Kindheit und Jugend

Ich würde sterben, hätt ich nicht das Wort – 

Eine Biographie 

Lebenslauf

Geboren ward Klabund,
Da war er achtzehn Jahre
Und hatte blonde Haare
Und war gesund.

Doch als er starb, ein Trott,
War er zwei Jahre älter,
Ein morscher Luftbehälter,
So stieg er aufs Schafott.
Er bracht ein Zwilling um…
(Das Mädchen war vom Lande
Und kam dadurch in Schande
Und ins Delirium.)

Am 308. Tag des Jahres 1890 – etwas genauer: am Dienstag, den 4. November – kam in Crossen an der Oder Alfred Georg Hermann Henschke um 1.oo Uhr mittags auf die Welt und die glücklichen Eltern waren der Apotheker Dr. Alfred Henschke und seine Ehefrau Emilie Antonie.

In seinem Geburtsjahr war das Deutsche Kaiserreich fast 20 Jahre alt, nur noch drei Monate fehlten. Diese Reichsgründung erfolgte im Spiegelsaal des Schlosses von Versailles nach dem Sieg des „Norddeutschen Bundes“ und seiner süddeutschen Verbündeten über Kaiser Napoleon III. von Frankreich am 18. Januar 1871.

Weniger als 38 Jahre später starb er in Davos, die Welt hatte einen „Erdenbürger“ weniger und niemand hätte davon Notiz genommen. Wenn – ja nicht wenn – heute über jenen Alfred Georg Hermann zu lesen wäre, er sei einer der berühmtesten Persönlichkeiten der in diesem Jahr Geborenen. Sein Sternzeichen ist zwar Skorpion, aber nach dem chinesischen Horoskop wurde er unter dem Sternzeichen des „Metall-Tigers“ geboren. Vielleicht hat er deswegen Nachdichtungen aus dem chinesischen geschrieben?

Übrigens, am 9. Januar desselben Jahres erblickte Kurt Tucholsky das Licht der Welt und 18 Tage nach ihm Charles de Gaulle.

Seit 1888 wohnte die Familie Henschke – aus Frankfurt/Oder – kommend in Crossen und Dr. Henschke betrieb dort die Königlich-privilegierte Adler-Apotheke, die sich in der Dammstraße 344/45 befand, Fredis Geburtshaus, um die Meinungsverschiedenheiten, wo er geboren wurde, auszuräumen.

Oft
Gedenk ich deiner
Kleine Stadt am blauen
Rauen Oderstrom,
Nebelhaft in Tau und Au gebettet
An der Grenze Schlesiens und der Mark,
Wo der Bober in die Oder,
Wo die Zeit
Mündet in die Ewigkeit —

Crossen war damals eine ca. 7000 Einwohner zählende preußische Klein – und Garnisonsstadt, kaisertreu, provinziell und konservativ, in der die Eltern großes Ansehen genießen. Fredi war gerade mal drei Jahre alt, da wurde sein Vater 1893 in den Magistrat berufen, dem er bis 1930 angehörte und 1907 wählte man ihn zum unbesoldeten ersten Beigeordneten, also dem Stellvertreter des Bürgermeisters und noch zu Lebzeiten wurde er Ehrenbürger von Crossen. Heute würde man sagen, die Familie gehörte zu den Honoratioren der Stadt.

Guido von Kaulla schreibt:

„ …Dr. Henschke ist ein Mann von ungewöhnlicher Tatkraft. Vom Ausbruch des Ersten Weltkrieges an ist Fredis Vater sieben Jahre lang ehrenamtlicher Bürgermeister. Und als danach die Stadt (zugleich mit der Umbenennung des an der Apotheke liegenden Teiles der Roß-Straße in „Dr. Henschke-Straße“ diesen Altbürgermeister zu ihrem Ehrenbürger macht, da teilt der Sohn das am 1. 3. 22 der Schwiegermutter nach Passau mit und bittet, seinem Vater zu gratulieren: er sei ein so ausgezeichneter Mensch.

Fredi hat an ihm ein Vorbild für ein auf die Gemeinschaft gerichtetes Wirken. Der bürgerliche Kernspruch „Arbeiten und nicht verzweifeln“ ziert denn auch die Wand des gemütlichen kleinen Dachzimmers, das ihm zeit­lebens im Elternhaus reserviert bleibt. Mitgehörtes Politisches gibt schon dem Knaben Stoff für Reime.“

Vom Vater geerbt, ist Fredi sehr musikalisch und die Eltern fördern diese musikalische Ader.

Unter dem Titel „An der Dammstraße erklang ein „Amati“ veröffentlicht der Redakteur der Crossener Heimatgrüße einen Artikel, den ich auszugsweise einfügen möchte.

„Klabund fand als Konzertpianist Beifall“ Friedrich Waschinsky hat das Wort:

„… Der älteste Sohn des Apothekers Dr. Henschke ist weit über Crossens Grenzen hinaus als eigenwilliger Dich­ter und Essayist bekannt. Ich erlebte ihn aber auch als begabten Pianisten. Ich hatte zusammen mit Alfred Hensch­ke eine Zeitlang Klavierunterricht bei der ausgezeichneten Musikpädagogin Flora Schmeidler, wohnhaft an der Grabenstraße. Klabund und ich wurden ihre fortgeschrittensten Schüler. Wir durften uns sogar als Solisten bei Veranstaltungen in der Aula des Real Progymnasiums präsentieren. Dabei warteten wir mit Musikstücken auf, die er­hebliche Ansprüche stellten.

Alfred Henschke hatte dabei griffmäßig mir gegenüber einen Vorteil. Sein Handrücken war um fast 2 cm breiter als meiner. Dadurch konnte er bequem Oktavenläufe, sogar zwölftönige, grei­fen. So spielte er bei einem Konzert eine schwierige Komposition von Feruccio Busoni, der damals als Liszt-Interpret berühmt war. Dem konnte ich nur, ebenfalls auswendig, die Phantasie „Am stillen Herd zur Winterszeit“ von Wagner entgegensetzen. Rauschender Beifall belohnte uns. Man riet sogar meinen Eltern, mich zur Aus­bildung als Pianist auf das Dresdener Konservatorium zu schicken. Daraus wurde aus wirtschaftlichen Gründen nichts. Es hätte mir sicher nicht ge­schadet. Das merkte ich, als ich nach 1945 mich für die Musik entschied und dann als Leiter einer qualifizierten Kapelle für Unterhaltungs- und Tanz­musik sowie von 1952 bis 1976 als Or­ganist des Hauptfriedhofs in Frank­furt/Oder wirkte.“

Amateurhaft sind diese „Crossener Stadtmusikanten“ sicher nicht gewesen, denn die Chronik weiß auch zu berichten von Artur Lipsch, der ein faszinierender Geigen-Virtuose gewesen sein soll. „Als Militärmusiker fiel er in Potsdam bei der Tafelmusik dem Kronprinzen durch seine große Begabung auf. Er erhielt von ihm, wie er mir erzählte, eine Amati-Geige als Geschenk“, erzählt Friedrich Waschinsky. „Er ging später als Dirigent der Kurkapelle nach Vevey am Genfer See und wurde danach Kapellenleiter im Berliner Café „Vaterland“, das nur erstklassige Kräfte engagierte.“

Was die mehr oder weniger begabten Musiker gespielt hatten, ist wenigstens zum Teil überliefert, denn eines der Programme um 1900 ist erhalten geblieben und daraus ist zu entnehmen, man spielte nach dem Geschmack der damaligen Zeit u. a. Kompositio­nen von Friedrich von Flotow, Engel­bert Humperdinck und Johann Strauß.

Anlässlich eines Jubiläums erschien in der „Heimatgrüßen“ ein weiterer Artikel über Friedrich Waschinsky:

„ …Der jetzige Jubilar besuchte das Crosse­ner Realprogymnasium bis zum „Einjährigen“, gehört somit zu den ältesten noch le­benden Schülern dieser Anstalt und war Klassenkamerad von Rudolf Zeidler und Alfred Henschke alias „Klabund“.

Und ein guter Tippgeber sei Friedrich Waschinsky für Guido von Kaulla gewesen, als dieser „Brennendes Herz Klabund“ schrieb.

