Karl Wilhelm Diefenbach

Diefenbach, Selbstbildnis, nach 1882.

Karl Wilhelm Diefenbach wurde am 21. Februar 1851 in Hadamar geboren. Sein Vater war der Maler und Zeichenlehrer am Hadamarer Gymnasium, Leonhard Diefenbach.

Leonhard Diefenbach, geboren am 10. September 1814 in Hadamar als Sohn des Bäckers, Wirts und Schultheißen der Stadt Hadamar Jakob Diefenbach war Maler und Pädagoge. Wikipedia schreibt:

„… Er besuchte das Hadamarer Pädagogium und lernte anschließend Zeichnen bei der lithographischen Anstalt Scholz zu Wiesbaden. Er besuchte die Malerakademien in München und Frankfurt. Vom 8. April 1845 an bis 1870 unterrichtete er als Zeichenlehrer am Hadamarer Gymnasium. (…).

Das Werk Diefenbachs ist sehr umfangreich. Bekannt sind seine Kinder-, Jugend- und Zeichenlehrbücher, die ab 1855 bei Thienemann in Stuttgart oder bei Scholz in Mainz erschienen. Eine Unzahl Zeichnungen, Aquarelle und Ölgemälde nassauischer Ansichten gehört ebenso zu seinem Werk wie Landschaften und Porträts. Seine Heimatstadt zählte zu seinen liebsten Motiven. Kaiser Franz Josef von Österreich zeichnete Diefenbach als ersten Künstler mit der goldenen Medaille für Kunst und Wissenschaft aus. Anlass war ein Aquarell, das die Ankunft des Kaisers vor Schloss Biebrich am 21. August 1863 zeigte. Seinen Lebensabend verbrachte er malend bei Herzog Adolf von Nassau in Lenggries, wo er auch starb.“

Schloss HohenbuSrg,Lenggries Quelle: Von Thomas P. Meiningen – Eigenes Werk, CC BY-SA 4.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=47913569

Lenggries mit dem Schloss Hohenburg ist eine Gemeinde im oberbayerischen Landkreis Bad Tölz-Wolfratshausen und ein Luftkurort.

Aber Hadamar ist nicht nur der Geburtsort des „Urvaters der Alternativbewegungen“ und der Friedensbewegung, sondern in der Stadt spielte sich während des III. Reiches ein mörderisches Kapitel der Geschichte ab. Wikipedia schreibt über die Stadt Hadamar:

„… Hadamar ist eine Stadt im mittelhessischen Landkreis Limburg-Weilburg. Sie grenzt an die Kreisstadt Limburg an der Lahn und liegt zwischen Köln und Frankfurt am Main am Südrand des Westerwaldes am Elbbach in einer Höhe von 120 bis 390 m ü. NN.

Blick auf den Stadtkern vom Mönchberg aus nach Osten Quelle: Von Volker Thies (Asdrubal) – Eigenes Werk, CC BY-SA 3.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=5309402

Bekannt ist Hadamar auch für die am Stadtrand gelegene Vitos Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie Hadamar, in deren Nebengebäuden sich die „Gedenkstätte Hadamar“ befindet. Dort wird an die Ermordung von Menschen mit Behinderungen und psychischen Erkrankungen während der Zeit des Nationalsozialismus in der als Tötungsanstalt Hadamar benutzten Heil- und Pflegeanstalt Hadamar erinnert.

Das 1883 gegründete psychiatrische Krankenhaus wurde ab 1941 zur NS-Tötungsanstalt Hadamar, in der schätzungsweise mindestens 14.494 Behinderte, psychisch Kranke, so genannte „Halbjuden“ und „Ostarbeiter“ ermordet wurden. Heute erinnert eine Gedenkstätte an diese Verbrechen.“

In diesem Gebäude befanden sich Gaskammer und Krematorium Quelle: Von Frank Winkelmann – Eigenes Werk, CC BY 3.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=15126887

