Am 13. August 1875 kommt Carl Samuel Josef als ältester Sohn des Ehepaares Carl Samuel Gräser (1839–1894) und Charlotte, geborene Pelzer in Kronstadt auf die Welt.
Wikipedia schreibt:
„… war ein österreichisch-ungarischer Offizier und Aussteiger. Er gilt als Mitbegründer der Reformsiedlung Monte Verità bei Ascona.“
Seine beiden jüngeren Brüder sind Gusto und Ernst Heinrich Gräser.
Karl besucht ab 1888 das Gymnasium in Bistritz und tritt am 15. September 1890 mit 15 Jahren in die Kadettenanstalt von Hermannstadt ein – 4 Jahre später am 18. August wird er als Kadett entlassen.
Karl wird Offizier in der österreichischen Festungsstadt Przemyśl in Galizien und dort lernt er Leopold Wölfling kennen, eine wahrhaft schillernde Persönlichkeit, denn dahinter verbirgt sich Erzherzog Leopold Ferdinand von Österreich-Toskana, später Leopold Wölfling (2. Dezember 1868 in Salzburg – 4. Juli 1935 in Berlin),
Wikipedia schreibt:
„… Dorthin nahm Leopold jedoch Wilhelmine Adamovic(z) mit, die er im Wiener Augarten, nach einem anderen Bericht im mährischen Olmütz. kennengelernt und in die er sich verliebt hatte (obwohl er in der Zwischenzeit mit einer anderen Frau ein uneheliches Kind gezeugt hatte). Er wollte die als Prostituierte arbeitende Tochter eines Postbeamten heiraten.
Daraufhin wurde er in den entferntesten Teil der Doppelmonarchie, nach Przemyśl in Galizien, versetzt. Allerdings nahm er Wilhelmine als Haushälterin mit. (…)
Leopold reiste 1902 mit Wilhelmine in die Schweiz, wahrscheinlich unterstützt von seiner Schwester Luise. Am 14. Dezember 1902 schrieb er von Zürich aus an den Kaiser: „Ich bitte Eure Majestät, meine Stellung und Rang als Erzherzog ablegen und den Namen Wölfling annehmen zu dürfen“. Der Kaiser entsprach seiner Bitte und regelte seine finanzielle Versorgung aus dem Familienversorgungsfonds des Hauses Habsburg-Lothringen – unter der familieninternen Bedingung, dass Leopold auf Dauer im Ausland lebe. (…)
Von der Schweiz erhielten er und Wilhelmine, mit der er ab 1903 verheiratet war, Wohnsitzerlaubnis und Bürgerrecht. Nach vier Jahren wurde das Paar allerdings bereits geschieden. Grund war, dass Wilhelmine sich den Siedlern auf dem Monte Verità von Ascona anschloss, namentlich den Brüdern Karl und Gustav Gräser. Karl Gräser war einer seiner Offiziere in der Garnison von Przemysl gewesen und hatte auch Leopold für die Ideale der Lebensreform gewonnen, jedoch nur kurzfristig. Schon bald nach seiner Scheidung, am 26. Oktober 1907, heiratete Leopold Wölfling Maria Ritter, eine junge Frau aus dem Münchner Rotlichtmilieu. Die beiden zogen nach Paris, wo Maria an einem Nervenfieber erkrankte, sodass auch diese Beziehung scheiterte. Wölfling lebte ohne irgendwelche Aufgaben vor sich hin. (…)
1933 zog er nach Berlin, wo er als begeisterter Anhänger der Nationalsozialisten mehr schlecht als recht mit seiner nun dritten, weit jüngeren Ehefrau Klara Hedwig Pawlowski (1894–1978) sein Leben durch Gelegenheitsarbeiten fristete. In relativ armen Verhältnissen starb er am 4. Juli 1935 im Alter von 66 Jahren in Berlin, wo er noch am Totenbett in den neuen Machthabern die Garanten für eine bessere Zukunft sah.