Der Vater ein anerkannter Chopininterpret, Fredi zog lieber einige Jahre später mit eigenen Texten durch die Lokale Berlins und Münchens, oder wie Guido von Kaulla es formulierte.Sein Leben lang wird er es lieben, auf dem Klavier zu improvisieren, eigenen Versen Melodie und Begleitung zu schaffen. Zuweilen hält er eigene Kom­positionen schriftlich fest. Und manchmal bereitet er vor der Entstehung eines Gedichtes diesem den Weg durch eine Art von rhythmischem Singsang mit seinem wenig wohlklingenden aber gut charakterisierenden Bariton. Auch auf der Laute kann er sich später begleiten.“

Und die Frauen sollen ihm dabei zu Füßen gelegen sein. Erinnert mich irgendwie an „Man müsste Klavier spielen können“ von Friedrich Hermann Dietrich Schröder

Jähzornig soll Fredi gewesen sein. Ob es stimmt? Also berufe ich mich wieder mal auf Guido von Kaulla, der schreibt:

„ …Väterlichem Erbe entspringt ebenfalls seine Anlage zum Jähzorn. Freilich hält der Sohn diese Eigen­schaft für gewöhnlich unter Kontrolle. In der Fortsetzung „Menschen, eine Lebensskizze“ seines Erstromans „Fahrt ins Leben“ vermerkt der knapp Neunzehnjährige, dass er – im Gegensatz zu den Jünglingen um ihn herum – an der Erzie­hung durch seine Eltern nichts auszusetzen habe. Und der Zwan­zigjährige lässt in seiner Erzählung „Die Nottaufe“ den selbst biographisch gezeichneten Martin Häberle über sich sagen: „Er hatte die Energie vom Vater, das schwärmerisch Verzückte aber von der Mutter geerbt.“

Klabund selber sieht das in einem Brief an seinen väterlichen Freund Walther Heinrich (Unus) einmal so:

… „Ich habe ein gänzlich undiszipliniertes Temperament, es gelingt mir wohl manchmal – es wie den wandelbaren Geist des Märchens in die Flasche zu verschließen, aber ich kann es nicht lange halten, der Korken springt und ein Riese schwillt hervor.“

Sein Sohn Ernst Heinrich charakterisiert Klabund im Vorwort des Buches „Briefe an einen Freund“:

„ … Aus den unbefangenen und ungeschminkten Zeilen des jungen Dichters ließe sich sein Charakterbild lebendig nachzeichnen: seine Ironie und seine Phan­tasie; seine unbändigen Triebe und seine Sehnsucht nach Reinheit; seine launenhafte Unruhe und seine innere Heimatlosigkeit; seine kritische Stellung zur deutschen Politik und seine Vaterlandsliebe; und in allem seine körperliche Hinfälligkeit und seine unversiegende Schaffenskraft.“

Fredi ist ein „schmächtiges Kind“ aber ungemein sportlich. In der nahen Militärschwimmanstalt lernt er früh schwimmen, treibt sich mit gleichaltrigen an der Oder rum, man baut Dämme und angelt, sicher wird so mancher Fisch seinen Weg in die Kochtöpfe der Mütter gefunden haben.

Fredi rudert, er turnt und fährt Rad und im Winter läuft er Schlittschuh, genug überschwemmte und zugefrorene Wiesen entlang der Oder gibt es ja. 1928 finden die Davoser Eislaufkonkurrenzen statt, Fredi als Zuschauer begeistert sich über die Verbesserung des Weltrekordes um zwei Zehntelsekunden durch den Norweger Ronald Larsen, berichtet der Davoser Redakteur Jules Ferdmann. „Ein Weltrekord in 43,1 Sekunden! Ist es nicht wunderbar?“

Suche ich Gemeinsamkeiten mit meinem Verwandten, finde ich die ganz frühe Begeisterung bei und beiden für alles was kreucht und fleucht und was draußen wächst. Die Betonung liegt auf „draußen“ und so gibt es eine Reihe von Tiergeschichten und Gedichten, die diese Begeisterung zeigen, z.B. die Geschichte von der Grille Helene. Im Garten seiner Großeltern habe ein Reh gestanden, leider tönern, immerhin, aber die Pflanzen waren echt und so sagt er einmal: „Ich hasse es, Pflanzen zu pressen und zu klassifizieren und in ein Herbarium zu kleben. Sakuntala sagt: Ich empfinde eine schwesterliche Liebe zu diesen Pflanzen. Ohne Sakuntala zu kennen, empfand ich diese Liebe zu den Pflanzen“.

Sakuntala ist eine Frauengestalt des indischen Dichters Kalidasa, der wohl Ende 4. / Anfang 5. Jahrhunderts lebte.

Die Grille Helene

„Eine Grille, namens Helene, zirpte vom 1. Juni bis 31. Juli (einundsechzig Tage) ununterbrochen, bis ihr der Stoff aus­ging. Darauf setzte sie sich ihren Kapotthut auf, hängte sich ihre altmodische Markttasche um und begab sich eiligst in die nächstgelegene Klein- beziehungsweise Mittelstadt. Sie trat in ein Posamenteriewarengeschäft und sprach:

„Ich möchte siebentausend Meter Stoff.“ Der gelbhaarige Kommis errötete bis in die Haarspitzen und klappte sein Mund­werk wie eine Unke verwundert auf und zu:

„Wie bitte?“

Bereitwillig wiederholte die Grille:

„Ich möchte siebentausend Meter Stoff.“

Der Kommis schwänzelte:

„Sieben – tausend Meter Stoff! Zu Diensten, gnädige Frau. Wir werden das Gewünschte durch einen Grossisten besorgen lassen. Darf ich fragen, welchen Stoff Sie benötigen?“

„Siebentausend Meter Stoff“, sagte die Grille und bekam vor Aufregung einen grünen Kopf.

Der Kommis knabberte erregt an seinen Fingernägeln.

„Gnädige Frau“, flötete er, „darf ich fragen, von welchem Stoff?“

„Siebentausend Meter Stoff“, sagte die Grille.

Der Kommis wippte wie eine Spitzentänzerin auf seinen Ze­hen:

„Gnädige Frau, von welcher Art darf der Stoff sein: Seide? Voile? Leinen? Samt? Barchent? Wolle? Crepe de Chine?“

„Stoff“, sagte die Grille.

Der Schweiß stand ihr auf der Stirn. Sie fiel schwer ächzend in einen Lehnstuhl. Ihr Kleid knackte in allen Nähten. Veitstänzerisch schwankte der Kommis. Sein Ruf klang hilfeheischend wie der Schrei des Nebelhornes in dunkler Nacht.

„Was für ein Stoff, gnädige Frau?“

„Stoff“, sagte die Grille, „einfach Stoff.“

Der Kommis bullerte:

„Wozu benötigen Sie den Stoff, gnädige Frau?“

Die Grille raunzte ärgerlich:

„Wozu? Frage? Zum Zirpen natürlich …“

„Zum – Zirpen -?“

Der Kommis platzte wie ein aufgeblasener Frosch,

Das gab Stoff – für die Reporter – siebentausend Zeilen,

Die Grille ging leer aus.“

Eine wohlbehütete und sorglose Kindheit, in der Fredi als etwas scheues Kind aufwächst und in der er seine Phantasien ausleben kann. Eine, die er im so genannten „Heidehibbel“ in den Oderauen auslebte, beschreibt er: „Dort gingen Geister um. Ich habe einmal versucht, Geister zu beschwören. Aber kein Geist zeigte sich. Nur ein hübsches Mädchen aus Rusdorf.“

„Der Heidehibbel“

Was aber war diese „Heidenlandschaft“ und wo lag sie, deren angeblicher oder tatsächlicher Romantik er ein Denkmal setzen wird und wo … „zwischen Grillenmusik, Heuschrecken und Kiefernwäldern tanze dort des Nachts ein goldenes Irrlicht, das man den Hei­destern nenne, welches allen Heidewanderern in Frieden und Wahrheit heimleuchtet“? In seinem 1918 erschienenen Roman „Bracke“ schreibt Fredi:

„ … Bei Crossen, in der Nähe des Heidehibbel, hatte sich ein Sumpf durch die jährlichen Überschwemmungen der Oder gebildet.

Auf dem tanzte Nacht für Nacht ein greuliches Irrlicht und lockte die Männer an sich, dass sie elend im Sumpf versanken.

Denn es war anzusehen wie ein Weib, ganz mit goldenen Brüsten, goldenen Haaren und den grünlichen Augen einer Kröte.

Da flehten die Frauen Bracke an, dass er den bösen Geist vertreiben möge mit Predigt oder mit dem Schlagen des Kreuzes oder mit herzlicher Beschwörung – indem der Unhold schon fünf rüstige Männer aus der Stadt zu Tode gebracht, die außerhalb des Friedhofes der Rechtgläubigen bei den Juden bestattet wurden, denn so wollte es die Geistlichkeit.

Bracke ging in der Nacht über die Aue zum Heidehibbel.

Die Grillen zirpten.

Lauschte nicht der Conte Gaspuzzi, den Kopf leicht seitwärts geneigt, der Grillenmusik?

Verschlafene Heuschrecken sprangen.

Saß nicht auf jeder Nasr-ed-din, der Türke?

Die Feldblumen dufteten.

Bracke setzte sich am Heidehibbel unter eine Kiefer.

Die Luft begann zu tönen. Der Wind knisterte in den Kiefern. Der Sand wandelte.

Und er sah in kurzer Entfernung im Schein des Mondes, der auf gelben Strahlen ihm zum Tanze geigte, das goldene Licht tanzen.

