragödie der grenzenlosen Forderung: alles oder nichts. Es ist die Tragödie des Menschen, der über sich hinaus will, aber niemals über sich hinaus kann. Penthesila ringt mit den Göttern Griechenlands. Der „Prinz von Homburg“ mit dem preußischen Gotte der Disziplin. ,Einstehe für Pflichterfüllung bis zum Äußersten“ telegraphierte der Gouverneur von Kiautschou 1914). Plichterfüllung bis zum äußersten war dem homburgischen Prinzen gesetzt. Er hat sie verletzt und soll den Tod leiden. Zuerst erscheint ihm der Tod als etwas Unfassbares, er bricht unter der Last der Furcht zusammen: aber gelingt ihm, sich emporzureißen, und das Gesetz der inneren Pflicht erkennend, sich ihm freiwillig zu beugen. : wird aus einem unfreien zu einem freien Menschen. Die Todesnähe bringt ihm das wahre Leben der sittlichen Notwendigkeiten nahe. Er hat den Tod in sich überwunden, braucht er nicht mehr zu sterben. In die „Hermann­schlacht“ hat Kleist seinen Napoleonshass gegossen. Wie flüssiges Feuer durchbraust er das Drama. Er schäumt wie in Wolf von den Lefzen auf der Jagd nach dem napoleonischen Fuchs. Napoleon ist ihm der Inbegriff der Tyran­nei, der Ungerechtigkeit — und nichts ertrug Kleist we­niger. Er schwelgt in einer Orgie des Mordes, die er den Verhassten Franzosen angedeihen lassen möchte, er möchte, dass der Rhein bis oben an ihre zerschmetterten Leichen trüge. Dieser pathologische Hassausbruch ist nur aus Kleist’s empörtem und verwundetem Gerechtigkeitsgefühl zu verstehen. Auch sein Michael Kohlhaas, der Held der gewaltigsten deutschen Novelle, wird aus verletztem Rechtsgefühl zum Mörder.

Wie Schiller Hölderlin fallen ließ, so hat Goethe Kleist in schlimmster Weise vor den Kopf gestoßen. Kleist ant­wortete mit unversöhnlichem Hass. Hass war bei ihm ein Ausdruck der Selbstzerfleischung. Als sein Schaffen, das er wirklich mit dem Blute seines Lebens schrieb, ohne Echo und Wirkung unter den Zeitgenossen blieb, erschien es ihm sinnlos, weiter zu leben. Er erschoss sich in Wannsee bei Berlin, vierunddreißigjährig.

Eichendorff und Hölderlin sind Nord- und Südpol der deutschen Lyrik. Goethe ihre Erdmitte. Hölderlin: ein Einziger unter den Deutschen, der hieratische Priester der heiligsten Empfängnis, der strengsten Verkündigung: Kind und Greis. Anfang und Ende. Goethe: der Mann, gewaltig schreitend, Flamme und Tuba. Eichendorff: das deutsche All im Regenbogen. Herz des Jünglings im Som­merabend wie eine erste und letzte Rose aufbrechend: durchblühend die Nacht bis zum Morgenrot. Eichendorff: das Volkslied. Goethe: die Trilogie der Leidenschaft des geistigen Menschen. Hölderlin: der Gottgesang. Wohl über ein halbes Hundert der schönsten deutschen Gedichte ist der schwärmenden, unbeirrbaren Einfalt des ewigen Jünglings Eichendorff (1788 geboren auf Schloss Rubowitz in Schlesien, gestorben 1857) gelungen. Darunter ein Dutzend der allervollkommensten: „Zwielicht“, „Abend“, „Nachtgruß“ — so sind sie überschrieben. Es ist die deutsche Sommernacht, welche zu tönen beginnt:

Nacht ist wie ein stilles Meer,
Lust und Leid und Liebesklagen
Kommmen so verworren her
In dem linden Wellenschlagen.

Wünsche wie die Wolken sind,
Segeln durch die stillen Räume.
Wer erkennt im lauen Wind
Ob’s Gedanken oder Träume.

Schließ ich nun auch Herz und Mund,
Die so gern der Liebe klagen,
Leise doch im Herzensgrund
Bleibt das linde Wellenschlagen.

Am Fenster lehnt ein junger Mensch und sieht hinaus in den milden Mond: der schwebt wie eine goldene Träne an seinen Wimpern. Da klingt aus weiter Ferne der Ton eines Posthorns — der ewige „Taugenichts“ macht seine Reise nach Wien.

Von Österreich, dem deutschen Sprachgebiet an der Do­nau, haben wir seit der Zeit der Minnesänger wenig mehr gehört. Jetzt beginnt’s auch in und um Wien lebendig zu werden. Sie präferieren die bunte Gaudi der Romantik. Geister und Zwerge mitten zwischen den Menschen, das ist noch was, das laß ich mir gefallen. Gehen Sie mir mit dem Wallenstein! Mit so was haben wir Pech. Ein Geistertheater im Prater, das ist billiger, kostet kein Blut und unterhält und belehrt zugleich. Ferdinand Raimund (1790 bis 1865) schrieb den Wienern solch scharmantes Geisterthea­ter: „Alpenkönig und Menschenfeind“. Und des klugen Sprachkünstlers Nestroy (1802—1862) Volksstückel Das ist Österreichertum, herzlich und ironisch, von der be­sten Seite. Franz Grillparzer (1791—1872) nahm das österreichische Problem (in „König Ottokars Glück und Ende“, „Ein treuer Diener seines Herrn“, „Ein Bruder­zwist in Habsburg“) tragischer. Stofflich ein Romantiker, stilistisch ein Klassiker teilte er seine Themen zwischen Österreich und Hellas: „Sappho“, eine Dichtertragödie, dem Tasso nicht unebenbürtig — „Das Goldene Vließ“, das Trauerspiel der Medea — „Des Meeres und der Liebe Wellen“, die holdeste deutsche Liebestragödie. Der tsche­chischen Mythologie entnahm er sein tiefstes Werk: Libussa, den alten Gegensatz zwischen Natur und Kultur behandelnd. Sein unerfülltes Liebesleben mit der ewigen Braut, mit der er rang wie mit der Muse selbst, hat viele Quellen in ihm verschüttet, die vielleicht aufgesprudelt wären, wenn er am eigenen Leibe und eigener Seele Eros zu tiefst verspürt hätte. — In der Novelle „Der arme Spielmann“ hat Grillparzer Bekenntnisse in Symbole Verborgen.

Elegisch beschließt die österreichische Romantik Nikolaus Lenau(1802 – 1850), ein Deutsch-Ungar. Er starb wie Hölderlin im Wahnsinn, nachdem er, mit dem Herzen eines Zigeuners und dem Munde eines Deutschen, die melancholischen Lieder der Steppe und der Schilfteiche gesungen.

Die Dichter der Befreiungskriege, Theodor Körner aus Dresden (1791—1813, „Leier und Schwert“), Max v. Schenkendorf (aus Tilsit, von 1783—1817), Ernst Moritz Arndt (von Rügen, 1769—1860) und viele an­dere standen bei den Monarchen und ihren Lakaien, den Lesebuchfabrikanten, lange in großem Ansehen. Ihre sol­datische Lyrik diente nämlich unfreiwillig dazu, die wahren Motive und vor allem den Schlusseffekt der „Befrei­ungskriege“ zu verschleiern. In den Gedichten kämpfte der Soldat für Weib und Kind, für Heimat und Herd, für die heiligsten Güter der Nation, in Wahrheit jedoch für die Restitution der schwärzesten Reaktion, der Napoleon, Erbe der Französischen Revolution und ein liberaler Geist gegen die mittelalterlich verträumten oder verbohrten deutschen Fürsten, beinahe ein Ende bereitet hatte. Dem Ende mit Schrecken (i 806) folgte seit 1813 der Schrecken ohne Ende. Das Versprechen der Verfassung wurde nicht gehalten. Selbst die erprobtesten Patrioten, wie Turnvater Jahn und E. M. Arndt, gerieten in Auflehnung und Em­pörung. Sie forderten das unverjährte Recht der Presse­freiheit und Verfassung und hielten der aufsteigenden Ju­gend, die sich besonders betrogen glaubte, denn um sie, um ihre Zukunft ging es, tapfer die Stange. Die freiheit­liche Bewegung der Jugend sammelte sich in der Burschen­schaft und fand ihren imposanten Ausdruck im Wart­burgfest (1817). Sie wurde bald verboten und Männer wie Arndt und Jahn verhaftet. Arndt wurde seiner Professur entsetzt. Was ist aus der deutschen Studentenschaft, der Burschenschaft, einst Träger des revolutionären deutschen Gedankens, geworden 1 Und was hat Deutschland zu ge­wärtigen, wenn seine Jugend nicht erwacht ?

E. TH. A. Hoffmann
Hebbel

Das Umsichgreifen der europäischen und insbesondere der deutschen Reaktion seit dem Ende der „Freiheits“-kriege rief die deutsche Jugend auf den Plan zum Kampf um die persönliche und allgemeine Freiheit. Das „junge Deutschland“ stand auf und schleuderte von seiner Schleu­der wie weiland David Kiesel und Steine gegen den Go­liath der Reaktion. Der aber stand fest und lachte dröh­nend, und der Kieselregen war ihm wie Mückenschwärmen. Hin und wieder packte er sich einen kleinen David und setzte ihn hinter Festungsmauern. Oder er veranlasste seinen getreuen Diener namens Censor, den frechen Bur­schen die Publikations-, Meinungs- und Gedankenfreiheit zu beschneiden. Das wütete dann wild „in Journälern 100 spaltig“ mit dem Rotstift, bis dem Autor und den Le­sern grün und blau vor den Augen wurde! Die deutsche Zensur — bis in die jüngste Zeit spielt sie den Dichtern übel mit. Unter der Marke „gotteslästerlich“, „unzüchtig“, „revolutionär“ — was ist ihr da nicht alles zum Opfer ge­fallen. Die Zensur könnte wirklich nichts besseres tun, als, wie Dingelstedt sagt, „sich selbst zu streichen“. Die Be­vormundung des freien Geistes durch unfreie Geister ist unerträglich.

Dichterisch sind die Leistungen der politischen Lyriker um 48 genauso armselig wie es die der „Dichter der Be­freiungskriege“ waren; Herwegh (aus Stuttgart, 1817 bis 1875) allein schwingt sich über die anderen empor „wie eine eiserne Lerche“ (Heine).

Aber man packte sie nicht bei der Achillesferse ihrer dichterischen Leistung, man griff sie dort an, wo sie unan­greifbar waren: in der Gesinnung. Die politische Lyrik der heutigen Zeit hat viele Ähnlichkeit in den Tendenzen mit der damaligen, wenngleich sie im Formalen gewichtiger geworden ist. Doch auch sie bietet im Künstlerischen viele Angriffspunkte. Die besten politischen Gedichte haben die gedichtet, die, wie Platen und Heine, auch „nebenbei“, nämlich in der Hauptsache, reine Lyriker waren. Sie opfer­ten weder das Herz noch die gestaltende Kraft der poli­tischen These und Frage. Die Dichtung untersteht der reinen Vernunft, jener Göttin, die im absoluten Bezirke unbezwinglich thront. Politik und Kunst können sich mi­schen, gewiss. Ihre Vereinigung zum Gesetz erhoben, heißt Un-ding und Un-sinn zur Un-tat zwingen. Der Dichter hat die Pflicht, Politiker zu werden: Vermöge seiner geistigen und moralischen Kräfte, angesichts seiner Stellung im Ho­rizont der Menschheit. Er hat aber auch die Pflicht, Dich­ter zu bleiben, d. h. mythischer Diener der Wörtlichkeit und Künder des reinen Klanges. Herwegh ist gewiss eine respektable Erscheinung, aber nur von 48 er Ideologien, von dem Symbol des politischen Dichters als des Dichters schlechthin gefangene Schwarmgeister werden in ihm einen großen Dichter sehen. Er war ein kleiner Dichter, aber immerhin ein Dichter. In seinen Versen rauscht die schwarz-rot-goldne Fahne und klirren die Sensen aufrüh­rerischer Bauern. Historisch sind die 48 er Lyriker als die Träger des Revolutionsgedankens von größter Bedeutung. Alle Revolutionen sind mehr oder weniger von Literaten gemacht worden. Jahre und oft Jahrzehnte schon vor der Explosion begannen sie, Bomben zu legen und zu minieren. Viele der Gedichte von Freiligrath, Dingelstedt, Hoff­mann wirken wie Illustrationen zu heutigem Geschehnis. Hoffmann von Fallersleben (1798—1874) ist im allge­meinen nur als der Dichter von „Deutschland, Deutsch­land über alles“ bekannt. Dass er auch ein Revolutionär war — wer weiß das noch? Und dass einige der allerbittersten und bösesten Revolutionslieder von ihm stammen?

Das menschlich wie dichterisch fortreißendste Revolu­tionslied stammt von Heinrich Heine (aus Düsseldorf, 1797—1856): „Die schlesischen Weber“:

Im düstern Auge keine Träne,
Sie sitzen am Webstuhl und fletschen die Zähne:
Deutschland, wir weben dein Leichentuch,
Wir weben hinein den dreifachen Fluch:
Wir weben, wir weben!

Um keinen deutschen Dichter ist so heftig der Kampf der Meinungen entbrannt wie um Heine. Er war ein Gläubi­ger und ein Lästerer, ein Jude und ein Christ, ein guter und ein böser Mensch. Das Doppelköpfige, Doppelzüngige, Doppelseelische seines Wesens ist die Ursache, weshalb er Zeit seines Lebens und Todes von vielen reinen und unreinen Toren heftig befehdet wurde. Andererseits ge­wann er die Zuneigung vieler (außerhalb Deutschlands ist er der vielleicht populärste deutsche Dichter) durch ge­wisse Liedchen, in denen ein nicht immer echter Gefühls­ton einen artistisch bewunderungswürdigen Ausdruck fand. Sein Ruhm beruht meist auf seinen schwächsten Lei­stungen, man vergisst über dem merkwürdigen Ironiker und scharfen, ätzenden Satiriker, dass auch das reine lyri­sche Wort, die Glocke Gottes, aus ihm klingen kann. Man hob ihn in den höchsten Himmel, stieß ihn in die tiefste Hölle. Man bleibe in der Mitte: lasse ihn auf Erden, hier war sein Platz und wird es immer sein als der eines tapferen Soldaten des Geistes und eines eigen- und einzigartigen Liedersängers. Er gehört mit Goethe, Eichendorff, Mörike zu den Meistern des deutschen Lie­des: jener besonderen, dem Volksmunde entnommenen deutschen Dichtform, einer Form, wie sie die Romanen nicht kennen. Weshalb die Franzosen ja auch „le lied“ sagen, wenn sie eben „Lied“ und nicht das „chanson“ meinen.

Gekommen ist der Maie,
Die Blumen und Bäume blühen,
Und durch die Himmelsbläue
Die rosigen Wolken ziehen.

Die Nachtigallen singen
Herab aus der laubigen Höh,
Die weißen Lämmer springen
Im weichen grünen Klee.

Ich kann nicht singen und springen
Ich liege krank im Gras.
Ich höre fernes Klingen,
Mir träumt, ich weiß nicht was.

Kleist

Schmerz und Lust, Tod und Liebe sind die einfachen Themen seiner einfachen Lieder. Lasst nur auf Schmerz sich Herz, auf Tod sich Morgenrot reimen: es sind die schön­sten Reime, die man dazu finden kann. Man braucht sie gar nicht erst zu suchen, sie sind schon da: sie sind als Reimpaare in der deutschen Sprache und im deutschen Herzen zur Welt gekommen. Aber Heine singt nicht im­mer so einfache Lieder. Zuweilen wird es ihm unerträg­lich, dass jemand Fremdes seiner Seele lauscht. Er zerreißt die Saiten und die Töne plötzlich. Dissonanzen schrillen. Oder er nimmt gar die Laute und schlägt sie dem philister­haften Greise, der ihn wie Susanne im Bade in seiner Nacktheit belauscht, auf den hohlen Schädel und um die Ohren. Diese ironischen Gedichte, gegen den Philister überhaupt und den Philister in der eigenen Brust gerich­tet, gehören zu den merkwürdigsten Expressionen des menschlichen Pessimismus.

Heine war nicht nur Dichter, er war vor allem Schrift­steller. (Seine „Reisebilder“, in denen er noch nicht, wie später, die Politik in den Vordergrund stellte, sind erster und hervorragender Feuilletonismus.) Als solcher hat er unter- und überirdisch eine Wirkung ausgeübt, die nicht leicht überschätzt werden kann. Dass seine Wirkung nicht nur heilsam war: wollen wir’s ihm ankreiden oder nicht vielmehr seinen törichten und anmaßenden Epigonen? Freilich, auch er ist gestrauchelt: in so mancher seiner pri­vaten Polemiken (gegen Platen z. B., wo er seine Grenzen weit überschreitet).

Er hat dies und vieles mehr gebüßt in seiner „Matratzen­gruft“ in jahrelangen Leiden, die ihn ans Bett fesselten und zum langsamen Tode verurteilten. Er nannte sich selber: „armer Lazarus“. Und unter den Lazarusgedichten finden sich seine echtesten und ergreifendsten Gedichte. Alle seine Schmerzen legte er in ihnen bloß. Er war schon lange des Lebens müde geworden. Die vielen Frauen, die ihn ge­liebt hatten, waren von ihm gegangen. Geblieben war bei ihm sein „dickes Weib Mathilde“ und eine kleine letzte Freundin: die Mouche, wie er sie nannte, die Fliege. Wie die Blume der Passion leuchtete sie an seinem Lager:

Du warst die Blume, du geliebtes Kind,
An deinen Küssen mußt‘ ich dich erkennen.
So zärtlich keine Blumenlippen sind,
So feurig keine Blumentränen brennen!

Geschlossen war mein Aug‘, doch angeblickt
Hat meine Seel‘ beständig dein Gesichte,
Du sahst mich an, beseligt und verzückt,
Und geisterhaft beglänzt vom Mondenlichte.

Wir sprachen nicht, jedoch mein Herz vernahm,
Was du verschwiegen dachtest im Gemüte —
Das ausgesprochne Wort ist ohne Scham,
Das Schweigen ist der Liebe keusche Blüte.

Er war so sterbensmüde geworden:

Gut ist der Schlaf, der Tod ist besser — freilich
Das Beste wäre nie geboren sein.

Und oft sprach er vor sich hin, wenn niemand ihn hörte:
Der Tod, das ist die kühle Nacht,
Das Leben ist der schwüle Tag,
Es dunkelt schon, mich schläfert…

Heine ist der Prototyp des Zeitungskorrespondenten: der erste europäische Journalist und Feuilletonist. Ähnlich wie Ludwig Börne (aus Frankfurt, 1786—1837) und Karl Gutzkow (aus Berlin, 1811—1878) bekämpfte Heinrich Heine von Paris aus, wohin er aus dem ungast­lichen Deutschland geflüchtet war, „die Tyrannen und Philister“. Diesen Kampf vom Ausland her hat man ihm besonders übel genommen, und ganz besonders übel seine Stellung zu den Hohenzollern. Er erwies sich aber in sei­nen politischen Bemerkungen und Schriften („Franzö­sische Zustände“ usw.) als Politiker von untrüglichem In­stinkt und adlersicherem Blick. („Dieser Wirksamkeit bleibt mein Leben gewidmet; es ist mein Amt.“) Man lese, wie er in der „Lutezia“ noch die europäische Zukunft be­urteilt. Er prophezeit ein großes „Spektakelstück“, den „grässlichsten Zerstörungskrieg“ zwischen Deutschland und England—Frankreich—Russland. „Doch das wäre nur der erste Akt des großen Spektakelstückes, gleichsam das Vor­spiel. Der zweite Akt ist die europäische, die Weltrevolution, der große Zweikampf der Besitzlosen mit der Aristokratie des Besitzes, und da wird weder von Nationalität noch von Religion die Rede sein: nur ein Vaterland wird es geben, nämlich die Erde, und nur einen Glauben, nämlich das Glück auf Erden…“

Heine erwog auch als Prophylaxe gegen all diese Um­wälzungen schon den Gedanken des Völkerbundes. Auch über den Kommunismus weiß er einiges zu sagen, was heute erstaunlich zu lesen ist.

Über den sogenannten „schwäbischen Dichterkreis“ sind wir mit Heine einer Meinung. Die schwäbischen Dich­ter, unzählbar wie der Straßenstaub in Stuttgart, zeichnen sich durch eine betonte Philisterhaftigkeit aus. Wenn ihrer trefflichen, wohlgerundeten Gattin sonntags die Klöße oder die Spätzle nicht recht gerieten, dann ziehen sie die Stirne kraus, die Adern schwellen, und auf dem Kopf die Nachtmütze zittert vor Empörung. Sie laufen erregt durchs Zimmer und stolpern wohl über die Quasten und Bommeln ihres Schlafrockes. Und sind erst beruhigt, wenn Mutter die Pfeife stopft und einen extra guten Kaffee zum Nachtisch kocht. Da schwellen die Adern ab, die Nacht­mütze beruhigt sich. Der Jüngste bringt ein blaues Schreib­heft von Vaters Schreibtisch, die Älteste Tinte und Gänse­kiel. Und, bewacht und betreut von den Seinen, beginnt Vater zu dichten.

Ludwig Uhland (1787—1862) ist in Tübingen gebo­ren, und der Geist dieser kleinen Wald- und Universitäts­stadt war der seine. Ernste Wissenschaftlichkeit in den grauen Hörsälen, das heitere Spiel der Wolken und Winde über den bebäumten und wiesengrünen Hügeln. Und wie in den Gasthäusern der Dörfer rings um die Studenten­stadt die Rapiere der schlagenden Verbindungen klirrten, so stand Ludwig Uhland ewig auf der Mensur für „das gute alte Recht“ des Volkes, für Deutschtum und Demo­kratie gegen die kleinliche Tyrannei der kleinen Fürsten. Er wurde 1848 als Vertreter der demokratisch-großdeut­schen Fraktion in das Frankfurter Parlament gewählt, nach­dem er schon 1833 seine Tübinger Professur für deutsche Literatur wegen politischer Differenzen mit der württem­bergischen Regierung niedergelegt hatte. Seine eigentliche poetische Produktion fällt in die erste Hälfte seines Lebens. Da sang er jene schönen Lieder, die längst in den Volks­mund übergegangen sind: „Ich hatt‘ einen Kameraden“ und Balladen wie „Das Glück von Edenhall“, die in den Schulen als deutsche Aufsatzthemen nicht weniger beliebt sind als Schillers Glocke. Schade. Man sollte tausend Mal weniger darüber schreiben, aber man sollte sie tausend Mal mehr lesen, sprechen, schreien, singen. Auch als For­scher auf dem Gebiet der deutschen Volkspoesie und Sage hat Uhland Beträchtliches geleistet.

Als einen der zahlreichen Dichterschüler Uhlands be­zeichnete sich der reim- und freundschaftsselige Justinus Kerner (1786—1862). Mehr als die poetischen „Reiseschatten“ des jungen Mediziners wurden seine Aufzeich­nungen über die somnambue „Seherin von Prevorst“ ge­lesen.

Als Balladendichter ist neben Uhland der Schlesier Moritz Graf Strachwitz (1822—1847) hervorzuheben, der mit Günther, Büchner, Hauff zu jener edlen Reihe jung verstorbener deutscher Dichterjünglinge gehört, die der schwärmerischen Liebe ihres Volkes immer gewiss sein werden.

Die Ballade nach der komischen Seite hin bearbeitete in lustigen gereimten Schwänken der weinselige August Kopisch (1799—1853), dessen „Heinzelmännchen“ wir als Kinder mit brennenden Augen, dessen „Historie von Noah“ wir als Studenten mit weinfeuchten Augen lasen. Der alte Kopisch saß mit seiner roten Nase in unserer Ko­rona auf dem Schloßberg von Heidelberg, hob mit der einen Hand den goldgefüllten Römer, mit der anderen den Zeigefinger und sprach warnend: „Trinkt kein Wasser, Kinder! Ihr kennt die Geschichte von der Sintflut? Trinkt kein Wasser,

dieweil darin ersäufet sind
all sündhaft Vieh und Menschenkind…“

Dass der-leichtblütige und leichtsinnige Kopisch der beste Freund des schwermütigen und schwerblütigen Gra­fen Platen (aus Ansbach, 1796—1835) war, mag nach­denklich stimmen. Aber vielleicht hatte Platen Kopisch nötig wie Kopisch — den Wein. Um sich in der Misere seines Lebens mit Heiterkeiten hin und wieder zu betrin­ken. Platens Schicksal war die Männerfreundschaft und Knabenliebe. Er suchte Adonis, ohne ihn zu finden. Seiner inbrünstigen Sehnsucht nach einem Echo seines Herzens verdanken wir die schönsten deutschen Sonette. In Syrakus ist er gestorben, vielleicht, wie er einst sang, im Arme des endlich gefundenen Götterjünglings.

Ich möchte, wenn ich sterbe, wie die lichten
Gestirne schnell und unbewußt erbleichen,
Erliegen macht‘ ich einst des Todes Streichen,
Wie Sagen uns vom Pindaros berichten.

Ich will ja nicht im Leben oder Dichten
Den großen Unerreichlichen erreichen,
Ich macht‘, o Freund, ihm nur im Tode gleichen —
Doch höre nun die schönste der Geschichten!

Er saß im Schauspiel, vom Gesang beweget,
Und hatte, der ermüdet war, die Wangen
Auf seines Lieblings schönes Knie geleget:

Als nun der Chöre Melodien verklangen,
Will wecken ihn, der ihn so sanft geheget,
Doch zu den Göttern war er heimgegangen.

Zu meinen erfreulichsten Jugenderinnerungen aus dem Gebiete der Literatur gehören auch Willibald Alexis (Wilhelm Häring, aus Breslau, 1799—1871), in den Schul­lesebüchern immer mit dem homerischen Beinamen „der Vortreffliche“ geehrt, welcher nicht undichterische histo­rische Romane aus meiner engeren Heimat schrieb: „Die Hosen des Herrn von Bredow“, „Der Roland von Berlin“; und Wilhelm Hauff (1802—1827), in den Schullese­büchern ein wenig zärtlich, aber auch ein wenig von oben herab, „der Jugendliche“ genannt. Zu der Geste des Von-oben-herab ist bei ihm nun keine Veranlassung. Er ist kein großer Dichter: zu den „Klassikern“ haben ihn nur die Fabrikanten von Klassikerliteratur gemacht: denen ge­nügen Schiller, Goethe, Kleist aus Geschäftsgründen nicht, die Brautpaare verlangen beim Heiraten zur Komplettierung ihrer Wohnungseinrichtung eine ganze Klas­sikerausstattung: dazu gehören denn auch vor allen Din­gen Körner und eine ganze Anzahl völlig unmöglicher und verstaubter alter Herren, wie Gaudy, Seume, Gutzkow usw. Hauff ist nun ganz und gar nicht verstaubt. Er ist kein großer Dichter, aber ein Erzähler von prachtvoller novel­listischer Begabung, wie seine Märchen und Novellen zei­gen. — Ein Glanzstück unserer novellistischen Poesie ge­lang einem gebürtigen Franzosen: Adalbert von Chamisso (1781—1838) mit seinem Peter Schlemihl, dem Mann, der seinen Schatten verkauft hat. Peter Schlemihl ist eine sinnbildliche und sprichwörtliche Figur geworden.

Zu jenen, die abseits von Literaturbetrieb, Clique und Reklame schrieben, gehört Adalbert Stifter (aus dem Böhmerwald, 1805—1868), der zarte Pastelle und ge­strichelte Federzeichnungen nach der Natur auf kleine weiße Blätter malte und zeichnete. Die poetischen Blätter sammelte er und gab ihnen dann so unscheinbare Namen wie: „Studien“. Er malte aber auch ein großes Gemälde im sorgsam-warmen Waldmüller-Stil, den „Nachsommer“, und ein Fresko mit klaren Lokalfarben, den historischen Roman „Witiko“. Wer in den Sommerferien in den bay­rischen Wald reist und lässt Stifters Erzählungen, vor allem den „Hochwald“, zu Hause, der verdient es nicht, Som­merferien im bayrischen Wald zu erleben. Reist er aber nach Westfalen, so stecke er sich getrost den alten „Ober­hof“ von Karl Immermann (1796—1840) in den Ruck­sack, oder, falls er über Zeitbedingtes hinwegzulesen ver­steht, den ganzen „Münchhausen“. Auch darf er von Immermann die tiefsinnige Mythe „Merlin“, die Tragödie des Widerspruchs nicht vergessen. Wenn der, dem Dich­ter hoffentlich geneigte Leser, auch den Widerspruch nicht lösen sollte — was tut’s? Begreift er Goethes „Geheim­nisse“? Oder Hölderlins letzte Gedichte? Muss denn alles so verständlich sein wie ein Gespräch über die teuren Zeiten im Kaufmannsladen ? Nicht jeder ist ein Alexander, nicht jeder vermag den gordischen Knoten derart gewalt­tätig mit dem Schwert zu lösen; und manchmal tut’s nicht einmal gut, die Lösung mit dem Schwert meine ich, wie exempla docent.

Abseits von den Zeitstürmen saß in Kleversulzbach in Schwaben unter der Pfarrhauslinde, behaglich seine lange Pfeife rauchend, im buntgeblümten Schlafrock mit den goldenen Quasten: Eduard Mörike (1804—1875). Wie Büchner von Körner, so ist sein helles Gestirn von der Wolke eines Geibel beschattet worden, und bis ans Ende des 19. Jahrhunderts haben wenige gewusst, was hinter dem biederen Pfarrer von Kleversulzbach steckt. Ferdi­nand Freiligrath (aus Detmold am Teutoburger Wald, 1810—1876) und Friedrich Rückert (aus Schwein­furt, 1788—1866), um noch die besten zu nennen, blen­deten die deutsche Leserwelt mit ihrer Exotik voll unge­wöhnlichen lyrischen Farbenreichtums. Der Allerweltsepigone Geibel und die Geibelepigonen versüsslichten den Geschmack des deutschen Publikums vollends, so dass es an einem klaren Trunk, wie ihn Mörike kredenzte, keinen Geschmack mehr fand. Zu alledem schrien dem deutschen Volk die politischen Dichter noch die Ohren voll, Herwegh an der Spitze, bescheiden wie sie immer sind, traten sie trompetend vor ihre Jahrmarktsbude und schrien: „Nur immer hereinspaziert, meine Herrschaften! Wir ha­ben die einzig echte, die einzig wahre, die politische Kunst gepachtet!“ Sie hatten eine Menge Zulauf. Friedrich Rückert verblüffte mit seinen lyrischen Taschenspieler­kunststücken und dichtete jeden Tag zwanzig Liebeslieder. Sein Bestes gab er in seinen orientalischen Nachdichtungen. Auch Freiligraths wohlassortierte Menagerie, in welcher der Wüstenkönig, der Löwe, die Hauptattraktion bildete, und wo ein waschechter Mohrenkönig an der Kasse saß, wurde überlaufen. Der Blumenstand, an dem die Muse selbst Mörikes Feldblumen oder auch Rosen und Nelkensträuße feilhielt, wurde nicht beachtet. Eduard Mörike hatte mit einer Paraphrase des Wilhelm Meister: dem Roman Maler Nolten, begonnen, der nicht ohne Eindruck blieb. Mit Gottes Wort, das Gott ihm selber in den Mund gelegt, mit seinen Gedichten predigte der schwäbische Pfarrer lange tauben Ohren. Seine Verse sind nicht gemeißelt wie die hölderlinschen, nicht in der Trunkenheit herausgebrüllt wie die güntherschen, nicht ziseliert wie die heineschen, geflötet wie die platenschen: sie fielen wie reife Früchte vom Baum in seinen Pfarrhausgarten. Sie sind nicht er­künstelt, nicht erzwungen: sie sind rund und vollendet und duften wie reife Äpfel. Der Sonnenblume gleich stand sein Gemüt offen.

Hier lieg ich auf dem Frühlingshügel:
Die Wolke wird mein Flügel,
Ein Vogel fliegt mir voraus.
Ach, sag mir, alleinige Liebe,
Wo du bleibst, daß ich bei dir bliebe!
Doch du und die Lüfte, ihr habt kein Haus.

Der Sonnenblume gleich steht mein Gemüte offen,
Sehnend,
Sich dehnend
In Lieben und Hoffen.
Frühling, was bist du gewillt?
Wann werd ich gestillt?

Die Wolke seh ich wandeln und den Fluß,
Es dringt der Sonne goldner Kuß
Mir tief bis ins Geblüt hinein;
Die Augen, wunderbar berauschet,

Tun, als schliefen sie ein,
Nur noch das Ohr dem Ton der Biene lauschet.
Ich denke dies und denke das,
Ich sehne mich, und weiß nicht recht nach was:

Halb ist es Lust, halb ist es Klage,
Mein Herr, o sage,
Was webst du für Erinnerung
In golden grüner Zweige Dämmerung?
— Alte unnennbare Tage!

Mörike brauchte in seiner friedlichen Seele keine Schiachten zu schlagen wie Hebbel. Nur schwach schwank­te die Schale zwischen Lieben und Leiden. Zuweilen flo­gen wohl Schatten über seine Seele, es dunkelte in ihm und über ihm. Aber keine Nacht dauert ewig. Seine Phantastik schweift milde wie ein Sommervogel in seinen Er­zählungen (der schönsten: Mozart auf der Reise nach Prag) und Märchen. Er erschreckt nie. Seine Schauerge­schichten machen lächeln. Und wenn er dunkel ist, so ist er dunkel wie eine Sommernacht in Kleversulzbach, warm und besternt, und wir wissen, dass die Morgenröte nicht fern ist.

ROMANTIK, SÜD, NORD UND WEST

Im 17. Jahrhundert blühte, wie im übrigen Europa, in Italien die arkadische Dichtung, ohne markante Dichter­charaktere hervorzubringen. Guiseppe Parini (1729 bis 1799) macht sich von dem lastenden Erbe der Vergangen­heit, der Renaissance, frei in seiner Satire „Das Tagwerk“. Carlo Goldoni (1707—1793) improvisiert seine leichten zärtlichen Komödien, von den Spaniern beeinflusst. Seine besten Stücke („Diener zweier Herren“, „Das Kaffee­haus“) schreibt er nicht für seine Vaterstadt Venedig, sondern für das italienische Theater in Paris, wohin er vor sei­nem siegreichen Nebenbuhler Carlo Gozzi, dem Dich­ter traumhaft bunter Märchendramen, flüchtete. Vittorio Alfieri (1749—1803) fährt demgegenüber schwe­res klassisches Geschütz auf. Er will das geheiligte Prinzip der Latinität wieder herstellen und ruft flammend zu einer neuen Klassik. Bezeichnend für ihn ist seine Logik: Italien braucht eine neue tragische Literatur. Also werde ich sie ihm schaffen und schenken. Er ist der erste Fascist der Literatur: Italien muss wieder groß, tapfer, heroisch wer­den — koste es, was es wolle.

Der Halbgrieche Ugo Foscolo (1778—1827) ist Ro­mantiker in seinem Gedicht „Die Gräber“. In seiner Werther-Imitation (Jacopo Ortis) klingt der Schmerz um den politischen Niedergang. Die Sehnsucht nach Befrei­ung ist das Leitmotiv der romantischen italienischen Dich­tung, die Alessandro Manzoni (1785—1873) mit seinen Dramen und seinem historischen Roman „Die Verlobten“ aus der politischen Enge in die dichterische Weite hebt. Er schildert die Geschichte zweier Liebenden der Lombardei unter spanischer Herrschaft, die ein tyrannischer Lehns­herr nicht zueinander kommen lassen will. Manzonis Er­folg rief eine Unzahl Epigonen auf den Plan, die wertlose patriotische Romane zusammenschmierten.

Der Vollender der Klassik ist der kranke Krüppel Giacomo Leopardi (1798—1837), dessen Dutzend Ge­dichte mehr wiegt als alle zweiundzwanzig Tragödien Al­flens. Er ist der schwärzeste Pessimist, aber seine Verzweif­lung und Hoffnungslosigkeit klingt nicht wild wie die Byrons oder ironisch wie die Heines, sondern sanft, süß. Er ist ein italienischer Inder. Er besingt sich selbst:

Nun wirst du ruhn für immer,
Du müdes Herz. Hin ist der Wahn, der letzte,
Den ewig ich geglaubt. Er ist verronnen.
Es schwand für holden Trug mir
Der Wunsch sogar, nicht bloß die Hoffnung. Ruh
Nun aus für immer. Lange
Genug hast du gepocht. Nichts lebt, das würdig
War deiner Regungen, und keinen Seufzer
Verdient die Erde.
Laß diese
Verzweiflung sein die letzte. Kein Geschenk hat
Für uns das Schicksal als den Tod.