Diefenbach studiert an der Münchner Kunstakademie. Die Maler Arnold Böcklin (16. Oktober 1827 in Basel – 16. Januar 1901 in San Domenico bei Fiesole, Florenz), ein Schweizer Maler, Zeichner, Grafiker und Bildhauer des Symbolismus, (er gilt als einer der bedeutendsten bildenden Künstler des 19. Jahrhunderts in Europa) und Franz von Stuck, seit 1906 Ritter von Stuck (23. Februar 1863 in Tettenweis, Landkreis Passau, Niederbayern – 30. August 1928 in München), Zeichner, Maler und Bildhauer des Jugendstils und des Symbolismus, beeindrucken und beeinflussen ihn. Seine Gemälde fanden daher schon früh Beachtung und Anerkennung.

„Durch eine schwere Typhus-Erkrankung und einer Operation wurde sein rechter Arm verkrüppelt. Diefenbach glaubt, mit Naturheilmethoden sein Leben gerettet zu haben und wandelt sich unter dem Einfluss des Naturheilpraktikers Arnold Rikli (13. Februar 1823 in Wangen an der Aare, Kanton Bern – 30. April 1906 in Sankt Thomas, Kärnten, Österreich-Ungarn), einem Naturheiler und Begründer der „Atmosphärischen Kur“, bei der Licht- und Luftbäder eine wesentliche Rolle spielen. (Rikli war auch Anhänger der sogenannten Lebensreform) und dem Begründer des Vegetarischen Vereins in Deutschland Eduard Baltzer (24. Oktober 1814 in Hohenleina – 24. Juni 1887 in Durlach bei Karlsruhe), ein evangelischer Theologe, Vertreter eines ethischen Vegetarismus, Gründer des ersten Vegetarier-Vereins in Deutschlands, Pionier der Lebensreform-Bewegung und der erste Präsident des Bundes Freireligiöser Gemeinden Deutschlands zum Anhänger einer naturgemäßen Lebensweise.

Übrigens, Eduard Baltzer prägte 1852 den Begriff der „Jugendweihe“.

Eduard Baltzer Quelle: Wikipedia

Wohl 1881 trat Diefenbach aus der Kirche aus und wurde Mitglied der Freireligiösen Bewegung.

Aus Wikipedia:

„… Die freireligiöse Bewegung bezeichnet eine uneinheitliche religiöse Weltanschauung, die auf konfessionsgebundene Lehren (Dogmen) und Bekenntnisse verzichtet. Organisatorisch entstand sie aus reformorientierten Kreisen der katholischen und evangelischen Kirche im Zuge des Vormärz.

Sie fühlten sich im Zuge der Aufklärung den Menschenrechten, der gegenseitigen Toleranz und den Werten des Humanismus verbunden. Ihre Positionen gelten als liberal, freidenkerisch und säkular, bisweilen auch als naturalistisch, agnostizistisch und atheistisch.

Der Begriff Vormärz bezeichnet die Epoche der deutschen Geschichte zwischen der Julirevolution von 1830 und der Märzrevolution von 1848/1849. Einige Historiker fassen die Epoche etwas weiter und lassen sie bereits mit dem Wiener Kongress von 1815 beginnen. Geographisch beschränkt sich der Begriff auf die Staaten des auf dem Kongress gegründeten Deutschen Bundes.

In politischer Hinsicht war der Vormärz durch das Aufkommen von Nationalismus, Liberalismus und Sozialismus geprägt sowie durch die dagegen gerichtete restaurative Politik der Verfolgung und Unterdrückung. Stärkstes Bollwerk der Restauration, der Wiederherstellung der alten Mächte, war die sogenannte Heilige Allianz aus Preußen, Russland und Österreich. Nach dessen Staatskanzler und Außenminister wird diese Epoche, bezogen auf die gesamteuropäische Geschichte, auch als Ära Metternich bezeichnet.