Beigesetzt wurde er auf dem Friedhof III der Jerusalems- und Neuen Kirche in Berlin-Kreuzberg.“
Karl Gräser und Leopold Wölfling vereinte ihre tiefe Verachtung für den soldatischen Drill, „die geistlose Zurichtung des Körpers wie des Verstandes zu militärischen Zwecken und so gründeten sie die Vereinigung „Ohne Zwang“. Karl Gräser wurde deren Geschäftsführer, Leopold Wölfling Präsident.
Wikipedia:
„… Der Vereinsname verwies auf die Ideen des Frühsozialisten Charles Fourier, dessen Philosophie Karl Gräser schätzte. „Alles, was sich auf Zwang gründet“, so hatte Fourier unter anderem formuliert, „ist hinfällig und Mangel an Geist“.
Spätsommer 1899 – wahrscheinlich wegen einer Erkrankung begibt sich Karl nach Veldes, einer Gemeinde am Veldeser See im nordwestlichen Teil Sloweniens – wenige Kilometer südlich der österreichischen Grenze und rund 50 km nordwestlich der Hauptstadt Ljubljana (Laibach) gelegen. „Dort betrieb der „Heliopath“ und medizinische Autodidakt Arnold Rikli die „Naturheilanstalt Mallerbrunn“.
Übrigens, Arnold Rikli (13. Februar 1823 in Wangen an der Aare, Kanton Bern – 30. April 1906 in Sankt Thomas, Kärnten, Österreich-Ungarn) war ein Schweizer Naturheiler. Er ist der Begründer der „Atmosphärischen Kur“, bei der Licht- und Luftbäder eine wesentliche Rolle spielen. Rikli war ein Anhänger der sogenannten Lebensreform.
Während diesem Aufenthalt lernt Karl zwei Mitpatienten kennen, nämlich den belgischen Industriellensohn Henri Oedenkoven und eine Landsmännin, die Siebenbürger Musiklehrerin Ida Hofmann. Ihre gemeinsame Vorstellung: „„ein neues Leben, in dem die Herkunft wie ausradiert war und die Zukunft Gestalt annahm“ (zitiert nach Stefan Bollmann: Monte Verità 1900. Der Traum vom alternativen Leben beginnt.“)
Ein gutes Jahr später- also 1900 – schied Karl aus dem Militärdienst aus und traf sich mit seinen ehemaligen Mitpatienten in Ida Hoffmanns Wohnung in München Schwabing. Dort wurde „Henris Plan“, – die Gründung einer „vegetabilen Kooperative“ beschlossen, der Plan, der die Geburtsstunde des „Monte Verità“ war und diese Geschichte beschreibe ich in einem anderen Kapitel.
In dieser Zeit hielt Karl mit seinem Bruder Gusto Vorträge in Zürich. Doch die Gemeinschaft auf dem „Monte Verità“ hielt nicht lange, bereits 1901 zerbrach die Gruppe und Karl Gräser erwarb ein eigenes Grundstück in der unmittelbaren Nachbarschaft. Dort lebte er in „freier Ehe“ mit Jenny Hofmann – einer Schwester der Pianistin Ida Hofmann – ein „radikal konsequentes Leben ohne Geld“, was die beiden jedoch praktisch nie vollständig erreichten bis zu seiner Erkrankung im Jahr 1915.
Käthe Kruse (17. September 1883 in Dambrau, Landkreis Falkenberg O.S., Schlesien als Katharina Johanna Gertrud Simon – 19. Juli 1968 in Murnau am Staffelsee) schreibt über die beiden Brüder während eines Aufenthaltes auf dem Berg:
„… Gräsers gingen in ihren Theorien noch viel weiter als Odenkoven. Sie verschmähten jede Hilfe. Nur was der Mensch mit seiner eigenen Kraft, mit seiner eigenen Hände Arbeit sich schaffen könne, sei ihm gemäß und gut. Nicht einmal der Tiere oder der Maschinen dürft er sich bedienen. Kraft stehlen heiße, die Natur betrügen.“
Und Erich Mühsam schreibt in „Ascona“, erschienen im Verlag Birger Carlson 1905:
„… „Gräser ist der erste Mensch, der mir begegnet ist, der mit starrer Konsequenz das, was er theoretisch als richtig erkannt hat, in die Praxis umsetzt.“
Wie das in der Praxis umgesetzt wird, auch beschrieben in „Ascona:
„…Frau Gräser, die über eine sehr schöne Stimme verfügt, musste einmal den Zahnarzt aufsuchen: sie bezahlte den ihr geleisteten Dienst mit dem Vortrag einiger Lieder.