Auch in Frankreich war die revolutionäre Dichtung rasch von einer romantischen (oft reaktionären) abgelöst worden. Madame de Stael (1766—1817) zeigte: wie einst Tacitus den Römern: den Franzosen ein ideales Deutschland als Vorbild. Der Freund der Madame Stael ist Benjamin Constant, der Dichter des psychologisch ein­dringlichen Bekenntnisromans „Adolphe“ und des „In­timen Tagebuchs“. Die dichterische Frucht der Reaktion war die romantische Dichtung, die Chateaubriand (1768—1848) anführt. Man könnte die Geistesrichtung, die die Ermüdung nach den Revolutionswirren zeugte, paraphrasieren mit dem an Napoleon umgebogenen Re­frain seines Gedichtes „Der Sklave“:

Herr, wessen Los ist süß wie das des Sklaven,
Dem du befiehlst, dem du befiehlst…

Frei waren die Menschen gewesen, nun wollten sie wieder Sklaven sein. Christ und Monarchist ist Lamartine (1790 bis 1869) in seinen „Poetischen Betrachtungen“. Gegen die Bourbonen wandte sich Pierre Jean Beranger (1780 bis 18 5 7), Frankreichs größter revolutionärer Dichter. „Wo­hin ich blicke: Ketten — nirgends Licht!“ Wegen seiner Chansons, die die vergangene „große Zeit“ verspotteten, wurde er monatelang gefangen gehalten. Alfred de Vigny. Eine Empörernatur, schrieb Gedichte, Dramen, Novellen, in denen schon der kommende Psychologismus sich anzeigt. Victor Hugos (1802—1885) Statue haben die Franzosen nach Rom geschickt, als die Statue Goethes im Park Borghese aufgestellt wurde. Das bedeutet eine falsche Einschätzung, die die Franzosen ihren eigenen Mu­sensöhnen gegenüber so oft an den Tag legen. Victor Hugo ist kein würdiges Pendant zu Goethe. Denn das Ge­samtwerk Hugos ist eine strahlende, prachtvolle Blague, nicht mehr. Allerdings ist er eines im vollendeten Aus­maß: Franzose, Franzose durch und durch. Die Tiefe der deutschen Romantik ist der französischen fremd. Die deut­sche ist ein tiefer Brunnen, die französische ein flaches Ge­wässer — aber beide sind von der gleichen Sonne be­strahlt. Die Dramen „Cromwell“ und „Hernani“ finden in Frankreich höchste Bewunderung. Die orientalischen Ge­dichte lassen sich mit Freiligrath vergleichen. Unter seinen Romanen steht „Notre Dame“ voran. In anderen Romanen schildert er das Leben der „Meerarbeiter“ und der „Ar­men und Elenden“. H. A. Barbier ist der blutrünstigste Dichter der Revolution von 1830.

Alfred de Musset (1810—1857) ist Byrontiker und Anakreontiker in wunderlicher Mischung. Zum Teufel: saufen, fressen, huren — gibt’s etwas anderes? Wenn Geld und Gesundheit dahin, bleibt noch das dritte G: das Gift (Rollai). Alle seine Lieder sind „Nachtgesänge“. Es ist so hoffnungslos dunkel um ihn und in ihm. Er ist ein „Kind des Staubes, bestimmt, nur einen Tag zu währen“. Leben­dig geblieben sind seine Novellen und die „Confessions d’un enfant du siecle“, ein autobiographischer Roman, in dem viel von seinen Erlebnissen mit George Sand ent­halten ist. Lecomte de Lisle hat sich an der antiken Form geschult. Er ist der Dämmerung abgeneigt: bei ihm glänzt der Mars klar wie Morgensonne über der Insel Reunion, auf der er geboren. Und immer brandet das Meer an sein Herz. Theophile Gautier war ebenfalls „Grieche“: ein Augen- und Sinnenmensch, für den die Seele nur dazu da ist, eine wallende Toga oder einen gutsitzenden Frack zu tragen. Seine Tochter Judith Gautier wurde aus Oppo­sition Chinesin und schrieb das „Jadebuch“. Frankreich darf sich rühmen, den genialsten Kolportageschriftsteller hervorgebracht zu haben: Alexander Dumas. Sein „Graf von Montechristo“ hat nicht nur tausend Nachah­mer in allen Sprachen gefunden, er ist auch der direkte Vorläufer sämtlicher Abenteurerfilme, die heute laufen und in denen der Beschützer des Guten und Rächer des Bösen doch immer nur ein verkappter Graf von Montechristo ist. Die Geheimnisse von Paris lüftete Eugene Sue, die weiblicher Unterkleidung Paul de Kock. Henri Mur­ger schildert das Leben der Boheme und schuf den Typus der Grisette: der armen Mimi, die natürlich an der Schwindsucht, Gott wie rührend, sterben muß. Trotz man­cher Sentimentalitäten ist die „Boheme“ ein gutes Buch. Eugene Scribe ist der Vater des französischen Lustspiels. Fabelhafte Technik, amüsante Konversation, aber eine gähnende Leere des Gemütes. George Sand, die Freun­din Mussets und Flauberts, eine Urenkelin des Marschalls Moritz von Sachsen, beginnt mit sanften Anklagen gegen die Ehe („Indiana“) und treibt in revolutionärem Fahr­wasser weiter; sie fordert eine neue christlich-soziale Ge­sellschaft. Interessant war ihr Leben, das sie in fünfund­fünfzig Bänden beschrieben hat.

Den holländischen Prosaroman begründete Betje Wolff und Aagje Deken mit ihren empfindsamen Briefromanen, die sie gemeinsam schreiben. Willem Bilderdijks (1756—1831) Torso-Epos „Untergang der ersten Welt“ wird von den Niederländern mit dem Beiwort „homerisch“ geehrt. Dichter der romantischen Schule in Holland sind der Jude Isaac da Costa (1798—1860), in dessen Seele der Orient brennt und der mit östlicher Glut •— orthodox-reformierte Gedichte schreibt. Hendrik Conscience, der Autor des „Löwen von Flandern“, war Aufseher des Museums Wiertz in Brüssel und ein Viel­schreiber, der mehr als hundert Romane verfasste.

Die dänische Romantik hat engen Zusammenhang mit der deutschen.

Adam Oehlenschlägers (1779—1850) Meisterwerke sind das Märchenspiel „Aladdin“, dessen Wunderlampe der Genius ihm voranträgt, und das nordische Epos „Helge“. Seinen „Correggio“ schrieb er deutsch und Goe­the beurteilte das Stück ziemlich abfällig. Der Pfarrer S. Grundtvig erhob die Forderung nach einem heiteren Christentum und sang den Hymnus an die dänische Sprache:

Süß in Lust und süß in Not,
Süß im Leben, süß im Tod,
Süß in des Nachruhms Worten.

Dieser Nachruhm ist am dauerndsten dem Märchendichter Hans Christian Andersen (1805—1875) zuteil ge­worden, dem armen Schusterssohn, dessen Dichtungen von der Kritik verhöhnt und veralbert wurden. Sein Ge­dicht „Der Soldat“ ist in der Übersetzung Chamissos eines der populärsten deutschen Volkslieder geworden. Aber weit populärer noch sind seine zarten, klugen Märchen: vom standhaften Zinnsoldaten, der Prinzessin auf der Erbse, vom hässlichen Entlein, der künstlichen Nachtigall des Kaisers von China; und das „Bilderbuch ohne Bilder“.

Die Gegenströmung gegen die Romantik blieb nicht aus: Frederik Paludan-Müller (1809—1871) führte sie mit dem „Adam Homo“, dessen Held Freund und Ge­liebte verrät um der Macht willen. Alma Skjerne, seine Jugendgeliebte, bekehrt ihn im Hospital. Meir Aaron Goldschmidt schrieb aus eigenem Erlebnis den Roman des zurückgesetzten und verachteten „Juden“. Rasmus Christian Winther ist dänischer Dichter in seinen Föhrenseeliedern und der Romanze von der Flucht des Hir­sches. Den größten Einfluss übte (und übt) S ö r e n Kierkegaard, der Dichterphilosoph des „Tagebuchs eines Ver­führers“, mit dem er seine Geliebte aus ethischen Gründen von sich weg diskutieren wollte, und des „Entweder-oder“. Er plädiert für ein unbedingtes, asketisches Chri­stentum, für eine „Radikalkur des Geistes“, für das Märtyrertum des Einzelnen, der sein Selbst Gott zu opfern hat wie Abraham seinen Sohn.*

Norwegen kam 1814 von Dänemark an Schweden und machte sich literarisch 1830 etwa selbständig. Die dänische Kultur wird verfemt, ja gehasst und es kam zur literarischen Fehde zwischen dänisch und norwegisch orientierten Dich­tern. Wergeland ist der bedeutendste dänisch-völkisch gerichtete Dichter, der Gedichte schrieb in einem sonder­bar skandierten Rhythmus, der bald wie kurze, bald wie lange Wellen ans Ohr des Hörers schlägt. Andreas Münch „webte zu Sagen im Wintersturm, was er gesehen in Sommertagen“. Der norwegische Märchensammler ist P. Ch. Asbjörson.

William Blake
Byron

Die schwedische Revolution von 1809 öffnete deut­schem romantischen Einfluss die Bahn, in den Schelling und Turnvater Jahn sich brüderlich teilten. Die Dichtun­gen der schwedischen Romantik dauerten nicht, dagegen ist die damals von dem Asenepiker und „nordischen Recken“ Per Henrik Ling erfundene schwedische Heil­gymnastik noch heute allerorten im Schwünge. Roman­tiker ohne Bauchaufschwung und Handstand sind Esajas Tegner (1782—1846), der weinfrohe Bischof von Vexjö, der die „Frithjofsage“ nachdichtet und in geistiger Um­nachtung stirbt — und J. K. L. Almquist (1793—1866), dessen Leben wie in einer russischen Schaukel auf und ab geht. Seine gesammelten Werke, die Dramen, Bauernge­schichten, Epen, problematische Skizzen, alles durchein­ander wie Kraut und Rüben, Mohn und Roggen enthalten, sind in dem „Buch Dornrose, freie Phantasien“ gesam­melt. Der Finne Joh. Ludwig Runeberg (1804—1877) nahm die Probleme des Realismus, zu dem Almquist von der Romantik hinübergewechselt war, auf: in seinen finni­schen Bauerngeschichten und den Gedichten „Fähnrich Stals Erzählungen“.

In England drang die romantische Bewegung, die mit Ossian einsetzte, ein halbes Jahrhundert früher durch als in Deutschland und Frankreich. Horace Walpole begann den historischen Roman, den Walter Scott (1771—1832) zur Vollendung führte (Ivanhoe, Quentin Durward). Thomas de Quincey, der Opiumesser, führt mit seiner „Kunstzumorden“ die essayistische Groteske ein, die heute G. K. Chesterton übt, der in skurrilen Essays die Demut, die Schundliteratur, den Unsinn, das Hässliche und andere missachtete Dinge verteidigt und im „Mann, der Donnerstag war“ Detektiv und Anarchist verulkt.

John Keats (1795—1821) hatte die Dichterkrankheit, die Schwindsucht. Er starb an den Folgen eines Blutstur­zes, den er erlitt nach einer heftigen Erregung, in die ihn eine gehässige Kritik versetzt hatte. Als Baudelaire sehr viel später davon las, notierte er in seinem Tagebuch: „Jede Zeitung ist von der ersten bis zur letzten Zeile ein Gewebe von Greueln. Und dieses widerliche Aperitif nimmt jeder zivili­sierte Europäer jeden Morgen zum Frühstück. Ich verstehe nicht, wie eine saubere Hand ein Zeitungsblatt berühren kann, ohne Krämpfe vor Ekel zu bekommen.“ Keats, der unserem Hölderlin ähnelt, schrieb wie dieser einen Hyperion, der die versunkene Griechenwelt beklagt. Die Griechen, das waren die Grillen, die auf freiem Felde sangen: er aber ist nur ein Heimchen am Herd. Dennoch:

Es stirbt die Poesie der Erde nimmer.
Am Winterabend, wenn in Schnee versunken
Die Wiesen sind, ertönt aus dem Kamin
Des Heimchens Ton, stark wird er, stärker immer,
Und zu vernehmen glaubst du schlummertrunken
Der Grille Zirpen aus der Wiese Grün.

In Rom liegt er begraben, nicht weit von Percy Bysshe Shelley (1792—1822), der sich als der wiedererstandene, entfesselte Prometheus fühlte, bestimmt, das goldene Zeitalter der Freiheit heraufzuführen.

Es weinten Freunde, wenn sein Lied erscholl,
Und Jungfrauen sahn den Unbekannten wandeln
Und seufzten und verzehrten sich aus Sehnen
Nach seinen glühenden Augen…
Hohe Gedanken leiteten die Schritte
Des Wanderers hin zu den hehren Trümmern
Vergangener Zeiten…

Lord Byron (1788—1824) waren im Grunde diese Trümmer vergangener Zeiten gleichgültig. Ja, er spielte selbst mit seinen hohen Gedanken, wie man in England Patiencen legt oder Bridge spielt. Er fühlte sich vor allem als Gentlemandichter, als blendende Zeiterscheinung, als Korsar“, als Sonne, um die sich alle minderen Gestirne zu drehen haben. Seine Melancholie wirkt wie Sonnenfinster­nis. Er schreibt seine Verse, weil er mit der leeren Zeit zwischen zwei Empfängen und Besuchen sonst nichts an­zufangen weiß. Der Gedanke zu seinem „Don Juan“ kommt ihm, als er sich zu einem Ball anzieht und sein Bück in den Spiegel fällt. Seine Lebens Leidenschaft war sardanapalisch. Als Befreier Griechenlands zieht er aus und stirbt, herrlich im Rahmen seines Lebens, bei den Kämpfen um Missolunghi am Sumpffieber.

In der guten Gesellschaft Englands war er natürlich längst, wie man so schön sagt, „unmöglich“ geworden. Sein zynisches Pathos, sein strahlender Pessimismus, sein Freiheitsheldentum: all das war nicht gentlemanlike. Was geht einem echten Lord das Leiden eines fremden Volkes an? In den Dramen „Manfred“ und „Kain“ hat er seinen wilden Gottestrotz gestaltet. Im Epos „Childe Harold“ seine Pilgerfahrt durch die wüste Welt. In „Lara“ schildert er sich selbst:

Ein Menschenhasser? Aber einige meinen,
Er könne mit den Frohen froh erscheinen,
Obwohl sein Lächeln, wenn man’s nah besieht,
Hinwelkt in Schmerz und sich in Hohn verzieht.
Dies Lächeln streift den Mund nur; einstmals saht
Ihr, daß es lachend bis ins Auge trat.
Er stand ein Fremdling in der Menschenwelt,
Ein sündiger Geist, gestürmt vom Sternenzelt.

Byrons letztes Lied, das er schrieb, bevor sein Schiff in die blaue Unendlichkeit nach Hellas hinaustrieb, ist voll Todeslust:

Dies Herz sollt‘ unbewegt nun sein,
Da es kein andres mehr bewegt.
Doch schlägt es, denkt auch niemand mein,
Von Lieb erregt.

Mein Leben steht im gelben Laub
Und Blüt und Früchte sind dahin.
Der Kummer kam wie grauer Staub
Und Herbstbeginn.

Das Feuer, das am Herzen zehrt,
Gleicht einem flammenden Vulkan,
Wie eine Leichensäule fährt
Es himmelan.

Lust, Hoffnung, Furcht und Eifersucht,
Der Liebe Schmerzen, die mir lieb,
Verließen mich, und nur die Wucht
Der Kette blieb.

Doch sei nicht so, es sei nicht hier,
Nicht jetzt die Seel in Gram ertränkt,
Wo man des ewigen Sieges Zier
Dem Helden schenkt.

Sieh Schwerter, Fahnen, Schlachtgefild
Und Hellas, schönsten Ruhmes Licht!
Der Sparter, tot auf seinem Schild,
War freier nicht.

Wach auf (nicht Hellas — Hellas wacht)!
Mein Geist, wach auf! laß dich durchwehn
Von Lust des Todes, die dir lacht,
Und pflück Trophän.

Wirf hin der Leidenschaften Spiel!
Was soll der Schönheit Lächeln hier,
Ihr Zorn, wo solch ein hohes Ziel
Schon flammt vor dir?

Da doch der Jugend Freude schwand,
Wozu noch leben? Nimmer weiht
Dir schönern Tod ein ander Land.
Drum hin \um Streit!

Such dir ein Grab bei Helden aus —
Und sieh dich um: du findest Ruh.
Ein Blick noch …du entschläfst… dein Haus
Deckt Lorbeer zu …

In seiner Satire „Englische Barden und schottische Re­zensenten“ hatte Byron eine Reihe seiner dichterischen Zeitgenossen angegriffen, darunter den Lyriker William Wordsworth (1770—1850), „den strengsten, aber besten Maler der Natur“, dessen Lieder so lau seien wie ein Abend seines Lieblingsmonats Mai; er griff ihn wegen seiner prosaischen Verse an und wegen des „leeren und kindi­schen Gebimmels“ seiner „gereimten Ammenmärchen“. Wordsworth gilt heute in England als der reinste und tiefste Naturdichter, etwa so wie bei uns der Verfasser der „Studien“. Ebenso heftig war Byrons Angriff gegen Sa­muel Taylor Coleridge (1772—1834), den „Freund ge­dunsener Oden und schwülstiger Strophen“. In Wirklich­keit ist Coleridge, der nach einem haltlosen Leben seiner Opiumsucht erlag, ein phantastischer Mystiker und in sei­nen Balladen „Christabel“ und „Der alte Matrose“ ein Vorläufer Poes.

Ein „Leben Schillers“ schrieb Thomas Carlyle (1795 bis 1881), der auch Goethes „Wilhelm Meister“ ins Eng­lische übersetzte. Mit Goethe korrespondierte er jahre­lang. Carlyle ist ein Puritaner ohne rechten Glauben, der sich in den deutschen Idealismus rettet. Sein Stil ist dun­kel, drängend, hat die Technik der Rede und Predigt. Er schrieb über Friedrich den Großen, über die französische Revolution, über Cromwell, über Helden und Heldenverehrung und über die soziale Revolution der Zukunft. Sein Gegner war Thomas Buckle, der 1861 eine „Ge­schichte der Zivilisation in Europa“ veröffentlichte.

Thomas Babington Macaulay (1800—1859) ist der Geschichtsschreiber Englands, der sein Bestes in den Essays gibt.

Benjamin Franklin (1706—1790) prägt der ameri­kanischen Literatur den Stempel auf, den sie im großen ganzen bis heute nicht verloren hat. Er ist nüchtern, sach­lich, leicht ironisch, zielbewusst, bürgerlich-moralisch, und er glaubt an einen neutralen lieben Gott, der seinen Leut­nant Montresor in den Himmel aufnimmt, trotzdem er we­der Quäker noch Anglikaner noch Katholik ist. Franklin fand sich mit der Gesellschaftsordnung und den tausend Konventionen des amerikanischen Lebens (die dem Yan­kee-Gentleman es eher verzeihen, wenn er einen Neger totschlägt, als wenn er einer Lady auf den Fuß tritt) ab. J. F. Cooper (1789—1851) wollte sich nicht darein fügen. Eine Europareise gab ihm Veranlassung, Europa und Amerika zu konfrontieren, was nicht zum Besten Ameri­kas ausfiel. Seine offene Kritik schaffte ihm unter den hochmütigen Yankees erbitterte Feinde, und er hatte wäh­rend zehn Jahren keine ruhige Minute. Jeder Winkel­journalist durfte ihn anpöbeln, weil er die schamlose Selbstgerechtigkeit der weißen Rasse den farbigen gegen­über als sehr unangebracht geißelte. Im „Lederstrumpf“, den Erlebnissen des treuherzigen Jägers Natty Bumpo un­ter den Rothäuten im Traumland unserer Jugend, fragt ein Anbeter des großen Geistes Manitu mit Recht: „Ihr Weißen kommt vom Aufgang der Sonne her mit der Bibel in der Hand, warum befolgt ihr sie nicht selbst? Was wir euch immer geben, ihr seid nie zufrieden, und jetzt zahlt ihr sogar Goldpreise für die Skalps unserer Frauen und Kinder; uns aber nennt ihr Bestien, wenn wir einem Feind den Skalp nehmen, den wir im offenen Kampf getötet?“

Der erste Autor der „short story“, der typischen ameri­kanischen Kurzgeschichte, wie sie alle Zeitungen und Zeit­schriften füllt, ist Washington Irving in seinem „Skiz­zenbuch“. Die Beziehungen zwischen Journalismus und Dichtung sind nirgend so eng wie in Amerika, wo selbst bedeutende Dichter als gewöhnliche Zeilenschreiber an­fingen — oder endeten. Auch der Lyriker W. C. Bryant war Journalist. Er fand in dem Gedicht „Vergangenheit“ Töne, die an Gryphius erinnern.

Von Goethe, Jean Paul und Freiligrath ist H. W. Longfellow (1807—1882) beeinflusst. Freiligrath übersetzt sein indianisches Epos „Hiawatha“. Manitu, der Mächtige, des Lebens Herr, bricht aus einem roten Steinbruch ein Stück und formt es zur Friedenspfeife und raucht sie „als ein Zeichen rings den Stämmen, rings den Völkern“.

Amerikas größter Dichter ist Edgar Allan Poe (1809 bis 1849), der Dichter des Zwielichts der Seele, der Däm­merungen, des fahlen Entsetzens, des Todes, der wilden Hoffnungslosigkeit, in die der Rabe sein hartes monotones „Nimmermehr“ krächzt. Mörder und Irrsinnige sind seine Helden, und wie Prometheus ist er nackt an den Felsen seiner Qual geschmiedet, während der Geier des Grauens ihm seine Brust zerhackt. Er vereinigt in sich einen glas­klaren Verstand mit einer dämonischen Phantasie. Er hat die Fähigkeit, sich selbst bis in die letzte Phase seiner Handlungen zu beobachten — die doch nicht er, sondern ein unerbittliches Schicksal lenkt, das ihm so sinnlos seine über alles geliebte blutjunge Frau raubt, deren Siechtum — sie war lungenkrank — er hilflos mitansehen musste. Als sie gestorben war, vermochte ihn auch deren von ihm hoch verehrte Mutter nicht mehr aufrechtzuerhalten; er verfiel wie in seiner Jugend wieder dem Spiel und dem Trunk.

Die Wolken türmten sich mächtig,
Die Blätter waren verdorrt,
Grau und kraus und verdorrt.
Es war Oktober und nächtig
An einem unseligen Ort.
Es war nahe dem bleiernen Wasser,
Das da verschlafen steht,
Am Hain, wo des Nachts sich ein blasser
Hohläugiger Schwärm ergeht…
In dunklen Zypressenalleen
Sank dumpfer und dumpfer die Luft —
Da blieben wir plötzlich stehen
An der Türe zu einer Gruft,
Zu einer mystischen Gruft…

Eines Tages wurde er sinnlos betrunken auf der Straße aufgefunden und in ein Spital gebracht, wo er starb.

Poe

Walt Whitman
Bellman

In Poe hat Amerika ein Gegengewicht gegen seinen übertriebenen Rationalismus hervorgebracht. Es musste einmal jemand kommen, der dem spießerhaften Zweck­glauben und dem „gesunden Menschenverstand“ ins Ge­sicht grinste, unter der Erde wie ein Bergmann und über der Erde auf den Wolken wie ein Vogel lebte.

Den vielleicht bedeutendsten Roman der amerikani­schen Literatur schrieb ein entfernter Geistesverwandter Poes: Nathaniel Hawthorne (1804—1864), „Der Scharlachbuchstabe“. Der Scharlachbuchstabe ist der Buchstabe A, der erste Buchstabe von adulteress, Ehebrecherin, den Esther Prynne vorn auf der Brust tragen muss, weil sie ein Kind gebar, obwohl ihr Gatte seit Jahren ver­schollen ist. Ihr Liebhaber, dessen Namen sie nicht nennt, ist der edle Pastor Dimnesdale, der dem unter einer sonderbaren Maske zurückgekehrten Gatten und seiner eigenen Schuld erliegt.

Walt Whitman (1819—1892), der mystische Trompe­ter, posaunt seine wilden Rhythmen. Wild, heiter, wie ein brünstiger Büffel, stampft er durch die nordamerikanische Ebene; läuft mit wilden Pferden um die Wette und schläft nachts im hohen Gras mit den Sternen. Jeder gute Mensch ist sein Kamerad und jedes hübsche Mädchen seine Gelieb­te. Er will, wie Emerson, eine Bibel schreiben, um Himmel und irdische Welt wieder zu vereinen. „Wo ein Mann auf­tritt, bringt er eine Revolution mit sich,“ sagt Emerson (18031882), der Autor der „Repräsentanten des Men­schengeschlechts“, Amerikas größter Geist, „das Alte ist für die Sklaven.“ Das Leben muss jeden Tag neu beginnen. Mit beiden Händen, wie einen Stier an den Hörnern, packt es Henry David Thoreau (1817—1862). In der Wald­einsamkeit an einem See baut er sich selbst eine Blockhütte. Er hat die Zivilisation satt. Er fischt im See, verdingt sich zwischendurch als Arbeiter und lebt zwischen Vögeln, die ihm auf die Schulter fliegen, Schlangen, die sich ihm um die Beine ringeln, so glücklich, „wie der erste Mensch im Pa­radies“. Von seinem Leben berichtet er in dem Buch „Wai­den“. Thoreau will den Negerapostel Brown durch eine öffentliche Rede vor der Hinrichtung retten. Es gelingt ihm so wenig wie Frau Harriet Beecher-Stowe, die zu­sehen muss, wie ihr schwarzer Märtyrer Tom zu Tode ge­peitscht wird („Onkel Toms Hütte“, erschienen 1852, der größte literarische Welterfolg Amerikas). Das Buch endet mit einer Apotheose des Mischlings, der berufen sein wird, den Gegensatz zwischen Schwarz und Weiß zu über­brücken.

Zehntes Kapitel
DAS ZEITALTER DER PSYCHOLOGIE
DEUTSCHLAND

Es gibt ein Wort: Nur wer wahrhaft schlecht gewesen ist, kann wahrhaft gut werden. Buddha selber muss in einem früheren Leben einmal ein Mörder gewesen sein. Niemand sehnt sich so brennend nach Erlösung wie der Unreine, der Verfemte, wie der Verbrecher, der seines Verbrechens sich bewusst wird. Friedrich Hebbel, ein Bauernsohn aus Dithmarschen (1813—1860), war vielleicht das, was man einen bösen Menschen nennt. Von Dämonen gehetzt, brach er, ein verhungerter Wolf, an dem man jede Rippe einzeln zählen konnte, in die Lämmerweide der deutschen Dichtung ein. Jedes Mittel war ihm recht, seinen geistigen Hunger zu stillen. Er schlug Eide in den Wind und verriet Frauen, die ihn liebten, und ohne die er krepiert wäre — um der Idee zu dienen. Er war ein armer Schacher, ans Kreuz dieses Lebens geschlagen. Er häufte Schuld auf Schuld — und wusste darum und litt darunter. Die er­schütterndste Tragödie, die er schrieb, ist sein Leben. Wir leben es in seinen Tagebüchern und Briefen erschüttert mit, während wir die Dramen, die er schrieb, nur staunend respektieren. Lieben können wir den Menschen Hebbel. Den vergrübelten Dichter wollen wir ehrfurchtsvoll salu­tieren. Am liebenswürdigsten zeigt er sich noch in seinen Gedichten. Eine kühle, klare, formsichere Sprache. Es ist psychologisch beachtenswert, dass Hebbel selbst seine Ly­rik für seine bedeutendste dichterische Leistung hielt. Er selbst konnte wohl gedanklich, aber gefühlsmäßig mit sei­ner wie ein Eisengerüst konstruierten Dramatik nicht mit. Seine Logik überspitzte sich (in „Maria Magdalena“, „Agnes Bernauer“). Er verfolgte ein Problem noch über seine Lösung hinaus und bewies dadurch, dass ihm das Problem an sich wichtiger war als das Leben, welches die Probleme stellt. Seine Menschen sind alle wie auf Draht ge­zogen, um ihre Ideen vorzutragen. Was sie sagen, sind übersteigerte Selbstbekenntnisse des Autors. Seine Dra­men sind alle irgendwie erstaunlich; man muss, wie der Wärter im zoologischen Garten auf sonderbare Tiere, mit dem Stock darauf zeigen. Seine Nibelungentrilogie ist eine Monstrosität. Der lebendigen Dichtung am nächsten kommt vielleicht sein Jugendwerk „Judith“, in dem das Problem des Zwiespalts zwischen Neigung und Pflicht, zwischen Sinnlichkeit und Sinn, zwischen ethischer For­derung und menschlicher Schwäche klar gestellt und klar beantwortet wird. Die Witwe von Bethulia nahm eine Auf­gabe auf sich, der sie als Mensch zwar, doch nicht als Weib gewachsen war. Das ist ihre Tragik. Hebbel nahm eine Aufgabe auf sich, der er als Denker zwar, doch nicht als Dichter gewachsen war. (Denken und Dichten ist nicht dasselbe.) Das ist seine Tragik.

Sein Antipode, ähnlich niederem Milieu entwachsen, Christian Dietrich Grabbe (1801—1836), Sohn eines Zuchthausaufsehers in Detmold, wollte weniger: aber konnte mehr. Er empfing seine ersten Eindrücke, wenn er im Zuchthause spielte und die Gefangenen zum Spazier­gang an die frische Luft geführt wurden. Zwei und zwei, zwischen grauen Mauern, den grauen Himmel über sich, umschritten sie schweigend in ihren Anstaltskleidern das vorgeschriebene Kreisrund, bis die Zeit erfüllet ward. Seine Dramahelden: der Herzog von Gothland, Napoleon, Hannibal, haben alle etwas von Zuchthäuslern, die an den Stäben ihres Gefängnisses rütteln: vergeblich. Der Zwie­spalt zwischen Idee und Wirklichkeit scheint unüber­brückbar. Der hehrste und heiligste Wille wird in den Staub gezogen: Achilleus schleift Hektors Leiche an sei­nem Wagen um die Mauern von Troja. Immer fällt Hek­tar, der Anwalt der reinen Idee, und immer siegt Achil­leus, grobschlächtig und protzig, weil er die Macht und die realen Dinge hinter sich hat. Die tiefste Tragödie frei­lich spielt sich im Herzen des Menschen ab. Grabbes Stauffendramen (Heinrich VI., Barbarossa), vor allem aber „Napoleon“ und „Hannibal“, nähern sich der durch Faust und Wallenstein bezirkten großen Tragödie. Die Szene wechselt blitzschnell. Zwischen Karthago und Rom ist nur ein Sprung: ein Augenzucken des Hannibal. Dieser Hannibal ist ein ungeheuerlicher Bursche. Eine riesige Termite, die in der winzigen Ameisenwelt, ein Held, der unter den Händlern zugrunde gehen muss. In „Don Juan und Faust“ machte Grabbe den kühnen Versuch, den ger­manischen und den romanischen Typus nebeneinanderzu­stellen. Grabbe zieht nicht in götterleichtem Fluge durch die Welt der Dichtung, er stampft mit den Füßen auf die Erde und schlägt mit den Fäusten an den Himmel! Die zünftige Literaturgeschichte will uns immer einreden, dass Grabbes Dramen so zügellos seien wie sein Leben. Aber seine Figuren sind die Alb-Visionen eines Giganten. Wenn er sich schüttelt, poltert’s, und die Fesseln aller Philister zerbrechen. Er hat geschrien und gebrüllt, wo andere ethisch sangen und deklamierten. Seine Stücke sind groß angelegte dramatische Würfe, wenn sie auch mitunter über die Möglichkeiten der Kunst hinaussausen. Sein Lustspiel „Scherz, Satire, Ironie und tiefere Bedeutung“, in dem der Autor voll romantischer Ironie höchstpersönlich nicht ohne tiefere Bedeutung auftritt, bildet in seiner bäuer­lichen und teuflischen Derbheit ein Gegenstück zu Georg Büchners zartem und reizvollem Schwank „Leonce und Lena“ mit seinen zerbrechlichen Figuren und Kontrover­sen. Georg Büchner (aus dem Darmstädtischen, 1813 bis 1837) konnte aber auch anders als sanft lächeln oder ver­trottelt disputieren. Wie einen erratischen Block schleu­derte er sein französisches Revolutionsdrama „Dantons Tod“ von sich. Es gehört zu den mächtigsten deutschen Dramen: Hier ist erstmalig, wie später erst wieder bei Gerhart Hauptmanns „Webern“, ein ganzes Volk der Held. St. Just, Robespierre, Danton sind seine Exponen­ten. Den Streit aller Revolutionen zwischen Individualis­mus und Kommunismus entscheidet der einzige Richter, der ihn zu entscheiden vermag: der Tod. Er lenkt die Guillotine, die heute Dantons Haupt frisst, die morgen das Haupt Robespierres fressen wird, bis übermorgen Napo­leon sie von der Bühne des Welttheaters entfernt. Für eine Weile. Er hat andere Requisiten und Maschinen, die nicht weniger exakt und blutig arbeiten: Kanonen und Mitrailleusen.

Im „Woyzeck“, der Fragment geblieben ist, knüpft Büchner an Lenz an (dem er eine schöne Novelle gewidmet hat). Die bürgerliche Tragödie, die Hebbel mit der „Maria Magdalena“ schreiben wollte, sie gelang, selbst im Fragment, Büchner mit seinem „Woyzeck“. Vom „Woy­zeck“ läuft die Tradition zu Wedekind, der von niemand mehr gelernt hat als von diesem büchnerschen Aphoris­mus. Auch als politischer Revolutionär ist Büchner von eminenter Bedeutung. Seine Botschaft „Friede den Hüt­ten, Krieg den Palästen!“ ist das flammendste deutsche revolutionäre Manifest überhaupt. Büchner wurde nur vierundzwanzig Jahre alt. Ein Jahrhundert hat der Heldentod des Jünglings Theodor Körner, der ein guter Soldat, aber ein schlechter Trompeter war, das Heldenleben des Jünglings Georg Büchner völlig verdunkelt.

Heinrich Laube (aus Sprottau, 1806—1884) schlug dramatische Pauke, dass einem Hören und Sehen verging. Sein „Graf Essex“ war das erste Theaterstück, das ich als Knabe auf der Schmierenbühne einer märkischen Kleinstadt sah. Niemals mehr hat ein Drama einen solchen Eindruck auf mich gemacht. Ich sehe noch immer den schlotternden Essex im Kerker sitzen und höre auf einem vom Bäcker geborgten blechernen Kuchenteller zwölfmal die Stunde des Gerichtes schlagen. Alle Schauer jagen mir im Gedächtnis daran über den Rücken, und ich drücke den vereinigten Geistern von Laube und Essex pietätvoll und gerührt die Hand.

Eine in ihrer verbohrten Problematik Hebbel geschwisterte Natur ist Otto Ludwig (18131865). Er sah sich zeitlebens im Schatten Shakespeares stehen. Sein biblisches Trauerspiel „Die Makkabäer“ ist ein Zeichen seines großen Wollens. Seine Novellen aber zeigen sein starkes psycho­logisches Können. Es könnte nicht schaden, wenn (über Dostojewski) Otto Ludwigs Prosa nicht vergessen würde. Sie ist der feierlichen Auferstehung wert. Wird Gustav Freytag, der einst hochberühmte (1816—1895), aus der Gruft der Vergessenheit auferstehen? Vielleicht mit seinem bürgerlich-soliden Roman „Soll und Haben“, worin jedem Charakter sorgsam sein Debet und Kredit zuerteilt ist.

Des Mecklenburgers Fritz Reuters (1810—1874) hu­moriges und herzliches Plattdeutsch ist wie jede Dialekt­dichtung nur einem engeren Kreise von Deutschen ver­ständlich. („Ut mine Stromtid“ und die Reimsammlung „Läuschen und Rimels“.) Wilhelm Raabes (1831 bis 1910) ernster Humor, seine bedächtige Menschenfreund­lichkeit, seine bittersüße Melancholie, wird deutschen Herzen als eine deutsche Angelegenheit immer lieb und vertraut sein. Für Wilhelm Raabe gibt es kein besseres Epi­theton als dies ohne jeden Nationalismus gesagte: deutsch. „Der Hungerpastor“, „Der Schüdderump“, „Horacker“ werden bleiben wie des Friesen Theodor Storm (aus Husum, 1817 bis 1888) rosenblätterige Novellen: Immen­see, Pole Poppenspäler, Der Schimmel reitet, Aquis submersus und die kleine Erzählung „Im Saal“ — eines der frühesten und schönsten Gebilde Storms, das er im Revolutionsjahr 1848 ersann. Die Sehnsucht nach der guten friedlichen Zeit, der wir sonst zu trauen gar nicht geneigt sind, wird, wenn wir sie lesen, übermächtig in uns. Früher — ja, das war freilich eine stille, bescheidene Zeit: „Die Menschen waren damals noch höflicher gegeneinander. Das Disputieren und Schreien galt in einer feinen Gesellschaft für sehr unziemlich. Wer seine Nase in die Politik steckte, den hießen wir einen Kannegießer, und war’s ein Schuster, so ließ man die Stiefel bei seinem Nachbar machen. Die Dienstmädchen hießen noch alle Stine und Trine, und jeder trug den Rock nach seinem Stande… Aber was wollt Ihr denn?“ fuhr die alte Großmutter fort, ,,wollt Ihr alle mitregieren?“ Ja, Großmutter, das wollen wir nun freilich, und darum sind wir auch alle so unglück­lich und ruhlos, so hin und her gerissen zwischen Stern und Erde, so kriegerisch und friedlich zugleich.