Bracke trat darauf zu und fasste mit fester Hand in das goldene Feuer: er ballte es in seiner Hand, wie wenn er einen Menschenhals packte, und zerrte das Goldene zu sich heran aufs feste Land.

„Ich will dich retten, Irrlicht, Wahnlicht, das du künftig in Ruhe und Wahrheit zu scheinen vermagst“.

Als aber das Licht auf dem Sande stand, da begann es sich zu beruhigen mit feinem Flattern wie ein junger Vogel, wenn die Mutter ihn lockt, oder wie ein unruhig Kind, das man streichelt.

Sacht entwand es sich seiner Hand, stieg aufwärts und ward zum Stern, der noch heutigen Tages über dem Heidehibbel bei Crossen steht und der Heidestern genannt wird und allen Heidewanderern in Friede und Wahrheit heimwärts leuchtet.“

In der Ausgabe vom Juni 1970 des „Crossener Heimatblattes“ schreibt Dr. Joachim Reich – und dieser Artikel ist nicht so romantisch, aber er erklärt endlich präzise – wo der „Heidehibbel“ zu finden ist:

Bootsfahrt rund um den „Heidehibbel“

Spreewaldlandschaft bei Rusdorf Goskarer Fischwald auf den Wiesen 

Im Mai oder Juni war es immer wie­der einmal so weit, dass der Wasserstand der Oder unterhalb des Abbruches der alten Dammstraße die kleine Stütz­mauer erreichte. Das galt uns als Zei­chen, eine Bootsfahrt um den „Heidehibbel“ nach Goskar und auf der Oder zurück zu unternehmen. Vorbei am Bootshaus des Ruderclubs von 1913 ging es durch den Fischergraben in den Stadtgraben. Das „anrüchige“ linke Ufer meidend fuhren wir immer in Tuchfühlung mit den tief im Wasser stehenden Weidensträuchern am ande­ren Ufer entlang bis etwa 300 m hinter Biedermanns Grundstück. Hier begann der Jansbeutel, hier hatten bekannte Angler ihr Standquartier. So zum Bei­spiel der alte Mattner von Zeidlers, Meister Göbel oder Lixe Weichert, der auf die Frage, ob die Fische beißen, immer nur antwortete; „Verfluchte Sch… heute beißt-wieder kein Aas!“

Die Schweinelache kam in Sicht. Sie war ein gutes Angelgewässer und der letzte Zufluchtsort Crossener Selbstmörder. Hier gab es viele Blutegel.

Kurt Regel zeigte uns einmal am Ufer des Rusdorfer Weges, der hier vorbei führte, sein blutendes Bein. Jenseits dieses Weges lag die kleine Schweinelache. Nach dem Hochwasser war sie gut mit Fischen gefüllt. Bäcker Simsch hat einmal kurz hintereinander fünf Hechte herausgeholt.

Doch weiter auf dem Jansbeutel! Nach einigen Kurven dieses romantischen Gewässers gelangte man an eine Spitzkehre, vor der wir immer mit Volldampf zu rudern begannen, um die Tüchtigkeit des Steuermannes zu testen. Nur einer war dieser Lage gewachsen: Werner Thöne. Selbst unser sonst so tüchtiger Dauersteuermann und Buhenspezialist Günther Moser musste hier ausnahmsweise resignieren.

Wir erreichten die alte Holzbrücke, die – mit Schienen beschwert – mitten im Wasser stand und umfahren werden musste. Hinter ihr lag die Stelle, wo man bei flachem Wasser noch die alten Heizrohre der Leitung von den Rus­dorfer Bergen den Röhrbrunnen in der Stadt wahrnahm.

Hier war auch immer eine Furt, an der man im Sommer gut Schlammpeizker fangen konnte. Die darauf fol­gende Insel, mit Unkraut überwuchert und mit einzelnen Weidensträuchern bewachsen, diente den Crossener Schü­lern als Zufluchtsort bei ihren Indianerspielen. Nach einer Rechtsbiegung um 90 Grad wurde das Gewässer immer schmaler. Vorbei an einer Weideninsel, die alljährlich ein Krähennest beher­bergte, kam man in das Revier der Fa­milie Bertig, die hier die Fischereige­rechtsame besaß. Das Wasser war an dieser Stelle an heißen Sommertagen so flach und klar, dass man am Gewässergrund den rostigen Raseneisenstein zu erkennen vermochte.

Allmählich traten die Ufer wieder zurück. Der Gewässerlauf bog recht­winklig nach links um. Hier lagen als Reste einer Endmoräne wurfgerecht Feldsteine am Ufer, eine stete Gelegenheit für die Rusdorfer „Pauernjungen“ und Machens jeden aus Richtung Cros­sen kommenden Bootsfahrer unter Be­schuss zu nehmen. Sie hüteten Ihre Gänse und waren auch durch Rufe wie „Verfluchte Kräten, wir kommen Euch gleich*‘ nicht abzuschrecken. Nur ein­mal habe ich sie friedlich erlebt. Wir kamen im Boote meines Vaters, von Herrn und Frau Windisch jun. beglei­tet. Diese nannten ein Paddelboot ihr Eigen, das, außen weiß gestrichen, am Kiel die Farben blau-rot trug, so dass jeder dachte, es sei ein Boot von den 13ern. Mit diesem Ehepaar landeten wir, zogen die Boote an Land, die von den Rusdorfer Gänsehütern interessiert bestaunt wurde und foto­grafierten alle zusammen, Das Bild besitze ich heute noch. Dass man sie für würdig befand, fotografiert zu wer­den (1925), imponierte den Jungen maßlos. Der ganze Hass auf die Städter, der bekanntlich auch in den Worten „Ihr Crussener Halunken, im Dracke versunken, in Putter gebroaten und dunnich geroaten“ zum Ausdruck kam, war wie weggeblasen.

Fuhr man weiter, kam man an einen kleinen Kanal, der direkt zum vorde­ren Heidehibbel führte. Durch ihn ge­langte der Bootfahrer in eine märchen­haft schöne Spreewaldlandschaft. Um­geben von Kiefernwald, leichten hier die Fische unter den überhängenden Ufern   und   kamen, aufgescheucht, hervor. Wilde Kaninchen und gelegentlich auch ein   Hase, der sich vor dem Hochwasser gerettet hatte, hoppelten gleichfalls entsetzt davon, wenn unser Boot in ihren Bereich eindrang.

Dieser vordere Heidehibbel kann ein­mal eine alte Schutzsiedlung gewesen sein, zumal die Oder früher zwischen ihm und den Rusdorfer Bergen entlang floss, äußerte einmal Studiendirektor Dr. Hübener. Sein Sohn Rudolf fand tatsachlich einen Tonscherben. Hoffen wir, dass dieser nicht von „Töpfchen-Neumann“ stammte.

Zurück zum Jähnsbeutel fahrend, gelangten wir an ein kleines Brückchen. Wir mussten drüber hinweg, da es vom Wasser umspült war. Nun be­obachteten wir rechts die Störche. Wenn wir uns wie ein Stück Natur, wie ein Fischer benahmen, konnten wir ganz schön dicht an sie heran­kommen. Sie lebten in einem Froschparadies auf den im Juni überschwemm­ten blühenden Wiesen.

Allmählich kam der kleine Heide­hibbel in Sicht. Wir hielten uns zwi­schen ihm und den beginnenden Tschausdorfer Wäldern. Schließlich verlor sich der Jähnsbeutel in den Wie­sen, die, mäßig überschwemmt, eine Durchfahrt zur Oder gestatteten.

Auf diesen Wiesen gewahrte ich eines Tages viele Menschen. Zuerst konnte ich mir ihre Anwesenheit nicht erklären. Je näher ich jedoch heran­kam, umso mehr gewann ich den Eindruck, dass Goskarer wildfischten. Sie standen, als ich bei ihnen war, ver­legen lächelnd mit den Füßen auf den unsichtbaren Netzen im Wasser. Auf meine Frage: „Na, was macht Ihr denn hier“, bekam ich zur Antwort: „Wie woaten mand nur so!“ Das kann ich nur vorstellen, dass Ihr mand nur so watet‘, war meine Entgegnung. Sie hatten mich irrtümlich für einen Spitzel der Crossener Fischer gehalten.