Soll etwas, was die beiden nicht allein herstellen können, erhandelt werden, so gehen sie mit selbstgezüchtetem Obst nach Locarno und Bellinzona und werden mit dem Kaufmann über den Tausch stets einig.Was aber irgend selbst geschaffen werden kann, das erhandeln sie nicht von andern. Ich traf Gräser einmal an, als er damit beschäftigt war, sich aus einem Stück rohen Holzes einen Esslöffel zu schnitzen, ein andermal verfertigte er gerade ein Paar Sandalen.Diese Arbeiten begleitet er mit allgemeinen Betrachtungen und Sentenzen über die Schönheit der Natur, über seine persönliche Beziehung zum Weltganzen und über seine selbstgefundenen Erkenntnisse.
Ich hatte jedes Mal einen starken Eindruck, wenn ich Gräser besucht hatte. Fast ganz unbekleidet liegt er dann im Gras und philosophiert. Seine Augen sind ungleich beredter als sein Mund, denn sein Wunsch, den Gast mit jedem Wort, das er ausspricht, zu bereichern, nie etwas Banales zu sagen, gibt seiner Rede etwas Schwerfälliges; aber es ist köstlich mitanzusehen, wie dieser Mann nach dem Ausdruck sucht, der das, was er begreiflich machen möchte, am wahrhaftigsten wiedergibt.Frau Jenny passt vorzüglich zu ihm. Sie ist ein echtes Weib und als solches imstande sich in den Ideengang des Mannes, den sie liebt, völlig hineinzutasten. (…)
Seit einiger Zeit haben sie ein Kind zu sich genommen, den vierjährigen Sohn einer bekannten sozialistischen Frauenrechtlerin, die plötzlich katholisch geworden ist. Denn die Gräsersche Ehe ist kinderlos. (…)
Der kleine Habakuk, den Namen haben Gräsers ihrem Pflegesöhnchen beigelegt, der ein ausnahmsweise intelligentes und schönes Kind ist, genießt die freieste Erziehung, die man sich vorstellen kann, das heißt gar keine Erziehung. Ihm wird nichts befohlen und nichts verboten, er darf schlafen und essen, soviel und wann er will und herumtollen, wo und wie lange es ihm nur Spaß macht. Was aber das schönste ist: seine Pflegeeltern nehmen ihn völlig ernst. Man dressiert ihn nicht, wie es deutsche Bourgeoisfarmilien mit ihren Kindern tun, zu artigen Kunststücken und konventionellen verlogenen Redensarten, die er herleiern müsste, wenn Besuche kommen, sondern er sitzt mitten zwischen den Erwachsenen, und wenn er eine Bemerkung zu machen oder eine Frage an jemand zu richten hat, so wird ihm mit demselben Ernst, mit derselben Achtung zugehört und geantwortet wie jedem Großen. (…)
Die Erziehung des kleinen Habakuk zu beobachten, wirkt dieser innerlich verlogenen Verbildung des Kindergemütes gegenüber, wie sie die besten Eltern im besten Glauben betreiben, einfach erlösend.