Das wesentliche wirtschaftliche Merkmal des Vormärz war die allmählich einsetzende Industrialisierung. Die Übergangsphase vom Agrarstaat zum Industriestaat brachte oft auch soziale Missstände mit sich.“

Diefenbach fertigte mehrere Selbstporträts an, dieses zeigt ihn 1892 als Einsiedler

Ausgerechnet in der „Hochburg der Schweinshaxe“ – in München – bekleidet mit Kutte und Sandalen verkündete Karl Wilhelm Diefenbach seine Lehren vom Leben im Einklang mit der Natur, Ablehnung der Monogamie, Abkehr von jedweder Religion, Bewegung an der frischen Luft und Ausübung der Freikörperkultur, sowie einer fleischlosen Ernährung als Veganer; man verspottete ihn als „Kohlrabi-Apostel“.

„Kohlrabi-Apostel“, eine zeitgenössische Papierserviette Quelle: Gemeinfrei

Die Polizei löste seine Versammlungen immer wieder auf, Wikipedia schreibt:

„… Nachdem die Polizei seine Versammlungen unterdrückt hatte, zog sich Diefenbach in einen verlassenen Steinbruch bei Höllriegelskreuth zurück. Eine kleine Kommune entstand, die nach den Lehren Eduard Baltzers lebte. Dort wurde der junge Maler Hugo Höppener sein Helfer und Jünger. Diefenbach nannte ihn Fidus, was zum Künstlernamen Höppeners wurde. Die Zeitschrift „Die Schönheit“ (ab 1901) veröffentlichte Werke von Fidus, der zu einer Ikone der FKK-Bewegung wurde. In gemeinsamer Arbeit entstand der große Fries „Per aspera ad astra“. Eine Ausstellung seiner Gemälde in Wien im Jahr 1892 war ein sensationeller Erfolg und machte ihn berühmt, doch verlor er infolge von Betrügereien der Leitung des Österreichischen Kunstvereins alle seine Werke.“

Und über Höllriegelskreuth lese ich in der gleichen Quelle:

„… Höllriegelskreuth ist ein Ortsteil der Gemeinde Pullach im Isartal. Er liegt auf dem waldreichen linken Hochufer der Isar unmittelbar an der S-Bahn-Linie München–Wolfratshausen mit dem Bahnhof Höllriegelskreuth. Das Siedlungsgebiet ist mit dem nördlichen angrenzenden Pullach verwachsen. Die Grünwalder Isarbrücke überquert den Fluss zwischen Höllriegelskreuth und Grünwald.

1885 verließ Diefenbach München und eröffnete in Höllriegelskreuth im Isartal die Kommune „Humanitas. Quelle: gemeinfrei

Die Gründung des Ortes geht auf den Steinmetzmeister Franz Höllriegel zurück, der hier Mitte des 19. Jahrhunderts einen Steinbruch für Nagelfluh sowie ein Gutshaus errichten ließ. Dazu musste er erst einmal das Gelände roden lassen, darauf verweist der Ortsnamensbestandteil „-kreuth“ (von reuten = „roden“). Dieser Steinbruch von Höllriegelskreuth wurde um 1886 berühmt als Sitz der Humanitas-Gemeinschaft des Malers und Kulturreformers Karl Wilhelm Diefenbach (1851–1913). Dank der Energieversorgung durch das Wasserkraftwerk Höllriegelskreuth und seiner günstigen Lage an der Isartalbahn wurde der Ort bereits früh zu einem Standort für Industrieansiedlungen. Die Firma Linde nahm hier 1903 die erste Luftzerlegungsanlage in Betrieb. Daraus entwickelte sich ein Konflikt zwischen dem Gründer der Isarwerke, Jakob Heilmann und frühen Naturschützern um den Architekten Gabriel von Seidl, die 1902 den Isartalverein gründeten.“

Karl Wilhelm Diefenbach flieht nach Ägypten und dort entwirft er angeblich riesige Tempelbauten. Bereits 1897 kehrt er nach Wien zurück, er will seine Bilder zurück und er plant die Herausgabe der Zeitschrift „Humanitas“ und eine große Ausstellung.