Noch einige Hundert Meter, dann war die Oder erreicht. Nun ging es mit Unterstützung der Hochwasser­strömung Richtung Heimat.“

Und Manfred Hunger vom Lebuser Heimatverein schreibt mir über den „Heidehibbel:  

„ … Den „Heidehibbel“ halte ich auch für eine mundartliche Variante der vielfach verbreiteten landschaftlichen Bezeichnung „Heidenhügel“, meist mittelalterliche Deutungen der Anwohner, für kleine – aber markante –  Bodenerhebungen, in denen sie zuweilen vorgeschichtliche Funde machten, so auch in meinem Heimatort in Thüringen. Der Flusslauf und der Pegel der Oder, Bober usw.  hat sich im Laufe der Zeit verändert und Stellen, die heute von Wasser bedeckt oder als Schrundstellen gerade mal so aus dem Sumpf ragen, können früher Siedlungsstellen oder Thingstellen gewesen sein. Aus den ehemaligen heidnischen Götter – durch die Christianisierung zwar offiziell entmachtet, doch etwas von den alten Vorstellungen blieb – wurden Gespenster und Geister, die im Volksglauben nie ganz ausgerottet werden konnten,  Trotz Völkerverschiebungen und Neubesiedlungen halten sich alte Namensgebungen mit ihren manchmal mystischen Deutungen erstaunlich über viele Jahrhunderte. Gerade in Lebus haben wir Hinweise auf solche Änderungen. Vielleicht hat der „Heidehibbel“ bei Krossen eine  ähnlichen Stellenwert und geheimnisvollen Ruf in der Tradition der Crossener gehabt.“

Meine Frau, unsere Tochter und ich lieben ein Klabund-Gedicht besonders und das passt zu Fredis „Heidehibbel“ Stimmung:

Wanderung zur Nacht

Wenn ich in Nächten wandre
Ein Stern wie viele andre,
So folgen meiner Reise
Die goldnen Brüder leise.

Der erste sagts dem zweiten,
Mich zärtlich zu geleiten,
Der zweite sagts den vielen,
Mich strahlend zu umspielen.

So schreit ich im Gewimmel
Der Sterne durch den Himmel.
Ich lächle, leuchte, wandre
Ein Stern wie viele andre.

Als kleiner Junge habe ich die Stifte meines Vaters in der Nachbarschaft verkauft, das gab Ärger. Fredi hat sich schlauer angestellt. Schon als Fünfjähriger habe er selbstgereimte Verse aufgesagt, so Guido von Kaulla. Sehr zum Entzücken der Familie und wahrscheinlich insbesondere der Großeltern in Marburg, und das brachte sicher manchen „Groschen“ ein. Dass sich das Entzücken – wenigstens anfänglich – ändern würde, ahnte niemand. Und mit einer zu Weihnachten bekommenen Drehorgel zog er kostümiert durchs elterliche Haus,  eine sehr künstlerische Darbietung, die belohnt wurde.

Und bereits an dieser Stelle kann ich getrost die Eitelkeit von Fredi einfügen. Nicht nur seine komödiantischen Einlagen dienten dieser, sondern auch seine sehr frühen Schreibversuche. Die nämlich waren zumeist zuerst biographisch und dann eitel. Und natürlich legte er sehr früh großen Wert auf sein Äußeres.

In den „Crossener Heimatblättern“ erschien vor Jahren ein Artikel, in dem „Bertchen“ Gutsche-Karee zum 90. Geburtstag gratuliert wurde. In Neu-Rehfeld geboren nahm sie nach ihrer Konfirmation eine Stelle als Hausmädchen bei Apotheker Henschke in Crossen an. „Sie hat damals für den jungen Dichter Alfred Henschke-Klabund die Wäsche gewaschen und die Hosen gebügelt. „Klabunds Hosen“, so weiß sie zu erzählen, „mussten stets eine* scharfe Bügelfalte haben.“

Wenn Eitelkeit etwas Negatives ist, was ich bezweifele, kann Fredi nichts dafür, denn dann hat er sie vom Vater geerbt, der lebte sie manchmal geradezu „vorbildlich“.

Schulzeit 

Herbst 1886 soll er eingeschult werden, Masern und hohes Fieber machen dies unmöglich und Fredi besucht daher erst ab Oster 1887 die Knabengrundschule in Crossen. „Besucht“ ist der richtige Ausdruck, denn er lernt sehr schnell und leicht, aber ein „Streber“ wird er nie, seine Schulkameraden mögen ihn, hilfsbereit ist er und für jeden „Blödsinn“ zu haben.

Nach der Grundschule „besucht“ (siehe oben) er das Real-Progymnasium in Crossen bis zum Herbst 1906. Abitur ist auf dieser Schule nicht möglich, er wird nach Frankfurt/Oder wechseln müssen.

Ostern 1902, nach einem Theaterbesuch schreibt er sein erstes Theaterstück mit dem Titel „Der Verrat“. Guido von Kaulla setzt Theaterstück in Anführungszeichen, warum weiß ich nicht, denn dieser Verrat ist wohl verschollen, bzw. ich habe ihn nicht gefunden.

Im (fingierten) „Tagebuch eines Knaben“ beschreibt Fredi 1910, dass sein Vater 1904 schwer an Lungenblutungen erkrankte – „Doch die Natur des Kranken hat sich als ungeheuer zäh erwiesen“ – Aber er ahnt nicht, dass er von seinem Vater auch dessen Krankheitsdisposition mitgeerbt hat.

Bleiben möchte ich aber noch ein paar Zeilen bei der Crossener Schulzeit. Guido von Kaulla schreibt: „Im Herbst 1906 muss Fredi, weil (damals) in Crossen nur ein Real-Progymnasium ist, zur Obersekunda (Michaelis-Klasse) nach Frankfurt/O. ins humanistische Friedrichsgymnasium ge­hen. Herr Calvary hat ihn vorbereitend schon in Griechisch unterrichtet.“

Moses Calvary 

Und der war nicht der Lehrer von Klabund! In einem Artikel der „Crossener Heimatgrüße ist über Moses Calvary zu lesen:

„ … Im Schuljahr 1907/08, also mit 31 oder 33 Jahren kam er als wissenschaftlicher Hilfslehrer (Assessor) nach Crossen. Schon am 14. Mai 1918 wurde er als Oberlehrer (Studienrat) fest  angestellt. Im Sommerhalb­jahr 1914 ließ er sich beurlauben besuchte, bzw. erkundete als überzeugter Zionist Palästina. Er kehrte jedoch an die Oder zurück und lehrte hier weitere fünf, also insgesamt zwölf Jahre. Im Herbst (Michaelis) 1919. so hielt Direk­tor Dr. Hübetier in der Festschrift von 192? fest, ging Moses Calvary nach Li­tauen. Sem Nachfolger in der Oderstadt wurde der Studienrat Max Roland.“

Die Leser der Heimatgrüße sind sehr aufmerksam und ein weiterer Artikel belegt:

„ … Klabund gehörte nicht zur Calvary-Klasse

In der Februar-Nummer 1973 veröffent­lichten die „Heimatgrüße“ ab Illustration der Besprechung des Buches „Brennendes Herz Klabund“ von G. v. Kaulla das Foto einer Klasse des Crossener Real-Gymnasiums mit dem Oberlehrer Moses Calvary. Das Fo­to, das hiermit noch einmal abgedruckt wird, stammte aus dem besprochenen Buch, und die Legende dazu sagte aus, das der Junge in der hinteren Reihe links Alfred Henschke, der spätere Klabund, wäre.

Diese Behauptung, die die „HG“ in der Februar-Nummer übernahmen, bezweifelten mehrere Landsleute in Briefen an die Redak­tion. Es waren dies vor allem Frau E. Liebig, jetzt in Hannover, ferner eine einstige An­wohnerin der Crossener Schlossstraße, (…) die jetzt in der DDR wohnt, und schließlich Landsmann Ernst Zimmermann, Berlin. Insbesondere die beiden Damen berichteten un­abhängig voneinander und teilweise überein­stimmend, dass sie einzelne der Jungen er­kannt hätten und dass diese wesentlich jün­ger seien als der 1890 geborene Alfred Henschke.

(…) kann die Auf­nahme frühestens 1911 gemacht worden sein. Weiter ist der „Festschrift zur 400-jahrigen Feier des Realgymnasiums Crossen an der Oder“ zu entnehmen, dass Moses Calvary als wissenschaftlicher Hilfslehrer 1907 zu wirken begann. Der 1890 geborene Alfred Henschke Klabund ist bei Beginn der Lehrtätigkeit Moses Calvarys am Realgymnasium also 17 und zum Zeitpunkt der Aufnahme mindestens 21 Jahre alt gewesen. Er kann nicht unter den abgebildeten Unterstuflern sein.

(…) Guido von Kaulla hat sich der Beweiskraft der Fakten bereits gebeugt. Er will das Bild aus seinem Klabund Buch nehmen, sofern es zu einer 2. Auflage kommt.

Aber Klabund kannte Moses Calvary, in einem Leserbrief zu den beiden Artikeln ist zu lesen: „ …Ferner übernahm mein Vater von Herrn Cal­vary die Leitung der Volksbücherei. Dort hatte er übrigens eine Begegnung mit Klabund. der eines Tages aufkreuzte und nach Calvary fragte, von dessen Pa­lästina-Reise er nichts gewusst hatte. Also gab es doch eine Beziehung zwi­schen den beiden, obwohl Klabund nicht Calvarys Schüler gewesen war.'“

Diese Bekanntschaft – die tiefer gewesen sein muss, bestätigt Klabund in einem Brief:

„ … Crossen (Oder), Ostersonnabend 1911 (oder wie man hier sagt: Kuchebacksonnbd.)