Bei all den großen Vorzügen, die Carl Gräser im Denken und Handeln auszeichnen, möchte ich ihm die eine Unfreiheit, die ich an ihm bemerken konnte, nicht zu dick ankreiden, wenn ich sie auch nicht verschweigen will. Das ist seine Unduldsamkeit gegen wirkliche oder vermeintliche Schwächen andrer. (…)
Ich bin indessen vollkommen überzeugt, dass Gräser bei dem schweren und ernsten Ringen mit sich allmählich auch dahin gelangen wird, diese Schwäche abzulegen, und so den letzten Querstrich, der sich ihm noch zwischen die Übereinstimmung von Denken und Handeln drängt, auslöscht. Schon jetzt ist er von allen in Ascona eingesessenen Deutschen bei weitem die originalste und am ernstesten zu beurteilende Persönlichkeit.“
Auch A. Grohmann beschreibt in „Die Vegetarier-Ansiedlung in Ascona“ das Leben der Gräsers:
„… Wir kommen jetzt zur Firma Carl Jenny Graeser, u. a. auch Bienenzüchter, doch die Bienen sind schon fast alle tot.
Carl, der ältere Bruder der beiden letztgenannten, ein früherer österreichischer Offizier, 30 Jahre, ist auch in der Ansiedlung, und auf eigenem Grund und Boden. Er ist der Theoretiker, Dogmatiker und Philosoph in der Gruppe der Externen. Er definiert und formuliert gerne. Er hat seine Ansichten in ein Notizbuch niedergelegt für Jeden, der sie näher kennen lernen will. Form und Energie, Seele, Infusionstierchen, Konzentration der Kräfte, Natursystem, Unlustgefühle, Lebensreize, Erscheinungsformen der Kraftäußerung etc., werden da abgehandelt. Er empfiehlt im Übrigen: „Kleidung möglichst kleidlos“ und er handelt darnach. Originell, gut und schön sind die Rustikamöbel, die er herstellt. Sehr reformlustig und originell ist er in der Architektur, wo er aber schon einige Sünden begeht. Ausnutzung der Erdwärme nach der Theorie vom Winterschlaf der Tiere z. B. und andererseits wieder luftig gegen oben hin, ergeben die Grundlagen für die ausgedachten, zum Teil schon ausgeführten Konstruktionen. Waghalsig ist er in der Mechanik. Doch dies alles sind Dinge, die für die Aufgabe, die er sich gestellt hat, von wenig Bedeutung sind.
In der äußeren Erscheinung ist er ein verrosteter und bemooster Pfahlbauer und ebenso wenig Salonmensch wie sein Bruder Gusti. Er ist ein sehr armer Mann, und er will es sein und immer mehr werden. Er erklärte mir, er und seine Frau seien jetzt noch in einer peinlichen Lage, in einer Übergangsperiode, abhängig und gedrückt durch den Zwang, den jeglicher Besitz von Geld mit sich bringe. Das wird bald anders. Unser Geld ist im Ausgehen begriffen und wohl nächstes Jahr schon wird es zu Ende gehen. Wir werden dann einfacher, freier dastehen, unbeirrt, und in der richtigen Wechselwirkung der Kräfte. Das bildet sich nur in allmählicher Entwicklung, die zwar durch den Wunsch und den Willen unterstützt wird, aber natürlich und ohne Zwang, von selbst vor sich gehen und zum Durchbruch kommen muss. Der gute Wille ist bei den beiden durchaus vorhanden. Kürzlich noch schrieb mir die Frau, dass sie im ruhigen Werden begriffen seien und dass sie seit meinem Besuche im vorigen Jahr schon viel einfacher, freier, leichter beweglich geworden seien. „Es wird noch sehr schön werden.“ Die Beiden stellen — es ist seit ihrer Ansiedlung ihr erster kleiner, erfolgreicher Versuch im verdienen — Fruchtpasten her, die sie im Tauschhandel in Locarno verkaufen. Dort haben einige Kaufleute sich und ihr Ladenpersonal auf diese uralte und doch so neue Form des Handels eingeübt. Da kann man für Konserven etwa Seife bekommen, herausgegeben wird mit Zündhölzern u. dgl. und keine Geldeinheit wird dabei auch nur genannt.