Die Novellen von Storms Freund Paul Heyse (aus Berlin, 18 30—1914) tragen trotz aller psychologischen und raffinierten Geschicklichkeit, mit der sie gemacht sind, den Stempel ihres Verfalls schon auf der Stirne. Er ist ebenso wie Friedrich Spielhagen im Strom der Zeiten schon versunken, so tief versunken wie Geibel (1815 bis 1884), der einst mit seinen „Heroldsrufen“ eine große Zeit einrufen wollte. Aber Krieg und Sieg von 1870 bis 71 hatten für die deutsche Dichtung und Kultur eine katastrophale Wirkung. Die Heroldsrufe riefen ein Zeit­alter der übelsten Schaumschlägerei hervor. Eine falsche Historienmalerei aus dem Maskenverleihinstitut, deren Vorbild Anton v. Werner wurde. Hohenzollernsch paten­tierter, mehr oder weniger gereimter Patriotismus von Geibel und   seinen  Nachtretern   lyrisch, von Ernst v. Wildenbruch, der selbst ein Spross der Hohenzollernfamilie war, dramatisch aufgeputzt, von Julius Wolff in seinen Ritterromanen in die große Vergangenheit projiziert, süßlich gesabberte Lyrik der Baumbäche und Bodenstedter, eine unechte flache Erzählerkunst — das war der kulturelle Widerschein der „herrlichen Zeiten“. Fast zwei Jahr­zehnte hat das deutsche Volk diese Limonadensuppen in sich hineingesoffen, während ihm der frische Trunk der echten Dichtung, den ihnen Mörike, Raabe, Leuthold, C. F. Meyer, Fontane spendeten, nicht recht munden wollte.

Einzig Theodor Fontane (aus Neuruppin, 1819 bis 1898) brachte es zu einiger Berühmtheit, nicht aber wegen seiner großen Kunst der Milieu- und Menschenschilde­rung, sondern wegen seiner stofflichen Vorwürfe, die er meist dem Leben des märkischen Adels entnahm. Niemand hat das Gute und Edle, das im spezifisch-junkerlichen Ty­pus steckt: die starre Pflichterfüllung, das karge, wie hin­ter geschlossenen Türen geführte Gefühlsleben, das mo­ralisch-märkische Pathos reiner glorifiziert und geschildert als Fontane im „Stechlin“. Auch das alte Berlin der Sieb­ziger- und Achtzigerjahre fand in ihm seinen berufenen Schilderer. Wer sich vom heutigen Berlin erschreckt ab­wendet, versäume nicht, dem fontaneschen einen Besuch abzustatten. Er wird entzückt aus diesem Berlin, das un­wiederbringlich dahin ist, zurückkehren. Das Gelungenste und Geformteste in Fontanes Romanen sind die Frauen­gestalten : Cecile und Effi Briest wandeln in einem Reigen mit Mignon und Philine, Liane und Toni Häusler.

Nestroy

Die deutsche Frauendichtung beginnt, nachdem sie seit Mechtild von Magdeburg jahrhundertelang den Dornrös­chenschlaf geschlafen, wieder aufzuleben mit der Westfälin Annette v. Droste-Hülshoff (1797—1848), die freilich für den ersten Blick gar nichts Frauliches an sich hat. Ihre Formen sind streng, herb, ihr Gang ist straff, ihre Miene leicht verdüstert: wie ein halb heller Tag auf der westfälischen Heide, wenn Erde und Himmel die Plätze vertauscht haben, und die roten Heidekrautblüten wie Sterne, die Wolken wie braune Ackerschollen sind. Auf ihr müdes Haupt gaukelte selten ein süßes Lachen.

Süße Ruh, süßer Taumel im Gras,
Von des Krautes Arom umhaucht,
Tiefe Flut, tief, tief trunkene Flut,
Wenn die Wolk‘ am Azure verraucht,
Wenn aufs müde, schwimmende Haupt
Liebe Stimme säuselt und träuft
Wie die Lindenblüt‘ auf ein Grab.

Wenn im Busen die Toten dann,
Jede Leiche sich streckt und regt,
Leise, leise den Odem zieht,
Die geschlossne Wimper bewegt,
Tote Lieb, tote Lust, tote Zeit,
All die Schätze, im Schutt verwühlt,
Sich berühren mit schüchternem Klang
Gleich den Glöckchen, vom Winde umspielt —

Stunden, flüchtiger ihr als der Kuß
Eines Strahls auf den trauernden See,
Als des gehenden Vogels Lied,
Das mir niederperlt aus der Höh,
Als des schillernden Käfers Blitz,
Wenn den Sonnenpfad er durcheilt,
Als der flüchtige Druck einer Hand,
Die zum letzten Male verweilt.

Dennoch, Himmel, immer mir, nur
Dieses Eine nur: für das Lied
Jedes freien Vogels im Blau
Eine Seele, die mit ihm zieht,
Nur für jeden kärglichen Strahl
Meinen farbigschillernden Saum,
Jeder warmen Hand meinen Druck,
Und für jedes Glück einen Traum.

Herb wie ihr lyrischer Stil ist ihr Prosastil in der Novelle „Die Judenbuche“.

Malvida von Meysenbug (1816—1903), die Nietz­sche seine „Freundin, Mutter und Arzt“ nannte, war die erste bedeutende Essayistin. Stärker als ihre Bücher (z. B. „Memoiren einer Idealistin“) vermitteln uns die nach ihrem Tode veröffentlichten Briefe die reiche Schau ihrer Persönlichkeit. Bei Marie von Ebner-Eschenbach (1830—1916) überwiegt Empfindung die Gestaltung. Be­zeichnend ist das schöne Wort von ihr :,,Nicht, was wir er­leben — wie wir empfinden, was wir erleben, das macht unser Schicksal aus“. Es steckt viel aphoristische Weltweisheit in ihren Schriften.

Die Schweizer hatten sich mit dem mittelhochdeutschen Fabeldichter Ulrich Boner, mit Bodmer, Breitinger und vor allem mit Geßner undPestalozzi (1746-1827) dem gro­ßen Pädagogen und Erzähler der ersten sozialen Dorf- und Bauerngeschichte, schon vorteilhaft in die deutsche Lite­ratur eingeführt, als sie mit Jeremias Gotthelf (Albert Bitzius aus Murten, 1797—1854) einen Haupttreffer mach­ten. Einen „Shakespeare des Dorflebens“ hat man ihn, nicht mit Unrecht, genannt. Was sind das für Kerle, die Schweizer Bauern und Bäuerinnen des Pfarrers Bitzius aus dem Emmental. Auf angeerbter Scholle sitzen sie: derb, treuherzig, fromm. Kein Falsch ist an ihnen und kein Flitter. Ihr Wort: eine Enzianblüte im Gebirge. Der Emmentaler Pfarrer wollte mit seinen Erzählungen volksbil­dend, erzieherisch, moralisch wirken. Wo diese Tendenz allzu in den Vordergrund tritt, ist er in seiner Schwarz­weißmalerei künstlerisch nicht immer erfreulich. Am rein­sten kristallisiert sich sein unerschöpfliches Erzählertalent nicht in seinen großen Romanen, sondern in seinen klei­neren Erzählungen.

Vor Gotthelf schon war der poetische Geist des ein­fachen Volkes auferstanden in dem armen Weber und Han­delsmann Ulrich Braeker (1735—1796), dessen Lebens­geschichte („Vom armen Mann im Tockenburg“) noch heute eine herzerquickende Lektüre ist.

Gottfried Keller (aus Zürich, 1819—1890) lässt sei­nen „Grünen Heinrich“ in der Tracht aufmarschieren, die Grimmelshausen, Heinse, Goethe in die deutsche Litera­tur eingeführt haben: jeder mit etwas anderem Schnitt. Das Problem der Entwicklung beherrscht den „Grünen Heinrich“ auf seinen tausend Seiten: so gut wie Simplex, wie Ardinghello, wie Wilhelm Meister ist er auf dem Wege zu sich selbst. Der Weg, der zu einem selbst führt, ist nun nicht so bequem wie die Chausseen bei Kopenhagen, wo alle fünf Minuten, an jeder Wegbiegung, eine Tafel steht: nach da und nach da und nach da: man kann nicht fehl­gehen. Wie steht es hingegen mit den Wegen zu sich? Da gerät man auf allerlei Nebenpfade, in Gestrüpp, Wolfs­gruben, auf fremden Besitz, und man muss froh sein, wenn man schließlich am Abend die Herberge findet und auf der harten Ofenbank schlafen darf. Man weiß manchmal wirklich nicht, ob man das Rechte trifft, wenn man z. B. Maler- und Anstreicherlehrling wird. Und schließlich wen­det sich doch alles zum Rechten, denn man bringt von der Malerei ein unverlierbares Gut im Felleisen heim: die Kraft der lebendigen Anschauung aller Dinge. Es kommt für den Dichter nicht nur darauf an, die Gedanken zu Ende zu denken, sondern auch den Erscheinungen bis ins Herz zu sehen, sie zu durchschauen. Als wäre der Mensch ein Stück Glas. Solches konnte Gottfried Keller. Und weil er eine so klare Anschauung von den Menschen hatte, des­halb gerieten sie in seinen Novellen so klar und durch­sichtig. Diese Dichtungen — gesammelt in den Büchern „Die Leute von Seldwyla“, „Sieben Legenden“, „Züri­cher Novellen“, „Das Sinngedicht“ — bedeuten einen Gipfel deutscher Erzählerkunst. Wer als Erzähler ihn wie­der erreichen will, der muss hoch und mühsam klettern: da wird es nicht so bequem hinaufgehen wie auf den Rigi, das ist schon mehr eine Matterhornbesteigung.

Der freundliche Leser wird bemerkt haben, dass ich, bei allem Respekt vor dem „Grünen Heinrich“ den Novellen den künstlerischen Preis zu reichen gedenke. Ich möchte an dieser Stelle bemerken, dass ich ein (übrigens mit dem größten Respekt gemischtes) Misstrauen gegen die Romanform hege. Sie ist so groß, man kann so viel Mehl, Zucker, Korinthen, Eier in sie hineintun, dass bei der kurzen Zeit, die die Dichter die Form gewöhnlich im Backofen lassen, der Kuchen unmöglich durchgebacken sein kann. Er wird da und dort eingefallen, in einzelnen Teilen minder vor­trefflich gelungen sein. Ja, auch der best aufgegangene Kuchen wird noch Wasserstreifen zeigen. Auch dem größ­ten Dichter gelingt es nicht, die Fabel auf 1000 Seiten glatt durch zu spinnen, den Faden nicht zu verlieren, den Über­blick über die Nebenhandlungen zu behalten, die Charak­tere zu wahren, die Musik des Wortes immer gleich süß und bezwingend ertönen zu lassen. Der Dichter ermüdet. Er lässt das Haupt sinken. Manchmal auch den Mut. Es kommen schwache Stellen. Auch die schönsten deutschen Romane: Wilhelm Meister, der Simplicissimus, der Ardinghello, Titan, der Grüne Heinrich, die kleine Stadt: haben Schönheitsfehler, wie man sie einer Novelle, einem Gedicht nie verzeihen würde. Dazu sind sie beladen mit außerkünstlerischem Ballast, mit Kunsttheorien, Moralitäten, pädagogischen Problemen und tausend anderen Peinlich­keiten. Auf dem Gebiete der großen Novelle ist von Goe­the, Kleist, von Gottfried Keller Vollkommenes geleistet worden. Romane sind nur annähernd vollkommen. Ich plädiere für eine Konzentrierung des Romanes und sein Zurückführen auf den Umfang der Novelle. Es gibt zwar Leute, die behaupten, dass die Dicke seiner Romane ein Prüfstein für die dichterische Qualität eines Volkes über­haupt wäre, da käme Dostojewski mit seinen „Brüdern Karamasoff“ zwar in die engere Wahl, aber kein europä­ischer Dichter würde bestehen vor dem Dichter von „Tau­send und eine Nacht“ oder gar vor dem chinesischen Dich­ter, dessen Roman 500 dicke Bände umfasst, und wo im 100. Band die Urenkel vom Helden des ersten Bandes auf die Welt kommen, wo der Autor in den ersten dreißig Bänden sich als konsequenter Atheist zeigt, im 31. Bande sich langsam zum Buddhismus umschwenkt, um auf den weiteren Umwegen über Kongfutse und Christus schließ­lich beim Taoismus zu landen. Wenn das Chaos vollkom­men ist, dann ist dieser chinesische Roman vollkommen. Ich glaube aber, daß nur das Kristall gewordene voll­kommen ist und kröne Li-tai-pe für sein Gedicht vom Por­zellanhaus zürn obersten poeta laureatus aller Zeiten und Völker.

Gottfried Keller hat ein vollkommenes Gedicht, das Gedicht vom alten Pan im Walde, geschrieben, sein Landsmann Heinrich Leuthold (1827—1879) deren drei oder vier, sein anderer Landsmann Conrad Ferdi­nand Meyer (aus Zürich, 1825—1898) deren viele. Hat Gottfried Keller typisch schweizerische Züge in seinem Wesen und Dichten, so wird man bei Meyer trotz manches schweizerischen Stoffes (der Roman „Jürg Jenatsch“) vergebens danach suchen. Seine Landsmannschaft ist undeut­lich und unbestimmt. Er hat sich selbst als Statue eines Dichters nach einem Idealbild konstruiert. Er führte das Leben einer steinernen Statuette: ganz Marmor, ganz Glanz. Vierzig Jahre war C. F. Meyer, als er sein erstes Buch, einen kleinen Band Balladen, veröffentlichte. Zwei Jahrzehnte währt die Zeit seines Schaffens. Mit 27 Jahren schon floh er in die Irrenanstalt, mit 67 zum zweitenmal. Und diesmal bleibt’s ein Hindämmern bis zum Tode. Seine zehn großen Novellen wurzeln stofflich und seelisch im Historischen, häufig in der Renaissance. Überlegen, voll­endet erzählt! Doch hat er, ungeachtet mancher Schön­heit in seiner Prosa, sein Bestes in seinen Gedichten ge­geben. Sie sind von einer leidenschaftlichen Liebe zur Form erfüllt. Genug konnte ihm nie und nimmermehr ge­nügen. Ihm zitterte eine Flamme im Busen, die er mit hei­liger Scheu hütete.

Daß sie brenne rein und ungekränkt.
Denn ich weiß, es wird der ungetreue
Wächter lebend in die Gruft gesenkt.

Eine schwerblütige, kühle, lineare Form, keine Volks­dichtung, eine von vornherein stilisierte, idealisierte Sprache. Diese Gedichte verkörpern — paradox gespro­chen — eine abstrakte Lebendigkeit. C. F. Meyer war im­mer der „brutalen Aktualität zeitgenössischer Stoffe“ abge­neigt. Er symbolisierte in der Renaissance die Wiederge­burt seines eigenen Lebens.

Es ist dem Trifolium Spitteier, Nietzsche, George zu danken, daß die deutsche Sprache in den Achtziger- und Neunzigerjahren nicht völlig unter die Räder der natura­listischen Bier- und Leiterwagen kam. Carl Spitteier (aus Liestal, 1845—1924) sagte mit seinem epischen Gleich­nis „Prometheus und Epimetheus“ der Wirklichkeit, die sich verwirkt hatte, die Fehde an. Leider wurde er selbst in seinen nächsten Werken aus einem Prometheus, einem Fackelbringer, ein Epimetheus, ein Mensch, der Verwir­rung und des Dunkels, denn in „Conrad, der Leutnant“ und „Imago“ tut er es den schlimmsten Naturalisten und Psychologisten gleich. Dass der bedeutendste Psychologe der Gegenwart, Professor Freud in Wien, seine Zeitschrift nach der „Imago“ nannte, ist zuviel der Ehre für dieses Buch. Jeder Dichter, Herr Professor Freud, ist instinktiv Psychoanalytiker. Aber hier beginnt erst der Weg und der Wille zum Psychosynthetiker. Im „Olympischen Früh­ling“, dem großen griechischen Reim-Epos, hat Spitteier sein früheres Selbst wiedergefunden. Er fand das Reich Apollos, das Reich, „das nicht von dieser Welt ist“. Auch in seinen Balladen und Gedichten lebt die gleiche monu­mentale Phantasie.

Von jüngeren Schweizern sind zu nennen: der früh (1919) verstorbene Lyriker Karl Stamm, der zarte Idyl­liker Robert Walser, der nur mit Pastellstift schreibt, der religiös vergrübelte Albert Steffen (geb. 1874), Roman­dichter theosophischer Richtung.

FRANKREICH

Der gewaltige Honore de Balzac (1799—1850) eröff­net die klassische Epoche des französischen Romans. Von ihm kann gelten, was Stefan Zweig sagt: „Romanschrift­steller in letzter Linie ist nur das enzyklopädische Genie, das einen ganzen Kosmos baut, das eine eigene Welt mit eigenen Typen, eigenen Gravitationsgesetzen und einem eigenen Sternenhimmel neben die irdische stellt.“ Der Kosmos Balzacs war das Zeitalter des Empire, das er völ­lig mit seiner riesigen Seele erfüllt hat. Er bejaht und ver­neint sie in einem Atem. Comedie humaine, menschliche Komödie, nennt er seine Romane, in denen sie ihren tragi­komischen Reigen schreiten: der Schieber Rastignac, Oberst Chabert, die Frau von dreißig Jahren, der Wüstling Raphael, der Galeerensträfling Vautrin, feige Offiziere, käufliche Politiker, verfressene Domherren, Spieler, Diebe, Seelen, die der Mammon zerfressen hat.Balzac hat nebenbei tiefe Gedanken zur Psychologie des Künstlers und des Kunstschaffens geäußert: „Wer könnte philosophisch den Übergang der Empfindungen ^um Gedanken, des Gedankens zum Worte, des Wortes zum Hieroglyphen aus­drücken, der Hieroglyphen zum Alphabet, vom Alphabet zu jener geschriebenen Beredsamkeit, deren Schönheit in einer Bilderfolge besteht und die gewissermaßen die Hieroglyphen des Gedankens sind. Ist es dank unserem uralten Geist, dass wir Mysterien in jedes menschliche Wort geflüchtet fühlen‘? Könnte man es nicht ver­gleichen mit einem Geliebten, der von den Lippen seiner Geliebten eben so viel Liebe trinkt, als er ihr mitteilt?“

Den zweiten großen Romancier Stendhal (Henry Beyle, 1783—1842) nennt Nietzsche das letzte Ereignis des französischen Geistes. Er ist der große Analytiker der Seele in „Rouge et Noire“. Der Held, Julien Sorel, zer­fasert sich selbst in allen Lebenslagen, die ihn bis zum Ver­brechen treiben. Nietzsche mochte die Grundtendenz, die­ses Jenseits von Gut und Böse, besonders zusagen. Mit Stendhal befreundet war Prosper Merimee (1803 bis 1870). Er schildert die primitiven Gesetze und Leiden­schaften der Korsen und Spanier („Matteo Falcone“, „Carmen“, „Colomba“), Schmuggler, Messerstecher, Blut­rächer. Die weibliche Endung (ee) seines Namens findet eine Parallele in einer stark weiblich betonten Komponente seines Wesens, die so weit geht, dass er weibliche Pseudo­nyme (Hyacinta Maglanovich) wählt und dem einer spa­nischen Tänzerin zugeschriebenen Buch sein Porträt als Spanierin mit der Mantille anhängt.

Balzac
Stendhal
Verlaine

Gustav Flaubert (1821—1880) ist der dritte große Romancier der Franzosen. Er ist der Romantiker der Sachlichkeit, ein Fanatiker des Dinges an sich. Madame Bovarys Seelenregungen werden mit der gleichen Unpar­teilichkeit geschildert wie das Wehen des Windes an einem Baum, an dem ein Hund das Bein aufhebt. Alles ist gleich­wertig : der Chausseearbeiter und Jesus Christus. Er zwingt sich in harter Arbeit zur Objektivität, denn im Grunde verabscheut er die Welten, die er beschreibt: das bourgeoise Milieu der Frau Bovary, die muffige Luft, die um die kleinen Bureaubeamten Bouvard und Pecuchet weht, und die selbst ein frischer Windstoß von der Seine nicht vertreiben kann. Nichts gelingt ihnen; was sie anfassen erbricht, und am Ende ist alles so trist wie am Anfang: genau wie bei Frederic Moreau in der „Education sentimentale“, der siebenundzwanzig Jahre Marie Arnoux liebt, und s sie ihn dann in seiner Wohnung aufsucht, unfähig ist, zu lieben. „Salambo“ ist ein bunter Roman aus Karthago, bei dem Flaubert von der grauen Zeichnung seiner Gegenwart Erholung suchte.

Alphonse Daudet hat im „Tartarin aus Tarascon“ eine unverwüstliche, sprichwörtliche Figur französischen Humors geschaffen. Die Brüder Edmond und Jules de Goncourt sind adlig an Namen und geistiger Tendenz.

Sie setzen mit peinlicher Gewissenhaftigkeit das Wort, Jules stirbt 1870, vielleicht, weil er nicht im rechten Moment das erlösende Wort fand. Sie haben eine besondere Vorliebe für Pariser Dirnen niedrigsten Kalibers (Germinie Lacerteux und Elisa in den gleichnamigen Romanen), de­ren stummes und namenloses Leid erst Charles Louis Phihilippe (+ 1910) in seinem Zuhälterroman „Bübü auf Montparnasse“ unsentimental verklärte, indem er wie Christus die Hand auf ihre Wunden legte, die Leben, Louis und Syphilis ihnen geschlagen.

Emile Zola (1840—1902) ist der Dumas des Natura­lismus. Das Prinzip der Vererbung ersetzt das Schicksal. Er führt die Geschichte der französischen Gesellschaft da fort, wo Balzac aufgehört, mit den Rougon-Macquart, der Geschichte einer Familie im zweiten Kaiserreich, vom „Glück der Rougons“ bis zum „Zusammenbruch“ 1870, in dem er die Gründe der Niederlage seinem Volk klar­legte. (Für Deutschland hat Heinrich Mann im „Unter­tan“ ähnliches versucht.) Im Drama „Therese Raquin“ — der Freund ermordet den Gatten, um mit seiner Geliebten ungestört leben zu können: aber das Gespenst aus dem Grabe lässt ihm keine Ruh — hat Zola Strindbergs Fami­lientragödien vorweggenommen. Guy de Maupassant (1830—1894) ist der Meister der kleinen Novelle, mit der er an Boccaccio heranreicht. Octave Mirbeau schreibt das erotische „Tagebuch einer Kammerzofe“, den sadi­stischen Roman „Garten der Qualen“ und lange vor dem Weltkrieg den pazifistischen Kriegsroman „Golgatha“. Sar Peladan spielt den geheimnisvollen Magier; hinter seinen priesterlichen Gesten verbirgt sich ein unseliger Tu-nicht-gut und Weiß-nicht-wohin. Pierre Loti („Is­landfischer“) und Claude Farrere schreiben exotische Ro­mane. Villier de l‘Isle-Adam ist der Dichter des Grau­ens. Wer auszieht, das Fürchten zu lernen, kann es bei sei­nen grusligen Novellen erfahren. Der Weltmann Anatole France hat vom Heidentum über den Katholizismus zum Bolschewismus hinübergewechselt. Im 17. Jahrhundert lebt sein Held, der wein- und lebenstrunkene Abt Coignard. Sein Revolutionsroman „Die Götter haben Durst“ ist antirevolutionär. Aber in der „Revolte der Engel“ er­heben sich diese zum Sturm gegen die Gottesburg. Ein Zivilisationsliterat ist Paul Bourget, dessen Romane von Ehebrüchen und anderen gesellschaftlichen Dingen han­deln. Der Rassenforscher Graf Arthur Gobineau findet mit seinen Szenen aus der Renaissance besonders in Deutschland großen Anklang.

Im Drama heimst Alexander Dumas der Jüngere die größten Erfolge des Jahrhunderts ein mit der „Kamelien­dame“, der schwindsüchtigen Pariser Kokotte, und „Kean“ (von Edschmid expressionistisch umgedichtet). Motto: Lache Bajazzo! Oder: auch der Komödiant hat eine Seele… Edmond Rostands großer Erfolg ist der „Cyrano von Bergerac“. Im „jungen Aar“ gibt er die Tra­gödie des Herzogs von Reichstadt. G. Courteline bril­liert mit kleinen komischen Einaktern, Polizei-, Militär-und Spießersatiren. Von den unzähligen routinierten Ko­mödienschreibern, die Frankreich hervorgebracht hat, braucht keiner mit Namen genannt zu werden; sie gehören „längst der „Weltliteratur“ an, man spielt sie überall. Noch nicht der Weltliteratur gehört Marceline Desbordes-Valmore (1786—1859), die von Verlaine mit Sappho ver­glichen und von Baudelaire die vollkommenste Personi­fikation des Weibes genannt wird. Den „Kentaur“ von Maurcie de Guerin hat Rilke nachgedichtet, die melancholischen Pierrot-Strophen des Jules Laforgue Max Brod und Paul Wiegler. Lyriker der strengen Formen sind Jose Maria de Heredia, Stephane Mallarme‘ und Henri de Regnier; Stefan George und sein Kreis hat von diesen Dichtern viel gelernt. Charles Baudelaire (1821 bis 1867) war Haschischraucher. Aus dem Haschischrauch stieg ihm das Nirwana der Inder, wenn die ersten Spuk-und Gespenstergestalten verblasst waren. Seine Erotik war keine Angelegenheit des Lebens: sie war eine Todeserotik; er, der Greisenhafte, liebte, fürchtete, ersehnte, verab­scheute den Tod wie einen geliebten Knaben. Die Erde ist ihm ein feuchter Kerker, in dem eine Fledermaus sich an den Wänden verzweifelt ihre Flügel zerbricht. Wie der Regen rinnt, endlos, so rinnt das Leben. Die Regensträhnen sind die Gitterstäbe unseres Gefängnisses. Eine Spinne hängt ihre Netze in unser Hirn. Der Tod ist der Fährmann eines gesunkenen Schiffes, das mit großen Segeln in die Un­endlichkeit steuert:

Tod, alter Fährmann! Es ist Zeit! Anker gelichtet!
Weiße Winde flattern wie Möwen. Segel gehißt!
+Ob Meer und Himmel sich wie schwarte Tinte dichtet,
Du weißt es, daß mein Her\ voll goldner Strahlen ist.

Gieß ein den letzten Trunk des roten Blutes!
Wie Feuer brennt’s im Schlund. Mich trägt die Welle
Bis auf des Unbekannten tiefsten Grund. Was tut es,
Ob Himmel mich das Neue lehrt, ob Hölle?

Baudelaire und Paul Verlaine (1844—1896) betrach­ten den Menschen als Bruder der Schwester Pflanze. Ihr Pessimismus borgt sich von ihr das Bild einer kurzen Blüte und eines schnellen Verfalles, das Bild der Fäulnis, der Verwesung. Und ihre Gedichte schillern wie die roten und gelben und violetten Blätter im Herbst. Verlaine selbst vergleicht sich einem solchen Blatt, das der Herbstwind treibt „bald hier, bald dorthin durch die öden Gassen“. Und Kaspar Hauser, den er besingt: ist er nicht auch ein rein vegetativer Mensch, der es nicht einmal bis zum ani­malischen Leben gebracht?

Ich kam, ein armes Waisenkind,
Zu den Menschen der großen Städte.
Sie sagten, daß ich tiefe Augen hätte,
Doch war ich den Menschen zu blöde gesinnt.

Mit zwanzig Jahren ohne Lug und Trug
Hieß es mich gehen zu schönen Frauen.
Sie nennen es Liebssgrauen.
Doch war ich den Frauen nicht schön genug.

Kein Vaterland, in keines Sold,
Ließ ich mich vom Hauptmann werben.
Ich wollte im Kriege sterben.
Der Tod hat mich nicht gewollt.

Ward ich zu früh geboren, zu spät?
Was tu ich auf der Welt noch hier?
Mein Leid ist ja so brunnentief. O ihr,
Sprecht für den armen Kaspar ein Gebet!

Aber auch dem animalischen Leben zollte Verlaine sei­nen Tribut: in prachtvollen erotischen Rhythmen: den „Frauen“. Verlaines Freund ist der junge Arthur Rim­baud, der Verlaine prügelt, ihn als Versmacher verachtet und nur das Leben gelten lässt. Jede Idee, die nicht sofort in die Tat umgesetzt wird, gilt ihm nichts. Ihm graut vor der Mauer, die Europa umstellt. Er flieht nach Ägypten, San­sibar, Cypern — noch weiter flüchtet der Maler Gauguin: nach Tahiti, von wo er das Buch der Südseefabeleien „Noa“ heimbringt. Rimbaud wütet wie gegen andere auch gegen sich selbst. Er will die Paviane umarmen und träumt von grünen Nächten mit Schnee, die sich wie Küsse auf das Auge des Meeres legen. Sein Gedicht „Das trunkene Schiff“ gehört zu dem Dutzend schönster französischen Gedichte.

ENGLAND UND AMERIKA

Aus der Zeit holte frisch und forsch Charles Dickens (1812—1870) seine Probleme. Er ging mit offenen Augen durch London, was er sah, war nicht eitel Glück und Wohlstand, war viel Gram und Elend. Aber sein sonnenhaftes Auge überstrahlte das Grau mit einem leichten Gold. Er zwinkerte lächelnd mit dem Auge: und alles war auf einmal halb so schlimm. Er hatte wie „Oliver Twist“ eine trübe Kindheit hinter sich und konnte sie zeit seines Lebens nicht verwinden. Sie kehrt in allen seinen Romanen wieder („Nicholas Nickelby“). Leicht und lustig sind nur die „Pickwickier“, die Geschichte eines Philisterklubs, des­sen Präsident Samuel Pickwick die Frösche im Teich bei ihren Sprüngen studiert wie Dickens die Menschen im Sumpf von London. Das reichste und bunteste seiner Werke ist der „David Copperfield“, ein gut Stück Selbst­biographie.

Den lärmenden Jahrmarkt dieses Lebens beschrie wie ein Ausrufer William Thackeray (1811—1863), der zum Schriftsteller wurde, weil sein Bankier Bankrott machte. Zum Gelde drängt, am Gelde hängt doch alles, könnte das Motto sein, das seine Figuren auf der Brust tragen: die Ringkämpfer, die sich um fünf Schilling bal­gen, die Bauchtänzerin, die sich für zehn preisgibt. In die­sen zwei Typen erschöpft sich die ganze Menschheit.

Benjamin Disraeli, der jüdische Lord Beaconsfield (1804—1881), ist ein tendenziöser Sittenschilderer, dessen meiste Werke an den Schlüsselroman streifen.

Emily Bronte schrieb unter dem Pseudonym Ellis Bell den prachtvollen Roman „Wetterberg“ (1847), der merkwürdigerweise bei uns in Deutschland noch fast un­bekannt ist, obwohl er schon an gewisse Bücher Hamsuns erinnert. Ein ebenso unbekanntes Meisterwerk ist „Kloster und Herd“ von Charles Reade (1814—1884), ein Ro­man, den Oscar Wilde Balzacs „Chagrinleder“ gleich­stellt. Soziale Romane schrieb Marian Evans-Croß, die sich hinter dem Pseudonym George Eliot verbarg.

Der Anreger einer neuen Romantik war John Ruskin (1819—1900), der außer einer Autobiographie Bücher gegen das Maschinentum und für den Kult der Schönheit geschrieben hat.

Im Jahre 1848 wurde die „Bruderschaft der Präraffaeliten“ begründet, die unter Ruskins Schutz stand. Es war das eigentlich ein Bund von Malern, die auf die italienische Primitive zurückgingen. Sie sangen, auf schon geborstenen Flöten, die letzten Töne der Romantik. Ein Vorläufer der Präraffaeliten war William Blake (1757—1827), ein sehr bedeutender Radierer, der Gedanken Jakob Böhmes in wundervollen Gedichten verkörperte. Manchmal erinnert er an Whitman, manchmal an Hölderlin, dessen Zeitge­nosse er war.

Sag mir, was Tag und Nacht einem ist, der überflutet wird von Weh?
Sag mir, was ein Gedanke ist und aus was für Stoff er gemacht ist,
Sag mir, was eine Freude ist und in was für Gärten Freuden wachsen,
Und in welchen Flüssen Kümmernisse schwimmen, und auf welchen Bergen Schatten der Unlust wehen,
Und in welchen Häusern die Armen wohnen, die trunken sind von vergessenem Weh?
Sag mir, wo wohnen die Gedanken, die vergessen sind, bis du sie rufst,
Sag mir, wo wohnt vergangene Freude und wo vergangene Liebe,
Und sag mir, wann sie sich wieder erneuern werden, entronnen der Nacht des Vergessens,
Daß ich überwinden mag weitferne Zeiten und Räume,
Trost zu bringen dem Kummer in eine Nacht der Qual.
Wohin gehst du, Gedanke? Wohin trägt dich dein Flug?
Wenn du zurückkehrst zu diesem Lande der Trauer,
Wirst du Tröstung bringen auf deinen Flügeln und Tau und Honig und Balsam,
Oder Gift aus der Wildnis?

Dante Gabriel Rossetti (geboren 1828 in London, als Sohn eines italienischen Gelehrten, gestorben 1882), der Maler, durch dessen Dichtung die Totenklage um seine nach zweijähriger Ehe gestorbene Frau sich zieht, war viel­leicht das bedeutendste Talent dieses Kreises.

Das selige Fräulein neigte sich
Vom hohen Himmelsbalkone.
Es war ihr noch immer wie im Traum,
Daß sie im Äther wohne.
Drei Lilien trug sie in der Hand
Und sieben Sterne als Krone…

William Morris (1834—1896) ist der Dichter des „ir­dischen Paradieses“, das er als Sozialist auch politisch zu verwirklichen trachtete. Richard Jefferies schrieb die „Geschichte meines Herzens“, ein Buch, in dem die Natur so zärtlich belauscht ist wie in Thoreaus „Waiden“.

Alfred Tennyson (1809—1892) war kein sündiger Geist. Er lebte harmlos und war zufrieden mit dieser Welt, die ihm Behaglichkeit und Erfolg (nach seinem Epos „Enoch Arden“) in reichem Maße schenkte. Elizabeth Browning (1806—1861) schrieb die schönsten englischen Sonette. Sie waren gerichtet an ihren Gatten Robert Browning (1812—1889), der sie nach Italien entführte. Hier schrieb er „Pippa geht vorüber“ und die Balladen, wie „Der Rattenfänger von Hameln“. Er trug „den schmalen Ring mit schüchtern Stein“ an der Hand; doch wenn er ihn drehte, wurde er ein Zauberring, ein Geist fuhr aus dem Beryll, und „Erd und Himmel wurden sein“. Immer wie­der, seit Chaucer, zieht Italien die englischen Dichter an sich. Sie müssen, wie Aktäon, seine Erde berühren, um neue Kraft zu gewinnen. (Man könnte eine ganze englische Literaturgeschichte schreiben unter dem Aspekt Italiens und — der Schwindsucht. Denn das Nebelklima Englands hat unverhältnismäßig viel kranke Dichter auf dem Gewissen.) Als der große Lyriker des viktorianischen Zeitalters tritt.

Dickens

Algernon Charles Swinburne (1837—1909) vor uns hin, der auch in Dramen wie „Atalanta“, „Chastelard“ den Kranz gewann. Er ist nicht so mystisch wie die Brownings. Er ist romantischer Realist, stark, wild, heidnisch: ein Riese, der den Globus trägt. Der englischen Gesellschaft war er ein Greuel wie ehemals Byron und später Wilde. Es gab einen solchen Skandal, als seine Gedichte erschie­nen, dass der Verleger sie zurückziehen musste. Dieses große, durch den Puritanismus vergiftete Volk blamiert sich immer wieder bei seinen Dichtern.

Swinburnes Gedichte sind magische Klanggebilde, die durch ihre Musik bezaubern. Am bekanntesten ist seine Ballade vom Traumland: „Ich barg mein Herz in ein Nest aus Rosen…“

Lieg stille, sprach ich, es wehren gelinde
Die Blätter und Winde der Sonnenglut;
Lieg stille, nun träumen die warmen Winde
Ruhloser als du auf der Mittagsflut.
Ist in dir ein Gedanke, der wehe tut?
Oder krallt dich noch haltloser Hoffnung Fang?
Wer befiehlt, daß dein Schlaf noch nicht stilleruht?
Nur eines heimlichen Vogels Gesang.

Walter Pater erweckte die Antike mit dem Roman „Marius der Epikuräer“. Edward Bulwer ließ vor ihm die letzten Tage von Pompeji wieder erstehen.