Sehr geehrter Herr Heinrich,

mit der Überarbeitung der meisten Novellen, die mir hier zur Hand lagen, bin ich jetzt fertig. Die Situation hab‘ ich in keinem Falle verändert. Es scheint mir doch sehr gewagt, den erstmaligen fri­schen bildmäßigen Eindruck durch nachträgliche Retouche verbessern zu wollen. Etwas Gutes kommt bei dem verstandesmäßigen Herumprobieren doch nicht ‚raus; im Gegenteil, der Effekt (im rechten Sinne) geht zum Teufel. Ich habe meine ganze Sorg-falt- soweit sie mir überhaupt zu eigen ist – auf Ver­besserung des Stiles und Konzentration der Handlung gewandt und manch‘ Stück, besonders von den älte­ren, fürchterlich zusammengestrichen (z. B. „Kleine blonde Liselotte“, die aber wahrscheinlich in einem Jahr noch kleiner [aber desto blonder] werden wird.) – Ich schicke Ihnen ein paar Novellen mit, als Ersatz für den „Don Juan“, den Sie schwerlich zu Gesicht be­kommen werden. Nach einer zweimaligen Korrektur ist er mir derart über, dass ich Anfälle kriege, wenn ich ihn von weitem sehe. – Ich freue mich auf Berlin, Freitag hoffe ich einzutreffen. Ihre Karten kamen mir beide wie Grüße aus einer „besseren Welt“. So sehr wird man hier mit geistigen Menschen überfüttert. Der Oberlehrer Calvary ist der einzige, mit dem sich standesgemäß verkehren lässt. — Der ist es auch gewesen, der mich mal auf antike Skulpturen gebracht hat. Ich habe in ihren Abbildungen ge­schwelgt. Kennen Sie etwas Verehrungswürdigeres als die Brüste der Nike von Samothrake? (Sie wissen, mein Faible für Brüste sitzt tief – und tiefer als der Tag gedacht.)

Mit den herzlichsten Ostergrüßen

Ihr dankbar ergebener Alfred Henschke. Der „Komet“ ist eine augenscheinlich neue satirische Wochenschrift, herausgegeben von Fuhrmann und Frank Wedekind. Nr. 4 brachte ein Gedicht von mir. Eine der nächsten Nummern bringt wahrscheinlich mein „Dirnengespräch“.

Im Winter 1906/07 erwischt es Fredi mal wieder, wochenlang liegt er „flach“. Guido von Kaulla schreibt:

„ …Im Winter 1906/7 beginnt der Sechzehnjährige zu kränkeln. Zu Weihnachten muss er sich drei Wochen mit doppelseitiger Lungenentzündung und sehr hohem Fieber niederlegen. Im neuen Jahr kommt er für sechs Wochen nach Crossen ins Krankenhaus. Keineswegs wird schon eine Lungentuberkulose diagnostiziert. (Das Wort „keineswegs“ bedeutet in dieser Bio­graphie, dass einer der demonstrativ publizierten literarhistori­schen Legenden betont widersprochen werden muss; immer aber ist die hier gegebene Schilderung bereits Gegendarstellung angesichts der dem Biographen in ihrer Gesamtheit wohlbekannten Behauptungen der Pseudo-„Klabundkenner“, die irriger­weise glauben: unkorrigiert fabulieren und manipulieren zu können.)“

Ostern 1906 wechselt Fredi nach Frankfurt/Oder auf das humanistische Friedrichsgymnasium und 1923, anlässlich einer Feier der Kleist-Gesellschaft schreibt er: 

„ … Hier bin ich in die Schule gegangen, das heißt in einen roten Kasten, eine Art Pionierkaserne, wo wir gedrillt wurden, eiserne Brücken ins Nichts zu schlagen. Wie unglücklich ist man mit fünf­zehn Jahren. Ich möchte nicht noch einmal fünfzehn Jahre sein. Die selige Jugendzeit gehört auch zu dem sentimentalen Requisitenschwindel, mit dem der Mensch sich zu umgeben liebt. Ein ganzer Mensch, und darum glücklich, ist das Kind, ehe es in die Hände berufener Pädagogen fällt. Glücklich, ein ganzer Mensch, kann auch wieder der Mann sein. Aber der Fünfzehnjährige, nicht Fleisch, nicht Fisch, von Religionslehrern zu Pensionsmädchen, von der Iphigenie in die Tuchmachergasse taumelnd, ohne gehen gelernt zu haben, sich mit Flugversuchen abplagend: was will er, was kann er, was bedeutet er? Eine Träne hängt er in den Wimpern des Gottes, um eben zu Boden zu fallen und zu verdorren.“

Seine Gesundheit ist zu dieser Zeit stabil, aber nach einem Bad im Cros­sener Zackenfallweiher bekommt er eine doppelseitige Lungenentzündung und muss für einige Wochen erneut das Bett in einem Krankenhaus hüten. Sein Vater erzählt später Guido von Kaulla, das dieses Bad der Auslöser der Tuberkulose gewesen sei und nicht eine spätere Wanderung im Riesengebirge. Diese unternahm er in den großen Ferien 1905 bei schlechtem Wetter und das Ergebnis war eine schwere Rippenfellent­zündung, die ihn erneut für Wochen aufs Krankenlager wirft und ihn über ein Vierteljahr der Schule fernhält. Fredi meinte dazu, wenn er bedenke, dass er in dieser Zeit viel lesen konnte  (u.a. Grabbe) um anschließend ausgiebig über das Gelesene nachzudenken und zu einer, wie er sagt, künstlerischen Sicht des Lebens zu kommen, dann habe diese Erkrankung auch etwas Positives gehabt.

Einigermaßen wieder hergestellt entschließt er sich mit dem Vater im Februar 1907 zur endgültigen Erholung nach Locarno zu reisen und das milde Klima des Tessins bekommt ihm, später wird er immer wieder dorthin zurückkehren.

Fredi gilt danach als gene­sen, soll sich aber schonen, leichter gesagt als getan, denn auf seinen geliebten Sport will er nicht verzichten und so verzichtet er zwar auf das Turnen, aber er fährt Rad und schwimmt nach wie vor oft in der Oder, oder rudert. Als Ausgleich macht er mit Vorliebe weit ausgedehnte Spaziergänge in die Wälder, „wobei ihm – wie auch später – Wanderpartner, die mit ihm still zu sein verstehen, immer die liebsten sind. Zuweilen, wenn er einer Erregung nicht Herr zu werden vermag, flüchtet er sich geradezu in diese Wanderungen, bis er sich innerlich wieder gefangen hat“, lese ich im „Brennenden Herz“.

Und bei einem dieser Waldspaziergänge erlebt er die Geschichte vom neu entdeckten „Stockvogel“:

„ … Ich stocherte mit meinem Spazierstock in einem Ameisenhau­fen herum. Wild und geängstigt liefen die Tiere durcheinan­der. Plötzlich hob ich ihn heraus und ging davon. Die Ameisen, die den Stock in den Lüften verschwinden sahen, schrien: „Welch ein seltsamer Vogel!“ – Eine besonders kecke Ameise war am Stock emporgeklettert. Ich musste sie abschütteln. Ganz aufgeregt kam sie bei den anderen an. Atemlos stieß sie her­vor: „Er hatte einen Menschen in den Klauen, er frisst Men­schen!“ – Darauf ging sie hin, fiel in Tiefsinn, schrieb ein Buch: „Art, Abstammung und Organismus des neu entdeckten „Stockvogels“ und wurde zum ordentlichen Professor der Zoologie an der Ameisenuniversität Przmnldtbk ernannt.“

Frankfurter Friedrichs-Gymnasium

Fredis Großeltern Emil Anton Hermann Henschke und Auguste Emilie Maria Rasenauer sind 1900, bzw. 1902 in Frankfurt/Oder gestorben und so wohnte er während seiner Schulzeit im Frankfurter Friedrichs-Gymnasium in einer Schülerpension.