Seine Frau, die Jenny , ungefähr 40 Jahre alt. Konzertsängerin von Beruf, ist eine liebenswürdige Dame — ich nenne sie eine perfect lady in ihren Gesinnungen – ist allgemein beliebt und geachtet, ein Muster von natürlicher Offenheit. Gegen moralische Unsauberkeiten ist sie sehr empfindlich; aber sie behält es für sich — man muss ausdrücklich fragen, um aus ihr herauszubekommen, z. B.: daran hat er selbst genug zu schleppen. Ihre Ehe ist eine musterhafte, sehr glückliche, und die Beiden stehen sich in schönster Weise bei: Freude und Wohlergehen des Andern ist jedem von ihnen das Höchste. Beide haben bei manchen Gelegenheiten gezeigt, dass sie das Herz auf dem rechten Fleck haben und bei ihnen kommt‘s immer zum Handeln, nicht nur zum Fühlen in Dingen des Mitleids. Die Frau, die selbst so dürftig lebt und angestrengt arbeitet, gab im letzten Winter in Locarno vor dem großen Hotelpublikum ein Gesangskonzert — Carl musste die Noten wenden — „and that concert of the naturals was splendid“ — den Ertrag von mehreren hundert Franken schenkte sie einer benachbarten Familie mit vielen Kindern, denen der Vater gestorben war.
Dieses große Kind hat die Leistung, zuwege gebracht, einen praktischen Arzt, der sein regelmäßig „landesübliches Quantum“ Wein trank, zum Abstinenten zu machen — so verkehrt kann es zugehen in der Welt. Sie und ihren Mann traf ich einst weinend über den Tod ihrer Katze, der sie innig zugetan gewesen waren, und von deren Leben, Leiden und Ende sie mir nun erzählten. Es war ein Bild aus Paul und Virginie. Ihren Esel haben die Beiden so lieb, dass sie vorziehen, ihre Mahlzeiten dort einzunehmen, wo ihr grauer Freund gerade steht. Der reibt dann während ihres Essens seinen großen Schädel an ihren Schultern. Diesem Genossen haben sie einen Namen gegeben der sich aus vier Buchstäben zusammensetzt, die die Anfangsbuchstaben der Namen von vier Ansiedlern sind, die zur Zeit der Einführung des Esels einen besonders intimen Freundschaftsbund bildeten. Des Breitesten werden solche Geschichten erzählt und es ist zum Wiederjungwerden, was man da alles anhört. (…)
Einmal hörte ich in Ascona von meinem Zimmer aus eine bekannte Stimme meinen Namen auf der Straße rufen. „Schon zu Bett!“ rufe ich und „Wir kommen!“ schallt es zurück. Der Österreicher und seine Frau kamen, die Stühle waren besetzt, die Beiden setzen sich zu mir auf den Bettrand und berichten, sie hätten sich schon den ganzen Tag darauf gefreut, mir eine Sache vorzuschlagen, die sie sich ausgedacht hätten. Wir drei und der Gusti (der damals aus der Gefangenschaft in Österreich erwartet wurde), also zu viert, sollten wir ein Boot bauen, den Lago Maggiore durchfahren, durch den Kanal in den Po und den Fluss hinab ins Meer. Dann fahren wir rund um Italien herum, fahren überall in die Häfen hinein, die uns gefallen, und schauen uns Alles an. In Genua verkaufen wir das Boot und kommen zu Fuß hierher zurück. – Meine navigationstechnischen Bedenken sind anerkannt worden. Zehn Minuten später war die Sache zu den Akten gelegt.
Als sie meinen Brief über die vorliegende Arbeit empfangen hatten, schrieben sie: Mit dem was Sie bei, mit mir, uns, erlebt haben, tun Sie wie und was Sie wollen, es gehört ganz Ihnen. Carl Jenny Graeser.