Der große Romancier der Spätromantik ist der schwind­süchtige Robert Louis Stevenson (1850—1894), eine Mischung aus Robinson Crusoe und E. Th. A. Hoffmann, der auf Samoa lebt, wo er die Anregung zu seinen Südsee­novellen empfängt.

Der letzte Ausläufer der englischen Romantik ist Oscar Wilde (Irländer, 1854—1900), der als Lord Henry, mit der Orchidee im Knopfloch, das Leben bis zur Neige genießt, mit Dorian Gray, dem schönen Jüngling, ein Ver­hältnis hat (Dorian Grays Bildnis), darob angeklagt und aus der höchsten Höhe der Gesellschaft ins Zuchthaus ge­stürzt wird, wo er die „Ballade vom Zuchthaus zu Reading“ schreibt und De profundis zu Gott schreit. Von seinen Zeitkomödien, die er des Geldes wegen schrieb, bleibt „Bunbury“ die heiterste. Sein einaktiges Drama „Salome“ ist, in der Vertonung von Richard Strauß, über alle Bühnen der Welt gegangen. Seine Märchen sind Blumen von der Art, wie er sie im Knopfloch trug: Orchideen. Seine Ge­dichte zeigen ihn als einen Pierrot lunaire, dessen Blässe nicht vom Mond und nicht von der Schminke stammt.

Nach Amerika übersiedelt Henry James(1843—1916), der „Vater des psychologischen Impressionismus“. In seiner Novelle „Daisy Miller“ gibt er das Bild einer Durchschnittsamerikanerin. Sein bestes Buch ist der autobiogra­phische Roman „Aufzeichnungen eines Sohnes und Bru­ders“. Er ist deutlich von Turgenjew beeinflusst.

Einen Zukunftsroman aus dem Jahre 2000 phantasiert Edward Bellamy. Der Dichter der Groteske ist Mark Twain (Samuel Clemens, 1835—1910). Er ist auf diesem Gebiete unbestrittener Meister. Über das „Zeitungswesen in Tennessee“, „Knipst, Brüder, knipst“, lacht man immer wieder, so oft man es auch liest.

Bret Harte (1839—1902) schreibt kalifornische Gold­gräbergeschichten. Das Gold, nach dem er gräbt, ist nicht das Gold in den Bergen, es ist, wie Freiligrath sagt, das Gold der Menschlichkeit, das selbst in harten und wilden Herzen, das selbst unter dem Schutt von Laster und Sünde ewig unvertilgbar ruht.

Portugal, Spanien, Italien

Portugal ist das Land der Anthologien, der Cancioneiros, die wichtigsten sind: „Der wiedergeborene Phönix“, 1728, der „Parnaso lusitano“, 1826. 1872 gab Theophilo Braga seinen „Modernen portugiesischen Parnaß“ heraus, in dem Anthero de Quental hervorragt. Joao Baptista de Almeida-Garrett (1799—1854) gestaltet das Leben des Nationaldichters in einem Epos Camoens“.

Aus Brasilien, dem Tochterlande Portugals dringen die amen von Sylvio Romero („Gesang vom Ende des Jahrhunderts“, 1878) und Coelho Netto, dem Epiker der brasilianischen Wildnis, zu uns.

Dichter deutscher Rasse und spanischer Sprache sind: Eugenio Hartzenbusch (1806—1880), Gustavo Adolfo Becquer (1836—1870), beides Romantiker; Becquer, der Dichter gespenstischer Novellen aus Toledo und Sevilla, und Fernan Caballero (Cecilia Böhl von aber), die Schöpferin des andalusischen Dorfromans. Eine reizende Kleinstadthumoreske ist Pedro Antonio larcons „Dreispitz“.

Jose Zorilla (+ 1893) ist der Dichter des „Don Juan Tenorio“, der noch heute in Spanien aufgeführt wird, Jose de Espronceda ist ein romantischer Lyriker. Gedichte von Zorilla und Espronceda hat Richard Dehmel überbersetzt.

1904 erhielt Jose Echegaray den Nobelpreis für Literatur und lenkte damit die Aufmerksamkeit auf sich und seine Dramen. Benito Perez Galdos (+ 1920) ist der Autor des wuchtigen Roman-Zyklus „Torquemada“, der die Geschichte eines Wucherers erzählt. Vincente Blasco Ibanez ist der Romancier des heutigen Spanien in sei­nem Stierkämpferroman „Arena“, dem Anarchistenroman „Die Kathedrale“ und dem Kriegsroman „Die vier apo­kalyptischen Reiter“. Leichte liebenswürdige Komödien schreibt Jacinto Benevente („Die Schule der Prinzes­sinnen“), der Nobelpreisträger des Jahres 1922.

Der größte spanische Dichter der Gegenwart ist Miguel da Unamuno (* 1864), der auch einer der bedeutendsten europäischen Philosophen ist. Von seinen Werken seien wenigstens „Abel Sanchez“, „Spiegel des Todes“ und „Leben und Meinungen des Don Quichote und Sancho Pansa“ genannt.

Giosue Carducci (1835—1907) verherrlicht Italien in gelehrten Schriften, heroischen Oden und gläsernen, strahlenden Reimen. Er hat u. a. Goethe und Heine ins Italienische übertragen. Sein „Hymnus auf Satan“ ist voll kühner Gedanken. Carducci ist der Nobelpreisträger von 1906. Ada Negri huldigt in ihren Versen einem patheti­schen Sozialismus, Giovanni Pascoli schwärmt wie ein schwarzer Falter. Matilde Serao schreibt neapolitarier, Grazia Deledda sardinische Romane. Edmondo de Amicis (+ 1908) ist der Autor von „Herz“, der Geschichte eines kleinen Schuljungen. Antonio Fogazzaro (+ 1911) schildert katholisierend die „Kleinwelt unserer Väter“.

Gabriele d’Annunzio (Pseudonym für Rapagnetta, (geb. 1864) rühmt sich, ein Lateiner zu sein, und erkennt in jedem Menschen von fremdem Blut einen Barbaren. Er ist ein politischer Charlatan, ein Poseur mit einem geni­alen Einschlag; in seinen besten Werken (den Romanen „Feuer“ und „Lust“, den Dramen „Das Schiff“ und „Sebastian“) ein ganzer Dichter. Und unter dem Wust von Mittelmäßigkeit, der sich im heutigen Italien breit macht -wie nach 1870 in Deutschland —, immerhin ein Kerl. Hat man sich ein wenig durch diesen Wust durchgeschlängelt, dann erkennt man, wie notwendig der Zerstörungstrieb des Futurismus (F. T. Marinetti) diesem Lande ist, dessen Kultur unter einem oberflächlichen Verismus, einer schwächlichen Spätromantik (aus der der Gottsucher Giovanni Papini und der Ironiker Aldo Palazzeschi hervorragen) und größenwahnsinnigen Historismus zu er­sticken droht. Aufbauende Kräfte sammeln sich um die Zeitschrift Ronda. Benedetto Croce wirbt mit seinem Goethebuch für das geistige Deutschland. Der Dichter des Tessin, der italienischen Schweiz, ist F. Chiesa.

Das Theater ist auf den Hund gekommen. Sem Benelli, Roberto Bracco und Gino Rocca kochen ihm noch die besten Schmarren. Als einziger ragt der Neu­romantiker Luigi Pirandello (* 1867) hervor, dessen Stück „Sechs Personen suchen einen Autor“ auch in Deutschland ein starker Theatererfolg war.

RUSSLAND

„Russland grenzt an kein Land, Russland grenzt an Gott.“ Dieser Ausspruch eines jungen deutschen Dichters könnte von Dostojewski sein: er bezeichnet äußerst prägnant die Idee des geistigen Panslawismus, den alle großen Russen gepredigt haben bis zur Ächtung und Verachtung jeglichen Westlertums. Russland ist Christus, der neue Erlöser, das Volk Gottes.“ (Dostojewski.) An Russland soll die Welt genesen, wenn einmal Russland selbst von sich genesen ist. Denn die höchste Vorstellung der Idee Russlands geht bei den Panslawisten Hand in Hand mit einer fanatischen Selbstzerfleischung und Selbstsezierung. Die Helden der russischen Seele, die Karamasows, sind voll von allen erdenkbaren Lastern. Aber sie tragen Janusköpfe, sie sind gut und böse, gläubig und skeptisch, herrisch und knechtisch, sensibel und brutal, Schöpfer und Mörder. Nur wer dieses Doppel­antlitz der russischen Seele durchschaut hat, die so recht das Symbol unserer Zeit ist, die das Unbedingte, Absolute entthront hat (Tolstoi und Einstein sind Brüder einer Zeit), die das Vage, Konturenlose, Verschwimmende, die Ek­stase um ihrer selbst willen liebt, wird auch den Geist der russischen Revolution begreifen können, die aus den Extremen entstanden und nur durch sie ermöglicht ist.

Die russische Literatur ist die Literatur des unbestimm­ten Akzentes. Man ist gut und böse — und man kann Tschechow oder Tschechow betonen. Das liegt im freien Ermessen des Individuums. Nitschewo. Dieser Sorglosig­keit entspricht das Gefühl für die räumliche Größe Russ­lands. Russland ist so groß, muss man es nicht lieben? Man kommt nie an ein Ende. Irgendwo liegt der Ural. Dosto­jewski schreibt die Karamasows, und als er die ersten drei Bände schließt, merkt er, dass er noch gar nicht angefangen hat. Man wird nie fertig in Russland, deshalb fängt man oft erst gar nicht an. Man betrinkt, ja man besäuft sich leicht mit Ideen aller Art. Der Katzenjammer bleibt nicht aus.

Dem extremen Gefühlswechsel des russischen Volkes in politischer Hinsicht entspricht der Werdegang der rus­sischen Literatur. Bis Anfang des 19. Jahrhunderts ohne jeden Wert, beginnt sie plötzlich, zuerst bei Puschkin, wie ein Komet am Himmel aufzugehen, um in einer beispiel­losen Glanzzeit, in der Talente wie Pilze und Saubohnen emporschießen, zu enden. Puschkin (1799 – 1837) ist zuerst Romantiker, dann Rationalist. Er zwingt einen russi­schen Roman, den „Eugen Onegin“, in Verse. Onegin ist ein blasierter, sarkastischer Mensch, der sich in seiner eige­nen Gesellschaft ebenso langweilt wie in jeder anderen, der Fräulein Tanja nicht liebt, als sie ihn liebt — aber als sie kleine Lieder, Märchen, kleine Dramen (den originellen „Don Juan“) und den „Boris Godunow“, ein großes Za­rendrama. Er war ein Aristokrat, so kam es, daß in Zeiten proletarischer Strömung in Russland kein Hund einen Brocken Brot von ihm nehmen wollte, geschweige eine Dosis Geist. Er beherrschte souverän alle Stimmungen und Effekte, ohne sich je an sie zu verlieren, und diese kühle Selbstbesinnung trennt ihn abgrundtief etwa von einem Dostojewski. Auf Alexander I. folgte Nikolaus L, auf Puschkin Gogol (1803—1852). Wie Tschitschikow in den „Toten Seelen“ befährt Gogol im Reisewagen das wirkliche Russland, und was er sieht, das ist Dummheit bei den niederen Volksschichten, Korruption in den mittleren, Hochmut in den oberen. Der „Revisor“ wird immer eine klassische russische Komödie bleiben, denn derart „klas­sisch“, um das Wort im Nestroy-Sinn zu gebrauchen, geht es nur in Russland zu. Der Revisor und alle die anderen Gauner, Tölpel, Idioten der gogolschen Galerie und die Herren „Hundesohn“ (Sobakewicz), Manilow usw. sind sprichwörtliche Figuren geworden. Gogol bekam, als er diese Galerie durchwandelte, eines Tages den üblichen rus­sischen Katzenjammer. Die „Wirklichkeit“ Russlands war so entsetzlich, daß er sich wieder in die „Idee“ flüchtete und sich als Sittenprediger und Moralist umschminkte, der die Reaktion, die Leibeigenschaft, die Tyrannei zu vertei­digen wagte. In dieser Rolle gefiel er dem jungen Russland ganz und gar nicht, und der Kritiker Bjelinski machte sich zum Sprachrohr der Jungen, unter denen sich Dosto­jewski befand, der für die Verbreitung der bjelinskischen Schrift, die mit der Regierung hart ins Gericht ging, zum Tode verurteilt wurde. Ein Ukrainer wie Gogol war Taras Schewtschenko, der wegen seiner revolutionären Gesinnung in einer sibirischen Strafkompagnie dienen musste und dessen Balladen noch heute von den kleinrussischen Bauern gesungen werden. Gegen den Realisten Go­gol steht der Romantiker J. Lermontow (1814—1841), der Epiker des Kaukasus und seiner tropischen Land­schaft. In seinem Roman „Der Held unserer Zeit“ tritt Herr Eugen Onegin in anderer Maske wieder auf: der Held, der mit sich und anderen nur spielt, weil dieses Spiel die einzig mögliche radikale Lebensgestaltung in einer dumpfen und beengten Umwelt darstellt. Das soziale Pro­blem warfen erst die Essayisten Bjelinski und Alexan­der Herzen (mit seiner Zeitschrift „Die Glocke“) auf, der einem eigenen Romanversuch den Titel gab: „Wer trägt die Schuld?“ Dostojewski hat diese Frage später be­antwortet: jeder… Die russische intellektuelle Jugend wurde aufgerüttelt. Sie stellte sich in eine Reihe mit den Proletariern, mit ihnen zu kämpfen, mit ihnen zu sterben. Petersburg wurde die revolutionäre Zentrale. Die Emi­granten wurden ihre geistigen Führer. „Wer ist glücklich in Russland?“ fragt der melancholische Lyriker Nekras­sow. Auch hier wusste Dostojewski die Antwort: nie­mand … aber alle sollen es werden. Ein reiner, von fran­zösischer Form beeinflusster Lyriker ist Tschutschew. Alexander Ostrowskij ist der Dramatiker des bürger­lichen Lebens. Iwan Gontscharow schreibt seinen an­klägerischen Roman „Oblomow“: der typische russische Held, der träge Mensch, der nur in sich beruht, und der keine Kraft zum Willen hat. Die Oblomowerei ist die Grundlage, aus der als aktivistischer leidenschaftlicher Gegensatz der Leninismus entsprang. Iwan Turgenjew (1818—1883) ist der Dichter des Westlertums. Er findet schließlich so wenig wie Gogol die Liebe der Jungen. Denn er weist keinen Weg in die Zukunft, und die Gegenwart ist trist und grau. Und alles scheint ihm Rauch, grauer Rauch… Sich abfinden, das ist seine ganze Moral. Aber: besser machen I das ist der Ruf der Jugend. Das Problem „Väter und Söhne“, das unsere Jugend heute so stark beschäftigt, klingt im gleichnamigen Roman bei ihm an. Seine kleinen Gedichte in Prosa sind lyrische Skeptizismen.

Dostojewski
Tolstoi
Fontane

Fedor Dostojewski (1821—1881) war 38 Jahre alt, als er aus dem sibirischen „Totenhaus“ kam, in das ihn sein Eintreten für die Sache der Freiheit gebracht. Die sibiri­schen Jahre hatten ihn gequält, gepeinigt mit Selbstvor­würfen, Selbstanklagen, und ihm schien, als wäre er selbst an seinem Schicksal nicht unschuldig. War er nicht der arme Student Raskolnikow, der die Pfandleiherin ermor­dete? Das Problem von der „Schuld und Sühne“ ergreift ihn mit religiöser Inbrunst. Er sieht seinen eigenen, den Untergang Russlands, den Untergang des Abendlandes, und nur die Vision des wiederkehrenden Christus tröstet ihn. Sein Johannes ist der närrische Fürst Myschkin, der „Idiot“, der so dumm ist, die Menschen zu lieben, und so einfältig, an sie zu glauben… Der kein Richter sein will, sei es über wen auch immer, und den selbst der Mörder Rogoschin noch zu Tränen rührt. Sein Apostel ist Aljoscha, der Mönch, der Bruder Dimitrys des Wilden und Iwans des Schrecklichen. Sie sind alle „Besessene“, schuldig-un­schuldig verstrickt. Dimitry leidet am Kreuz für einen an­deren, stumm und ohne jemand anderes anzuklagen als sich selbst. .

Bei Leo Tolstoi (1828—1911) vermisst man jene ein­heitliche Linie, die durch Dostojewskis Schaffen geht. Er will wohl die Slawophilie zur Menschheitsliebe emporsteigern, aber es bleibt viel Komödiantentum in seinem äußeren wie inneren Leben. Mit ihm versöhnt, wie sich in seinen Tagebüchern zeigt, dass er den Zwiespalt seines Wesens vor sich selber klar erkannte. Seine „Flucht“ aus der Welt ist seinerzeit viel bewundert worden. Ich vermag so Heroisches nicht darin zu sehen. Wenn man alt und klapperig geworden ist und das Leben bis zur Neige ge­nossen, gerät man leicht in den Verdacht der alten Hure, die ins Kloster geht, weil ihre Leiblichkeit verbraucht ist. Der Kaukasus, in dem er wie Olenin, der Held der „Ko­saken“, Erholung von seiner Zivilisationsmüdigkeit sucht, erfrischt Tolstoi vorübergehend. Er kehrt nach Jasnaja Poljana zurück und schreibt den Napoleonroman „Krieg und Frieden“, in dem der Muschik Karatajew das duldende russische Volk verkörpert. In „Anna Karenina“ hält er wieder Abrechnung mit sich selbst, und Lewin, der bäurische Agrarrevolutionär, will er selber werden. Aber es gelingt ihm nur, sein Gut auf den Namen seiner Frau zu überschreiben, um als ihr „Knecht“ bei ihr wohnen zu bleiben. Er schreibt die Bauerntragödie „Die Macht der Finsternis“, geifert greisenhaft gegen die Wollust in der „Kreuzersonate“. Die Tragödien „Das Licht scheint in der Finsternis“ und „Der lebende Leichnam“ fand man in seinem Nachlass. Sie gehören zu den „stärksten“ Dra­men der russischen „Schwäche“. Was Andrejew später in den „Tagen des Lebens“ und andere gaben, ist Verwässerung. Nur Maxim Gorki gelang mit seinem „Nacht­asyl“ ein echtes Sittenstück. Seine kleinen Vagabunden­novellen und seine Memoiren sind wertvolle, halb auto­biographische, halb dichterische documents humains. Unter der Sowjetherrschaft schrieb er die Komödie „Der Herr Kommissar“, die die Bureaukratie in der UdSSR. verspottet.

Nikolai Ljesskow (+ 1895) ist der Dichter des russi­schen Sektierertums.

Anton Tschechow (+1904) ist als Satiriker des russischen kleinbürgerlichen und kleinbäuerlichen Milieus zu nennen. Der Schatten des Todes liegt über seinen Geschichten in Grau. Seine Provinz ist die Provinz: verschlammt und ver­schlampt. Tschechow hat sich auch träumerische Tragödien der russischen Schwermut („Der Kirschgarten“) geformt.

Elftes Kapitel
JÜNGSTE VERGANGENHEIT UND GEGENWART
FRANKREICH

Seit dem 12. Jahrhundert, seit der mittelfranzösische Dia­lekt sich in Paris als Landessprache durchsetzte, bedeutet Paris Frankreich. Die Tradition bewahrt Paris. Alles an­dere ist zur „Provinz“ verurteilt: ein Wort, das im Fran­zösischen einen beinah beleidigenden Charakter trägt. Der provencalische Dialekt hat einige bemerkenswerte Dichter hervorgebracht(Frederic Mistral); aber sie haben sich ge­gen, nicht mit Hilfe von Paris durchgesetzt. Acht Jahrhun­derte schon ist Paris Großsiegelbewahrerin der französi­schen Sprache und Dichtung: und diese acht Jahrhunderte haben aus der französischen Sprache jenes edle Instrument geformt, auf dem ein Pariser Droschkenkutscher genau so virtuos spielt wie ein Anatole France — während die deut­sche und die russische Sprache sich fortwährend entwickeln und der Individualismus in ihnen die absonderlich­sten Blüten treibt (die deutsche Sprache erlaubt jedem, sein eigenes Deutsch zu sprechen). Das Französische kennt nur eine Sprache, die jeder spricht, deren Regeln zeremoniell sind und deren Entwicklung abgeschlossen ist. In einer solchen Sprache muss eine streng formale Tradition wirken. In Deutschland gibt es nur eine gei­stige Tradition: es ist der Geist der Mystik, der Geist des deutschen Volksliedes, der Geist der Romantik, der auch im sogenannten Expressionismus spukte. Frank­reich kennt den Expressionismus nicht. Der Geist sei­ner Sprache erlaubt ihn nicht. Wie die Alten, so zwit­schern die Jungen, und nur einige Allerjüngste vollführ­ten, von Ausländern (dem Galizier Guillaume Apollinaire und dem Rumänen Tristan Tzara) angeregt, dadaistische Jazztänze.

Zum erstenmal in der französischen Literatur macht sich heute ein metaphysischer, ein übersinnlicher Zug bemerk­bar, der an diesem Volk der äußersten Sinnlichkeit so ver­wundert, daß er vielleicht nur rassemäßig erklärt werden kann. Es scheint, als beginne das germanische Blut im Romanentum aufzubegehren für jahrhundertelange Unter­drückung. Es ist Liebeshass, der in geistigen Franzosen lebendig wurde und der Claudel und Verhaeren die Feder zu den wüsten Beschimpfungen Deutschlands in die Hand drückte. Romain Rolland (* 1868), der den Roman des deutschen Musikers Johann Christoph schreibt, Henri Barbusse mit seinem Schützengrabenroman „Feuer“ und „Klarheit“, Paul Claudel mit seinem symbolischen Dra­ma „Verkündigung“, Francis Jammes: das sind eigent­lich deutsche Franzosen. Wie Charles de Coster flämisch in französischer Sprache schreibt, so schreiben sie deutsch in französischer Sprache. Rolland schrieb außer seinem zehnbändigen „Jean Christoph“ noch die Biographien Michelangelos, Beethovens, Händeis, Mahatma Gandhis, den Roman-Zyklus „Verzauberte Seele“, den humoristi­schen „Meister Breugnon“ und eine Reihe von Dramen. In Jammes „Almaide“ stirbt der junge Geliebte im Glet­scher: Symbol der eisigen Umwelt. ,,Ich bin Franziskus,“ spricht Jammes zum Hasen (im „Hasenroman“). ,,Ich liebe dich, und ich grüße dich, Bruder. Ich grüße dich im Namen des Himmels, der die Wasser spiegelt und die glitzernden Steine, im Namen des Sauerampfers, der Rinden und der Körner, womit du deinen Hunger stillst.“ Das Paradies der Tiere tut sich auf: und alle sind da: der Hund des Diogenes, die Taube des Ölzweiges, das blutende Lamm der Bibel und das Lamm aus der Fabel des Lafontaine. Jammes, Barbusse und Rolland haben in Deutschland begeistertere Leser gefunden als in Frankreich. Sie gelten ja den Franzosen kaum als Franzosen… Der metaphysische Hang hat viele von ihnen zum Katholizismus getrieben: z. B. Andre Suares.

Andre Gide (* 1869) schreibt den Roman der Liebe eines Dorfpfarrers zu einer Blinden („Pastoralsymphonie“), die Biographie eines Immoralisten, und erzählt von den Verließen des Vatikans. Als sein Hauptwerk gilt der Ro­man „Die Falschmünzer“, der weniger von der materiellen als von der geistigen Falschmünzerei handelt. „Die Schule der Frauen“ erzählt in Tagebuchform von den Enttäu­schungen eines weiblichen Wesens. „Stirb und werde“ ist Gides Autobiographie. Charles Peguy huldigt einem katholischen Sozialismus. P. J. Jouve singt wie Jules Romains einen Sang für Europa. „Singen will ich für Europa, hoffen für Europa.“ Im Gegensatz dazu ist Mau­rice Barres (f 1923) der Chauvin comme il faut. Ein glänzender Stilist und ein Rufer im Streit gegen die deut­schen Barbaren, die er im Grunde seines Herzens weit mehr fürchtet als verachtet. Er zeigt die typische Nervosität des heutigen Franzosen allen deutschen Erscheinungen gegen­über. Ganz wie in Deutschland ist in Frankreich die Litera­tur der Gegenwart politisiert, nach links und rechts, nach national und übernational orientiert.

Neben Andre Gide sind Marcel Proust (1873—1922) und Georges Duhamel (* 1884) die beiden Meister des neuen französischen Prosaepos. In dem Romankreis „Auf den Spuren der verlorenen Zeit“ erzählt Proust mit viel Psychologie und dichterischer Zartheit sein eigenes Leben. — Duhamels Roman „Gewitternacht“ malt die Seelenlage des Nachkriegsmenschen; „Zwei Freunde“ ist ein Liebes­- und ein Hassroman ohne Frauen; das „Leben der Märtyrer“ ist sein Kriegsbuch. Jules Romains, der Lyriker, schreibt den intellektuellen Roman der Geschlechtlichkeit „Der Gott des Fleisches“. Den breit angelegten Familienroman pflegt Roger Martin du Gard in den „Thibaults“. Ein Familienroman ist auch „Vatermord“ von Fred Bdrence und Jean Richard Blochs „Simler & Co.“, ein Roman aus dem jüdischen Fabrikantenleben. Ganz jung stirbt Raymond Radiguet, der ein kleines Meisterwerk hin­terlässt: das „Fest des Grafen d’Orgel“. Jean Cocteau schreibt „Thomas, der Schwindler“, einen Hinterlands­roman; „Abwege“, eine Art Erziehungsroman, und „Les enfants terribles“. Georg Bernanos‘ Romane „Die Sonne Satans“ und „Der Abtrünnige“ finden den Weg von der Psychologie zu einem katholischen Mythos. Unterhal­tungsliteratur übler Art sind die Bücher von Claude Anet, dessen feuilletonistische „Ariane“ auch in Deutschland großen Erfolg hatte, die Massenware von Pierre Benoit, die himmelblauen und rosaroten Schwätzereien der Co-lette, die Schlafwagenliteratur des Maurice Decobra. Von Frangois Mauriacist das eindringliche und weise Buch „Die Einöde der Liebe“. Andre Maurois ist der kluge Autor der „Wandlungen der Liebe“ und der Bio­graphie-Romane „Disraeli“ und „Ariel oder das Leben Shel­leys“. Die vie romancüre wird zu einer mechanischen Mode in Europa. Vorläufig werden die Dichter (besonders By­ron), die Staatsmänner und Könige (besonders Philipp II.) erledigt. Demnächst werden die Maler, die Musiker, die Erfinder und die Finanzgenies an die Reihe kommen. Francis Carco, der Verfasser literarisch wertvoller Ro­mane aus der Zuhälterwelt, hat das romantische Leben des Villon beschrieben, der Diplomat Maurice Paleologue erzählt von Cavour.

Den Weltkrieg gestalteten (außer Barbusse) Paul Raynal in seinem „Grabmal des unbekannten Soldaten“, Ro­land Dorgeles („Das Kreuz im Walde“) und Andre“ Maurois in seinen ironischen Kriegsgeschichten („Das Schweigen des Obersten Bramble“ und „Gespräche des Doktor O’Grady“).

Als Lyriker wären zu nennen, Paul Fort mit seinen „Französischen Balladen“, der Whitmanschüler Henry Gheon, der „unanimistische“ Jules Romains, der religiös orientierte Paul Claudel, der liedhafte Paul Valery. — Das leichte französische

Drama wird von Tristan Bernard, Paul Geraldy und Henry Lenormand weitergeführt.

Die moderne französische Philosophie hat ihren Vertre­ter in dem Nobelpreisträger Henri Bergson (* 1859), dem Verkünder der „schöpferischen Entwicklung“.

Französisch schreibende Flamen haben der französischen Literatur bedeutende Kräfte zugeführt. Wo auch Stoff und Ideenkreis typisch flamisch, habe ich sie der holländischen Dichtung zugezählt. Joris Karl Huysmans schreibt den Roman der schwarzen Magie und Messe („Da unten“). Er ist Satanist, ehe er als Durtal in das Trappistenkloster sich zurückzieht. Georges Rodenbach lässt „Das tote Brüg­ge“ erstehen. Albert Giraud erweckt den „Pierrot lunaire“ zu neuem Leben, das er als schwermütiger Trottel durchzieht. Camille Lemonnier ist der Schöpfer des bel­gischen Bauernromans. Maurice Maeterlinck debütiert mit phantastischen kleinen Dramen und Monodramen („Die Blinden“, „Der Eindringling“), bis ihm der „Blaue Vogel“ zu holderen Gestaden voranfliegt und Pelkas und Melisande und Aglavaine und Selysette ihre traumzarten Gestalten dem Rampenlicht aussetzen. Sein Bienenbuch ist eine Poetisierung des Insektengeschlechtes, dem indessen der Franzose Fabre in seinen Insektenbüchern zwar nüch­ternere, aber dauerndere Monumente errichtet hat. Flame durch und durch ist Emile Verhaeren (1855—1916), der das flandrische Leben mit dem Pinsel eines Rubens malt und der sich jenen Großen zurechnet, „die als allererste die Dinge benannten“.

DIE NIEDERLANDE

Das junge Deutschland hat in Jungholland eine Parallel­bewegung. Multatuli (J. D. Dekker, 1820 bis 1887) schildert in seinem revolutionären Roman „Max Havelaar oder die Holländer auf Java“ die entsetzlichen Zustände in Holländisch-Indien, die er selbst als Beamter siebzehn Jahre mit angesehen. Sein Buch war die Veranlassung zu einer umfangreichen holländisch-indischen Romanlitera­tur. Sein Lebenswerk sind die „Ideen“, in denen auch die „Abenteuer des kleinen Walter“ enthalten sind. Der Arzt und Psychiater Frederik van Eeden (* 1860) schreibt den „Kleinen Johannes“, eine symbolische Prosadichtung. Jesus kehrt als Scherenschleifer auf die Erde zurück, sie wiederum zu erlösen. Albert Verweys Gedichte, die nach allen Seiten glänzen gleich einem blumenreichen Gartengrunde, werden von Stefan George übersetzt. Guido Gezelle, die vlämische Nachtigall, singt ihre zar­ten Lieder. August Vermeylen gibt mit dem „Ewigen Juden“ eine Art expressionistischen Romans. Der Realist Louis Couperus sucht seine Stoffe im Rom der Kaiser­zeit („Die Komödianten“, „Heliogabal“), Stijn Streuvels („Die Ernte“, „Knecht Jan“) im Bauernmilieu. Felix Timmermans lässt das Jesuskind durch Flandern wan­dern und verklärt in einem Roman das Leben des großen Malers Pieter Brueghel. Herman Heijermans‘ senti­mentales Fischerdrama „Hoffnung auf Segen“ wird wie Jan Crommelyncks (französisch geschriebener) „Mas­kenschnitzer“ auch in Deutschland viel gespielt. Ebenfalls französisch schrieb Charles de Coster seine flämischen Legenden sowie das große niederländische Epos von Ulenspiegel und Lamm Goedzak, das zur Zeit des Abfalls der Niederlande sich begibt. Ulenspiegel ist der Held der Frei­heit, sein Gegenspieler der Tyrann Philipp II. von Spanien. Herman Teirlinck gestaltet den Roman einer Hoch­staplerseele („Das Elfenbeinäffchen“) und schreibt den „Neuen Eulenspiegel“. Henriette Roland-Holsts Garibaldibuch „De Held en den Schar“ läuft in die skep­tische Erkenntnis aus, daß der höchste Gedankenflug des sozialistischen Führers in der trüben Niederung des Alltags abstürzt, und dass die zur Handlung berufene Masse ihren Führern in der Idee nicht zu folgen vermag.

Bernhard Shaw
James Joyce

ENGLAND UND AMERIKA

Der Hauptexportartikel des literarischen Englands im zwanzigsten Jahrhundert ist der Detektivroman, so wie es im neunzehnten Jahrhundert der humoristische Roman war. Der Spiritist Conan Doyle, der Vater des Sherlock Holmes, hat diesen Detektivrummel auf seinem robusten Gewissen. Seine Nachfolger sind der unverschämt frucht­bare Edgar Wallace und J. S. Fletcher.

Viel weniger Anklang finden in Deutschland die großen Meister des neuen englischen Romans. Vor allem George Meredith (1828—1909) mit seinen wundervollen psycho­logischen Büchern: „Der Egoist“, „Feuerprobe“ und „Seltsame Ehe“; George Moore, ein kühler Analytiker und Künstler, mit dem katholischen Roman „Schwester Therese“ und mit „Liebesleute in Orelay“; James Mat­thew Barrie mit „Margaret Ogilog“; Thomas Hardy mit seinen Heimatromanen „Fern vom Getümmel der Welt“ und „Heimkehr“. Daneben verblassen die kleineren Meister der Prosa. Jerome K. Jerome ist in seinen Skiz­zen ein Humorist von vielen Graden. Arnold Bennett ist im Milieu der Töpferindustrie heimisch, in den „Fünf Städten“, deren Schicksale er an symbolisch herausgegrif­fenen Menschen malt. Er ist sachlich wie Flaubert und wie dieser ein Desillusionist des Bürgertums, das nur geschick­ter stiehlt (nämlich defraudiert) und mordet (Oskar Wilde: „Der Tapfre mordet mit dem Schwert, der Feige mit dem Kuss“) als der gemeine Mann. Das immer gleich Redensarten bei der Hand hat, wo diesem nur ein verlegenes Ach­selzucken zur Verfügung steht. John Galsworthys (* 1867) Romane und Dramen sind wie in einer chemischen Retorte ausgebrütet. Seine Stärke ist die Sittenschilderung, das Aufrollen der Gesellschafts- und Klassenprobleme. Sein Hauptwerk ist die breit angelegte Familienchronik „Forsyte-Saga“, mit dem prachtvollen und rührenden Kapitel „Nachsommer“. Zeitgebunden sind seine sehr lebendigen Bühnenwerke „Streik“, „Justiz“, „Gesell­schaft“. Galsworthy ist ein korrekter und verständlicher Autor, der dem Intellekt behagt — ein großer Dichter ist er gewiss nicht.

Der Mittelpunkt des irischen Kreises ist William Butler Yeats(* 1865),der 1924 den Nobelpreis erhielt. Neben wunderbaren Gedichten schuf er das legendenhafte Drama „Gräfin Kathleen“ und das Feenspiel „Das Land der Sehn­sucht“. Liam O’Flaherty schuf phantasiereiche Romane („Die Nacht nach dem Verrat“, „Das Haus aus Gold“) und erzählt von seiner Reise nach Sowjetrussland. Ein Ire ist auch der paradoxe Gilbert Keith Chesterton, der vor allem die literarische Detektivgeschichte pflegt. In seinen schnurrigen Essays ist er streng katholisch. Nichts gemein mit Analyse oder Kälte hat sein heißblütiger Landsmann Bernard Shaw, das Gewissen Englands, das während des ganzen Krieges nicht aufgehört hat zu schlagen. Er bietet das heilsame und notwendige Gegengewicht zu dem hem­mungslosen Imperialismus Rudyard Kiplings(* 1865 in Bombay), der der Trompeter des englischen Weltreiches ist in seinen prachtvollen Soldatenballaden. Einfach, groß wie die Natur, die sie schildern, sind seine Dschungelbücher. Kipling ist nicht unter Menschen, sondern unter Wölfen, Leoparden und Elefanten aufgewachsen. Bernard Shaw (* 18 5 6) hat eine ungeheure Fähigkeit zur Persiflierung histo­rischer Tatsächlichkeit. Die Balkankriege („Helden“) bieten ihm dazu die gleiche Möglichkeit wie das Russland der gro­ßen „Katharina“ und die Zeit Casars, die die Unterlage zu einer historischen Komödie großen Stils gibt, „Cäsar und Kleopatra“, deren sich ein Shakespeare nicht zu schämen brauchte. Die heutige englische Gesellschaft hat er wie eine Bulldogge angegriffen: das Gewerbe einer Bordellbesitze­rin (Frau Warren) scheint ihm noch achtbar gegen die schmutzigen Berufe, wie sie eine entartete Gesellschaft von Schiebern, Hochstaplern, Kinderverführern übt. Ein neue­res Stück Shaws geht zurück zu „Methusalem“. Es beginnt im Garten Eden, nimmt seinen Fortgang mit Staatsleuten, die verdächtige Ähnlichkeit mit Lloyd George und Asquith haben, und endet im Jahre des Heils 31920… In der „heiligen Johanna“ gab Shaw ein großes weltgeschicht­liches Drama, das überdies vollkommen bühnengerecht ist. Besonders paradox scheint er in seinen Essays, denn er predigt Wahrheit ohne Pathos und verlangt Vernunft, un­bekümmert um den Usus. („Der gesunde Menschenver­stand im Weltkrieg“, „Führer der intelligenten Frau zum Sozialismus“.)

Bernard Shaw hat sich selbst einen Schüler Samuel Butlers (1835—1902) genannt. Butlers Lebenswerk ist der Familienroman „Der Weg alles Fleisches“; daneben haben seine biologischen Bücher bahnbrechend gewirkt.