In den „Crossener Heimatgrüßen“ erschien über die Jahre 1906 bis 1909 der Artikel „Klabund-Erinnerungsstätten in Ostbrandenburg“, ein Auszug:

„ … Guido von Kaulla erzählte in seiner Biographie „Brennendes Herz Kla­bund“ unter anderem allerlei über die Obersekundaner- und Primanerjahre des Dichters in Frankfurt an der Oder. Wo in dieser Stadt die Schülerpension lag, in der zeitlich nach Gottfried Benn auch der in Crossen aufgewachsene Al­fred Henschke wohnte, verriet er jedoch nicht. (…)

Das „Graubuch“ über die Frankfurter Gymnasiasten Benn und Klabund ver­fasste Hans-Jürgen Rehfeid. (…) Aber es gelang ihm auch, durch das Stöbern in Archiven und Adressbüchern der Odermetropole einige interessante Fakten hinzuzufügen. Im Wesentlichen handelt es sich dabei um die Feststel­lung, dass mit dem einstigen Friedrichs-Gymnasium (jetzt Maxim-Gorki-Oberschule) und nicht weit davon entfernt mit dem Hause Gubener Str. 31a Gebäude erhalten sind, in denen der romantische Expressionist mit Heimat in Crossen ihn prägende Jahre verbrachte. (…) Der spätere „Klabund“ wohnte deshalb von 1906 bis zum Abitur 1909 in der Schülerpension von Agnes Leonhard. Gubener Str. 31a.“

Und wer es genau wissen will: „Das 2. Obergeschoß nutzte um die Jahrhundertwende Agnes Leonhard als Schülerpension. Bei ihr wohnten in ihrer Friedrichsgymnasiastenzeit   die Dichter Gottfried Benn von 1897 bis 1903 und Alfred Henschke. ge­nannt Klabund. von 1906 bis 1909.

In den Frankfurter Buntbüchern schreibt Hans-Jürgen Rehfeld (Ausgabe 3) mit dem Titel „Wir dachten oft daran zurück“ über Gottfried Benn und Klabund am Frankfurter Friedrichs-Gymnasium zu dieser Schülerpension:

„ … Agnes Leonhard, eine verwitwete Rechtsanwaltsgattin, bewohnte in dem um 1870 erbauten Haus die zweite Etage und vermietete, da das Alumnat des Gymnasiums 1882 geschlossen wurde, regelmäßig an aus­wärtige Schüler. Ihre Pension entsprach den von der Schulordnung geforderten Bedingungen, die vorsah, dass „Schüler, denen es in einer Pension an der nötigen Aufsicht fehlt, dieselbe auf Anordnung des Direktors mit einer geeigneteren zu vertauschen“ haben. Sicher berichtete Stephan Benn seinem älteren Bruder Gottfried von den dichterischen Versuchen seines Pennäler Freundes. Bei einer Geburtstagsfeier lernte der vier Jahre ältere Medizinstudent Klabund flüchtig kennen. Dieser las ihm ein paar Gedichte vor – „Gottfried Benn äußert sich anerkennend und behält den Eindruck von einem entsetz­lich hageren Jungen mit großem Kopf und klugen, blauen bebrillten, glänzenden großen Augen – ein Junge, der nach außen hm frisch witzig und lebhaft ist, aber im Inneren sinnend und nachdenklich.“ (Kaulla) Eine Freundschaft zwischen ihnen entwickelt sich zu diesem Zeitpunkt jedoch nicht.“

Gottfried Benn „als des Toten ältester Freund“ hielt die „Totenrede für Klabund“ und durch seine Formulierung ist ein Irrtum entstanden, die Legende von der Jugendfreundschaft zwischen Gottfried Benn und Klabund. Die stimmt so nicht, denn Benn besuchte die Schule vor Klabund.

In dieser Rede sagt er:

„ … Aus diesem Tal also, das wir heute durchfuhren, stammt Klabund. Diese Hügel, dieser Strom. Als er sie zum ersten Male verließ, als Junge, um auf eine andere Schule zu kommen, begegneten sich unsere Wege. Wir waren beide auf derselben Schule, dem Friedrichs-Gymnasium zu Frankfurt an der Oder, auch in derselben Pension in der Gubener Straße, und wir dachten oft daran zurück“

Aber da war noch Stephan Benn, Gottfrieds jüngerer Bruder und mit dem besuchte er dieselbe Klasse und beide wohnten in der Pension von Frau Agnes Leonhard. Sie wurden gute Freunde und ein „verrücktes Paar“. Gemeinsam gaben sie die Pensionswochenschrift „Die Kugel“ heraus und sie traten auch mit selbstgeschriebenen Sketchen auf. Fredi schreibt darüber an seine Eltern am 4. November 1911: „Zum Kaffee war ich wieder Zuhause, wo .ich dann den Räuberhauptmann von Köpenick (sehr naturge­treu!) darstellte. Alles, ganz genau, selbst „Die linke Schulter zog er hoch!“ […] Anbei: „Der Räuberhauptmann von Köpe­nick“ oder „Der geschundene Bürgermeister“.

Guido von Kaulla schreibt über die beiden Stubengefährten:

„ … Stephan und Fredi haben beide eine komödiantische Ader. Sie verfertigen eine Zeitlang sonntag-vormittags die Pensionswochenschrift „Die Kugel“ oder er sieht beispielsweise als begeisterter Theatergänger am 3. 4. 1908 das Berliner Schauspiel „Stein unter Steinen“ von Sudermann, und schon reizt ihn das naturalistische Theaterstück zu einer Paro­die, die er dann auch zusammen mit Stephan mimt: „Die Edel­mütige Dame – (Naturalistisch-mystisch-symbolistische Szene ohne Mord, Blutsturz, Gesang und Tanz in einem Aufzug) -von Knallfred H.“

Und es beginnt der Crossener erstmals sanft zu berlinern, wenn er der Hauptperson in den Mund legt: „Ick jehör‘ zum alljemeinen / Großen Menschenpöbel mang. / Stein bin ick unter Steinen / Wie unser Dichter sang.“

Im Gymna­sium spielt er in der Schüleraufführung der „Menächmi“ des Plautus mit. Zuweilen glänzt Fredi auch durch sein solistisches vierhändig spielen auf dem Fortepiano, das heißt: mit großer Gelenkigkeit drückt er die Tasten mit Händen und – Füßen!“

In Frankfurt galt das gleiche wie auch schon in Crossen, Fredi lernte ungewöhnlich leicht und wurde bald Klassenprimus und er wird beim Abitur vom „Mündlichen“ be­freit. Hausaufgaben erledigt er spielend: genug Zeit bleibt für das kulturelle Leben, für Theater und Literatur.

Guido von Kaulla berichtet über einen weiteren Freund aus der Frankfurter Schulzeit:

„ …In der Schule gewinnt er sich aus der „Oster-Klasse“ einen neuen Freund – den ältesten Sohn des Justizrates Gebhardt: Ju­lius, der etwas jünger ist, aber lebensreifer. Die genüssliche Schilderung, die Julius von seinen Amouren gibt, empfindet Fredi zwar als zynisch, aber beide stecken bald in ihrer freien Zeit dauernd zusammen. Jetzt wächst seine Belesenheit sehr, zumal ihm seine Gabe der raschen Auffassung bereits zu einer auffallend hohen Lesegeschwindigkeit verhilft. Die bedeutend­ste Taschenbuchreihe der damaligen Zeit – Philipp Reclams Universalbibliothek mit ihren Tausenden von Nummern – gibt dem Schüler die Möglichkeit: Weltliteratur zu vertrauter Wirk­lichkeit werden zu lassen. „Reclams“ sind beispielsweise: A. Forkes Übertragung des altchinesischen Schauspiels vom „Kreidekreis“ und „Die Geschichte des märkischen Eulenspiegels Hans Clauert“ (Vorstufe zum Roman „Bracke“) und „Die Ballade vom Zuchthaus zu Reading“ von Oscar Wilde in der Übersetzung seines späteren Freundes Walther Unus.

Verse des Schweizers Conrad Ferdinand Meyer bedeuten ihm viel. Den stärksten Rang hat für ihn Goethes Lyrik. In der Schülerzeit wurzeln schon die Zeilen der „Literaturgeschichte“ (1919): „Wir kommen von Goethes Lyrik; wir wollen wieder zu ihr zurück. Denn jeder Gang zu ihr ist wie ein Heimweg ins Vaterhaus.“ Ebendort huldigt er Richard Dehmel: „Er hat die Tradition der deutschen Lyrik über eine Zeit der schauerlichen Zerfahrenheit und Traditionslosigkeit hinübergerettet […-] das Liebeslied neu geschenkt: das dunkle Du, das dunkle Ich, die durch die Nacht sich suchen – und sich finden.“

Für Theaterbesuche benötigten die „Pensionsschüler“ die Genehmigung vom Klassenordinarius, Tanzstunden genehmigte der Direktor, auf die komme ich noch. Fredi liest, liest und liest, Autoren: Richard Dehmels oder Conrad Ferdinand Meyer, aber auch Arno Holz, „Daffnis“ begeistert ihn. Zu dessen 60. Geburtstag schreibt Fredi:

Nun wirst Du sechzig Jahre alt
(Und bist jünger als die Jüngsten).
Als Sekundaner schwänzte ich die Schule.
Oben auf dem Kleist-Turm: Über dem Föhrenwalde
In der Frühlingssonne
Las ich das Buch der Zeit
Unten im Tal floß die Oder,
Um meine junge Stirn strömten deine Rhythmen.