Flucht nach Ägypten Quelle: https://www.researchgate.net/figure/Karl-Wilhelm-Diefenbach-gauche-et-le-jeune-Costis-Parthnis-sur-lne-en-gypte_fig6_309827187

Wikipedia:

„… Ein Freundeskreis, dem die Pazifistin, Friedensforscherin, Schriftstellerin und Friedensnobelpreisträgerin Bertha von Suttner (9. Juni 1843 in Prag – 21. Juni 1914 in Wien) und der Publizist Michael Georg Conrad (5. April 1846 in Gnodstadt/Unterfranken – 20. Dezember 1927 in München), Schriftsteller des Naturalismus. angehörten, unterstützte seine Unternehmungen. In dieser Zeit sammelte sich um ihn eine Lebensgemeinschaft von bis zu 20 Schülern oder Jüngern. 1897 gründete er mit ihnen die Künstlerkommune „Humanitas“ im Hause der ehemaligen Gaststätte „Am Himmel“ am Himmelhof in Ober Sankt Veit, die zur Keimzelle der frühen Alternativbewegung oder Lebensreform wurde. Ihr gehörten zeitweise die Maler Franz Kupka, Constantin Parthenis, Paul von Spaun und Gusto Gräser sowie der spätere Tierrechtler Magnus Schwantje an.“

Karl Wilhelm Diefenbach im Kreise der Landkommune des Himmelhofs in Ober-St.-Veit bei Wien, 1898 Quelle: Gemeinfrei

Über den „Himmelshof und den Ort Ober Sankt Veit ist bei Wikipedia zu lesen:

„… Der Himmelhof ist eine Aussichtswiese am Rande des Lainzer Tiergartens im 13. Wiener Gemeindebezirk. 

Der Himmelhof befindet sich im Bezirksteil Ober Sankt Veit südlich von Hacking am Hang des Hagenbergs und beherbergte von 1949 bis 1980 eine Skisprung-Schanze. (…). Im Hause der ehemaligen Gaststätte „Am Himmel“ befand sich von 1897 bis 1899 die Künstlerkommune des Malers und Kulturreformers Karl Wilhelm Diefenbach (1851–1913). An klaren Tagen überblickt man vom Himmelhof nicht nur ganz Wien, sondern sieht sogar Bratislava und die Hainburger Pforte.

Vermutlich stammt der Name von einer Meierei und Gaststätte namens „Am Himmel“ im 19. Jahrhundert. (…) Der Name könnte ein alter Himmel-Flurname („gewölbte Flur, Kuppe“) sein.

1962 wurde am Himmelhof ein Internat errichtet, das Mitte der 1990er Jahre generalsaniert wurde. Kurioserweise führt das im 15. Bezirk befindliche Bundesrealgymnasium Diefenbachgasse den Unterricht des Internats. Der Gassen- und Schulname geht auf den Sechshauser Gemeinderat Heinrich Diefenbach zurück und hat nichts mit dem oben erwähnten Künstler zu tun.

Ober-St.-Veit (…) ist ein Bezirksteil des 13. Wiener Gemeindebezirks, Hietzing, und eine der 89 Wiener Katastralgemeinden. Der 1015 erstmals offiziell erwähnte historische Ort bildete 1850–1870 mit dem nach 1800 in seinem Vorland entstandenen Unter-St.-Veit die Gemeinde St. Veit an der Wien und war dann bis 1890 / 1892 eigenständige Gemeinde im Kronland Österreich unter der Enns.“

Der Himmelhof Quelle: Gemeinfrei

„Die „Humanitas“ war ein Vorläufer für die berühmte Alternativsiedlung Monte Verità bei Ascona. Die Maßstäbe, die Diefenbach an sich selber und an seine Anhänger anlegte, waren durchaus unterschiedlich; lebte er selbst zeitgleich wenigstens in zwei Beziehungen zu Frauen, so verlangte er seinen Anhängern Keuschheit und unbedingten Gehorsam ab, deren Post wurde von ihm persönlich kontrolliert“, schreibt Wikipedia und da bin ich durchaus anderer Meinung und anscheinend nicht allein, denn das Verhältnis Gräsers zu Karl Wilhelm Diefenbach beschreibt Hermann Müller:

„… Dieser einsame Kämpfer hatte mit den Vorurteilen, dem nationalen und religiösen Wahn und den erstarrten Institutionen seiner Zeit gebrochen. Die „naturgemäße Lebensweise“ mit fleischloser Ernährung, uneingezwängter Bewegung in Licht, Luft und Wasser war ihm mehr als nur Gesund­heitsübung, nämlich Anlass, die naturfeindliche Tradition des Westens und namentlich des Christentums radikal in Frage zu stellen. Diefenbach forderte eine neue Kultur jenseits des Patriarchats, die Verehrung der Natur und des göttlichen   Selbst im   Menschen.   In   seiner Hausgemeinschaft,   die er „Humanitas“ nannte, sollte ein neues Menschengeschlecht herangezogen werden. Diese Vision musste den jungen Gusto Gräser, der unter dem Druck von Schule und Kirche in seiner siebenbürgischen Heimat schwer gelitten hatte, begeistern.

Gusto Gräser (vorne rechts) im Sommer 1898 auf dem Himmelhof Quelle: Hermann Müller

Gräser übernimmt nun zwar mit Inbrunst die revolutionären Anschauungen seines Meisters, verträgt sich jedoch von Anfang an schlecht mit ihm selbst und leidet unter den chaotischen Verhältnissen im Hause. Wie alle Ein­tretenden hatte auch er sich verpflichtet, einen Lebensbericht zu schreiben und ein Tagebuch zu Händen des Meisters zu führen. Den Lebensbericht hat er nie geschrieben, das Tagebuch erst nach langem Zögern und auf sehr eigene Weise.

Darin von Anfang an eine offene Auseinandersetzung, ein harter Kampf zwischen zwei mächtigen Individualitäten. Der Jüngere ist zwar überzeugt von den Anschauungen des Meisters, weniger jedoch von seiner Person und seiner Praxis. Er wehrt sich dagegen, nur ein Werkzeug in der Hand Diefenbachs zu sein, er stört sich an seinem Befehlston, er findet in der Gemeinschaft nicht die Harmonie, die er erwartet hatte. (…)

Gräser ist innerlich hin und hergerissen zwischen Bewunderung, Hingabebereitschaft, Willen zur Treue einerseits und Empörung über das, was der Meister und die Verhältnisse ihm zumuten: blinden Gehorsam gegenüber den Anweisungen Diefenbachs, bedingungslose Unterordnung, Augenschließen vor den offensichtlichen Ungereimtheiten und dem chaotischen Durch­einander in der wirtschaftlichen, sozialen und moralischen Praxis.

Folgerichtig beginnt das Tagebuch mit einer Weigerung: der Weigerung, Tagebuch zu schreiben, und ist am Ende und im ganzen Protokoll nicht einer Jüngerschaft, sondern ihrer Verweigerung. In der Auflehnung gegen den eigentlich geliebten, wegen seines Mutes bewunderten, mit seinen Ideen überzeugenden Meister formt und bildet sich des Jüngers/Nichtjüngers eigene und eigentliche Gestalt: Er wird zum gleichberechtigten und gleichrangigen Gegenspieler, kehrt die Rollen um, belehrt als Schüler den Meister, ermahnt ihn zu Ruhe und Gelassenheit und erklärt ihm schließlich ins Gesicht, dass er nicht länger würdig sei, sein Meister zu heißen. Er erklärt sich frei und fähig, das von Diefenbach Gewollte besser zu verwirklichen, als der verschmähte und zugleich verehrte Lehrer: „Ich gehe, um hier zu sein“.

Diefenbachs Christusbild Vater, verzeih‘ ihnen

Wenn Gräser später sagt, dass er kein „Führer“ sein, keine „Anhänger“ haben wolle, wenn er nie sich „Meister“ genannt oder als solcher gegeben hat, dann wuchs ihm solche Haltung in jenen wenigen Monaten zu, da er unter der Fuchtel eines „Gurus“ – um sein Eigenes kämpfen musste. „Eigensinn und Eigensein“ wurde seine Parole.