  1. G. Wells träumt utopische Romane: „Das Jahr des Kometen“, „Der Luftkrieg“. Weit bedeutender ist er in seinen realistischen Romanen „Tono-Bungay“ und „Kipps“. Während des Krieges schreibt Mister Brittling bis zum Morgengrauen Menschliches, Menschheitliches mit der rechten Hand. Mit der linken diktiert er Mensch­liches, Allzu menschliches: die Leitsätze der antideutschen Propaganda, der er vorsteht.

Den englischen Kriegsroman schreibt Ralph H. Mott­ram: „Der Spanische Pachthof“. Einen ähnlichen Blick für das Menschliche hat Warwick Deeping in „Haupt­mann Sorell und sein Sohn“ und „Schicksalshof“. R. C. Sheriff bringt den Weltkrieg als neuen Stoff auf die Bühne („Die andere Seite“).

Aufsehen erregte James Joyce (* 1882) mit seinem psychoanalytischen, neoimpressionistischen „Ulysses“, dessen stilistischer Einfluss auf die europäische Literatur der Gegenwart noch fortwirkt. Kühner ist bei all seiner künstlerischen Ruhe David Herbert Lawrence in dem Eheroman „Der Regenbogen“ und dem ermüdend ero­tischen Buch „Lady Chatterleys Liebhaber“.

Isoliert steht der in England naturalisierte Pole Joseph Conrad (1857—1924) mit seinen von Poe beeinflussten Seemannsromanen („Die Schattenlinie“, „Der Nigger vom Narzissus“) und dem Roman aus der russischen Anarchi­stenkolonie in London „Der Geheimagent“.

Von den neueren Romanciers seien wenigstens diese dem Namen nach aufgeführt: Gilbert Cannan („Mendel“), Michael Arien („Der grüne Hut“), Frank Swinnerton („Nocturno“), Aldous Huxley („Paral­lelen der Liebe“); Margaret Kennedy („Die treue Nymphe“), Virginia Woolf („Zum Leuchtturm“).

Erst seit den letzten dreißig Jahren ist Amerika litera­risch nicht mehr ein Epigone Europas, sondern völlig eigener Art. Seine Kraft ist ein Realismus, der an Repor­tage grenzt. Jack London (1876—1916) lässt seine prächtigen Tier- und Menschengeschichten („Wenn die Natur ruft“, „Lockruf des Goldes“, „Kleine Dame vom großen Haus“) im Goldgräbermilieu spielen. Upton Sinclair (* 1878) hat mit seinem Chikagoer Schlachthausroman „Der Sumpf“, dem Kommunistenroman „Jimmie Higgins“ und „100%“, dem Roman eines Geschäftspatrioten, große Erfolge. In „Boston“ verdichtet er den Fall Sacco und Vanzetti zu einer großen Anklage gegen die bürger­liche Gesellschaft. Eugene O’Neill schreibt das Neger­drama „Kaiser Jones“, in dessen Mittelpunkt ein ehemali­ger schwarzer Schlafwagenschaffner steht, der sich zum Kaiser einer karibischen Insel erhebt. Der Stil des Dramas ist dem deutschen Expressionismus verwandt. Sein „Selt­sames Zwischenspiel“ zeigt, daß nun auch die amerika­nische Bühne auf die Psychoanalyse gekommen ist. Schein­bar beruht auf Negern (der Negerschauspieler Charles Gilpin) und Juden (Charlie Chaplin, der Filmkomiker) das momentane Schwergewicht der amerikanischen Schauspielkunst. Eine Jüdin ist auch die Dichterin des Ghetto von New York: Lola Ridge.

Sinclair Lewis (* 1885), der jahrelang schlechte Ge­schichten geschrieben hat, um Geld zu verdienen — und keins verdiente, schreibt plötzlich ein gutes Buch (Main Street: die Geschichte der Hauptstraße), und das Buch er­lebt hundert Auflagen. Die Höhe seiner Künstlerschaft er­reicht er in „Babbitt“: hier ist der neue Typ des amerikani­schen Philisters festgenagelt. Edgar Lee Masters skiz­ziert seine lyrischen Porträts des kleinen und kleinsten Mannes, Frank Norris schafft die Trilogie des Weizens. Vachell Lindsay beschreibt die Vision Lincolns, der un­ter seinem Hügel nicht schlafen kann, weil die Sünden der Kriegslords sein Herz verbrennen und noch immer Dread-noughts das Weltmeer geißeln. Er besingt die Heilsarmee, den Urwald am Kongo, das Blumenschiff auf dem Yang-tse-kiang. John Erskine ist ein amerikanischer Offen­bach: mit Ironie und modernem Kostüm führt er „Das Privatleben der schönen Helena“ vor, auch das von „Adam und Eva“ und das des „Sir Galahad“. Der ameri­kanische Zola ist Theodore Dreiser, der in „Titan“ einen Spekulantenroman gibt, in „Genius“ den Roman des Künstlers und in der „Amerikanischen Tragödie“ ein Panorama seines Landes und seiner Zeit. Aber er bleibt im Stoff stecken, sein Stil ist so hölzern und so eindringlich wie der eines Winkeladvokaten. — „Manhattan Transfer“ von John Dos Passosist der Spiegel der Stadt New York; Sein Buch „Drei Soldaten“ darf als der beste amerikanische Kriegsroman gelten. Ludwig Lewisohn schreibt die Geschichte einer Judenfamilie („Das Erbe im Blut“), Lester Cohen den Roman von vier Generationen („Die Pardways“). Alfred Aloysius Horn erzählt seine Abenteuer an der Elfenbeinküste, Charles G. D. Ro­berts Tiergeschichten aus der kanadischen Wildnis. — Ein großer Dichter, ein Dichter von der Art Hamsuns ist Sherwood Anderson („Dunkles Lachen“, „Der Er­zähler erzählt sein Leben“). Booth Tarkington schreibt den Roman „Unrast“, Joseph Hergesheimer „Javahaupt“, die Geschichte einer Chinesin, Ernest Hemingway, das feinste Talent unter den jungen ame­rikanischen Dichtern, Romane aus dem Leben („Fiesta“, „Männer“, „In einem andern Land“). Thornton Wil­ders „Brücke von San Luis Rey“ erinnert an die Novellistik Heinrich Manns.

Als größter amerikanischer Kritiker gilt H. L. Mencken, der Verfasser der „Vorurteile“, der auch ein Buch über Nietzsche, ein Buch gegen die Sozialdemokratie und ein Buch zur Verteidigung der Frauen veröffentlicht hat.

Die besten Namen unter den schreibenden Frauen sind: Martha Ostenso („Ruf der Wildgänse“, „Erwachen im Dunkel“) und Edith Wharton („Das Haus des Froh­sinns“).

Carl Sandburg, der Dichter der Industrie und der Re­volten, überträgt seine Wildwestvorstellungen auf die Städte. Chikago ist ein Kerl, der wild wie ein Hund mit der Zunge nach Tat lechzt. „Listig wie ein Wilder kämpft er gegen die Wildnis. Unter der schrecklichen Last des Schicksals lacht er, wie ein junger Mann lacht“. Er kommt aus dem We­sten, wie ein Trapper auf Besuch, und aus dem wilden Westen oder aus dem fremden Blute: Negern, Juden, Deutschen: wird sich das Blut Amerikas erneuern, um wie­der Dichter zu zeugen wie Poe und Whitman.

SKANDINAVIEN

Dem Naturalismus und seinem Gegenpol, dem Ästhetizismus, bereitete der Däne Georg Brandes mit seinen „Hauptströmungen der Literatur des neunzehnten Jahr­hunderts“ den Weg.

Aber über allen Problemen steht dem Skandinavier eins: seine Verwachsenheit mit der nordischen Natur und Mythe. In Holger Drachmanns See- und Strandgeschichten rauscht das Meer. Und selbst in Venedig erscheint ihm eine nordische Märchengestalt. Jens Peter Jacobsen (1847—1885) kommt vom Darwinismus her und versucht naturwissenschaftlich-methodisch vorzugehen in seinen Novellen. Da er ein großer Dichter ist, gelingt ihm das Gott sei Dank nicht, und die Novellen werden Meister­werke trotz der Methode („Mogens“). Die Romane „Frau Marie Grubbe“ und „Niels Lyhne“ zeigen seine nervöse Hand und seine überempfindliche Sensibilität. Niels Lyhne, der Flackernde, Verflackernde, Passivistische ist ganz ein Mensch der Zeit, die nicht mehr lebt, sondern ge­lebt wird. Sein Buch ist eine der süßesten Früchte vom Baum des Verfalles. Er war lungenkrank. Man müsste ein­mal eine Literaturgeschichte der Schwindsüchtigen schrei­ben. Diese konstitutionelle Krankheit hat die Eigenschaft, die von ihr Befallenen seelisch zu ändern. Sie tragen das Kainsmal der nach innen gewandten Leidenschaft, die Lunge und Herz zerfrisst. Auch Herman Bang (1857 bis 1912) gehört zu ihnen, der, aus einem hoffnungslosen Ge­schlecht, im Grauen Haus auf der Insel der Verfluchten lebt, während Henrik Pontoppidan mit seinen Roma­nen auf festem Boden steht. Gustav Wied macht spaßige Geschichten und rechnet den Menschen vor, wie sie Seelen multiplizieren: 2X2 = 5. Peter Nansen erzählt merkwürdige Ehegeschichten, Holger Drachmann Dinge aus der Welt der Wirklichkeit und der Welt des Märchens. Bei Martin Andersen-Nexö kämpft in dem Viehhüter und Arbeiter Pelle, dem Eroberer, das Individuum gegen eine sozial überlegene Klasse. Aus diesem Elend flieht Laurids Bruun zur paradiesischen Einfalt und seligen Ruhe auf die „Insel der Verheißung“. Johannes V. Jensen beschwört die Eiszeit („Der Gletscher“) und die ersten und letzten Menschen und Mythen. Aage Madelung schildert die Judenpogrome in den „Gezeichneten“. Emil Rasmussen sammelt die Grönländer Märchen, die Märchen der arktischen Dämmerung, des Eises, der mona­telangen Nacht, die Märchen, die nur an das Böse glauben, weil die grönländische Natur stärker ist als der Mensch, der sie bewohnt. Und diese Menschen lächeln dennoch, noch während man sie foltert, wie „die kleine Frohe“. Harald Bergstedt lässt in „Alexandersen“ einen armen Dorfschneider auf einem Zaubermantel in die Welt fliegen, aus der er, nachdem er von jedem Erlebnis gekostet, an­geekelt in die Heimat zurückkehrt. Carl Gjellerup (185 7—1919), der Nobelpreisträger, ist durch den Buddha­roman „Der Pilger Kamanita“ in Deutschland bekannt geworden, Sophus Michaelis durch sein Bravourstück „Revolutionshochzeit“. Svend Fleuron schreibt die schönsten Tiergeschichten, Anker Larsen stille und tiefe Weltanschauungsromane („Stein der Weisen“). Is­ländische Dichter von heute sind Gunnar Gunnarsson, „der Einfältige“, und Bjarni Jonsson fra Vogi, der 1920 Goethes Faust ins Isländische übertrug.

Gottfried Keller
Conrad Ferdinand Meyer
Hamsun

Die Schläfer läutet August Strindberg (* Stockholm, 1849, f 1912) unsanft aus dem Traum. Es brennt! Es brennt! schreit er. Ich brenne 1 Ich brenne 1 Er brennt wie einer jener ersten Christen in den Gärten Neros: eine leben­dige Fackel. Sein Gewissen ist wie ein Seismograph: es verzeichnet die feinsten Erschütterungen. Er leidet nicht nur an sich: er leidet an der Menschheit, an Gott, dem Teu­fel, dem Weibe, am Protoplasma, an der Urzelle. Er hat die Qual des Zusammenlebens, Zusammenleben-müssens zwischen Mann und Frau wie keiner gestaltet, die Tragö­die der Kleinigkeiten und Kleinlichkeiten („Totentanz“). Wie Sträflinge aneinander gekettet gehen sie durch das Leben („Advent“, „Gespenstersonate“). Gespenster sind alle Menschen, über die zuweilen ein wirklicher Mensch wie eine Blüte aufblüht, um in der Stickluft zu verwelken. Alle tragen trübe Schuld, die sich wie eine Krankheit fort­erbt oder ansteckt: Geiz, Bosheit, Herrschsucht (der Alte in der „Gespenstersonate“), Sinnlichkeit (Fräulein Julie). Er geht endlich seinen Weg nach Damaskus: der Zweifler lernt wieder glauben. Er schreibt das „Inferno“. Sein voll­endetstes Kunstwerk ist das „Traumspiel“, in dem Indras Tochter herniedersteigt, das leidvolle Leben einer Frau zu träumen, zu erleben: das schönste der zahllosen Traum­spiele der Weltliteratur.

Gegenspieler Strindbergs sind der sanfte, versöhnliche Gustav af Geijerstam, kein wilder Hasser wie Strindberg, ein sanfter Liebender („Buch vom Brüderchen“), und Verner af Heidenstam (*1859), der Dichter der Epen „Hans Alienus“ und des Romans „Karl der Zwölfte und seine Krieger“. Per Hallström schreibt Romane und Novellen: aus dem Dunkel in den Tag verirrte Nacht­vögel. Selma Lagerlöf (* 1858) ist Schwedens größte Dichterin. Sie hat im „Gösta Berling“, den sie mit Recht eine „Saga“ nennt, ein schwedisches Volksepos geschaf­fen, das die Jahrhunderte überdauern wird. Gösta Berling, Pfarrer und Kavalier, Träumer und Täter, trägt die Züge Bellmans und Tegners und Almquists. Es ist Schwedens Seele. Selma Lagerlöfs letztes Werk ist eine Biographie des populärsten finnischen, schwedisch schreibenden Dichters Zachris Topelius (1818—1898). Sigfrid Siwertz schreibt die schwedischen Buddenbrooks: „Seelambs, die Geldjäger“. Adolf Johansson gibt sein Bestes im Landschaftsroman („Alrauntal-Saga“). Frank Heller hat amüsante Gaunergeschichten veröffentlicht, Detektiv­romane, neuerdings mit psychoanalytischem Einschlag.

Gustav Fröding (1860—1911), ein Bruder Bellmans, ist Schwedens großer Lyriker. Der Expressionist Pär Lagerquist beschwört „das ewige Lächeln“, das Rasmussen schon in Grönland aufzeigte. Die Menschen su­chen Gott und finden ihn in einem alten Holzhauer.

Der norwegische Pfarrerssohn Björnstjerne Björn­son (1832—1910) begann mit Dorfgeschichten („Arne“) und Dramen, die in alten Sagen („König Sigurd“) wur­zeln. Allmählich wächst er ins Europäische hinein: seine bekanntesten Dramen „Fallissement“, „Die Neuvermähl­ten“ haben nichts typisch Norwegisches mehr. Er wird zum Agitator aller möglichen politischen, religiösen, sittlichen Ideen. Vielleicht ist er als Künstler am reinsten in lyrischen und balladischen Gedichten, wie in Niels Finn, dem Schneeschuhläufer, der im Schnee versinkt.

Europäisch nicht nur in der Stimmung, sondern in der Wirkung waren die Dramen Henrik Ibsens (1828 bis 1906), der das dramatische Handwerk als Theaterdichter von Bergen lernte. Er hat drei Jahrzehnte die Bühne des Kontinents beherrscht mit der „Wildente“, den tragisch sein sollenden „Gespenstern“, die in der Vererbungstheorie wurzeln. Wir haben als Sekundaner Ibsen geliebt, seinen Baumeister Solneß, der in den Himmel hineinbaut, den Volksfreund, die „unverstandene Frau“ Nora und die exzentrische Hedda Gabler. Jetzt aber will es uns dünken, als seien alle seine Symbole etwas billig geworden, und nur der nordische Faust, der „Brand“, der „Peer Gynt“, und seine letzten Dramen „John Gabriel Borkmann“ und „Wenn wir Toten erwachen“ sprechen noch zu uns. Die Probleme, die Ibsen behandelt, sind uns keine Probleme mehr. Sie kommen zu sehr von außen an den Menschen heran, sind Raben, die ihn umfliegen. Warum scheucht er sie nicht weg, ehe sie ihm die Augen aushacken ? Raben pflegen doch nur an Aas zu gehen. Die unsichtbaren Gespenster, die in uns wohnen, sind unsere Gespenster, unsere Probleme geworden. Alles andere ist „Humbug“, um mit Knut Hamsuns (* 1860) Nagel zu reden, dem Helden seiner „Mysterien“, in dessen Seele „es umgeht“ und der zugrunde geht wie ein tropischer, in kaltes Klima verpflanzter Baum. Er versinkt im Fjord, während am Ufer grinsend Minutte, dem er geholfen hat, ihn versinken sieht, ohne zu helfen, und die geliebten Frauen den Blick von ihm, dem sonderbaren Barbaren, wenden.

„Viktoria“, „Pan“ „Stadt Segelfoß“, „Segen der Erde“, „Das letzte Kapitel“, „Landstreicher“, „August Weltumsegler“ — ich müsste alle Bücher Hamsuns aufzählen, und ihr müsst sie auch alle lesen. Es gibt nichts, was beglücken­der wäre.

Knut Hamsun hat moderne Mythen, moderne Mysterien geschrieben. Die Götter der Vorzeit wandeln wieder unter uns und haben sonderbare Namen, wie Leutnant Glahn. Hamsun verachtet jede Autorität, er verachtet Ibsen, Tol­stoi — ja: sich selbst, soweit er zur Erstarrung neigt. Aber er ist jung, jung wie kein anderer Mann seiner Jahre. Euro­pas Jugend jubelt ihm zu. Noch lebt der alte, der junge Pan. Mit seiner Flöte geht er uns voran durch den Wald. — Er ist alles in einer Gestalt: Holzhauer und Heros, Werft­arbeiter, Kabeljaufänger, Straßenbahnschaffner und lieber Gott. Er hat gehungert wie der ärmste Proletarier und schrieb die Monographie des Hungers. Trotz alledem liegt Segen auf der Erde. Aus den einfachsten Dingen, die er sagt, brechen tausend Hintergründe. Er tut nicht geheim­nisvoll, er ist aller Geheimnisse voll. Das Sein an sich ist der Mythos. „Und zuweilen seh ich das Gras an, und das Gras sieht mich vielleicht wieder an, was wissen wir ? Ich sehe einen einzelnen Grashalm an, er zittert vielleicht ein wenig; und mich dünkt; das ist etwas, ich denke bei mir: hier steht nun dieser Grashalm und zittert. Aber zuweilen treffe ich auch Menschen auf den Höhen, das kommt vor.“ Auf seiner Höhe wird Hamsun wenig Menschen begegnen.

In des Halblappen Jonas Lie Romanen werden alte Spukgeister lebendig. Hans Jäger gibt nach der „Christianiaboheme“ die bis zur Brutalität ehrliche Monographie seiner selbst in „Kranke Liebe“. Ein Ironiker ist Alexan­der Kielland, ein zarter Melancholiker Sigbjörn Obst­felder („Das Kreuz“). Von Johan Bojer ist der kleine Abenteurerroman „Der Gefangene sang“ und das grandiose Buch „Der große Hunger“. Ein Werk, das seinen Erfolg verdient hat, ist „Kristin Lavranstochter“ von Sigrid Undset: kraftvoll komponiert wie ein mittelalterliches Epos und durchsichtig, rein und leuchtend wie Stifters „Nachsommer“.

Der Dramatiker Gunnar Heiberg und der Lyriker Herman Wildenwey mögen Norwegens Kreis runden.

Sowjetrussland

Im neuen Russland ist die Bibel ein verbotenes Buch. Das ist ein Paradoxon, das vieles erklärt. Die altrussischen religiösen Tendenzen nehmen auch im Bolschewismus einen breiten Raum ein. Der Marxismus wandelt sich unverhofft zu einem Neuchristentum, wie er vom Urchristentum her­kam. Aber eine Zensur, strenger als in den Tagen der In­quisition, herrscht. Approbiert wird nur, was den ortho­doxen Meinungen des Bolschewismus entspricht. Alte oder neue Richtung, in anderen Ländern ein Stilunterschied, ist für russische Dichter ein Unterschied des politischen Glau­bens. Dem Inhalt nach nähern sich die Bücher der beiden Bekenntnisse oft so sehr, dass man aus bolschewistischen Büchern Anklagen gegen Sowjet herauszulesen glaubt und dass umgekehrt Werke ziemlich konservativ gerichteter Autoren als revolutionäre Kunst gelten.

Der Ukrainer Korolenko, der der zaristischen Gene­ration angehört, erzählt die ebenso idyllische wie triste „Geschichte eines Zeitgenossen“. Mereschkowski ist ein Nationalist und Gegner des Bolschewismus. Um Kus-min bildet sich ein Kreis französierter Jünger. Valeri Brjussow ist der Hans Heinz Ewers der Russen. Ossip Dymow legt wie ein Chirurg die Schmerzen des Knaben Wlaß bloß. Wie er ist Fjodor Sologub ein zarter Analytiker der Kinderseele und ein melancholisch-ironischer Dichter zoologischer und politischer Fabeln. War einmal so ein frohgemuter Toter — so erzählt Sologub —, der spa­ziert durch das Gras, zeigt die Zähne und feixt sich eins. Die anderen Toten tadeln ihn, wollen ihn zur Ruhe bringen, sagen: „Solltest schön stille liegen, auf das Jüngste Gericht warten, — solltest liegen, über deine Sünden nachdenken.“ Und er sagt: ,, Warum sollte ich liegen — ich fürchte nichts.“ Man sagt ihm: „Alles, was du auf Erden gesündigt hast, all dies wird unter­sucht werden, und du wirst in den Tartarus kommen, in die höl­lische Unterwelt, in die feurige Hölle, in Märtyrerqualen, auf alle Ewigkeit, — dort wird siedendes Pech brodeln, unlöschbares Feuer flammen, und die Dämonen, die schrecklichen Geister, werden sich an unseren Qualen ergötzen.“ Aber der frohgemute Tote lacht sich ins Fäustchen: „Damit“ — sagt er — „könnt ihr mich nicht schrecken. Das kenne ich — ich bin ja Russe…“

Iwan Schmeljow hat Sologubs Art in seinen allegori­schen Romanen; originell, wenn auch von Dostojewski beeinflusst, ist er in dem rührenden Buch „Der Kellner“. Mit den Mitteln der Tradition erzählt auch Leonid Leonow seine Bauern- und Kleinstadtromane und Alexei Remisow die Geschichte „Im blauen Felde“. Der Gegen­spieler der Bolschewisten, der frühere Terrorist und Kriegs­minister Boris Sawinkow schrieb unter dem Pseudonym Ropschin den Revolutionsroman von 1905 „Als war es nie gewesen…“

Die von den Bolschewikiki unterstützte Kunst war der Futurismus, wie ihm Gerasimoff, ein Zögling der pro­letarischen Dichterschule, in seinem Hymnus der Arbeit, und Majakowski huldigten, der die Ideen des Italieners Marinetti auf Russisch wiederholt und zur „Tötung“ von Puschkin, Raffael, Kant und anderen „Weißgardisten“ auf­fordert. Mihail Ssiwatschew schreibt einen bolsche­wistischen Tendenzroman „Der gelbe Teufel“. Der gegen­revolutionäre Pope predigt den Bauern vom Budikersohn Lenin und vom Juden Trotzki (wie man in Deutschland vom Budiker Ebert und vom Juden Rathenau predigt). „Da staunten die Bauern, dass in Russland, wo einst der heilige Zar geherrscht, heute zwei Männer regieren, von denen der eine früher in Berlin Schuhwichse verkauft, der andere Stiefel geputzt hat…“

Victor Panin sammelt in „Das zaristische Russland“ novellistische Aufsätze. „Die schwere Stunde“ und „Die Sühne“ sind Romane aus dem bolschewistischen Russland, aus einer Dorfkommune bei Moskau. Er ist An- und Vor­beter des „guten Menschen“ und glaubt an die Auferste­hung — hier auf Erden. Er wie Alexander Blok (1921 verhungert) beweisen, dass der Bolschewismus die russi­sche Dichtung nicht verschüttet hat, wie voreilige Kri­tiker bei uns behaupteten. Bloks Ballade der Zwölf ist keine „politische“ Dichtung. Kein Parteimanifest, das Stroh und Phrasen drischt. Keine leere Humanität. Kein Gerede von „Geist“, „Güte“, „Brüderlichkeit“ — Worte ohne Inhalt. Wie schwach glänzt Rubiners himmlisches Licht neben der rußigen Fackel, die Alexander Blok im nächtlich ver­schneiten, versoffenen und verhungerten Petersburg schwingt. Hier gibt es keine Propaganda für Pazifismus, Sozialismus, Bolschewismus. Hier ist ganz einfach das bol­schewistische Petersburg: mit seinen Rotgardisten, seinem Schneesturm, seinem ewigen Hunger: nach Brot und Licht.

  1. Babel ist vielleicht der Begabteste der ganzen jungen Generation. Seine Geschichten von Budjonnijs Reiter­armee und aus Odessa reichen aus einer erschütternden Wirklichkeit in das Reich der Legende hinüber. Fjodor Gladkow war der erste, der nicht den Krieg der Roten und Weißen, sondern den Aufbau in Sowjetrussland schil­derte („Zement“). Ilja Ehrenburg, ein barocker An­archist und Zyniker, schreibt das geniale Buch „Abenteuer des Julio Jurenito und seiner Jünger“.

Die Dichter werden zum Dienst am Aufbau des Sozialis­mus einberufen: jedes Gedicht sei anfeuernd oder tadelnd, jeder Roman schildere Teilausschnitte des vergesellschaf­teten Lebens, jedes Drama verherrliche die Revolution oder geißle mit Humor und Satire eingerissene Missstände. Die Literaten gehen in die Betriebe, um durch Anschauung Material zu sammeln, ja, die Betriebe beauftragen direkt solche „Spezialarbeiter für Literatur.“ Wir kennen z. B. Matwai Roesmans „Fischbein streckt die Waffen“:—die wirtschaftliche Entwicklung vom Kriegskommunismus über die Nep zum heutigen Kurs, Katajews „Quadratur des Kreises“: — Wohnungsnot, Tretjakows „Brülle China“: —Propaganda des Aufstandes. Propaganda — das ist das Ziel, dem die Schriftsteller mit den verschiedensten Techniken zustreben. (Darunter viele Deutsche.)

Kaum der epischen Kunst beizurechnen sind das schon wieder veraltete Frauenbuch von Kollontay „Wege der Liebe“, das gegen die heutige Moral Stellung nimmt, und Panferows romanhafter Bericht vom Kampfe des Kulak gegen den Sowjet („Die Genossenschaft der Tauge­nichtse“).

DEUTSCHLAND

Otto Ludwig und Theodor Fontane im Erzählerischen, Hebbel und Anzengruber im Dramatischen, Leuthold im Lyrischen, sind die Vorläufer und Fanfarenbläser der Be­wegung, die man als die naturalistische bezeichnet hat. Es ist zu bemerken, daß Naturalismus, Impressionismus, Ex­pressionismus, Futurismus nur Hilfsworte sind, um Be­griffen und Bewegungen, Ideen und Wallungen beizu­kommen. Wo der Ismus aufhört, da fängt der Dichter erst an, denn letzten Grundes macht die Einzelseele, nicht die Massenpsyche oder -psychose erst den Dichter zum Dich­ter. Jeder Mensch hat eine bestimmte seelische Richtung, in der er läuft, und wer in derselben Richtung geht, den begrüßt er als seinen Weggenossen mit besonderer Herz­lichkeit. Nun gibt es aber viele Wege. Viele Wege führen nach Rom: ins Heiligtum der Kunst, in den Tempel des Gottes. Es ist Überheblichkeit, den Weg, den ein anderer geht, von vornherein als falsch zu bezeichnen und Hohn und Gelächter ihm nachzurufen. Als Maßstab der Kritik darf nur die Qualität gelten: der Zusammenhang des rela­tiven mit dem absoluten Prinzip.

Gerhart Hauptmann

Was wollte der Naturalismus? Er entstand als kraftvolle Bewegung gegen die unwahre und unechte Kunst, die Afterkunst, wie sie seit 1870 in Deutschland herrschend geworden war. Er lehnte allen Historismus, alle ideali­sierende Stilisierung ab: wollte nur lebenswahr sein und forderte an Stelle einer Verhüllung der Natur ihre Ent­schleierung bis zur letzten Nacktheit. Er wollte die Natur abschreiben, die natürlichen Dinge natürlich darstellen. Wenn der Naturalismus die Imitation der Natur vielfach zur These erhob, so beging er natürlich a priori einen Denkfehler. Eine Nachahmung der Natur kann es nicht geben: immer tritt ja der Gestaltende mit einem subjek­tiven Willen an sie heran. Einzig der Buddha, der völlig Objektivierte, könnte auch ein vollkommener Naturalist sein: aber er würde es wiederum nicht sein, weil ihm der Wille zur Gestaltung von vornherein abgeht. Er will nichts. Der naturalistische Dichter aber wollte doch etwas: nämlich die Natur darstellen. Wo ein persönlicher Wille ist, ist schon ein persönlicher Stil. So ist denn als ästheti­sches Gesetz nur eine Spielart des Naturalismus: der Im­pressionismus zu diskutieren. Der Impressionismus will, dass die Seele wie eine Braut sich hinlagere, damit die Natur hebend einströme mit Fluss und Wolke, Stern und Falter. Der Expressionismus, die Gegenbewegung gegen den Impressionismus, fordert programmatisch: schleudere deine Seele aus dir heraus in die weite Welt, hinauf in den hohen Himmel: so erst wirst du ganz wahr sein. Der Im­pressionismus predigt die Wahrheit des Seins, der Expres­sionismus die Wahrheit der Seele. Es ist klar, dass auf einer höheren Ebene diese Forderungen sich in einem Schnitt­punkt berühren: da, wo Sein und Seele, Erde und Himmel eins geworden sind. Im Formalen äußert sich der Gegen­satz der beiden Strömungen derart: beim Impressionismus: Analyse des Geistes, Synthese der Form. Beim Expressio­nismus: Synthese des Geistes, Analyse der Form.

Die Naturalisten waren für Deutschland die Entdecker des Proletariats als „Gegenstand“ der dichterischen Be­trachtung : da ihrer Betrachtung ja auch das Niederste und Unterste wert erschien. Aber der Proletarier, der arme Mensch, der ärmste Mensch, blieb ihnen eben doch nur „Gegenstand“. Erst die politischen und expressionistischen Dichter der jüngsten Generation haben den entscheiden­den Schritt vollzogen, indem sie sich mit dem Proletarier identifizierten. Die proletarische Lyrik der Henckell (ge­boren 1864), Mackay (geboren 1864) — Mackays Ro­man „Der Schwimmer“ ist eine der besten Prosaleistungen des Naturalismus — usw. wirkt denn auch ziemlich zahm bürgerlich. In Arno Holz (aus Rastenburg, 1863—1929) „Buch der Zeit“ klingt sie kräftiger. Dessen eigentliche Bedeutung liegt aber nicht darin, sondern in seinem roman­tischen Buche „Phantasus“, mit dem er zwar keine Revolu­tion der Lyrik, wie er meinte, eingeleitet und eingeläutet hat, aber die wesentliche Stimme seiner eigenen Lyrik fand.

Diejenigen, bei denen der Naturalismus ein totes Dog­ma wurde, sind, manche noch lebendigen Leibes, gestor­ben. Der lyrische Irrgarten und der mit kulturgeschicht­lichen Ambitionen gedüngte Prinz-Kuckuck-Roman, die Otto Halbe bestes Werk ist eine kleine Novelle: Frau Meseck, die Geschichte einer uralten Frau, die nicht stirbt — ein ahasverisches Thema. Am Leben blieb der unverwüstliche, kräftige Detlev von Liliencron (aus Kiel, 1844—1909), der lyrische Husar, der niederdeutsche Feuerreiter, der vom Naturalismus kam, aber bald mit seinem Pegasus im trefflichsten Galopp darüber hinweg setzte, den Jungen voran, von denen ihm doch nur wenige zu folgen ver­mochten. Otto Julius Hartleben hat ein paar schöne Strophen hinterlassen.

Vom Naturalismus kam, ihn überflügelnd mit silbernen Flügeln: Gerhart Hauptmann (geboren 1862 in Salz­brunn). Wie ein Baum zieht er seine Säfte aus der schlesischen Erde, aber seine Krone ragt in den Himmel, und sein Gezweig überschattet hundert Naturalisten. Mit der Weißglut seines Willens hat er die naturalistische Theorie durchschmolzen. Keine konstruierten Maschinen, keine Homunkulusse durchwandeln die Welt seines Dramas: Menschen voll Blut und Sehnsucht, arme, elende Menschen, geprügelt wie Hunde von der Peitsche des Schicksals, hungernd und frierend, hungernd nach Brot und Licht, frierend an den kalten, steinernen Herzen der Mitmenschen, Menschen, die in einer ewigen Dämmerung „vor Sonnen­aufgang“ leben, „einsame Menschen“, zu denen selten ge­nug der Ton der „versunkenen Glocke“ herauftönt, Men­schen, die einzeln nicht leben dürfen wie die schlesischen Weber, die ein Klumpen blutendes, zuckendes Stück Fleisch sind, Menschen, die fried- und ruhelos das Laby­rinth des Daseins durchirren, bis eine sanfte Frau auch mit ihnen einmal das „Friedensfest“ feiert. Wie sind die zu be­neiden, die, wie Hannele, so früh von dieser schmutzigen Erde zum Himmel fahren dürfen! Dass sie Kinder bekom­men, zeugen und gebären — wie furchtbar! Wer will den ersten Stein auf „Rose Bernd“ werfen? Wer stürzt nicht weinend in sich zusammen, wenn der brave, ehrliche „Fuhrmann Henschel“, zwischen Schuld und Unschuld schwankend, sich erhängt? Alle Gestalten Hauptmanns sind Narren in Christo, wie der religiöse Schwärmer Emanuel Quint, der im neu erwachenden religiösen und sek­tiererischen Leben der Zeit noch eine Rolle spielen wird. Neuerdings hat Gerhart Hauptmann Till Eulenspiegel durch das zerrüttete Deutschland ziehen lassen, in einem barocken, einem titanisch angelegten Epos.

In der plattdeutschen Lyrik exzellierte Klaus Groth (aus Dithmarschen, 1819—1899), der Dichter des „Quick­born“; in bodenständigen österreichischen Bauerndramen Ludwig Anzengruber (aus Wien, 1839—1889). Ein ins Älplerische übersetzter Fontane ist Peter Rosegger (aus der Steiermark, 1843—1918), dessen Dorfgeschichten und Schriften des Waldschulmeisters den Steirer poetisch realisieren. Der beste österreichische Dialektlyriker war Franz Stelzhammer, Adalbert Stifters Freund.

Das Jiddische ist eine Schwestersprache des Neuhoch­deutschen, das sich mit ihm parallel aus dem Mittelhoch­deutschen entwickelt hat. Es liegt ein schmerzlicher Ak­zent auf seinen Vokalen; das Ghetto seufzt darin, und der Humor, der sich darin findet, ist recht galgenhumo­ristisch.

Das ostjüdische Theater gründete Abraham Gold­faden 1877 in Jassy. Schalom Asch und Jizchok Perez sind seine markantesten Vertreter. Ein Haupttyp der ostjüdischen Komödie ist der närrische Batlen: eine Art Eulenspiegel, dessen Seele viele „Ichs“ hat: der im Bethaus den Frommen spielt, aber zu Hause sein Weib prügelt. Das Geisterspiel vom „Dybuk“ erschütterte mich wie selten ein westeuropäisches Drama jüngeren Datums.

Schalom Asch schrieb umfangreiche naturalistische Romane, die den Einfluss Tolstois verraten. Die legenden­haften Erzählungen von Perez dagegen kamen aus der Wunderwelt des Chassidismus. Diese mystische Strömung unter den Ostjuden begann, als Reaktion gegen die nüch­terne Härte des Talmud, um dieselbe Zeit wie der Pietis­mus bei den Protestanten. Und im Chassidismus trieb die jüdische Poesie ihre schönsten Blüten. Seine Propheten sind: Baalschem, der Einsiedler der Karpathen (+ um 1760), und Rabbi Jakob Jizchak (f in Lublin 1815). Um sie weben sich Sagen, die zu den tiefsten und schönsten aller Zeiten gehören. In diesen Rabbis ist das leidende Judentum des Ostens sanft, demütig, bescheiden gewor­den. Die Lehren, die der Rabbi von Lublin gibt, könnten auch von Laotse sein. Einer, dem der Rabbi mit der Geißel des Wortes über alle heimlichen Schwächen der Seele fuhr, unterbrach ihn aufbegehrend: „Rabbi, Ihr beschämt mich!‘ „Beschäme ich dich?“ sprach der Rabbi, „beschäme ich dich, so muss ich dich um Vergebung bitten…“

Ein Wort hier über das typisch Deutsche und typisch Jüdische in der heutigen deutschsprachlichen Dichtung. Wobei das eine gegen das andere nicht ausgespielt, son­dern nur klargestellt werden soll. Der Gott des natürlichen Wesens, der da ist in jedem Geschöpf, die wir seine Mani­festation darstellen wie der Baum oder der Stern oder der Regenwurm: der Gott der Unschuld, des reinen Schmerzes und der reinen Freude: das ist der deutsche Gott. Aber der jüdische Gott: das ist der Gott der Propheten des Alten Testaments und ihrer heutigen Nachfahren: der Gott der moralischen Forderung, der Strafe, Belohnung und Rache.