Als ich dumpf wie eine Kröte an der Erde kroch,
Hat mich dem Phantasus beflügelt.
Du hast mir lächelnde Lieder gesunden,
Schäfer Daffnis.
Ich will dir danken, daß du lebst.

Fredi schreibt und schreibt bereits während der Zeit auf dem Gymnasium, hauptsächlich Gedichte, die er später in seine Veröffentlichungen einfügen wird, z.B. „Still schleicht der Strom“ abends an der Oder vermerkt er präzise, entstanden am 8. April 1908 und dazu Übersetzungen aus dem Französischen (Gedichte Baudelaires und Verlaines).

Durch Julius Hermann Wilhelm Gebhardt, der etwas jünger als Klabund war, lernte er die blonde Grete Balken­holl kennen, die im November 1908 „seine große Liebe“ wurde und der er zahlreiche Gedichte widmete. Im Band „Die Himmelsleiter“, erschienen unter dem Titel „In Memoriam G.B.“ 1916 bekennt er: „Was du mir warst – wer darf es wissen? / Was du mir wirst – was kann es sein?“

Grete Balkenholl und Julius Gebhardt heirateten, aber die Verbindung der drei blieb erhalten. Eta (Margarete) Harich-Schneider (geb. 16. November 1894 in Oranienburg, gestorben am 10. Januar 1986 in Wien), eine deutsche Cembalistin, Musikwissenschaftlerin, Japanologin und Schriftstellerin erinnert sich:

„… Er (Klabund) empfahl mich auch an seine Freunde Grete und Julius Gebhardt in Frankfurt an der Oder, und Julius leitete meine Scheidung ein; die beiden Gebhardts wurden meine besten Freunde und haben mir jahrelang selbstlos und sehr aktiv gehol­fen. Bei ihnen habe ich Klabund immer wieder gesehen.“

„Stephan Benn verließ das Friedrichs-Gymnasium 1908, Julius Gebhardt Ostern 1909. In den noch verbleibenden Frankfurter Monaten schloss sich Klabund stärker an seinen Klassenkameraden Karl Friedrich Städ­ter, den späteren Redakteur der „Hallischen Nachrichten“, an“ so Guido von Kaulla.

Im Sep­tember 1909 legte Klabund sein Abitur ab und geht nach München zum Studium.

Übrigens gab es zum Friedrichsgymnasium noch einen Artikel in den Medien:

„ … Wo Klabund lernte – Rückbenennung in Friedrichsgymnasium

Die Frankfurter Stadtverordneten stimmten am 19. November 1992 der Riickbenennung der Maxim-Gorki-Schule an der Gubener Straße in Friedrichsgymnasium zu. Sie folgten damit Vorschlägen ihres Kulturausschusses und der Konferenz des Gymnasiums III. Eltern. Schüler und Lehrer erklärten, sie wollten die Namensänderung im De­zember festlich begehen. Für den 1. Juli 1994 wird ein weiterer Festakt anlässlich des 300jährigen Bestehens der Bildungs­anstalt geplant. Deren Gründung ist ur­kundlich mit dem Geburtstag des dama­ligen Stifters und Kurfürsten Friedrich III., dem späteren ersten preußischen König, verbunden.

Das traditionsreiche humanistische Friedrichsgymnasium besuchten u. a. die Dichter Gottfried Benn und Alfred Henschke-Klabund. Der berühmteste Lehrer der Schule war der Historiker Leopold von Ranke.“

Kindheit und Jugend wären eigentlich vorbei, aber da sind ja noch die Mädchen und über die muss geschrieben werden. Wer erinnert sich nicht an die eine oder die zahlreichen Jugendlieben? Also geht dieses Kapitel noch ein paar Zeilen weiter.

Verliebt, aber nicht verlobt und nicht verheiratet!

So etwa um 1904 „verliebt“ sich Fredi das erste Mal, sehr heftig und sehr schüchtern. Guido von Kaulla leidet mit:

„ … In dieser Zeit hat er zum ersten Mal das, was man im Sprach­gebrauch der Zeit eine „Flamme“ nennt. Die scheu im stillen Angebetete ist die nur um ein Weniges ältere Hanna Zeidler, die Tochter des Besitzers des „Crossener Tageblattes“, eines Duzfreundes seines Vaters. Hanna ist zart und bildhübsch und klug. Noch im “Irene“-Gedichtzyklus wird der Knabe geschil­dert, der an Scham leidet, vor Liebeskummer einsam im Oder­bruch sich die Lippen zerbeißt, und der es nicht wagt, das von der – hier Margarete genannten – Angebeteten auf dem Schul­weg verlorene Taschentuch direkt zurückzugeben: es wird ih­rem Bruder ausgehändigt. „Georg“ (also Fredi) verwünscht immer wieder seine „übergroße Feinheit“, die ihn aus Schüchternheit nicht zu wirklich unbefangenem Plaudern mit dem ihn sehr freundlich behandelnden Mädchen kommen lässt. In der Stille nur widmet er ihr seine ersten Gedichtzusammenstellungen – „Han­nah“ und „Du“; darin schon das „Der Wind weht durch die Gassen.“

Platonisch bleiben auch noch seine folgenden „Liebeleien, z.B. in Frankfurt/O., Hanna Zeidler verlobt sich 1907, aus der Traum. „Alfred Henschke mag wegen sei­ner häufigen Krankheiten körperlich labil sein und äußer­lich nicht gerade dem Prototyp des Frauenhelden entsprechen, aber die Mädchen reizt sein kecker Charme und sein loses Mundwerk“ habe ich gelesen. Und alle Abenteuer verarbeitet er ab seinem 16. Lebensjahr in literarischen Versuchen, mehr oder minder gelungen, werden seine Kritiker später schreiben.

Die „Crossener Heimatgrüße“ veröffentlichen im Oktober 1970 (Ausgabe 5) einen Artikel eben zu diesem Thema, den  Guido von Kaulla für die „Heimatgrüße“ geschrieben hat:

Autobiographie des 18jährigen Dichters

Guido von Kaulla berichtet über ein der Öffentlichkeit unbekanntes Manuskript

„… Die Fahrt ins Leben (Roman) –Begonnen am 29. XI. 1908 Beendigt am 7. XII. 1908″ steht über der – bisher unveröffentlichten Handschrift, in der Georg Hermann Alfred Henschke seine Kindheit und Schulzeit erzählt. Dieser Kurz-Roman war als I. Teil einer Selbstbiographie gedacht und umfasst in der Abschrift 28 Schreibmaschinenseiten. Bis zur Seite 20 spielt die Hand­lung in Crossen, danach in Frankfurt/ Oder. Als „Held“ nennt der Verfasser sich „Georg Rasenack“.

Das kleine Werk in seiner auch Einzelheiten charakterisierenden Zeich­nung der Verhältnisse des Hauses und der heimatlichen Umwelt beginnt mit der Sicht auf die verschneite Stadt. Ehe der Verfasser aber auf diesen Wintermorgen – und da auf die Schilde­rung seiner eigenen Geburt näher eingeht, lässt er uns einen Blick zu­rück tun in die Geschichte der hier „Kleinberg“ genannten Stadt Crossen, vom 30jährigen Krieg bis zum großen Wirbelsturm von 1886. Erst dann be­ginnt das Gespräch zwischen der jun­gen Frau, die ihre Wehen herannahen fühlt, und dem verschlafenen Apotheker-Gatten, der zum Sanitätsrat laufen wird, während das Dienstmädchen schnell die Hebamme holt.

Es folgen viele ausführlich beschriebene Statio­nen des jungen Lebens, u. a. ein Ge­burtstag des Vaters mit dem Ständ­chen der Feuerwehr und dem einer Kapelle aus dem Bekanntenkreis, der gereimten Rede des befreundeten Pa­stors, der Kochfrau, die schon am Nachmittag erscheint, dem Müdewerden, dem Gebet vor dem Einschlafen und den vielen Träumen. Erzählt wird von den Kinderkrankheiten ebenso wie von den Knabenfreundschaften, so von der Freundschaft mit dem Sohn des nachbarlichen Drogisten. Diese beiden – Vater und Sohn — tauchen später noch in den Schriften Klabunds auf.

Die erste Verliebtheit fehlt nicht. Der Elfjährige findet anlässlich eines Besuches bei den Eltern des Vaters in Frankfurt/Oder Gefallen an der kleinen Spielgefährtin. Auch die erste bewusste Lüge (in Marburg, wo man den Vater der Mutter besucht) wird nicht ausge­lassen. Es erschüttert ihn die erste Berührung mit dem Tode, als das Brü­derchen Werner stirbt. Er ist hingerissen vom ersten Theaterbesuch bei einer Wanderbühnen-Vorstellung, die im Schützenhaus stattfindet. Das erste eigene „Theaterstück“ entsteht. Die Erkrankung wird geschildert, zu Be­ginn eines Ferienaufenthaltes in Schrei­berhau, die dem Heranwachsenden zum Schicksal werden soll.