Bei alledem darf nicht vergessen werden: Die Grundlagen seiner Weltanschauung, anfängliche und weithin bleibende, hat Diefenbach für ihn gelegt. Und das Eigene, das Gräser hinzugetan und daraus gemacht hat, dankt er Diefenbach ebenfalls: durch Widerspruch und Widerstand. Diefenbach war der Fels, an dem er sich stoßen, an dem er sich aufrichten konnte. Nur an Größe, wie gebrochen oder verwirrt auch immer, kann Größe sich entfalten.“

Hermann Müller beschreibt die Punkte, die nicht zum Monte Verità und schon gar nicht zu allen drei Gräser-Brüdern passen, blinder Gehorsam gegenüber den Anweisungen Diefenbachs, bedingungslose Unterordnung, Augenschließen vor den offensichtlichen Ungereimtheiten und dem chaotischen Durch­einander in der wirtschaftlichen, sozialen und moralischen Praxis. Und er stört sich an seinem Befehlston, er findet in der Gemeinschaft nicht die Harmonie, die er erwartet hatte. Mir geht es nach diesen Zeilen von Hermann Müller so, dass ich an eine „Sekte“ und an „sektiererische Abgrenzungen“ nach außen denke. Also kann Diefenbach kein Vorläufer für die Alternativsiedlung Monte Verità sein, nicht für die Gräser-Brüder und genauso wenig für die 68er Bewegung und die Friedensbewegung 1979.

1897 gegründete Kommune Himmelhof. Quelle: Gemeinfrei

Hermann Müller drückt meine Bedenken und die Zustände in der Künstlerkommune „Humanitas so aus:

„… Wirtschaftlich stand die Gemeinschaft schon bei Gräsers Eintritt vor dem Bankrott. Sämtliche Möbel und Gemälde in dem gemieteten Hause waren gepfändet, die Zwangsräumung angedroht. Gläubiger belagerten mit ihren Forderungen den Meister. Die im März begonnene Ausstellung seiner Gemälde in Wien, in die alle Hoffnungen gesetzt worden waren, hatte sich als Fehlschlag erwiesen. Von der Presse wurde sie totgeschwiegen oder mit hämischer Kritik bedacht.

Dies waren die „Verhältnisse“ im Hause, die so gar nicht den Erwartungen Gräsers entsprachen: heimliche Exzesse, verheimlichte Liebschaften, wirtschaftliches Chaos, ein Meister, der, vom täglichen Existenzkampf aufgerieben, nervös und erschöpft, keine Zeit für seine Jünger. findet, mit harscher Kritik und strengem Kommandoton die fehlende Zuwendung und Fürsorge zu ersetzen sucht, der seinen Schülern sexuelle Enthaltsamkeit abverlangt, jede erotische Annäherung der Geschlechter untersagt, selbst aber im Verborgenen mit mehr als einer seiner Jüngerinnen geschlechtlichen Verkehr hat. Dies alles, während ständig und immer ihm die Rede von „Edelmenschentum“, „Gottmenschentum“ und höchsten „menschheitiichen Idealen“ vom Munde geht.

Gräser ist innerlich hin und hergerissen zwischen Bewunderung, Hingabebereitschaft, Willen zur Treue einerseits und Empörung über das, was der Meister und die Verhältnisse ihm zumuten: blinden Gehorsam gegenüber den Anweisungen Diefenbachs, bedingungslose Unterordnung, Augenschließen vor den offensichtlichen Ungereimtheiten und dem chaotischen Durch­einander in der wirtschaftlichen, sozialen und moralischen Praxis.