Die jüdischen Dichter wollen die Menschen ändern. Große germanische Dichter, wie Goethe und Shakespeare, neh­men den Menschen, wie er ist. Er wächst unter ihren Hän­den wie eine Blume, wie ein Stück Natur: er kommt aus dem Samenkorn, aus der Erde hervor, sprießt, blüht, welkt und stirbt ab, um dieses Spiel der Zeiten und Jahreszeiten, das einzige Spiel Gottes, immer neu zu beginnen. Die Quintessenz dieses Lebens liegt im Sein schlechthin, die jenes im Wollen. Der moralische Gott wirbt um Proselyten, er will nicht nur sich: er will vor allem auch die an­deren. Er ist herrschsüchtig. Der natürliche Gott will nur sich selbst: er spielt nur ein Beispiel. Er überzeugt. Der andere redet. Idee und Handlung können beim morali­schen Gott niemals eins werden. Er tritt mit Forderungen an die reale Welt heran, die sie nie erfüllen kann. Er steht außerhalb ihrer. Der andere: mittendrin.

Wie die Geibelperiode in Empfindelei und Süßlichkeit, so artete der Naturalismus schließlich in Krafthuberei, törichte Brutalität und Apotheose des Misthaufens aus. Süßigkeit des Wortes, Sinnlichkeit der Seele: die Schönheit verfiel dem Fluch der Lächerlichkeit. Es ist das Verdienst von Friedrich Nietzsche und Stefan George, das deutsche Wort in barbarischer Epoche bewahrt und in heiligen Hai­nen Anbetung und Weihrauch der tönenden Gottheit dar­gebracht zu haben. Friedrich Nietzsche (1844—1900) ist mit der musikalischen und rhythmischen Prosa seines „Zarathustra“ der Lehrmeister der jungen und jüngsten Dichtung geworden. Als Lyriker gehört er zu den edelsten deutschen Lyrikern. „Frei“ war Nietzsches Kunst ge­heißen, „fröhlich“ seine Wissenschaft. Trotz der philo­sophischen Akzente, die auf seinen Gedichten liegen, ist diese philosophische Betonung nur Vorwand. Lyrik an sich ist immer individualistisch- (überindividualistisch), menschlich-übermenschlich.

Raffen wir von jeder Blume
Eine Blüte uns zum Ruhme,
Und zwei Blätter noch zum Kranz!
Tanzen wir gleich Troubadouren
Zwischen Heiligen und Huren,
Zwischen Gott und Welt den Tanz.

Als er zu Zarathustra wurde, sang er sein „trunkenes Lied“:

O Mensch! Gib acht!
Was spricht die tiefe Mitternacht ?
Ich schlief, ich schlief, —
Aus tiefem Traum bin ich erwacht l
Die Welt ist tief
Und tiefer als der Tag gedacht.
Tief ist ihr Weh —,
Lust — tiefer noch als Herzeleid!
Weh spricht: Vergeh!
Doch alle Lust will Ewigkeit —
Will tiefe, tiefe Ewigkeit!

Alle seine Lieder sind trunkene Lieder: Ob er sie singt in Venedigs brauner Nacht an der Rialtobrücke oder sie von San Marco gleich Taubenschwärmen ins Blau hinauf­ sendet und wieder zurücklockt, ihnen noch einen Reim ins Gefieder zu hängen; oder ob in Sils Maria ihn, der wartend sitzt, ganz nur Spiel, ganz See, ganz Mittag, ganz Zeit ohne Ziel, der Schatten Zarathustras grüßt; ob im Herbst, in der Ebene, die ersten grauen Krähen ihn über­fliegen und ihn mahnen, dass der Winter naht.

Aus unbekannten Mündern bläst’s mich an;
— Die große Kühle kommt..,

Er wurde einsam. Immer einsamer. Und alle seine Lieder sang er schließlich nur noch sich selber zu, „damit er seine letzte Einsamkeit ertrüge“.

Hoch wuchs ich über Mensch und Tier;
Und sprech ich — niemand spricht zu mir.

War die Natur Nietzsches eine Kreuzung aus Dionysos und Ahasver, die trotz aller Schmerzen die Ewigkeit, zu der sie verdammt war, lieben musste, eine wilde, tobende Natur, die lieber brüllte als seufzte oder zwitscherte, — so ist Stefan George (geboren 1868 in Büdesheim), der strenge Priester der Gelassenheit und Gebundenheit, der Verkünder asketischer Lüste, maß- und zuchtvoll. Auch er verkündet wie Nietzsche eine Kunst, die jenseits von Gut und Böse wirkt; er steht den moralischen Forderun­gen eines Teiles der jungen Generation ferner als fern.

„Du sprichst mir nicht von sünde oder sitte.“

In einem seiner ersten Gedichte versteigt er sich bis zur Apothese der Ausschweifung: im Heliogabal. Aber immer reiner klärt sich seine Welt: bis das Jahr der Seele herrlich sichtbar wird, der Teppich des Lebens sich vor ihm breitet, der Engel ihm den Weg weist und der Stern des Bundes magisch erblinkt.

Ihr sprecht von wonnen die ich nicht begehre
In mir die liebe schlägt für meinen Herrn
Ihr kennt allein die süße die ich hehre
Ich lebe meinem hehren Herrn…

… Ich weiß in dunkle Lande führt die reise
Wo viele starben, doch mit meinem Herrn
Trotz ich gefahren, denn mein Herr ist weise
Ich traue meinem weisen Herrn.

Und wenn er allen lohnes mich entblößte
Mein lohn ist in den blicken meines Herrn.
Sind andre reicher: ist mein Herr der größte
Ich folge meinem größten Herrn.

Nietzsche

Stefan George
Hofmannsthal

Stefan George begann als Fackelträger des reinen Wortes in einer Zeit, die das Wort verunreinigte und beschmutzte, er schritt fort und schreitet weiter als ein Flammenträger des reinen Sinnes in einer Zeit, die verschwelt und rauchig loht, die zu Baal und Beelzebub betet, die kein Sonnengold, nur ein Geldgold kennt, die alles „zweckmäßig“ einrichtet und als Ziel die Zweckmäßigkeit postuliert oder die Ziel­losigkeit an sich. Die geistige und moralische Begriffe ver­wechselt und ein politisches Parteiprogramm von Spinozas Ethik nicht zu unterscheiden vermag. Sie hat auch bei Ge­orge gebändigte Leidenschaft mit Temperamentlosigkeit, die Gebärde des echten Priesters mit den Tingeltangel­allüren ihrer geistigen Charlatane, die gekonnte Kunst mit gemachter Mache verwechselt. Sei’s. Die Weltgeschichte ist auch das Weltgedicht: einige der schönsten Strophen dieses Gedichtes hat Stefan George gesungen.

Dem Kreise Georges entstammen: der weinfrohe Karl Wolfskehl, der Übersetzer altdeutscher Dichtungen, mit seinem Drama „Saul“ und schönen Gedichten; die Ly­riker Leopold Baron Andrian, Karl Vollmoeller, der Dichter des Mirakels, Ludwig Klages, der ein Buch über den kosmogonischen Eros geschrieben hat, jetzt vor allem der Psychologie und Graphologie zugewandt ist, Friedrich Wolters, der Übersetzer mittelalterlicher Kirchen- und Minnelieder, Verfasser einer Monographie über Melchior Lechter, den Graphiker, und eines Werkes „Herrschaft und Dienst“, Friedrich Gundolf mit seinen Büchern über Shakespeare, Goethe, Kleist und George.

Eigene Wege geht Rudolf Borchardt in Vers und Prosa. Doch welchen ewigen Vorrat und welche vergäng­liche Beute er auch von seinen Rundgängen heimbringen mag, sein Weg scheint immer wieder in ein monumentales Seminar zurückzuführen.

Aus Georges Kreis sind als einzige Dichter von Rang Hugo von Hofmannsthal (Wien, 1874 bis 1929) und Rainer Maria Rilke (geb. in Prag 1875, gest. in Meuzot 1926) hervorgegangen. Hofmannsthal ist der Dichter be­zaubernder kleiner Versdramen („Der Tor und der Tod“, „Der Tod des Tizian“) und elegischer Versgebilde. Die Terzinen über die Vergänglichkeit sind das ins Moderne transponierte gryphiussche Sonett: Es ist alles eitel.

Noch spür‘ ich ihren Atem auf den Wangen:
Wie kann das sein, daß diese frühen Tage
Fort sind, für immer fort, und ganz vergangen?
Dies ist ein Ding, das keiner voll aussinnt,
Und viel zu grauenvoll, als daß man klage:
Daß alles gleitet und vorüberrinnt…

Hofmannsthal führt ein Skelett, das mit blühenden Ro­sen behängt ist, im Wappen. Rilke ist ein Mönch, der statt der grauen Kutte eine purpurrote trägt, die Seligkeit des Himmels liebt, aber die Freuden der Welt nicht verachtet. Im dämmrigen Kloster sich nach der besonnten Wiese, auf der heißen Wiese sich nach dem schattigen Kloster sehnt. Rilke baut als Werkmann als Laienbruder am Dom der deutschen Lyrik mit.

Werkleute sind wir: Knappen, Jünger, Meister,
Und bauen dich, du hohes Mittelschiff.
Und manchmal kommt ein ernster Hergereister,
Geht wie ein Glanz durch unsere hundert Geister,
Und zeigt uns gitternd einen neuen Griff.

Die „ernsten Hergereisten“, die der kommenden deut­schen Dichtergeneration die neuen Lieder lehrten, waren Nietzsche und George. Alfred Mombert (geboren 1872 in Karlsruhe) und Theodor Däubler (geboren 1876 in Triest) gehören zu den ersten, die sie lernten. Mombert schrieb metaphysische Dramen und Gedichte, Däubler das diesseitige Epos „Nordlicht“, eine Kosmogonie voll von Schwelgerei und Orgie des Wortes und des Reimes. Richard Dehmel (aus dem Spreewald, 1863—1920) hält sein Gesicht den romantischen Gestirnen zugewandt. Die goldene Kette der deutschen Lyrik ist ohne ihn nicht denk­bar. Er hat die Tradition der deutschen Lyrik über eine Zeit der Verfahrenheit und Traditionslosigkeit hinüber­gerettet. Er hat der deutschen Lyrik das Liebeslied neu ge­schenkt: Das dunkle Du, das dunkle Ich, die durch die Nacht sich suchen — und sich finden.

Horch, —: ein ferner Mund —.• vom Dom —:
Glockenchöre… Nacht… und Liebe.

Doch im grauenden Tage bekannte er:

Ich habe mit Inbrünsten jeder Art
Mich zwischen Gott und Tier herumgeschlagen.
Ich steh‘ und prüfe die bestandne Fahrt:
Nur Eine Inbrunst läßt sich treu ertragen: Zur ganzen Welt.

 Die Lyra von Max Dauthendey (1867—1918) ist ver­liebt und launisch, duftend, schwebend: wie Fliederblü­ten über einen Zaun hängen. Seine japanischen und in­dischen Geschichten schmecken wie exotische Früchte: Bananen und Nüsse. Börries von Münchhausen (*1874) setzte die Tradition von Strachwitz fort und zeichnete sich in der ritterlichen Ballade aus.

Zur Romantik neigt das Vagantentalent von Peter Hille. Beruf: Peripathetiker und sozialer Utopist. Ihm gelangen ein paar schöne Gedichte. Zum Beispiel „Waldes­stimme“:

Wie deine grüngoldnen Augen funkeln,
Wald, du moosiger Träumerl
Wie so versonnen deine Gedanken dunkeln,
Safts trottender Tagesversäumer,
Einsiedel, schwer von Leben!

Über der Wipfel Hin- und Wiederschweben:
Wies Atem holt
und näher kommt
und braust
Und weiter zieht
und stiller wird
und saust!

Über der Wipfel Hin- und Wiederschweben
Hoch oben steht ein ernster Ton,
Dem lauschten tausend Jahre schon
Und werden tausend Jahre lauschen.
Und immer dieses starke, donnerdunkle Rauschen.

Des Wilhelm von Scholz (aus Berlin, geb. 1874) Verse spiegeln sich wie Nymphen gern in dunklen Teichen, vom Walde überwuchert. Als Dramatiker gehört er der neuklassizistischen Richtung, deren Führer Paul Ernst ist. Aber seine Dramen sind nur angewandte Dramaturgie. Rudolf Alexander Schröders deutsche Oden haben den Klang der Gedichte aus Hölderlins Frühzeit.

Georg Trakl aus Salzburg (1887—1914) ist der Sän­ger der sanften Schwermut, des süßen Verzichtes, des vio­letten Unterganges, der Hölderlin unserer Zeit.

Erstorben ruhen wir unterm Holundergebüsch,
Schauen den grauen Möwen zu.
Da ich deine schmalen Hände nahm,
Schlugst du leise die runden Augen auf.
Dieses ist lange her.

Doch wenn dunkler Wohllaut
Die Seele heimsucht,
Erscheinst du Weiße in der Freude herbstlicher
Landschaft.

Alle Gedichte Trakls sind herbstliche Landschaften. Immer tönen leise im Rohr die dunkeln Flöten des Herb­stes. In Gottfried Benns (aus Mohrin, geb. 1885) Ge­dichten ist dies Ereignis geworden: Hirn wurde Herz, Geist wurde Fleisch. Benn steht für sich selbst und auf sich selbst: kein Werfel-, kein Whitmanjünger: ein Benn. Auch in seinen Novellen und Szenen.

Alfred Kerr (geb. 1867 in Breslau), als Kritiker ein Dichter, als Dichter ein Kritiker, hat einer ganzen lyrischen Generation das Gehen, die ersten Schritte bei­gebracht.

„Die Straßen komme ich entlang geweht“, sang Ernst Blaß, aber sein Weg führte in eine Herberge im klas­sischen Stil, wo er schlafen ging und nun im Traum Verse spricht, die wie Wiederholungen aus dem westöstlichen Divan klingen.

Der dämonische Naturbursche Georg Heym (aus Hirschberg, 1887—1912) machte dann mit der neuen Dich­tung Ernst. Er krempelte sich dazu die Hemdsärmel auf: wie ein Riese schritt er über die Dächer und zwischen den Straßen Berlins, und alles dies: Mensch, Trambahn, Mond, Spelunkenspuk war ihm wie Riesenspielzeug, die Stadt wurde ihm zur Landschaft, Berg wurde Haus. Er ertrank beim Eislauf, vierundzwanzigjährig, im Müggelsee. Das Grabgeleite gaben ihm Scharen „fortgeschrittener Lyri­ker“. Als Georg Heym in den Fluten versunken war, stieg aus den im Frühling getauten Wogen wie ein junger Meer­gott, prustend, dampfend in der Sonne, schreiend vor Lust am Licht: Franz Werfel (geboren in Prag 1890). Er verkündigte das Evangelium des schönen strahlenden Menschen, der jedem Wesen, auch dem ärmsten, brüder­lich zugewandt. Gewaltig schwingt sein religiöses Pathos. Er will einer der Propheten des neuen Bundes sein: des Bundes aller wahrhaft Menschlichen. Er kniet nieder, un­sagbar demütig und bußwillig, mit Unkraut noch und Schlamm fühlt er sein Herz erfüllt. Erst nachdem er sich selbst gerichtet, wächst er zum Richter der Menschheit. Er sank hin, er kniete hin, er weinte. Er lauschte, er horchte, er hörte, er diente. Erst sah er die Welt — und siehe, sie war schön —, da wurde er der Weltfreund. Dann sah er sich, und siehe, er war hässlich. Aber er war. Da nahm er sein Sein und trug es zu den anderen. Drei Reiche durch­wanderte er. Er wird in das vierte gelangen, das sie alle drei umfasst: das Reich der glückseligen Gerechtigkeit, der Reinheit und Einheit. Er wird über sich selbst „Ge­richtstag“ halten. Dann wird sein kriegerisches Wesen sich beruhigend lösen. Er wird zerrinnen und eine Welle sein, gekräuselt, entführt und gespült ins Meer der Voll­kommenheit und der Vollendung.

Als mich dein Dasein tränenwärts entrückte,
Und ich durch dich ins Unermessne schwärmte,
Erlebten diesen Tag nicht Abgehärmte,
Mühselig millionen Unterdrückte?

Als mich dein Wandeln an den Tod verzückte,
War um uns Arbeit und die Erde lärmte,
Und Leere gab es, gottlos Unerwärmte,
Es lebten und es starben Niebeglückte!

Da ich von ‚dir geschwellt war zum Entschweben,
So viele waren, die im Dumpfen stampften,
An Pulten schrumpften und vor Kesseln dampften.

Ihr Keuchenden auf Straßen und auf Flüssen!!
Gibt es kein Gleichgewicht in Welt und Leben,
Wie werd‘ ich diese Schuld befahlen müssen!?

Werfeis beide großen Romane seien hier nur dem Titel nach angeführt: „Verdi“, der Roman der Oper, und „Bar­bara oder die Frömmigkeit“, ein Roman aus Österreichs Kriegs- und Revolutionszeit. Seine besten Dramen sind „Bocksgesang“ und „Maximilian und Juarez“. Es würde schwer fallen, über diese Werke, die uns noch allzu nahe stehen, zu urteilen. Und es wäre nicht leicht zu sagen, wie weit der Virtuos in Werfel den Dichter verdrängt hat.

Im Gefolge Werfeis, des Propheten der Bruderliebe, wandeln unzählige junge Lyriker, weniger von der bron­zenen Glocke seiner lyrischen Form angetönt (er ist reinste Musik, Oboe, Flöte: sie sind meist nur Schellenträger und Trommler), als von seinem Pathos bezwungen. In der Form wenden sich viele mehr der Imitation des großen Amerikaners Walt Whitman zu, seinen breiten rollenden Rhythmen, die brausen wie die Wogen des Atlantischen Ozeans. Walt Whitman sang von seinem Buch: Camerado, dies ist kein Buch — wer dies anrührt, rührt einen Men­schen an 1 Dieses Motto sähen die jungen Dichter gern über alle ihre Bücher: ihre Dramen, Verse, romantischen Ro­mane gesetzt. Sie wollen vor allem Menschen sein. Und Menschen sein. Wir sind! Wir sind! jubeln sie emphatisch mit Werfel. Die Ekstase ist ein Kennzeichen ihres Wollens. Von ihr sind die Formen so zerrissen, zerhackt, im Winde flatternd. Oft opfern sie das Dichterische, auf Kosten des Moralischen. Ihre Empfindung ist vielfach keine indivi­duelle mehr: ihr Erlebnis ist schon zum Kollektiverlebnis geworden. Sie dichten nicht mehr — sondern der Stil dichtet für sie.

Johannes R. Becher ruft in seinen Gesängen „An Europa“ zur „Verbrüderung“. Es finden sich wundervolle einzelne Verse in seinen Büchern, die der sozialistischen Revolution dienen wollen, aber kaum ein vollendetes Ge­dicht. Der Wille zur These überschreit den Willen zur Form. Eine krampfhaft geschaffene neue Syntax ist noch keine neue Kunstform.

Erwartet du… die schwelgt oh Tausendbogen.
Wind fegt Palm-Inseln auf ein Ozeankleid.
Monds Glanzspirale feinst Turm-Haupt bezogen.
Wir Segler frei durch Enzian-Gründe weit…

Eines tut dem jungen Menschen vor allem not: die De­mut vor dem einfachen, lächerlichen, traurigen, erhabenen Da-sein. Heute fangen so viele junge Menschen an mit dem stereotypen, typischen Erlebnis von „Ideen“, die sie per­sönlich gar nicht erlebt haben, die sie sich anlesen, an­suchen, aufgaffen. Leben, leben und zum drittenmal: le­ben: das ist die Hauptsache. Nicht wie der Dichter Axel Martini in Thomas Manns „Königliche Hoheit“ das Leben den anderen überlassen und selber nur seinen Senf dazu geben: sondern leben wie Leutnant Glahn in Hamsuns „Pan“. Mit beiden Beinen auf der Erde stehen, denn sie hat, wie alle Sonnen, auch alle „Ideen“ schon in sich, die desto herrlicher emporblühen werden, je tiefer man in sie verwurzelt ist. Ein Mensch sein, dem die Nabelschnur, die ihn mit der Mutter Natur verbindet, noch nicht gerissen ist. Ein Mensch, der nicht in einer Schule der Weisheit auf­gezogen und mit geistigem Hochmut stinkend angefüllt ist. Ein Mensch, der natürlich geworden ist und natürlich wird. Ein Mensch, der Gott nicht übergolden und die Schöpfung nicht korrigieren will wie ein Lehrer in der Klippschule den dummen Schüler. Kein Genie in Anfüh­rungszeichen. Ein einfacher, von Gott und der Welt er­füllter Mensch. Ein Mensch, der liebt. Die meisten Men­schen leben nicht vorwärts ,wie ein Vogel fliegt: grade aus, sondern sie kriechen rückwärts wie Krebse. Sie leben von einem fiktiven Endziel her. — Ich habe keine Idee vom Leben? E s kommt aber nicht darauf an, eine Idee zu h a b e n, als vielmehr eine Idee zu sein.

Rilke

Es gibt Leute, die zwischen Zynismus und Sachlichkeit, zwischen Ironie und Humor nicht unterscheiden können. Die jüngste Dichtung hatte unter dieser Missdeutung ihrer Motive schwer zu leiden. Zynismus und Ironie sind immer Gesten einer Überheblichkeit: eines herrischen Über-den-Dingen-sein-wollens. Aber auch Diener haben zuweilen herrische Manieren (und sind doch keine Herren). Da man als Ding (an sich) gar nicht über den Dingen sein kann: bleiben solche Gefühle immer Ansätze, Stümpfe, Fragmente einer gewissen Verzweiflung. Humor hingegen und Sach­lichkeit … sind in den Dingen. Man will nicht mehr sein als man ist. Nicht aus Bescheidenheit, sondern aus Konzentra­tion (auf den Punkt, auf den es ankommt, nämlich: als Ich zu leben und als Ich zu leben). Humor — von humeur, Feuchtigkeit — weint vor Freude. Es gibt eine Romantik der Dinge. Zum Beispiel: man photographiert, aber es heißt die Bilder entwickeln. Das Soldatenlied z. B. ist: sachlich, humoristisch (nicht: zynisch, ironisch), dinglich, romantisch bedingt. Es kennt den Rausch — des Todes, der Liebe, des Weines. Aber in der Unendlichkeit der Kunst treffen sich die Parallelen. Melancholie und Humor werden eins: „Sie fochten bei Santa Lucia / und sind begraben ebenda“ oder: „Glori-glori-glori-gloria / Schön sind die Mädchen von Batavia“. Das Gloria oder Gloria Viktoria tönt in vielen Abgesängen. Am bekanntesten in dem Abgesang zu „Ich hatt‘ einen Kameraden“. Diese Dichtung begegnete bei literarhistorischen Kritikern großer Missach­tung. Professor Roethe hat die „Wertlosigkeit“ dieses „un­glückseligen Mischmasches betont, den er aber, weil ihn die Soldaten einmal so gern singen, ihnen immerhin gön­nen will. Professor Roethe war sehr liebenswürdig: aber ich finde, das Lied bedarf seiner Nachsicht nicht. Hand und Herz, das Vaterland, die Vögel, der Wald, die Heimat, das Wiedersehen — alle diese Dinge sind so einfach und so klar, und doch so gefühlt gesagt, dass der innere Rhythmus dieser Zeilen einen mit tödlicher Inbrunst niederreißt: Ab­schied … Abschied … Abschied … „Wer weiß, ob wir uns wiedersehen / Am grünen Strand der Spree“ fügten die Berliner Soldaten beim Ausmarsch dem Gloria Viktoria noch hinzu. Zwei Zeilen, die, wahrscheinlich aus einer Posse entnommen, in diesem Zusammenhing wie der In­begriff aller Dinge: Liebe und Tod klingen. Viele Strophen und Refrains sind logisch unfasslich. Aber wir wollen uns nicht von den Philologen weißmachen lassen: diese Verse seien aus Unbeholfenheit oder Ungeschicklichkeit so dun­kel — während sie es doch nicht unbewusst als Äquiva­lente der Seele sind in einer unbeschreiblichen Anmut. Die neue deutsche Lyrik und das Volkslied mit seinen auch gar nicht immer leicht verständlichen Intuitionen und Asso­ziationen sind (und wissen voneinander nicht) Geschwi­ster. Wie die Volkslieder des „Knaben Wunderhorn“ be­weisen auch viele Soldaten- und Marschlieder, ohne die musikalische Begleitung der Noten, ihre besondere Be­rechtigung als lyrisches und balladisches Kunstwerk des Wortes. Das Volkslied aber wird, allem tendenziösem und unangebrachtem Gejammer zum Trotz, immer wieder ge­boren und in unseren Tagen hebt die Jugendbewegung alte und viele neue Schätze ans und ins Licht.

Die Arbeiterdichter Lersch, Barthel und B r ö g e r ma­chen Ansätze zu einer neuen Volkslyrik, der Jakob Kneip in seinen Legenden am nächsten kommt. Es darf nicht verkannt werden: auch hier ist ein Weg. Das deut­sche Lied, die deutsche Legende, das deutsche Märchen werden wieder einmal auferstehen. Der Expressionismus wird verwesen. Eine neue Romantik, eine neue Klassik dämmern empor. Ganz in der Tradition der klassischen deutschen Lyrik wandeln der Bayer Hans Carossa, der Ostpreuße Albrecht Schaeffer (geb. 1885) — auf des­sen Romanwerk Helianth ebenfalls hingewiesen sei — und der Schwabe Bruno Frank (geb. 1887 in Stuttgart), der das Erbe Mörikes in guter, junger Hand hält und sich als Romancier von Kultur erwies. — Der Elsässer Ernst Stadler aus Colmar (1883—1914) hat die Musik im Leibe, vor der Alfred Wolfenstein in seinen schön gedachten Freundschaftsgedichten instinktiv davonläuft, nur, um nicht gefällig zu erscheinen. Ihm dünkte der schöne Klang schon Verführung zum Ungeist, Kompromiss mit den „Außen“. Ergo: Ein lyrischer Schrift- und Gedanken­setzer, ein Antilyriker. Der Rheinhesse Carl Zuckmayer schrieb klangvolle Gedichte. Der Österreicher Richard Billinger und der Norddeutsche Georg von der Vring gingen auf das Volkslied zurück, aber sie belebten es nicht wieder, sondern gebaren es neu.

Vorwärts in das schöne Licht
Geht die Stimme hold und schlicht,
Übern Wind, übern Teich,
Übern Stern, der erbleicht.

Vrings Stimme. Und Billinger besingt, wie sein Landsmann Trakl, den Herbstbeginn:

Der Hirte singt zum Abendstern.
Im Apfel bräunet sich der Kern.
Wipfelmüd die Bäume schweigen.
Nebel in die Wiesen steigen.
Beere sich an Beere hängt.
Zur Aster sich die Hummel drängt.
Der Kern aus reifer Pflaume quoll.
Ein Birnlein in der Faust mir schwoll.
Ich sauge mich ins Fruchtfleisch ein,
Die Wange heiß vom ersten Wein.

Christian Morgenstern (aus München, 18711915) schuf in seinen „Palmström“gedichten eine grotesk-philo­sophische Lyrik eigenster Prägung, die besonders dem menschlichen und vermenschlichten Tier zu Leib und Seele rückt. Da erscheint ein Steinochs, der sich von mensch­licher Gehirne Heu nährt. Aufschwärmt am Horizont er­grauter Kasernenhöfe der sagenhafte E. P. V. (auch Exer­zierplatzvogel genannt). Wir sind hoch und heiter be­glückt, dass es ihn und Palmströms und v. Korfs fundamen­tale Melancholie — immerhin — noch gibt. Schade, dass ich beim neuerlichen Quellenstudium für diese kleine Lite­raturgeschichte v. Korfs glänzende Erfindung nicht be­nutzen konnte, welcher, weil er schnell und viel lesen muss­te, eine Brille erfand,

deren Energien
ihm den Text zusammenziehn.
Beispielsweise dies Gedicht
läse, so bebrillt, man — nicht!
Dreiunddreißig seinesgleichen
gäben erst — ein Fragezeichen!

Thomas Mann
Unamuno

Palmström, der unbürgerliche Bürger, schwankt, von leichten Gedanken beschwert, wie ein Zweig im Winde; er ist immer ein wenig zart und zärtlich. Seine Muhme Palma Kunkel wackelt neben ihm her und sein Spiel- und Spiess­eselle v. Korf macht lange Schritte und freut sich, weil er «eben eine neue Art von Witzen erfunden hat,

die erst viele Stunden später wirken.
Jeder hört sie an mit langer Weile.
Doch als hätt ein Zünder still geglommen,
wird man nachts im Bette plötzlich munter,
selig lächelnd wie ein satter Säugling.

Die Dadaisten, Apologetiker des abstrakten Humbugs, sind Wilhelm Büschs, des genialen Malerdichters (1832 bis 1908), und Morgensterns missratene Nachfahren. Aber Morgenstern ist auch einer der ergreifendsten deutschen Lyriker:

Aus silbergrauen Gründen tritt
ein schlankes Reh
im winterlichen Wald
und prüft vorsichtig, Schritt für Schritt,
den reinen, kühlen, frischgefallnen Schnee —
Und deiner denk ich, zierlichste Gestalt.

Joachim Ringelnatz hebt aus der Tiefe seiner Seele, in der die Nebel von Bier- und Whiskyräuschen ziehen, pracht­voll groteske Kutteldaddeldugedichte ans Tageslicht. Mit größter Smartness nimmt sich dagegen in seinem „ameri­kanischen Liederbuch“: „Pep“ Lion Feuchtwanger „Gottes eigenes Land“ vor. Walter Mehring ist der Ver­fasser schmissiger Großstadtlieder, die an die gespensti­schen Karikaturen des Toulouse-Lautrec erinnern. Erich Kästner („Herz auf Taille“, „Lärm im Spiegel“, „Ein Mann gibt Auskunft“) und Klabund („Harfenjule“) ha­ben auch in dem zuweilen sehr aggressiven Chor mitgesungen, der über der Dialektik eines vielerfahrenen Hirnes doch das stark und ehrlich klopfende Herz nicht vergessen lässt. In diesem Zusammenhange wäre Kurt Tucholsky zu nennen, der Mann mit dem Mona-Lisa-Lächeln und den vier Pseudonymen, der die deutsche Dichterflöte links auf dem letzten Loch bläst. Der Propaganda-Lyriker der kommunistischen Jugend ist Erich Weinert. Kästner glaubt eine Entdeckung gemacht zu haben und verkündet in anspruchsvoller Bescheidenheit in einer den Krampf attackierenden „prosaischen Zwischenbemerkung“, es gebe wieder Lyriker, bemüht, das Gedicht am Leben zu erhalten, deren Verse das Publikum lesen und hören könne, ohne einzuschlafen, denn sie seien seelisch verwendbar. „Sie wurden im Umgang mit den Freuden und Schmerzen der Gegenwart notiert; und für jeden, der mit der Gegenwart geschäftlich zu tun hat, sind sie bestimmt… Es gibt wieder Verse, bei denen auch der literarisch unverdorbene Mensch Herzklopfen kriegt oder froh in die Stube lächelt. Es gibt wieder Lyriker, die wie natürliche Menschen empfinden und die Empfindungen (und Ansichten und Wünsche) in Stellvertretung ausdrücken. Und weil sie nicht nur für sich selbst und um ihrer Sechseroriginalität willen schreiben, finden sie inneren Anschluss.“

Glänzende Parodien schrieb Robert Neumann („Mit fremden Federn“). Vor ihm hatte schon Hanns von Gumppenberg „das teutsche Dichterroß“ in allen Gang­arten zugeritten. Ein geschickter Parodist, der Hanns Heinz Ewers, Dinter und Courths-Mahler gezaust hat, ist Hans Reimann.

Man hat Frank Wedekind (1864—1918) einen Bru­der und Genossen der Lenz, Büchner, Grabbe genannt.

Er hatte nicht die selbstverständliche Grazie dieser drei (die Grabbe auch im Grausigen bewies). Er war kein Kind der Natur. Die Natur war ihm in jeglicher Gestalt verhasst und widerwärtig. Vor einer schönen Landschaft erfasste ihn ein Brechreiz. Und er wurde erst wieder beruhigt, wenn er die Berge, etwa als ein liebendes Paar in Umarmung, drastisch definieren konnte. Er war ganz gewiss ein Eroto­mane, dessen moralische Komplexe sich bis zum exzes­siven Pathos steigern konnten. Er war ein genialer Spießer — mit umgekehrtem Vorzeichen. Ein erotischer Frömmler. Ein frömmelnder Erotiker. Flagellant, Sadist, Masochist aus religiöser Überzeugung. Ihm war das Weib die große Hure von Babylon und als solche immer an­betungswürdig. Er führte ein Tagebuch aller Zärtlichkei­ten, der sanften und der schrecklichen. Er führte dieses Tagebuch gewissenhaft wie ein Oberlehrer. Als Ober­lehrer (mit dem schlechten Gewissen des ehemaligen Schü­lers …) fühlt er sich auch seinen Geschöpfen gegenüber: einer Lulu, einer Franziska, die zu seiner Liebe, zu seinem Leben emporgepeitscht wurden — um sich dann an ihrem Lehrmeister aufs grausigste zu rächen. In der Verbohrtheit im Problematischen ist er Hebbel, in der Technik den Stürmern und Drängern verwandt: diese dramatische Technik der Einzelbilder, Einselszenen, wie sie „Frühlings­erwachen“ einführt, hat im deutschen Drama neuerdings Furore gemacht. Sein Kinderdrama „Frühlingserwachen“ wird bleiben, bleiben wird der „Marquis von Keith“, der letzte Akt von „Schloss Wetterstein“ und vor allem: „Lulu“. In ihr und in der kleinen Wendla hat er die natür­liche Dämonie des Weibes groß gestaltet. Es ist vielleicht kein Zufall, dass in den vorzüglichsten Dramen der Epoche Frauen im Mittelpunkt der tragischen und komischen Handlung stehen: die Lulu im „Erdgeist“, Hannele in „Hanneles Himmelfahrt“, die Wulffen im „Biberpelz“, Madame Legros (im gleichnamigen Drama von Heinrich Mann) —, der beweist, dass wir in einer romantischen Pe­riode leben: Lulu ist die Inkarnation der geschlechtlichen, Hannele die der kindlichen, Madame Legros die der mütter­lichen Liebe der Frau. Lulu will irdische Lust, Hannele himmlische Liebe, Madame Legros dies- und jenseitige Gerechtigkeit.

Man mag mit der Moral der Wedekind-Gestalten (nicht der Stücke — diese haben meistens keine) noch so wenig einverstanden sein, bewundern muss man die große Kunst, mit der seine Weltanschauung sich restlos in der Form konzentriert und auflöst. Von dem nach meiner Meinung schwächsten Stück von Wedekind, der Franziska, bleibt doch die Erinnerung an ihre schönen schlanken Beine.

Ethik der Form (Form ist auch ein Terminus des Sports!): darum sahen wir in Wedekind einen Führer.

Arthur Holitscher, glaube ich, war es, der vor einiger Zeit allerlei Mahn- und Klagerufe an die zwanzigjährige Jugend erließ. Sie sind ihm zu reif, zu abgeklärt, die Zwan­zigjährigen. Zu selbstsicher. Sie leiden ihm zu wenig. Sie wissen zu viel. Sie sind zu alt.