Nicht zuletzt aber gelten viele Sei­ten seiner scheu angebeteten ersten Flamme“. Man liest da, dass (1904) die Eltern in die Schweiz fahren, weil der Vater sich in Graubünden von einer schweren Krankheit erholen muss Eine Tante führt den Haushalt. Wäh­rend dieser Zeit verliebt sich Georg. Bisher hat er sich abgestoßen gefühlt von dem Treiben der Klassenkame­raden mit den Mädchen. Er selbst wagt es kaum, ihnen in die Augen zu sehen. Jetzt also betet er seine heimlich Ge­liebte von weitem an. Sein ganzes bis­heriges Leben ist er ihr Nachbar gewesen, ohne ihre Anmut und Schönheit zu bemerken. Es ergreift ihn ganz plötzlich, als sie sich begegnen und ihre Augenpaare – ihre dunklen und seine blauen – sich zufällig treffen. Beherrscht von seiner Sehnsucht wird er krank, wenn er sie einen Tag nicht gesehen hat. Seine Liebe ist fast wunschlos: Er will sie nur sehen. Mit ihr zu sprechen, kommt ihm aberwitzig vor, so sehr ihm dies höchstes Glück wäre.

Erst nach einem Jahr beschäftigt ihn der Gedanke, ob sie ihn auch wiederliebe. Bei einem Fest, an dem beide teilnehmen, sitzt Georg scheu in einer Ecke des großen Saales, als sie auf ihn zukommt und sich ohne Feier­lichkeit neben ihn setzt. Sie wartet -und erwartet, dass er ein Gespräch beginne. Doch Georg wird blass und kann kein Wort hervorbringen. Trotzig – spöttisch steht sie auf und geht. Er verwünscht sich innerlich, seine Ver­legenheit, seine Unbeholfenheit! Als er später allein ist, macht sich sein Kummer in lautlosem Weinen Luft. Er gibt – die Hoffnung auf, ihr jemals zeigen zu können, wie ihm ums Herz ist.

Im Sommer 1905 trifft ein Tanzmeister aus Guben ein, um einen Tanz- und Anstandskurs zu geben Das Mädchen hat schon früher daran teilgenommen. Georg hat keine Lust dazu, aber sein Vater besteht auf der Tanzstunde und so findet er sich wider Willen jeden Dienstag und Freitag von 1/2 8 bis 10 Uhr im Saal des „Reichsadler“ ein. Manches Mädchen ermuntert ihn, doch Georg mag mit keiner von ihnen anbändeln, denn er trägt noch unverrückt das Bild der Dunkeläugigen im Herzen.

Im Herbst 1906 kommt Georg in eine Schülerpension nach Frankfurt/Oder. Ein Bändchen Gedichte beglei­tet ihn. Um die Jahreswende meldet sich seine Krankheit wieder, so stark, dass er im Frühjahr den Süden aufsu­chen muss: Er fährt nach Locarno. Den Zurückgekehrten trifft die Nachricht von der Verlobung seiner Angebeteten. Seine Gedanken sind schwer: Diese Verlobung sei vielleicht nur zustande gekommen, weil er der Geliebten nie von seiner Liebe gesprochen.

Trost findet er nur in seinen Liebesliedern, in der Beschäftigung, viele davon in Mu­sik zu setzen . .. .“Noch lange bildet diese Crossener Liebe für ihn eine seelische Sperre, bis endlich bei einer Geburtstagsfeier den Oberprimaner ein neues Erlebnis davon befreit. Aber das ist schon nicht mehr in Crossen. Fredi Henschke hängt an „Die Fahrt ins Leben“ eine vorauseilende Abitur-Schlussbemerkung und schließt dieses Kapitel seines Lebens ab.

Wer war die Crossenerin? „Nachbarin“? „Dunkle Augen“! Sie heiratet am 27. Mai 1910 in St. Marien den sieben Jahre älteren Bremer Pastor Robert Leonhardt und wird von Pastor Dibelius (dem nachmaligen Bischof) j getraut. Und dann – 1910 in einer Erzählung – wird Alfred Henschke etwas deutlicher: Jetzt nennt er sie „Hanni Beckenhöver“ und bezeichnet sie als „Verwandte des Druckereibesitzers“. In einem Gedicht schildert er, wie er das Taschentuch der Angebete­ten errötend – ihrem Bruder – zurück­gibt. Und ein Heftchen mit Gedichten noch aus der Crossener Zeit trägt den Sammeltitel „Hannah“. |     Die erste Liebe des Dichters ist also Hanna Zeidler, geboren am 16. September 1890, Rudolf Zeidlers ältere Schwester, die später zwei Söhnen das Leben schenkt und schon als Dreiunddreißigjährige starb.

Die Cousine Grete

Margarete Hermine Louise Bertha Früstück, geboren in Oldenburg 1892 war meine Oma. Ihre Mutter Charlotte Anna Elise Buchenau ist die fünf Jahre ältere Schwester von Emilie Antonie (Tante Toni genannt), Klabunds Mutter.

Klabund war also der Cousin meiner Oma.

Die beiden haben sich oft getroffen, in Marburg, wenn er die Großeltern besuchte und bei Urlauben der Familie auf den Nordsee-Inseln, aber auch in Crossen. Guido von Kaulla meint: „Seine (Klabunds) Scheu wird zur ersten starken Verwirrung, als er bald darauf in den großen Ferien auf Borkum mit seiner um zwei Jahre jüngeren Cousine Grete zusammentrifft.“

In allen Biographie taucht die „Cousine Grete“ auf, keiner der Autoren weiß etwas Genaues und auch in unserer Familie wird – wenn auch ein bisschen hinter vorgehaltener Hand – über eine tatsächliche oder nur angenommene Liebelei der beiden geredet. Klabund aber wird deutlicher er schreibt in einem Brief:

„… Crossen (O), 29. IX. 1912

(einen Tag vor der Silber­hochzeit der Eltern) „… Morgen erhalten wir Besuch. Eine hübsche 20jähnge Kusine von mir, die ich als Obersekundaner in den Strandkörben Borkums heiß geliebt habe. Hoffentlich wird’s diesmal nicht so gefährlich.“

Sie hat eine 12 Jahre jüngere Schwester – Gertrud Dora Antonie – und deren Patin war … Klabunds Mutter.

Oma schreibt in einem Lebenslauf:

„ … Ich besuchte von Ostern 1899 bis Ostern 1902 die Volksschule der Cäcilienschule zu Oldenburg und von Ostern 1902 bis 1908 die höhere Mädchenschule in Birkenfeld/Nahe, wohin mein Vater als Direktor des Gymnasiums versetzt worden war. (…)

Nach seinem Tode (Gemeint ist ihr Vater) verzog ich mit meiner Mutter nach Marburg an der Lahn und wurde auf dem dortigen Lyzeum als Schülerin der I. Klasse angenommen.

Das Jahr 1909 führte mich auf das Oberlyzeum in Osnabrück, wo ich 1912 das erste und 1913 das zweite Examen als Lehrerin ablegte.“

In Marburg lebte sie bis zum Tode ihrer Mutter im Jahre 1912 zusammen mit ihrer Schwester Gertrud.

„ … Zunächst als Hauslehrerin für 4 Mädchen auf einem Gute in Westfalen beschäftigt, ging ich Ostern 1914 nach England, um mich in der englischen Sprache weiter zu bilden, kehrte infolge des Krieges Ende August von dort zurück und trat eine Lehrerinnenstelle an der Schillerschule in Oberstein/Nahe an.“

In wenigen Sätzen beschreibt sie ein sehr selbstständiges Leben, das wahrscheinlich begründet ist durch den frühen Tod der Eltern. Zu dieser Zeit war es keine Selbstverständlichkeit für eine junge Frau, einfach nach England zu gehen.

Am 17. September 1918 heiratet sie in Niederbrombach den damaligen Pfarrer von Niederbrombach, Paul Klos. Ihre Stelle als Lehrerin gab sie auf und 1919 kam die erste Tochter auf die Welt und das war meine so genannte „Mutter“.

Das Leben nach ihrer Hochzeit wäre eine andere Geschichte, eine traurige Geschichte. Und die möchte ich hier nicht erzählen, als ich sie Ende 2009 endlich erfuhr, habe ich sie an anderer Stelle aufgeschrieben.

Meine Oma war eine tapfere Frau und eine tolle Oma, die ich sehr bewundert und geliebt habe. Am 20. Juni 1959 verstarb sie im Krankenhaus in Koblenz-Moselweis und wurde im Familiengrab in Birkenfeld beerdigt und dieses gibt es nicht mehr, musste ich im Sommer 2016 feststellen.

Und einen Satz zu diesem Bild. Es entstand im Mai 1913 und auf der Rückseite schrieb meine Oma: „Meinem lieben Tönnchen“. Wer war damit gemeint?