Mit seinen Kindern und seinen Gefährtinnen Katinka Kolarik (Mitte) Quelle: Gemeinfrei

Folgerichtig beginnt das Tagebuch mit einer Weigerung: der Weigerung, Tagebuch zu schreiben, und ist am Ende und im Ganzen Protokoll nicht einer Jüngerschaft, sondern ihrer Verweigerung. In der Auflehnung gegen den eigentlich geliebten, wegen seines Mutes bewunderten, mit seinen Ideen überzeugenden Meister formt und bildet sich des Jüngers/Nichtjüngers eigene und eigentliche Gestalt: Er wird zum gleichberechtigten und gleichrangigen Gegenspieler, kehrt die Rollen um, belehrt als Schüler den Meister, ermahnt ihn zu Ruhe und Gelassenheit und erklärt ihm schließlich ins Gesicht, daß er nicht länger würdig sei, sein Meister zu heißen. Er erklärt sich frei und fähig, das von Diefenbach Gewollte besser zu verwirklichen, als der verschmähte und zugleich verehrte Lehrer: „Ich gehe, um hier zu sein“.

Wenn Gräser später sagt, dass er kein „Führer“ sein, keine „Anhänger“ haben wolle, wenn er nie sich „Meister“ genannt oder als solcher gegeben hat, dann wuchs ihm solche Haltung in jenen wenigen Monaten zu, da er unter der Fuchtel eines „Gurus“ – um sein Eigenes kämpfen musste. „Eigensinn und Eigensein“ wurde seine Parole.“

Also, „die Künstlerkommune“ ging bankrott, und Diefenbach lebte fortan auf der Insel Capri, dort gewann er Erfolg und Ansehen, in Deutschland wurde er vergessen.

1899 auf der Künstlerinsel Capri Quelle: Gemeinfrei

Wikipedia:

„… Diefenbach war in erster Ehe verheiratet mit Magdalena Diefenbach geb. Atzinger, mit der er die Tochter Stella, verh. von Spaun (1882–1971) hatte. 1898 lernte er Wilhelmine (Mina) Vogler kennen, die er heiratete, aber primär mit deren Schwester Marie (bzw. in einer Art Ehe zu dritt) zusammenlebte. (…)

Nach seinem Tod 1913 blieb sein Nachlass ein halbes Jahrhundert lang verborgen und dem Verfall ausgesetzt. Seit den 1960er Jahren sammelte und erforschte sein Enkel Fridolin von Spaun (1901–2004) in seinem großen Familienarchiv in Dorfen bei Wolfratshausen Diefenbachs Nachlass. Von Spaun erkannte schon früh durch seine Herkunft, die Kindheitserlebnisse mit Diefenbach, die Begegnungen mit verschiedensten Propagandisten der Lebensreform sowie die Teilnahme an der Wandervogelbewegung auf seinem erfahrungsreichen Lebensweg, die große kulturhistorische Bedeutung seines Großvaters. Er half bei der Entstehung der öffentlichen Museen für Diefenbachs Werke auf Capri und in seiner Heimatstadt Hadamar.“

Seine Unterkunft, die Villa Giulia in Anacapri Quelle: Gemeinfrei

Vom 29. Oktober 2009 bis 31. Januar 2010 wurde in einer Ausstellung im Museum Villa Stuck in München sein Werk dem deutschen Publikum wieder zugänglich gemacht. Eine Ausstellung der Schirn Kunsthalle Frankfurt von 2015, die anschließend auch in der Nationalgalerie Prag gezeigt wurde, sieht ihn als Ahnherrn einer Reihe von Künstlerpropheten. (…) Sein schriftlicher Nachlass befindet sich heute im Archiv der deutschen Jugendbewegung auf Burg Ludwigstein.

1927 wurde die Karl-Wilhelm-DiefenbachGasse in Wien-Hietzing nach ihm benannt, 1945 die Diefenbachstraße in München-Solln.

Am 25. November 2015 wurde ein Asteroid nach ihm benannt: (6059) Diefenbach.“

Karl Wilhelm Diefenbach stirbt am 15. Dezember 1913 auf der Insel Capri im Alter von 62 Jahren an den Folgen eines Darmverschlusses.

Diefenbach am Starnberger See, Archiv der Spaun Stiftung Quelle: https://thegap.at/der-prophet/