Was heißt das: Sie leiden zu wenig um ihre Ideen? Ich für mein Teil vermag nicht einzusehen, dass (beispiels­weise) eine törichte Idee dadurch besser wird, wenn man für sie leidet. Der Schmerz als Wertprinzip: (auf der Basis des Christentums fundiert) — wo kommen wir hin ? Wir Jungen sind eher (griechisch) geneigt, nicht den Schmerz, sondern das Glück als höchste Blüte der menschlichen Kul­tur anzusprechen. Wenn du den Baum betrachtest, sagt Plato irgendwo, fühlst du, dass er sich genießt? Wer glücklich ist, ist gut. Die jüngste Generation hat wieder den Willen zum Glück. (Den glücklichsten Tag und alle glücklichen Tage meines Lebens danke ich der Frau.) Nicht Welt­schmerz, wie ihn die Epoche um Heine und Schopenhauer und tiefer, verbissener der Naturalismus gebar. Diese   Weltfreundschaft   braucht   durchaus   nicht in einen milchweißen und rotbäckigen Hurra-Optimismus auszuarten. Auch der Pessimist (so lächerlich es klingt) kann glücklich sein. Er soll nur wirklich in der schlech­testen aller Welten leben. Auf das Leben kommt es an. Wir sind Realisten, indem wir die Kunst für eine zweite Wirklichkeit halten, in der nicht die Dinge, wohl aber (siehe Plato) die Ideen dieser Dinge leben. Wir leben nun in den Ideen, in den Abenteuern dieser Dinge, die wir „formen“. Die Lust am Abenteuer blüht wieder auf: als Reaktion gegen ein bürokratisches Regime und gegen ein maschinelles Zeitalter verstanden. In diesem Sinne sind die Reisen der vorigen Generation, der Hesse und Dauthendey, in den Orient zu begreifen. Es ist die Flucht vor der Metaphysik und Selbstzersetzung in die Physik auf­regend fremder Kulturen. Die Physik des Ich wird verkannt: verkant. Unpoetisch schildernde Reisebeschrei­bungen und Memoiren treten uns in ihrer ehrlichen Sach­lichkeit schon näher. Wir sind „selbstverständlich“ ge­worden, im Denken und Handeln. Wir kennen keinen Zwiespalt mehr zwischen Vernunft und Gefühl, zwischen Tat und Gedanke, zwischen Diesseits und Jenseits: Phantome, an denen Tausende junger Menschen von ehedem in nutzlosem Kampf verblutet sind.

Carl Sternheim zeichnet in seinen Dramen karikaturistische Bilder aus dem bürgerlichen Heldenleben: Streber, Schieber, sentimentale Kokotten, amusische Dichter, intellektuelle Schweinehunde, Auch- und Bauchsozialisten, n seinen Dramen wie in seinen Novellen holt er das letzte virtuos, aber ohne Herz, aus der Technik des Worts. Seine Geschichten laufen ab wie Maschinen. Er ist ein Ingenieur der Sprache. — Der „Denkspieler“ Georg Kaiser (geboren 1878 in Magdeburg) pflanzt sich ganz breitspurig und heutig vor uns hin. Teufel, ist das ein Le­ben, das sich da vor uns und um uns und in uns abspielt. Aktiengesellschaften werden gegründet aus Menschen­liebe, aus Bonhomie, mit Ewigkeitsansprüchen. Beim „Brand des Opernhauses“ entzünden sich alle Leidenschaf­ten. „Von morgens bis mitternachts“ rollt ein ganzes Le­ben ab via Bankinstitut, Freudenhaus, Park, Cafe, Heilsarmee, um in „Hölle, Weg, Erde“ sich als leere Leere, parodierte Form, Salonkommunistik zu entschleiern. Mit „Zwei Krawatten“ ist Kaiser bei der Revue gelandet („Man muss dem Menschen seine Chance lassen, denn seine Chance ist des Menschen Gott!“).

Wilhelm Schmidtbonn (geboren 1876) behandelte im „Grafen von Gleichen“ das Problem des Mannes zwi­schen zwei Frauen. Der erste Akt gehört zu den besten ersten Akten der deutschen Literatur. Sein „Wunder­baum“, ein Prosabuch, birgt viele Wunder. Herbert Eulenberg (geboren 1876 in Mülheim) bemalt seine dra­matischen Helden und Heldinnen blassrosa und blassblau. Sie gleiten schattenhaft durch eine romantische Kulissen­welt. Eduard Stucken (geboren 1865 in Moskau) be­schwört noch einmal Montsalvatsch und die Gralsritter in klingenden, mit Innenreimen geschmückten Versen. Seine Romantrilogie „Die weißen Götter“ ist ein Bauwerk von ehrfurchtgebietender Größe.

Georg Kaiser, Sternheim, Eulenberg geben in ihren Dramen allerlei indirekte Antworten auf direkte Fragen. Das sind alles Passionen, die sich da abspielen. Walter Hasenclever (geboren 1890) im „Sohn“ und Rene Schickele (aus dem Elsass, geboren 1883) in „Hans im Schnakenloch“ gehen zur Aktion, zur These, zur Forde­rung über. Nicht: so seid ihr! Sondern: so sollt ihr sein! So soll der Sohn gegen den Vater, der Mensch zwischen den Rassen sich entscheiden! Schickele hat auch ein paar bemerkenswerte Romane geschrieben. Hasenclevers „Antigone“, Unruhs „Ein Geschlecht“ sind ebenfalls program­matische Äußerungen gegen den Krieg, während Hasen­clever in seinem Drama „Menschen“ zur Romantik um­kehrt — den Weg, den noch alle Aktivisten werden schrei­ten müssen (Schickele beschritt ihn im „Glockenturm“) —, sich aber nach der anderen Seite purzelbaumartig über­schlägt und beim übelsten Text zum Filmdrama landet. Nach vielversprechenden Anfängen ist er nun glücklicher Lieferant für Hollywood geworden. Reinhard Goerings bestes Stück blieb „Die Seeschlacht“, die Tragödie von sieben todgeweihten Matrosen im Weltkrieg.

Paul Kornfelds „Verführung“ gehört zu den typi­schen, monologischen Dramen des jungen Menschen aus der expressionistischen Epoche. (Einige andere: Hanns Johst „Der junge Mensch“, Walter Hasenclever „Der Sohn“, Klabund „Die Nachtwandler“.) Es ist das Er­freulichste von ihnen. Das Problem „Vater und Sohn“ gestaltet eindrucksvoll in seinem gleichnamigen Fridericus-Drama auch Joachim v. d. Goltz. Bis zum „Vater­mord“ steigert es Arnolt Bronnen, der patriotische Autor des Romans „O. S.“ und des Schützengrabendramas „Katalaunische Schlacht“. Die Deutschen glauben immer, wenn sie irgendeine Bewegung theoretisch totgeschlagen haben (wie um 1900 den Naturalismus und dann den Ex­pressionismus), daß wieder einmal alles aus sei und dass man beruhigt zu Strickstrumpf und Gartenlaube, allenfalls noch zu Storm oder Liliencron, zurückkehren könne. Gott sei Dank gibt es immer wieder eine Jugend, die den Schlafmützen das Gegenteil beweist. Die Bewegung, die sich jetzt ankündigt, scheint mir mit dem Begriff roman­tischer Realismus einigermaßen deutlich umschrieben. Sie versucht aus naturalistischen und expressionistischen Ele­menten ein drittes, neues zu kristallisieren.

Es dünkt mich besonders typisch für diese Generation, dass sie alle Begriffe, Thesen, Manifeste der vorigen, all die Hymnen der Menschlichkeit über Bord geworfen hat und, unbeschwert vom Ballast, die neue Welt wie Columbus sucht. Die größte Hoffnung des jüngsten deutschen Dra­mas ist der Augsburger Bert Brecht, in dessen Dramen „Baal“, „Trommeln in der Nacht“, „Mann ist Mann“, ebenso wie in seinen Novellen und Gedichten die Flamme dieser Zeit infernalisch zuckt. In seiner „Dreigroschen­oper“ gibt es Verse von erhabener Banalität. Seine „Haus­postille“ enthält Lyrik zu täglichem Gebrauch, aber gott­lob keine „Gebrauchslyrik“.

Auf die Erde voller kaltem Wind
Kamt ihr alle als ein nacktes Kind.
Frierend lagt ihr ohne alle Hab,
Als ein Weib euch eine Windel gab.

Keiner schrie euch, ihr wart nicht begehrt
Und man holte euch nicht im Gefährt.
Hier auf Erden wart ihr unbekannt,
Als ein Mann euch einst nahm an der Hand.

Und die Welt, die ist euch gar nichts schuld,
Keiner hält euch, wenn ihr gehen wollt.
Vielen, Kinder, wart ihr vielleicht gleich.
Viele aber weinten über euch.

Von der Erde voller kaltem Wind
Geht ihr all bedeckt mit Schorf und Grind.
Fast ein jeder hat die Welt geliebt
Wenn man ihm zwei Hände Erde gibt.

Wedekind
Brecht

Ein Nachhall Wedekinds ist Peter Martin Lampel mit seinem Schülerdrama „Revolte im Erziehungshaus“, ein Zeitstück, das etwa ebenso wie Friedrich Wolfs „Paragraph 218″ Zwecktheater ist und auch nichts an­deres sein will.

Von Dramatikern der expressionistischen Generation wären noch zu nennen: Ernst Toller („Masse Mensch“), Ferdinand Bruckner („Krankheit der Jugend“, „Ver­brecher“, „Elisabeth von England“), Alexander von Lernet-Holenia („Demetrius“ und elegant-nichtige Lustspiele) und der routinierte Hans Jose Reh fisch, der es versteht, dem Theater zu geben, was des „The­aters“ ist, z. B. im „Duell am Lido“. Der völkischen Bühne zollt Fred  A.  Angermayer seinen Tribut in „Flieg, roter Adler von Tirol!“

Der bedeutendste Dichter unter den Dramatikern un­serer Zeit ist der Bildhauer Ernst Barlach (* 1870 in Wedel an der Elbe), ein gotischer Visionär in der Bühnen­dichtung „Die Sündflut“ und dem gespenstischen Spiel „Der tote Tag“. Ein religiöser Symbolist, der mit den Mitteln des Impressionismus und des Expressionismus arbeitet, ist Dietzenschmidt.

Katholisch gerichtete Dramatiker sind Reinhard Jo­annes Sorge („Der Bettler“, „König David“), Leo Weismantel, der auch einer unserer hoffnungsvollsten Erzähler ist, und Max Mell („Das Apostelspiel“ und sehr schöne Lyrik).

Der erfolgreichste Lustspieldichter unserer Tage ist Carl Zuckmayer. Er hat einen fröhlichen Weinberg auf die Bühne gepflanzt, und der deutsche Philister und der national belangvolle Kritiker wussten nicht recht, ob sie Beifall lachen oder sich verhöhnt fühlen sollten. Nun marschiert auch die Uniform des Hauptmanns von Köpenick über die Bühnen.

Vor einiger Zeit las ich in einer unserer bedeutendsten Zeitungen den Aufsatz eines gescheiten und viel beachteten Theaterkritikers: Man könne schon heute ein Theater machen mit einem Spielplan nur junger deutscher Au­toren ; und dann nannte er eine Reihe derjenigen, die ihm kunstpolitisch nahestehen oder in seinen Begriff vom Theater passen. Dass in diese Vorstellungen kein Mensch gehen würde außer dem üblichen Premierenpublikum, dass ein solches Theater bald pleite wäre — das kümmerte seinen kühnen Adlerflug nicht: Er hat sich ein Wunsch­bild vom Theater geschaffen: so sieht es aus. Nein, lieber Kritiker, so sehen Sie aus! Oder so siehst du aus, wie der Berliner sagt. Man missverstehe mich nicht, ich will keiner Reaktion das Wort reden. Ich fordere nur, dass man an das Problem des heutigen Theaters mit Vorsicht, Einsicht, Nachsicht herangehe. Ich liebe Brecht, ich schätze den dramatischen Instinkt Zuckmayers — das hat aber nichts mit der klaren Einsicht zu tun, dass mit solchen allein ein Theater heute nicht zu machen ist, wohlverstanden, nicht einmal das Theater des Mäcens. Denn diesem Theater würde das Publikum fehlen. Wir müssen uns ganz klar darüber sein, dass Theater eine Sache der Gemeinschaft und der Gesellschaft ist. Ein Lyriker schreibt aus sich für sich. Ein Dramatiker aus einer Idee der Gemeinschaft heraus für diese Gemeinschaft.

Gibt es in Deutschland überhaupt noch eine Gemein­schaft, aus der ein wirkliches und wahres Theater wachsen kann, wie aus der englischen Gesellschaft des elisabethanischen Zeitalters das große englische Drama, wie aus der griechischen Demokratie die griechische Tragödie, wie aus dem Rokoko das französische Lustspiel, aus der katho­lischen Gemeinschaft des deutschen Mittelalters das Mysterienspiel wuchs ? Es gibt keine Gemeinschaft mehr in Deutschland, nur eine Allgemeinheit. Krieg, sogenannte Revolution, Inflation und Deflation haben den bürgerlichen gebildeten Mittelstand, den Träger des Theatergedankens bis 1914, zerschlagen, zerschmettert und atomisiert. 1919, als mit dem Umschwung der Expressionismus hochkam, gab es noch einmal für ganz kurze Zeit ein Gemeinschafts­gefühl im Theater (obwohl diese Gemeinschaft schon klei­ner war als die bürgerliche Gemeinschaft, die Hauptmann, Sudermann, Fulda aus sich heraus für sich geschaffen hat­ten): damals siegte Tollers Wandlung, siegten Sternheim und Georg Kaiser. Was aber kam danach? Die Gesell­schaft war zerschlagen; und nun begannen die einzelnen Teile für sich, sich zu „sammeln“. Um die Volksbühne gruppierte sich die bildungsbeflissene Arbeiterschaft, Kleinbürgertum und versprengte Reste des ehemaligen Mittelstandes. Andere Kolonnen suchten beim christlich­nationalen Bühnenvolksbund Unterschlupf. Daneben warb das revolutionäre Proletariat für seinen Proletkult, die Völkischen erstrebten ein Nationaltheater. Das Amüsierpublikum erfand die Revue. Eine kleine Gruppe Intellektueller suchte den Weg der neuen Kunst. Resü­mieren wir kurz: Wir haben in Deutschland heute ein halbes Dutzend etwa gleichstarker divergierender Tenden­zen beim Theater. Wir haben kein Publikum, sondern Publikümer. Was dem einen recht ist, ist dem andern un­billig. Die Dramen, die heute geschrieben werden, treffen immer nur auf eine Schicht des Theaterpublikums, wäh­rend sie die anderen Schichten gar nicht berühren. Es gab nach dem Kriege nur zufällig Stücke, die alle Schichten gleichmäßig trafen, z. B. „Heilige Johanna“, während etwa der Erfolg von „Sechs Personen“ schon ein viel be­schränkterer war. Und Galsworthys „Gesellschaft“ hatte seinerzeit ihren riesigen Erfolg nur bei der Gesellschaft der Berliner und der Wiener, dank der prachtvollen Insze­nierung durch Reinhardt. In der Provinz, wo es diese Ge­sellschaft nicht mehr gibt, ist das Stück auch bei guter Aufführung überall abgefallen. In England, wo die Gesell­schaft noch ziemlich intakt ist, haben solche Gesellschafts­stücke immer noch ihr großes Publikum. Die Gesellschaft schafft sich ihr Theater. Das sieht man ganz klar in Russ­land, wo es ein radikales Theater gibt, weil es ein radikales Publikum gibt. Die Mitglieder des Bühnenvolksbundes, die Anhänger des völkischen Theaters etwa kann man z. B. nicht zu Brecht zwingen. Man mag das bedauern, aber es ist nun einmal so.

Theater ist eine Gemeinschaftssache: und das Chaos des deutschen Theaters — das übrigens noch turmhoch über dem französischen, italienischen, englischen und amerikanischen Theater steht — kommt nicht vom „Tief­stand dessen, was sich heute Literatur nennt“: es wären genug gute Stücke da… Die jungen Dramatiker, die für ein neues Theater sind, sie müssen vor allem für eine neue religiöse und soziale Gemeinschaftsform sein, denn nur aus ihr wird sich das neue Drama gebären. Das Drama als Kunstform hat sich nicht überlebt. Es kann sich gar nicht überleben: So wenig sich Dichtung, Gedicht, Geist, Gott überleben können. Die alten griechischen, mexikanischen, chinesischen Dramen — wie wenig unterscheiden sie sich von den unsern. Liebe und Hass, Mord und Totschlag, Erzeugen und Gebären, Freuden und Leidenschaft — um nichts anderes handelt es sich hier wie dort.

Den schönsten deutschen Roman um 1900 schrieb Friedrich Huch mit seinem „Pitt und Fox“. Bieder­meierliche Zartheit und groteske Gotik blühen darin. Pitt ist der gute, der entmaterialisierte, Fox der schlechte, ma­terialistische Deutsche, wie ihn Heinrich Mann später in seinem Untertan Diederich Heßling so bitterböse ab­konterfeit hat. Hermann Löns, der bleibende Volkslieder schenkte, jagte den wilden „Wehrwolf“ über die Heide. Des Schwaben Emil Strauß (geb. 1866) Kinder­tragödie „Freund Hein‘ ‚ist mir unvergesslich. Carl Hauptmann (1858—1921), der Bruder Gerhart Hauptmanns und von ihm verdunkelt, gab das schöne „Tagebuch“, eine Moses-Dichtung, das Drama „Die Bergschmiede“ und den Roman „Einhart der Lächler“. Der Halkyonier O. E. Hartleben (1864—1905) etablierte sich mit glänzend ge­schriebenen ironischen Impressionen. Eine Abart des Im­pressionismus ist der Psychologismus, wie ihn Thomas Mann (aus Lübeck, geb. 1875) in ausgezeichneten Ro­manen wie „Buddenbrooks“ und „Zauberberg“, in No­vellen wie „Tristan“ und vor allem dem „Tod in Venedig“, einer der schönsten Schöpfungen der deutschen Prosa, übt. Er analysiert mit medizinischer Gewissenhaftigkeit die Einzelseele. Dem Studium der Massenseele gilt neuer­dings seines Bruders Heinrich Mann (aus Lübeck, ge­boren 1871) Bemühung. Er ist der Dichter der Demokratie geworden in seinen Romanen: „Professor Unrat“, „Die Göttinnen“, „Die kleine Stadt“, „Die Armen“, „Der Untertan“, „Der Kopf“. — „Die kleine Stadt“, ein italie­nischer Kleinstadtroman, der schildert, wie eine fahrende Theatertruppe eine kleine Stadt revolutioniert, ist ein Markstein in der Geschichte des deutschen Romans. Seine früheren Italienromane, besonders die prachtvolle Trilogie „Die Göttinnen“, zeigen ihn noch ganz als Apologetiker des Übermenschen, des Einzelmenschen, des Anarchisten, als hymnischen Diener der Schönheit, der Kraft und der sinnlichsten Gewalt. Wer, der je der Herzogin von Assy begegnete, könnte sie vergessen? Denn sie war ihm Kind, Mutter und Geliebte.

Wilhelm Schäfer (geboren 1868 in Ottrau) schuf sich in seinen „Anekdoten“ eine eigene Novellenform in An­lehnung an mittelalterliche deutsche und italienische Meister. Sie gehören zu den besten Leistungen der deutschen Prosa der Gegenwart, die in Jakob Wasser­manns (geboren 1873 in Fürth) Romanen „Das Gänse­männchen“, „Kaspar Hauser“, „Laudin und die Seinen“, „Der Fall Maurizius“ einen ihrer Meister fand. Eine reiche Fülle lebendigster Gestalten, eine ganze große und kleine Welt wird aus der Tiefe ans Licht gehoben. So­weit Romane überhaupt vollkommen sein können, sind es diese.

Wassermann führt zu den österreichischen Dichtern hinüber. Gustav Meyrink (geboren 1868 in Wien) schüttet ein Wunderhorn ergötzlicher und boshafter Tri­vialitäten, ältestes und neuestes Gerumpel, über den deut­schen Spießer aus, der mit einem leeren Hirn aufdrapiert wie ein Pfingstochse in seinen Geschichten umherwandelt und „Muh“ und „Bäh“ sagt. Von Meyrinks großen Ro­manen, die allerlei kabbalistische und mystische Welt­anschauung propagieren, ist der „Golem“ nennenswert. Er spielt in Prag, jener böhmisehen Stadt an der Grenze des Slaventums, die der deutschen Literatur der letzten Jahrzehnte so viele Dichter und Dichtungen geschenkt hat. Peter Altenberg (1859 – 1918 aus Wien) gewinnt seine amüsante Weltanschauung vom Cafe Fensterguckerl aus. Auch noch seine abstrusesten Skizzen sind von echter tiefer Lyrik erfüllt. Hermann Bahr (geboren 1863 in Linz) hat vom Naturalismus bis zum Expressionismus und Katholizismus so ziemlich alle Klassen der Literatur­geschichte absolviert und ist überall mit der Note 2—3 versetzt worden. Arthur Schnitzler (1862—1931), Dra­matiker und Romancier, schrieb zwei vollendete Novellen „Leutnant Gustl“ und „Casanovas Heimkehr“. Eine österreichische Madame Bovary schenkte er uns in seinem meisterhaft grau in grau gemalten Roman „Therese“. Richard Beer-Hofmanns Verse tönen wie eine Glocke in dem Trauerspiel „Der Graf von Charolais“ und der David-Trilogie, von der bis jetzt nur das Vorspiel „Jaakobs Traum“ erschienen ist.

Österreich hat zwei Erzähler, die lange nicht nach Ge­bühr geschätzt sind: Otto Stoessl, der sich stilistisch an Gottfried Keller anschließt und den ganz unvergleich­lichen Wiener Familienroman „Das Haus Erath“ schrieb, außerdem den Schelmenroman „Sonjas letzter Name“ und treffende Essays; Leo Perutz, der den klassischen Er­zählern bewegter Handlung folgt (Hauff, Stevenson) und dessen „Marques de Bolivar“ und „Turlupin“ romantische Prosaballaden sind. In einigem Abstand wäre Ro­bert Musil zu nennen („Die Verwirrungen des Zöglings Törleß“ und kunstvolle Erzählungen). Wundervolle kleine Novellen schreibt Alfred Polgar, dessen Kritiken Ka­binettstücke der Klugheit sind. Novellist aus der Schule Balzacs ist Stefan Zweig (* Wien 1881) in „Amok“ und „Verwirrung der Gefühle“. Alfred Neumanns erster Roman blieb sein bester: „Der Teufel“. Neben Max Brod und Ernst Weiß ist wohl der bedeutendste Prager Dich­ter der jungverstorbene Franz Kafka (1883—1924), ein strenger Erzähler in der Novelle „Der Heizer“ und in dem Roman „Das Schloss“, der an Strindbergs Traumspiele er­innert. — Dichter und Reporter der neuen Sachlichkeit ist Joseph Roth („Rechts und Links“, „Hiob“).

Des Kurländer Grafen Eduard Keyserling (1858 bis 1918) Erzählungen beglücken schmerzlich wie im Früh­herbst die bunten fallenden Blätter. Über Hermann Hesses (geboren 1877 in Calw) Prosadichtungen der ersten Periode könnte als Motto der Vers eines Volksliedes ste­hen, mit dem er selbst eines seiner Bücher betitelt: „Schön ist die Jugend“. Mit vierzig Jahren überwand und über­traf er sich selbst in den farbigen und feurigen Zeugnissen einer zweiten Jugend: „Demian“, Weg und Wesen deut­scher Seele entschleiernd, und der herrlichen Novelle „Klein und Wagner“. Er hatte den Mut, neu zu beginnen, eingedenk des alten Taowortes, dass der Weg, nicht das Ziel den Sinn des Lebens mache. Klein sagt zur Tänzerin: Wenn Sie tanzen, Teresina, und auch sonst in manchen Augenblicken, sind Sie wie ein Baum, oder ein Berg oder Tier, oder ein Stern, ganz für sich, ganz allein, Sie wollen nichts anders sein, als was Sie sind, einerlei, ob gut oder böse. — Dies spricht mich so an, als hätte ich es selbst ge­sagt. Und ich habe es auch oft gesagt: fast mit den gleichen Worten. Auch die Zerspaltenheit, die doppelte oder gar dreifache Gestalt und Gestaltung des eigenen Ich gewinnt bei Hesse, wie einst bei Goethe und den Romantikern, er­neut Bedeutung und tiefen Sinn. Selbst Gott ist gut und böse. Doch was heißt denn: gut? Scheint die Sonne nicht über Gerechte und Ungerechte? Und ist Gott nicht ein Gott jenseits von Gut und Böse?

Vielleicht der größte Heimatdichter ist Hermann Stehr. Herb, gottsucherisch, schwer zugänglich ist Stehrs Erzählerkunst. Der „Heiligenhof“ ist ein westfälischer Bauernroman, der „Schindelmacher“ und „Leonore Grie­bel“ handeln vom Geheimnis des Menschenschicksals und spielen in der schlesischen Heimat. Aus der Tiefe des nord­deutschen Volkstums schöpft Hans Friedrich Blunck in seinen Märchen und historischen Romanen. Hermann Burte hat schöne patrizische Sonette geschrieben. Das Leben der Auslandsdeutschen behandelt Hans Grimm in „Volk ohne Raum“. Bedeutender sind Hans Grimms knapp und kernig erzählte Südafrika-Novellen.

Frank Thieß schuf zwei eindringliche Romane: „Die Verdammten“ und „Der Leibhaftige“. Aus Wilhelm Speyers ungleichmäßiger Produktion seien „Schwermut der Jahreszeiten“ und „Kampf der Tertia“ hervorgehoben.

Ein reizender Kinderroman ist „Carlos und Nicolas“ von Rudolf Johannes Schmied.

Als reine Erzähler haben sich bewährt: Otto Flake mit programmatisch anmutenden Romanen, Lion Feuchtwanger mit der „Hässlichen Herzogin“, „Jud Süß“ und „Erfolg“, Hermann Kesser mit dynamischen Novellen. Bernhard Kellermanns „Tunnel“ und Waldemar Bonseis‘ „Biene Maja“ waren nur Publikumserfolge.

Ricarda Huch (geboren 1864 in Braunschweig) suchte ihre Themen im Risorgimento und im Dreißigjährigen Krieg, Enrica von Handel-Mazzetti (geboren 1871 in Wien) schrieb historische Romane mit katholisierendem Einschlag. Die deutsche Frauenlyrik der jüngsten Zeit gipfelt in Else Lasker-Schüler (geboren 1876 in Elber­feld). Wer fühlte sich nicht als ewiger Jude und sänke vor Jehova ins Knie, wenn sie ihre hebräischen Lieder singt? Wenn sie ihre Verse in einen alten Tibetteppich verwebt?

Deine Seele, die die meine liebet,
Ist verwirkt mit ihr im Teppichtibet.
Strahl in Strahl verliebte Farben,
Sterne, die sich himmellang umwarben.
Unsre Füße ruhen auf der Kostbarkeit
Maschentausend abertausend weit.
Süßer Lamasohn auf Moschuspflanzenthron,
Wie lange küßt dein Mund den meinen wohl
Und Wang die Wange buntgeknüpfte Zeiten schon?

Mechtild Fürstin von Lichnowsky schrieb einen der besten Romane unserer Zeit („Die Geburt“). Als Balladen­dichterin ist Agnes Miegel zu nennen, als religiöse Ly­rikerin Ruth Schaumann. Emmy Hennings gab in kleinen Versen („Die letzte Freude“) und in kleiner Prosa („Das Gefängnis“) eine Autobiographie des weiblichen Vaganten.

Die Prosa der jüngsten Generation, mit Kasimir Edschmid (* 1890) und Alfred Döblin(* 1878) beginnend, vermag den Leistungen eines Mann, Wassermann und Hesse nichts Gleichwertiges an die Seite zu setzen. Ed-schmids Novellen sind wie in einem Treibhaus gezüchtete Blumen: bizarr, geistreich, gekünstelt, voll wilder, aroma­tischer, zuweilen peinlicher Düfte. Sein Roman: ein tiefer Abstieg. Alfred Döblin, der machtvollste unter den jungen Prosaikern, beschwört den Schatten Wallensteins und in den „Drei Sprüngen des Wang-lun“ einen edlen Rebellen der Schwäche in der Landschaft eines erträumten China. Ein Roman aus dem heutigen Leben ist sein „Berlin Alexanderplatz“, die Geschichte des Straßenhändlers Franz Biberkopf. Berliner sind der feine Idylliker Franz Hessel und Ernst Gläser mit seinem Zeitroman „Jahrgang 1902″. Zwischen Berlin und der irischen Küste spielt Heinrich Hausers traumhaftes und plastisches Buch „Donner überm Meer“. Durch Amerika bummelte Man­fred Hausmann mit offenen hellen Augen („Kleine Liebe zu Amerika“). Vom Aufstand der Fischer von St. Barbara erzählt Anna Seghers mit kleistischen Mitteln, sein eigenes Leben Otto Wirz („Gewalten eines Toren“); vom Segen der Erde berichtet Karl Heinrich Waggerl („Brot“), von einem Kinderkreuzzug Martin Beheim-Schwarzbach („Die Michaelskinder“). Pietistisch leise sind Leo Weismantel („Das alte Dorf“) und Friedrich Schnack („Sebastian im Wald“).

In jüngster Zeit sind es vor allem zwei Romane, die in distanzierter Haltung der Richtung: mit ausgeprägtem Verantwortungsgefühl an Gegenwartsstoffe zu gehen, epischen Ausdruck zu geben versuchen: Hans Falladas „Bauern, Bonzen und Bomben“ und Erik Regers „Union der festen Hand“. Gute weil durch persönliches Tempera­ment gelenkte „Reportage“ und „Montage“, und daher Elemente einer neuen künstlerischen Gestaltung.

Klabund (geboren 1890 in Crossen a. O., gestorben 1928 in Davos) versuchte im „Moreau“ den Roman eines Soldaten, im „Bracke“ den gotischen Roman eines Eulen­spiegel zu gestalten. Seine frühen Romane „Krankheit“ und „Roman eines jungen Mannes“ sind groteske Elegie und elegische Groteske. „Borgia“ war sein letztes Werk, das flammende Lebenslied eines Sterbenden. „Die Dich­tungen aus dem Osten“ vereinigen seine Nachformungen fernöstlicher Lyrik. Über diesen Nachdichtungen möge man seine eigene Lyrik, in denen er sein Wesentlichstes gab, nicht vergessen.

Leonhard Franks (geboren 1882 in Würzburg) „Ursache“ ist in Dichtung umgesetzte Freudsche Psycho­logie. Seinen schönen Liebesroman „Das Ochsenfurter Männerquartett“ darf man sich nicht entgehen lassen.

Bücher wie Leonhard Franks „Der Mensch ist gut“ ha­ben ihr Bestes geleistet in der Revolutionierung der Seelen, an welcher aber kritische Geister wie der große Satiriker Karl Kraus (geboren 1874 in Gitschin) und Franz Pfemfert (geboren 1877 in Lotzen) seit Jahren schon viel tieferen Anteil hatten mit „Fackel“ und „Aktion“. Das polemische Werk, das in der „Fackel“ geleistet wird, hat seinen dauernden Wert nicht in einer Gesinnung, derenthalben man Kraus bejubelt oder auf das heftigste ablehnt, sondern in ihrer sprachlichen Kraft. Alles, was daneben in ähnlicher Absicht hervortritt, hat wenig dichterischen Wert und noch weniger ethischen Erfolg. Der Mensch ist nicht gut, sondern er will gut werden. Das Moment der Entwicklung ist das Entscheidende. Revolutionen, gei­stige und materielle, schießen immer über das Ziel hin­aus —, um nur etwas zu erreichen. Die Revolution kam: und wandelte die Menschheit im Innern nicht. Weder den Einzelnen noch die Masse. Die große Enttäuschung brach an: das Erlebnis aller Revolutionen. Die Ehrlichsten unter den jungen Menschen begannen nicht nach außen, sondern endlich einmal nach innen zu sehen. Sie schlugen sich an ihre Brust und sagten: Was haben wir für ein Recht, an andere Menschen Forderungen zu stellen ? Der Mensch ist gut ? Schön: aber seien w i r doch erst mal gut. (Wie die soziale Erschütterung den Weg zu einem neuen Gemein­schaftsgefühl bereitet, so wird es der Expressionismus einer neuen Romantik und Klassik getan haben.) Schon Herzeloide erzog ihren Sohn Parsival in der Waldeinsam­keit, damit er vor dem Welt- und Kriegsgetümmel be­wahrt sei. Aber alle Abgeschlossenheit half nichts. Ein je­der trägt ja den Feind in der eigenen Brust. Gegen ihn heisst’s kämpfen. Man muss sich selbst aufs Haupt schlagen. Gott und du: das sollen nur Synonyme sein. Epitheta ornantia des Einen. Du musst den Heimweg finden: heim zu dir. Auf diesem Heimweg durch die Dunkelheit stehen die Dichter an den Meilensteinen wie Fackelträger. Von Fackel zu Fackel tastest du dich vorwärts: zum Morgenrot, bis Gottes Herz einst über den Bergen aufgeht. Menschen- und Gottesauge werden ineinander trinken und wird nur ein Licht und eine Liebe sein.

Der junge Mensch zwischen 1911 und 1918 ging in den Krieg als Revolutionär und in die Revolution als Krieger. Er fiel von einem Extrem ins andere: aus der Ekstase in die Verzweiflung und umgekehrt. Er liebte allzu vage die Menschheit, ohne noch recht vom Menschen zu wissen. Er ist weitsichtig: aber in der Nähe vermag er nichts zu sehen. Er ist immer geneigt, zu typisieren, zu schematisieren. Er sagt zehnmal nein, ehe er einmal ja sagt. Er schlägt der herrschenden Klasse, wie der Zeichner George Grosz, in die Fratze, aber wenn er zur Herrschaft gelangt, weiß er auch keine anderen Mittel als die der anderen: Ter­ror und Maschinengewehre, die Diktatur. Ich glaube nicht an die dauernde Überzeugungskraft brutaler Gewalt, von welcher Seite immer sie sich äußern mag. Der chinesische Denker Laotse sagt einmal: „Das Zarteste überwindet das Härteste.“ Wir wollen, symbolisch gesprochen, keine Boxer werden wie die Angelsachsen und jedem gleich die Faust ins Gesicht pflanzen. Wir müssen Dschiu-Dschitsu lernen: nicht den starren Angriff, sondern die elastische Verteidigung. Noch herrscht der Krieg als Prinzip. Besiegt ihn, ihr Dichter, kraft eures Wortes, das wirklicher ist als manche schnell getane Tat. Besiegt ihn durch die Inbrunst eurer Herzen!

Ihr Weiser und Verweser unseres Schönen,
Laßt euch vom Waffenrausch nicht übertönen.
O sorgt, daß unser Blut nicht rot erstarrt
Und seid uns Dom und ewige Gegenwart.
Du Günther, brauner Packan, bissig bellend,
Du Hölderlin, die sanften Pfeile schnellend,
Du Mörike, verträumte Pfarrhauslinde,
Du Eichendorff, voll grüner Birkenwinde,
Du Heine, deutscher Jude, geistig handelnd,
Du Conrad Ferdinand, auf Rhythmen wandelnd,
Du Platen, im unsterblichsten Sonette,
Du Nietzsche, deutscher Pole, Glockenkette,
Und du, 0 erste Früh- und Abendröte:
Du Turm, du Sturm, du erster Mensch: du: Goethe!

Die künstlerische Gestaltung der Weltkriegszeit war Karl Kraus gelungen in den Szenen „Die letzten Tage der Menschheit“: Ein ewiges Inferno, in dem alle Laute und alle Figuren der großen Zeit versammelt sind. Nach Kraus kam Hans Carossa mit dem „Rumänischen Tagebuch“, das in bisweilen hymnischer Sprache das Erlebnis formte. Sehr bald nach dem Kriege erschienen auch die Bücher „In Stahlgewittern“ und „Wäldchen 125″ von Ernst Jünger, der zum „neuen Nationalismus“ gehört. In der Etappe spielt Arnold Zweigs „Streit um den Sergeanten Grischa“, in einem Feldspital A. M. Freys Roman „Die Pflaster kästen“. Georg von der Vring war der erste, der den Krieg so schilderte, wie er wirklich war. Sein „Soldat Suhren“ sollte aber nicht als ein Politikon bewertet wer­den, nicht als Gesinnung, sondern als Gebilde eines Dich­ters. So ist auch sein Kriegsgefangenenroman „Camp Lafayette“ zu beurteilen. Zehn Jahre nach Ende des Welt­kriegs kamen plötzlich die Kriegsbücher auf. Es er­schien Ludwig Renns „Krieg“, das beste von allen Bü­chern dieser Art; und Werner Beumelburgs ebenso furioses wie exaktes Weltkriegspanorama „Sperrfeuer um Deutschland“. Den größten Erfolg aber trug Erich Ma­ria Remarques „Im Westen nichts Neues“ davon, ein Buch, das wirkungsvoll gemacht ist vom Titel bis zur letzten Zeile.

Können all diese Berichte und Romane wirklich den Krieg aus der Welt schaffen ? Oder haben sie gar nicht die­sen Willen, sind sie nur Erlebnisbücher? Zeitgeschichtlich haben sie große Bedeutung. Ihr dichterischer Wert ist weit geringer.

Der wiedererwachte Sinn für das Sachliche brachte eine Reihe von Büchern, die zwischen Wissenschaft und Dich­tung stehen, zwischen Reportage und Dichtung, Ge­schichte und Dichtung, Naturkunde und Dichtung. Es kamen Tatsachenromane; Tierbilder-Bände und andere Kombinationen von Bild und Wort, wie Fritz Stahls „Pa­ris“ und Heinrich Hausers „Schwarzes Revier“. Nach der Neoromantik ein Neonaturalismus. Die Wirklichkeit! Die Wirklichkeit sollte wieder erobert werden — das heißt die äußere Wirklichkeit, denn auch das Innere, auch der Traum und die Vision sind Wirklichkeit: nicht nur für den Künstler. — Dieser neugestärkte Sinn für die Tat­sachen der Welt und Geschichte lenkte den Dichter wie­der auf Biographie und Biographieroman, die lange Zeit nur von Historikern und Dilettanten gewissenhaft und leblos gepflegt worden waren.

