Klabund – Gedichte aus den „Weißen Blättern“

Enzian I
Schluchze, Enzianblau!
Die Felsen tosen.
Das Wasser schmeckt eisern,
Himmel helmt mein Haupt.
Hier weint der letzte Schnee
Ins Moos.
Hier beben die Knie
Im Niedersturz.
Der Wind singt im Abendrauh
Und ein Kind
Hinter Häusern.

Enzian II
Wenn ich wüßte warum –
Ich wüßte weniges.
Wenn ich wüßte woher
Ich wüßte viel.
Der Anker auf dem Matrosenarm
Faßt Fleisch.
Dein Gesang aus den Fenstern
Verstummt.
Dorthin segelt die Yacht,
Die Jähe.
Weiße Brust?
Atmet die Salzsee.
Die großen Meere! Aber die kleine Quelle
Sah niemand im Alpendickicht.
Nur ein sterbendes Murmeltier
Netzte die Lefzen.

Enzian III
Es werden Tage kommen,
Sonnenlose ohne Gelächter.
Brachfelder.
Kein Korn glänzt.
Leichen rollen in den Flüssen,
Die Eisenbahnen sind voll toter Fahrgäste,
Wer ein Herz hat, weint,
Hingebückt über das Jaucheloch.
Kahlkopf und Kohlkopf
Wechseln wie Wild.
Der Sieg ist versiegt,
Viel Teppiche zerfasert.
Eine Tanne
Steht noch vielleicht.
Das Gehörn einer Gemse
Hängt am Abgrund.

Enzian IV
Ein alter Berg,
Ein altes Weib.
Das Hospiz
Bröckelt.
Eis und Felsen
Schlafen.
Nur ein Windstoß
Wacht.
Aus dem Tale die Tiefe
Steigt lodernd.
Schon brennt ein Blumenbusch
Am Abhang.
Schon weht ein Glockenruf,
Ein Ziegenbock.
Ein kleines Mädchen
Lächelt aufwärts.