Wie überall in der Kunst, muss man auch hier zwischen Stil und Mode unterscheiden. Stefan Zweigs künstle­rische Essays (über Balzac, Dickens, Dostojewski, Tolstoi, Kleist, Nietzsche, Hölderlin, Casanova, Stendhal) waren lange vor dieser Strömung erschienen. Nun ließ er sein Bildnis des Politikers Joseph Fouche“ folgen. Walter von Molo war mit einem Schiller-Roman vorangegangen und kam jetzt mit einem Luther-Roman zurecht. Emil Lud­wigs umstrittene Bücher über Kaiser Wilhelm II., Napo­leon, Goethe waren nicht von literarischer Konjunktur eingegeben. Valeriu Marcu, ein verjüngter Harden, schrieb über Lenin und Scharnhorst. Rudolf Olden über Stresemann; Arno Schirokauer über Lassalle; Ernst Penzoldt über Chatterton; Curt Elwenspoecküber… Rinaldo Rinaldini.

Auch die Reisebeschreibung bekam einen neuen Auf­schwung. Bernhard Kellermann ging nach Japan, Waldemar Bonseis nach Indien, der Mädchenhirt und rasende Reporter Egon Erwin Kisch nach New York und Hollywood, Kasimir Edschmid nach Afrika und Südamerika. (Kleine Erinnerung an Karl May: diese nicht kunstlose Mischung aus arabischem Märchenerzähler, katholischem Kotzebue, älterem Dumas und apriorischem Edschmid.)

Bestes Korrespondententum: Rudolf Kircher, „ Wie’s die Engländer machen“ und Friedrich Sieburg „Gott in Frankreich?“

Der Kreis um George hatte die Literaturgeschichte aus den Händen der Philologen befreit und wieder zum Sprachkunstwerk gemacht. Aber auch die Leistungen der älteren: Alexander Baumgartner, Wilhelm Scherer, und der Zeitgenossen: Josef Nadler, Konrad Burdach, Paul Wiegler haben sprachliche Bedeutung. Aloys Riegl und Wilhelm Worringer wiesen der Kunstge­schichte neue Wege. Auf diesem Gebiet haben Richard Muther, Meier-Graefe, Heinrich Wölfflin, Wil­helm Pinder und der eigenwillige Wilhelm Hausen­stein Gutes geleistet.

Am Beginn des modernen Feuilletonismus stehen Fer­dinand Kürnberger und Ludwig Speidel. In ihrer Nachfolge wirkten Viktor Auburtin, Sling u. a.; für sich die advokatorische Leidenschaft Maximilians Hardens, der seltener in seinen politischen Urteilen als in seiner Syntax und Wortbildung Unrecht hatte.

Die neue wissenschaftliche Kunstprosa hat ihren großen Meister in Arthur Schopenhauer (1788—1860). Die Reinheit und Plastik seiner Sprache ist von keinem der Philosophen, Historiker oder Essayisten nach ihm über­troffen worden. Neben seinem Hauptwerk „Die Welt als Wille und Vorstellung“ sind seine „Parerga und Paralipomena“ zu nennen, die nichts anderes sind als vollendete Essays. Gute Prosa schrieb Jakob Burckhardt („Die Kultur der Renaissance“, „Griechische Kulturgeschichte“, Herman Grimm („Michelangelo“, „Essays“), Gustav Droysen („Leben Yorks“, „Alexander der Große“), die Historiker Ranke, Treitschke, Mommsen, Gregorovius. Der Jurist Johann Jakob Bachofen, der Kunsthistoriker Leopold Ziegler, der Afrikaforscher Leo Frobenius und der Philolog Erwin Rohde erforschten den Mythos. — Auch literarisch wertvoll sind Bismarcks „Erinnerungen“.

In jüngster Zeit, in der Ära Sigmund Freuds und Albert Einsteins, hatten drei Autoren mit Werken, die nicht zur „schönen Literatur“ gehören, breiten Erfolg: Egon Friedeil mit seiner Kulturgeschichte, die wissend und witzig geschrieben ist; Oswald Spengler, ein systematischer Wirrkopf, der den Untergang des Abend­landes zum Gesprächsthema machte und Graf Hermann Keyserling, ein Reisender der Philosophie, der aus der Schule der Weisheit schwätzte.

Zwölftes Kapitel
TSCHECHEN, POLEN, BALTEN UNGARN, BALKAN
DIE TSCHECHEN

Die Tschechen sind ein literarisch ungewöhnlich begab­tes Volk. Da die tschechische Sprache nur in einem kleinen Sprachgebiet gesprochen wird, ist die Wirkung der tsche­chischen Literatur auf die Weltliteratur geringer, als ihrem eigentlichen Wert zukäme. Jahrhundertelang ohne natio­nale Selbständigkeit, entwickelte sich bei den Tschechen umso stärker ein tiefes Nationalgefühl, das so weit ging, ad majorem patriae gloriam eine alte tschechische National­literatur, die Libussa, die Kämpfe der Tschechen gegen Deutsche und Polen verherrlichte — zu fälschen… Es sind das die bekannten Königinhofer und Grünberger Handschriften, die Vaclav Hanka (* 1861) in einem Kir­chengewölbe 1817 gefunden haben will. Der Entdecker der Fälschung ist der heutige Präsident der Tschechoslo­wakei: Masaryk, selbst ein bedeutender politischer Schriftsteller, einer der Hauptapologetiker des Panslawismus. Jan Hus (1369—1415) ist der erste Reformator der tschechischen Sprache, die er von Latinismen und Ger­manismen reinigt. Der Philosoph Johann Arnos Comensky, besser unter seinem latinisierten Namen Comenius bekannt, schrieb in tschechischer Sprache die Allegorie „Das Labyrinth der Welt und das Paradies des Herzens“. Nach der Schlacht am Weißen Berge (1620) versinkt die tschechische Dichtung in einen tiefen Schlaf, aus dem sie erst 1744 durch das barbarische Edikt Josefs II. geweckt wird, der den Gebrauch der tschechischen Sprache Schu­len und Behörden verbietet. Dagegen bäumte sich die tschechische Nation wild auf. Das Edikt hatte eine völlig

unbeabsichtigte gegenteilige Wirkung — ein Menetekel für kulturelle Machtpolitiker: die Preußen haben in Polen, die Italiener werden in Südtirol und ebenso alle Bedrücker von Minderheiten bei sich die gleiche Erfahrung machen. Die Unterdrückung weckte die Dichtung zu neuem Leben. Die erste Frucht war das in Sonetten abgefasste Epos „Toch­ter der Slawa“ des Jan Kollar (1793—1852). Das Modell der „Tochter der Slawa“ war eine thüringische Pfarrers­tochter namens Minna Schmidt, die Kollar bei seinem Studium in Jena kennen und lieben gelernt hatte. Die Apotheose des Slawentums geht auf ein deutsches Mäd­chen zurück.

Ein Epigone Goethes ist der Volksliederdichter Ladislav Celakovsky. Karel Hynek Macha ist der Heine der Tschechen in der lyrisch-epischen Dichtung „Mai“, in der sich auch zionistische Klänge finden. Jan Neruda zeichnet kleine Skizzen aus dem Prager Volks­leben. Svatopluk Cech gestaltet das nationale Epos „Jan Ziska“. Jaroslav Vrchlickys (1853—1912) Be­streben war es, seinem Volk das wertvollste Gut der Weltliteratur zu vermitteln. Seine Produktivität ist sagenhaft. Dramen („Julian Apostata“), Lustspiele, Epen („Twar-dowski“), Erzählungen, Gedichte wechseln in bunter Reihe. Karoline Svetla formt den tragischen Dorf­roman“ und das „Kreuz am Bach“.

Mit der jüngsten Bewegung steigt die tschechische Li­teratur steil empor. Stanislaw K. Neumann ist ihr „heidnischer Führer“ seit zwanzig Jahren. Frana Sramek schreibt die Romane „Der Leib“, „Silberner Wind“ und die „Flammen“; Frantiäek Nemec kleine Verse; Arne Dvorak das Drama vom Volkskönig Wenzel; Frantilek Langer das Drama von Wenzel dem Heiligen und „Peripherie“; Karel Capek errang mit seinen „Rossums Universal Robots“, den künstlichen Menschen, einen großen Erfolg auf der modernen Prager Bühne; Jiraäek mit seinem Dcama „Hus“. Georg Karäseks traumhafter Roman „Die gotische Seele“ verläuft fast ohne Handlung. Wie Wedekind auf die jungen Revolutio­näre, so übt Paul Ernst auf die tschechischen Klassizisten einen starken Einfluss aus: ein erfreuliches Zeichen, dass der deutsche und der tschechische Kulturkreis sich trotz aller gegenseitigen politischen Kämpfe ständig schneiden. Die bedeutendsten tschechischen Dichter der Gegenwart sind der Impressionist Antonin Sova, Petr Bezruc, dessen mythische schlesische Lieder Rudolf Fuchs ins Deutsche übersetzte, und Otokar Bfezina, der in Ek­stasen der Liebe verbrüderten Seelen singt. Er singt das Lied von der Sonne, von der Erde, den Wassern und dem Geheimnis des Feuers, von der magischen Mitternacht. Er betet für die Feinde, lächelt des Lebens Lächeln, und der Schneefall eisiger Sterne sinkt von seiner Stirn. Er ist die Apotheose der Ähren, ein Blütenbaum, tönend von Blüten und Insekten. Die Musik verborgener Quellen springt, und die Winde wehen von Mittag nach Mitter­nacht.

POLEN

Die polnische Sprache ist die unslawischste der slawi­schen Sprachen. Sie ist stark westlich geneigt, gespickt mit Lehnsworten aus dem Lateinischen und Deutschen, und hat sich seit dem sechzehnten Jahrhundert nicht gewan­delt. Sie ist überreich an Formen, quillt über, schwillt ins Endlose. Doch scheinen diese Formen nirgends gehalten oder „geformt“. Sie ist maß- und zuchtlos, i Die polnische Literatur beginnt viel später als die poli­tische Bedeutung Polens. Der Kalvinist Mikolaj Rej (+1569) schrieb ein frommes Erbauungsbuch, das noch Mitte des neunzehnten Jahrhunderts bei den Protestanten in Oberschlesien im Umlauf war und neu gedruckt wurde. Jan Kochanowski (1530—1584) besang, wie Rückert, den Vaterschmerz um den Tod eines geliebten Kindes und verspottete in seinem „Satir“ die „polnische Wirtschaft“: die nach seinem Tode im siebzehnten Jahrhundert immer wüster wurde und Polen kulturell und politisch, litera­risch und religiös an den Rand des Abgrunds brachte. Der brutale Egoismus der Schlachta knechtete Bürger, Bauer und Arbeiter und atzte die Kirche, damit sie ihm nicht in sein Gehege kam. Eine strenge Zensur unterband völlig die Literatur, und nur in geheimen Abschriften ging man­ches rebellische und ketzerische Lied von Hand zu Hand. Bildung fand sich einzig bei gewissen Magnatenkreisen, die sie aus Italien und Frankreich bezogen. Die Literatur ahmte Tasso, Ariost und die italienische Liebeslyrik nach. Waclaw Potocki (1626—1696) schrieb — nicht für die Öffentlichkeit: seine Attacken gegen die Geistlichkeit ließen Publikation untunlich erscheinen — lyrisch, dialek­tisch, moralisch, satirisch Hunderttausende von Versen. Im achtzehnten Jahrhundert sinkt die Kurve des polni­schen Schrifttums noch tiefer. Schlachta und Kirche tyran­nisieren, von den sächsischen Königen August II. und III. nicht gehindert, weiterhin Gut und Geist, Land und Le­ben. Erst Ignaz Krasicki (1735—1801) wagte einen freieren Ton anzuschlagen in seiner „Monachomanie“, einer Verspottung der Klostersitten — und er konnte sich’s leisten, denn er war der Fürstbischof des Ermlandes und musste auch wissen, wie es in seinem Reich und Be­reich aussah. Auch den Adel nimmt sich Krasicki vor in dem Roman „Mikolaj Doswiadcynski“, dem ersten pol­nischen Roman überhaupt. Der noch besonders bemer­kenswert durch die Schilderung einer seligen Insel, an die das Wrack des besagten Adligen geworfen wird nach sei­nem allgemeinen Schiffbruch, und wo er zu seinem Erstaunen keinen Krieg, keinen Streit, keine Religionen, die sich zänkisch befehden, keine Tyrannei, kurz: kein Polen findet…

Der Einfluss der deutschen Dichtung ist verwunderlich gering bei der Nachbarschaft: Schiller wird in französi­scher Übersetzung kennengelernt. 1795 war durch die polnische Teilung an Russland, Österreich, Deutschland wieder einmal Jinis Poloniae nahe gerückt. Aber der zähe polnische Nationalcharakter hielt sich in allen Russifizierungs- und Germanisierungsversuchen gegenüber. Der Aufstand 1830 bewies, wie lebhaft der Funke unter der Asche glühte. Der Graf Alexander Fredro (1793 bis 1876), eine Art polnischer Kotzebue mit einem leichten aristophanischen Einschlag, schrieb seine Komödien. Moliere war sein Vorbild. Die Literatur dieser Epoche hul­digte Frankreich.

Die großen Dichter der Polen sind Emigranten. In der Sehnsucht nach der Heimat, in dem Wunsch, Polen wie einen Phönix wieder aus der Asche steigen zu sehen, gip­felt ihr Glück. Sie träumen sich in die großen Zeiten pol­nischer Geschichte zurück. Adam Mickiewicz (1798 bis 1855) ist nicht nur ihr größter Dichter, sondern auch ihr glühendster Patriot. Er hasst Russland und den Zaren.

Wenn ich nach Sibirien trotte,
Muß ich schwer in Ketten karren,
Doch mit der versoffnen Rotte
Will ich schuften… Für den Zaren.

In den Minen will ich denken:
Dieses Erz, das wir hier Jahren,
Dieses Eisen, das wir schwenken,
Wird zum Beil einst… Für den Zaren.
Wähl ein Weib ich zur Genossin,
Wähl ich sie aus den Tataren;
Daß aus meinem Stamm entsprösse
Einst ein Henker… für den Zaren.

Bin ich dann ein freier Siedler,
Säe ich mit grauen Haaren
(Geigt schon nah der graue Fiedler…)
Grauen Hanf… nur für den Zaren.

Silbergraue Fäden rinnen
Fest durch meine Hand…
in Jahren Wird mein Sohn zum Strick sie spinnen…
Für den Zaren… Für den Zaren.

Es ist ihm gelungen, Europa für Polen zu entflammen. Er weckt messianische Hoffnungen. Er schreibt ein pol­nisches Evangelium, dass die Welt noch einmal an Polen genesen werde, an Polen, das, wie Christus am Kreuz, für die ganze Menschheit duldet und leidet. Er schildert in „Konrad Wallenrod“, wie ein junger Pole, seine Abkunft leugnend, im deutschen Orden zur höchsten Stufe, zum Ordensmeister emporklimmt und wie er, in diabolischer Rache, das Ordensheer in Schnee und Eis zur Vernichtung führt. Der russische Feldzug Napoleons gab Mickiewicz das Kolorit. Dieses Buch war der Anlass einer Revolution: die jungen Polen überfielen, seine „Ode an die Jugend“ auf den Lippen, in der Nacht vom 29. November 1830 den Palast des residierenden russischen Großfürsten in War­schau. Auch der Vater seines „Pan Thaddäus“, Epos in elf Gesängen, ist ein glühender Patriot, der im Gefolge Napoleons gegen die verhassten Russen kämpft und im Kampf zugrunde geht: als letzter eines großen Geschlech­tes. Unpolitisch sind Mickiewicz leuchtende „Sonette aus der Krim“. Mickiewicz, der Verbannung und Gefängnis kennengelernt, starb, als er eine Freischar ausrüstete, an der Cholera in Konstantinopel.

Julius Slowacki (1809—1849) lässt seine Phantasie wüst über alle seelischen und sinnlichen Begierden schweifen. Vieles, was er schafft, bleibt Fragment. Er steht stark unter dem Einfluss von Towianski, einer Art Rudolf Stei­ner seiner Zeit, der ihm den „wahren“ Weg zur Vergei­stigung und Vergottung des Menschen zeigte. Zygmunt Krasinski (1812—1859) ist im Gegensatz zu Mickiewicz und Slowacki ein hirnlicher Dichter, der 1835 das prole­tarische Problem in seiner „Ungöttlichen Komödie“ auf­rollte. Den Streit der Armen und Reichen schlichtet das Kreuz. Das im antiken Rom spielende Drama „Iridion“ endet ähnlich. Der Dichter hüllt sich in eine mystische Verzweiflung wie in einen schwarzen Mantel. Er singt mit der heiligen Therese:

Der Tod kann mich nicht schrecken — nur das Leben!
Wenn hehre Welten mir vor Augen schweben,
Dann schau ich wie ein Grab die Erde an —
Ich sterbe hin — daß ich nicht sterben kann.

Die Dichtungen der drei großen polnischen Dichter entstanden in der Verbannung, die ihre Seelen mit messianischer Sehnsucht erfüllte. Der Dichter der ukrainischen Steppe, getränkt mit dem Saft der Steppenblume und dem Wort des Kosakenliedes, der die Sagen seines Volkes wie Regenbogen über den Himmel spannt in Balladen und Lie­dern, war Bohdan Zaleski (1802—1886).

Mit Dramen experimentierte der Tragiker Stanislaw Wyspianski (1869—1907).Das stärkste: „Die Hochzeit“, eine erbarmungslose Satire über Schein und Sein des Men­schen. Der Posener Bauernsohn Jan Kasprowicz schreibt das „Buch der Armen“; sein Kamerad, der Deutsch­pole Stanislaw Przybyszewski (* 1868), verkündet die Herrschaft der Instinkte, die Gewalt des Unbewussten. Der „Homo sapiens“ (Titel seiner Romantrilogie) ist eine bete bumaine. Polens bedeutendster Romancier Wladislaw Reymont (f 1925) schafft das große Romanepos „Bau­ern“ und den Lodzer Roman „Das gelobte Land“. Der antideutsche und antisemitische Baron Josef von Weys­senhoff schildert ironisch den Kulturpolen in „Leben und Gedanken des Herrn Podfilipski“, Andrzey Strug die Revolution in der „Geschichte einer Bombe“. Kom­munistisch gesinnt ist Stefan Zeromski in dem Roman „Vorfrühling“.

Ferdinand Ossendowski beschreibt seine abenteuer­lichen Irrfahrten durch das östliche Russland, erringt mit „Tiere, Menschen und Götter“ sensationellen Erfolg in Europa und Amerika, bis Sven Hedin ihn an Hand geo­graphischer Unstimmigkeiten als Charlatan bloßstellt.

Den polnischen Kriegsroman schreibt Juliusz Kaden-Bandrowski („General Barcz“). Die neue Generation sammelt sich um die Warschauer Zeitschrift „Skamander“.

FINNLAND, ESTLAND, LETTLAND, LITAUEN

Nachdem jahrhundertelang die finnische Dichtung einen totenähnlichen Schlaf geschlafen hatte — unter der Herrschaft der Schweden, die die „hässliche“ finnische Sprache missachteten —, erweckte sie 1829 Topelius, der Vater von Zachris Topelius, mit seiner Sammlung „Runor“ (Volkslieder), der 1835 Elias Lönnrot mit dem Nationalepos „Kalevala“ folgte, welches die Heldentaten, Wanderungen, Abenteuer dreier mystischer Helden malt: des Sängers Wäinämöinen, des Abenteurers Lemninkäinen und des Schmiedes Ilmarinen. Wäinämöinen spielt „auf dem Fischgerippe die Leier, auf dem Kantele von Gräten“, nachdem er einen Hecht mit dem Schwert getötet und daraus seine Leier angefertigt. Er spielt so rührend, dass der Bär im Walde schluchzend einher taumelt, dass die Quellen auf den Wiesen anhalten, ihm zu lauschen, alle Tiere kommen und horchen wie bei Orpheus. Und end­lich fließen dem Sänger selbst Tränen aus den Augen „dicker noch als Heidelbeeren, größer noch als Schnepfen­eier“. Das Epos ist von einer herrlichen, oft leicht humo­ristischen Gegenständlichkeit, hinter der überall der My­thos lauert.

Das estnische Epos „Kalewipoeg“ gehört in den Stoffkreis der Kalewala. Kalewipoegs Höllenfahrt weist Motive auf, wie sie schon im Gilgamesch-Epos, in der Odyssee und später bei Dante auftauchten. Die litauische und lettische Volkspoesie zeigt denselben melancholi­schen Grundzug wie die slawische. Fischer, deren Boot unterging, treiben auf einer Eisscholle ins Unendliche. Ur­alte heidnische Vorstellungen sind noch heute in ihr leben­dig, wie in dem Lied „Des Mondes Heirat“, der die Sonne zum Weib nahm, den Morgenstern liebgewinnt und darob von dem Donnergott Perkun mit dem Schwert zerhauen wird. Der bekannteste lettische Dichter ist J. Rainis mit seinem Drama „Josef und seine Brüder“.
August E. Ahlquist (1826—1889) ist der Schöpfer der neuen finnischen Literatursprache. Wenig über dreißig Jahre alt verfällt der geniale Alexis Kivi dem Wahnsinn, der Sohn eines Dorfschneiders, in dem ein phantastischer Humor und eine groteske Realistik sich wunderlich einen. Sein Hauptwerk sind „Die sieben Brüder“, eine Art Mikrokosmogenie. Die sieben Brüder fliehen aus der Zivi­lisation in die Einöde und schaffen eine neue Kultur aus sich und in sich. Pietari Päivärinta, Bauernknecht, Kleinbauer, Kirchenvorsänger, Küster, beschreibt sein all­tägliches und doch so erstaunliches Leben. In Finnland haben alle Dinge zwei Seiten, alle Menschen sind Herzen. Alle Bauern, Schmiede, Waldhüter sind Dichter und schreiben, ohne Schulbildung, märchen- und fabelhafte Bücher. Ein sogenannter Gebildeter ist Juhan Aho (+ 1921), der in seinem Roman „Schweres Blut“ das Pro­blem des alten Mannes und der jungen Frau behandelt. Ilmari Kianto schildert im „Roten Strich“ die Einöden Nordostfinnlands. Das Land der tausend Seen hat nach Erringung der nationalen Selbständigkeit die Möglichkeit zu einer neuen kulturellen Blüte vor sich.

UNGARN

Ungarn ist das Land der Pußta, des Paprika, der Zigeu­nerkapellen und der Journalistik. Diese Mischung findet sich, verschieden dosiert, bei seinen Literaten, die, mehr als in jeder anderen Literatur, Literaten d. h. indirekte Dichter sind. In den Sagen spukt noch die Zeit des Attila, mit dem der heutige Reichsverweser Horthy so ziemlich alles, nur nicht den Namen gemeinsam hat. Die Jagellonen stürzten im sechzehnten Jahrhundert Ungarn ins Elend und vernichteten die ersten Ansätze einer nationalen Lite­ratur. Die Reformation ließ sie wieder aufkeimen. Ein Zriny wagte den ersten Schritt zum Epos. Die Lyrik be­gann sich zu regen und das Drama. Das herrlichste der ungarischen Dichtung entstand: die Volksballade. Die Gegenreformation brachte einen neuen Rückschlag. Ein neuer Ovid, Clemens Mikes (f 1762), zog am Pontus in seinen „Türkischen Briefen“ die Bilanz: seines Lebens und seines armen Vaterlandes. Viele Ungarn lockte es an den Hof Maria Theresias; sie kehrten, beladen mit westlichen Gedanken, zurück und imitierten zu Hause in Pest in ungarischer Sprache die Franzosen. Auch die Antike und Deutschland kamen zur Wirkung. Ein begeisterter Schü­ler Goethes ist Franz Kazinczy (1759—1831), den man den Vater der heutigen Literatursprache Ungarns nennt. Josef Katona („Bankban“) und Michael Vorösmarty (1800—1855) schreiben romantische Dramen. Des letz­teren „Csongor und Tünde“ ist von Shakespeares Som­mernachtstraum beeinflusst. Die Hexe Mirizy ist der Feind der Liebenden, die erst nach mancherlei Irrungen und Wirrungen vereinigt werden. Johann Arany dichtet das Epos „Toldi“. Es handelt sich im ersten Teil um die Ränke von Toldis Bruder gegen ihn, im zweiten um seine kriege­rischen Heldentaten, im dritten um seinen wunderlichen Tod, den er erleidet, nachdem er sich selbst sein Grab ge­graben. „Der Gott meiner Seele ist die Freiheit?“ schreit Alex­ander Petöfi (1823—1849), Ungarns größter Dichter, der alle Vorzüge der Magyaren: Leidenschaft, Sinnlich­keit und eine gewisse kluge Naivität in sich vereinigt, ohne ein reiner Magyar zu sein. In seinen Adern rollt Slowenen­blut. Sein Leben verläuft in Form eines gigantischen Kol­portageromans. 1848 tritt er in die Revolutionsarmee ein und fällt im Kampf, betrauert von der ungarischen und der deutschen Nation, deren Dichtern Schiller und Heine er viel verdankt, ohne ihr Epigone zu sein. In der Abend­dämmerung sang er sein schönstes Lied:

Die Sonne blickt wie eine welke Rose,
Sie senkt das Haupt ermattet, wie im Traume
Und ihrem goldnen Kelch entfallen langsam
Die Strahlenblätter mit dem Purpursaume.

So ruhig liegt die Welt und Frieden atmend,
Nur eine Abendglocke tönt von ferne,
Melodisch sanft; als klänge sie vom Himmel,
Von einem hohen wunderlichen Sterne…

Im Roman taten sich Josef Eötvös („Dorfnotar“), Maurus Jokai, Koloman Mikszath, Bela Revesz („Ringende Erde“ und „Kerker“) und vor allem Micha­el Babits hervor mit seinem traumschweren Roman „Storchkalif“. Bauern und Kleinbürger sind die Helden des Epikers Zsigmond Moricz („Gold im Kote“ und „Die Fackel“). In der Kriegszeit spielt Desider Szabos Roman „Das weggeschwemmte Dorf“.

„Die Tragödie des Menschen“ von Emerich Madach ist eine originelle Faustimitation. Das ungarische Theater der Gegenwart regiert Franz Molnar, der einmal mit seinem Budapester Apachenstück „Liliom“ eine wirkliche Dichtung schuf, um dann immer mehr nur technisch zu glänzen. Theaterroutiniers ähnlicher Art sind die Suder­männer Ludwig Biro („Gelbe Lilie“) und Melchior Lengyel („Taifun“).

DER BALKAN

Die rumänische Literatur beginnt einen selbständi­gen Charakter zu zeigen mit den 1852 von Vasile Alecsandri veröffentlichten „Poesie populari“. An der Gestal­tung der rumänischen Sprache hatten Deutsche den her­vorragendsten Anteil. Besonders Klein mit seiner rumäni­schen Grammatik (1780). Die Königin Carmen Sylva hat in ihren „Rumänischen Dichtungen“ Lyrik von AJecsandri, Balinteneanu und anderen ins Deutsche übertragen. Die beiden Genannten sind stark vom Volkslied beein­flusst, das in allen balkanischen Literaturen außergewöhn­liche Leistungen aufweist, mit denen sich, nach meiner Kenntnis, die Kunstdichtung nicht messen kann.

M. Eminescu (1850—1889) ist von Schopenhauer an­geregt. Er besingt das Nirwana und stirbt irrsinnig „im ewigen Nichts versinkend“. J. Slavici schreibt Dorfno­vellen. Die jüngste rumänische Dichtung hat sich vom deutschen Einfluss emanzipiert und unterwirft sich dem französischen: schreibt z.T. wie Tristan Tzara, der Dadaist, in französischer Sprache. Französisch schreibt auch Panait Istrati seine herrlichen Banditengeschich­ten („Kyra Kyralyna“, „Die Haiduken“), die mit der epi­schen Urwüchsigkeit eines Märchenerzählers von Tau­sendundeiner Nacht hingesponnen sind.

Die neugriechische Dichtung erwacht mit den Ge­sängen Konstantin Righas (1754—1798), die sich gegen die Fremdherrschaft der Türken wendeten. Der Dichter selbst wurde von ihnen hingerichtet, nachdem er die grie­chische Marseillaise gesungen und Leonidas aus dem Grab beschworen. Athanasios Kristopulos ist der wie­dergeborene Anakreon. Alexander Sutsos schleudert Hassgesänge gegen die Wittelsbacher auf dem griechischen Thron, die Griechenland eine deutsche Verfassung in deutscher Sprache gaben. Alexander Rhangavis (Rhangabö, 1810—1892), in München erzogen, schrieb Komödien, Dichtungen, Novellen. JannisKambisisist ein Schüler Nietzsches und Gerhart Hauptmanns in seinem Märchendrama „Der Ring der Mütter“. Der dionysisch schöne Perikles Jannopulos, ein Dichter der Deka­denz, reitet, um durch sein Opfer Griechenland zu ent­flammen, nackt auf einem Rappen in das Meer von Salamis, das Dareios einst peitschte.

Über die neugriechische Volkspoesie, tragudia genannt, hat sich Goethe in „Kunst und Altertum“ enthusiastisch geäußert. Diese Volkslieder sind Hirten- und Schifferge­sänge zur Flöte oder Leier, die von Chören, Wechselge­sängen und Tänzen begleitet werden.

Auch auf die Volksdichtung der Serben aus der Türe kenzeit wies schon Goethe entzückt hin. Er übersetzte einiges. Jakob Grimm veranlasste Vuk (* 1787), sie in drei Bänden zu sammeln. Sie datiert vom 14. Jahrhundert her und hatte sich mündlich bis zu ihrer Aufzeichnung Anfang des 19. Jahrhunderts auf der Guzla, der serbischen Laute, erhalten. Ihr Held ist Zar Lasar, der in der Schlacht auf dem Amselfeld 1389 zugrunde ging, die die Serben den Türken unterwarf. Zwei schwarze Raben bringen der Za­rin die erste Kunde von der Niederlage. Am Morgen nach dem Gemetzel, es ist ein Sonntagmorgen, geht ein Mäd­chen — es ist die Personifikation Serbiens — auf das Schlachtfeld.

Auf den Schultern trägt sie weiße Brote
Und zwei goldene Becher in den Händen.

Sie labt und stärkt die Verwundeten. Ihre Brüder, ihre Verwandten, alle sind gefallen. Unter den wenigen Leben­den ist der Fahnenträger des Zaren. Über den Bergen von Leichen, dem Meer von Blut weht die serbische Fahne: trotzalledem, trotzalledem. In jüngster Zeit erwacht die serbische Dichtung wieder. Die montenegrinischen Für­sten Petar II. (1813—1851) und Nikita schreiben natio­nale Dramen („Die Balkankaiserin“). Uskowic tut sich in Schilderung des Belgrader Milieus im Roman „Ankömm­linge“ hervor, Stankowiö schreibt eine Art serbischer Buddenbrooks.

Der Stolz der kroatischen Literatur sind Stanko Vraz (1810—1851) und Petar Preradowid (1818 bis 1872).

Kroatische Lyriker der Moderne sind Milan Begowic, vor dem Kriege als Dramaturg in Hamburg lebend, und Miroslav Krleza, der Herausgeber der kommunistischen Zeitschrift „Die Flamme“. In Agram ediert Ljubomir Midie die radikale Zeitschrift „Zenit“.

Von der slowenischen Literatur sei Franz Preäeren (1800—1849) genannt, ein Bewunderer der deutschen Kultur. Die Slowenen rechnen ihn zu den größten Dich­tern aller Zeiten. Ferner haben der Balladendichter Josef Strittar und der Görzer Priester Gregordid sich einen Namen gemacht.

Als bedeutendste bulgarische Dichter gelten der Lyriker Slaweikoff, (+ 1912 in der Schweiz, dem Bul­garien „den blutigen Sang“, das Epos der Unabhängig­keitskämpfe (1874—1875) verdankt, der Dramatiker Petko Todoroff (f 1916) und Iwan Wasoff (+ 1921), zu dessen 70. Geburtstag die bulgarische Regierung eine besondere Markenserie herausgab. Als er starb, schrie das bulgarische Volk mit den letzten Worten seiner Legende „Die Heilung“ zum Himmel empor: „Du hast heute einen Gott getötet…“ Der Herold des jungen Bulgarien ist Peja Jaworoff (1877—1915). Seine Heimat ist die Mit­ternacht, wenn es stürmt, die Nebelschwaden schäumen und die Kreuze auf dem Kirchhof zu tanzen beginnen. Er ist ein wilder Melancholiker:

Wenn ein Stern des Glücks am Himmel stünde,
Müßt er untergehn und bitter weinen…

EPILOG

Wir leben, wie das Mittelalter um das Jahr 1000, in einer Weltuntergangsstimmung. Der große Krieg, die große bolschewistische Revolution haben sie gezeugt. Theosophie und Chiliasmus, Glaube und Aberglaube blü­hen. Die Menschen, die einen Halt in sich nicht finden, suchen ihn außer sich. Aber auch da stoßen sie auf das Nichts. Sie glauben, wie Allem, auch der Dichtung den Untergang durch die Herrschaft der Technik prophezeien zu dürfen. Diesen Pessimismus kann man nur belächeln. Der Spieltrieb des Menschen, aus dem jede Kunst, so auch die Dichtung, hervorgegangen ist, ist unausrottbar.

Die Dichtung ist das getreue Spiegelbild ihrer Zeit. Aber dieser Spiegel zeigt auch zugleich schon in die Zu­kunft. In der jungen und jüngsten Dichtung in Deutsch­land, Frankreich, Amerika, Skandinavien und Russland sind Kräfte rege, die auf einen Aufgang weisen. Wir dür­fen diese unsere Zeit nur nicht als Übergangszeit empfin­den. Wir sind da und haben unsere Pflicht zu tun. Und diese Pflicht ist, in der Relativität die Verkettung mit dem Absoluten nicht zu vergessen. Gott lebt, auch wenn er schläft und träumt. Die nächste Zukunft der Erde hängt von den großen Völkern ab, in denen Gottes Traum am le­bendigsten geträumt wird: von Russland und Deutschland.

Die Sehnsucht nach Erlösung blüht in den kommenden Generationen wild auf. Wir wollen erlöst werden — von der Lüge. Denn alle Erlösung ist nur ein plötzliches Er­blicken der Wahrheit. Die Lüge hat ihr Gorgohaupt in den letzten Jahren vor dem Kriege und im Kriege selbst widerlich erhoben. Aber wenige vermochten sie zu erkennen. Denn sie war geschminkt wie eine Hure und mit schönen Kleidern angetan und mit Steinen behängt. Das Bild der Welt war, wie es die mittelalterlichen Darstellungen zeigen: eine Frau, von vorn reizend und Wohlgestalt anzusehen — aber hinten im offenen Rücken voll Schlangengezücht und Dreck und Eiter.

Dann kam die Revolution, und nach ihr eine furchtbare Politisierung der Kunst. Nicht nur die Kritiker, auch die Dichter selbst machten Gesinnung und nicht Gestaltung zum Wertmesser einer Dichtung. Hier links, hier rechts! Eine Kluft ist aufgerissen, über die kein Blick, kein Ruf hinüberdringt. Dichter, du bist der Herold einer neuen Gemeinschaft, du bist der Priester eines Gottes, der dich zum Schaffen und Schauen bestellt hat und nicht zum Urteilen und Verurteilen. Du sollst das Volk führen und nicht den Pöbel, du sollst das Wort halten und nicht die Rede. Schau nicht nach rechts und nicht nach links, geh deinen geraden Weg durch die Welt. Gerechtigkeit! Tu von den Augen die Binde und sieh die Erde: blühen nicht Blumen, rote und blaue und goldene, zu deinen Füßen? Glüht nicht das ewige Licht, die Sonne, um deine Stirn wie ein Hei­ligenschein? Taumeln nicht Pfauenauge und Zitronen­falter schräg durch den schreitenden Abend ? Pferde sprin­gen elegant durch die Straßen. Wilde Katzen liegen zahm auf bestrahlten Mauern. Und an florentinischer Brücke tritt, die Augen schön gesenkt, Beatrice dem liebenden Dichter entgegen. Sein Herzschlag stockt. Er, der erfahren viel und viel erduldet, weiß: Glück ist das Ziel der Menschheit. Wir sind nicht auf der Welt, um unglücklich zu sein. Macht die Menschen glücklich, und ihr werdet sie besser machen, öffnet ihnen die Augen über den Himmel, die Tiere, die Frauen. Und weist ihnen alles dies: gestaltet und erhoben, beseligt und erlöst: in der Kunst, in der Dichtung.