Zurück zu den Brüdern Gusto und Ernst, Hermann Müller schreibt:
„… Um die beiden Dichter und Maler Gusto und Ernst H. Graeser entwickelte sich eine Künstlerkolonie. Nach einer gemeinsamen Ausstellung der Brüder in Locarno im Winter 1906/1907 entstand eine ständige Gemäldegalerie im Hause von Karl Gräser.“
Unter dem Titel: „Galleria Gusto ed Ernesto Graeser, Ascona-Monte Verità“ schreibt C. Dransfeld – Schriftsteller und Redakteur – in seinem Artikel „Bei den Askonesen“ vom 26. Januar 1912:
„… Die Rede von der „Künstlerkolonie Monte Verità“ schien lange eine beschönigende Phrase ohne wirklichen Gehalt zu sein. Waren denn die Gründer-Siedler Künstler? Haben sie irgendwelche Kunstwerke von Bedeutung geschaffen? Nein. Mit einer Ausnahme: Gusto Gräser, dessen Ölgemälde „Der Liebe Macht“ von 1899 heute im Museum Casa Anatta hängt. Gusto hatte zwar damals die Malerei schon aufgegeben, und doch blieb sein Auftritt auf dem Berg nicht ohne Folgen. Denn er zog seinen jüngeren Bruder, den Kunstschüler Ernst Heinrich Graeser (1884-1944), zum Monte Verità, und nach einer gemeinsamen Ausstellung 1906 in Locarno machten sie 1907 eine zweite auf dem Berg, im Haus von Karl. Damit schien es dann sein Bewenden zu haben. (…)
Dass dem nicht so war, belegt ein Zeitungsaufsatz, der 1912 ausgerechnet in USA erschien. (…)
Es war ein sonniger Nachmittag. …. Eine kühle Brise weht über Berg und See. Als wir wieder bei einem stallähnlichen Steinhause rasten, frappiert uns ein Schild „Gemäldesammlung“ in ziemlich ungelenken Zügen, das auch noch etwas windschief an dem noch windschieferen Hause hing. Hier hatten wir kein „Museum“ erwartet, und als wir etwas Umschau halten, bemerken wir einen Kolonisten, der in dem bereits oben erwähnten Anzug in einem kleinen Garten arbeitete, in dem er sein Gemüse zog. Der Kolonist war ein Deutscher und wir erklärten ihm, das Museum besichtigen zu wollen. Auf unseren Zuruf kam er näher, rote Pfirsichblüten lagen in dem langen Haar. Gegen einen Obolus von 50 Centesimi öffnete sich die sonderbar beschlagene Türe, die das “Heiligtum“ vor den neugierigen Blicken Unberufener und Spötter schützte. Man sah auf den ersten Blick, hier war überall der Dilettant an der Arbeit gewesen, der Dilettant von reinstem Wasser. Grelle Farbenwirkung und möglichst korrekte Linienführung war stets die ausgesprochene Tendenz, dabei merkte man immer wieder die Unsicherheit: die Hand hatte offenbar dem Willen des „Künstlers“ nicht gehorchen wollen. Unter den zwölf bis fünfzehn verschiedenen Bildern – mehr sind’s nicht – die alle in einem sonderbaren Rahmen dort prangen, befindet sich eigentlich nur eines mit einer ausgesprochenen Idee. Es soll das Werden des Menschen symbolisch darstellen. Wir sehen die vier Lebensalter in einer baumreichen Gegend (Paradies?) in dem Kostüm, in dem sie Gott erschaffen hat, Naturmenschen vom Scheitel bis zur Sohle, die Vorbilder der Askonesen.
In einer Ecke steht eine künstlich sein sollende Schmiedearbeit, die Einrichtung einer Schmiede darstellend. Bei dieser Geduldsarbeit muss unbedingt die Langeweile zu Gevatter gestanden sein, sonst wäre ein solches Diminutiv einfach nicht möglich. Wir danken dem freundlichen Führer für seine originellen Erklärungen und wenden dem sonderbarsten Museum, das wohl die Welt hat, den Rücken.“
Hermann Müller:
„… Der Kolonist, von dem berichtet wird, ist kein anderer als Karl Gräser. Wie er zu seiner Bildersammlung kam, lässt sich leicht nachvollziehen. In jener Ausstellung vom Winter 1906/7 waren zwar einige aber sicher nicht alle Bilder verkauft worden. Wohin mit dem nicht unbeträchtlichen Restbestand? Weder Gusto noch Ernst konnten die Bilder mit sich herumschleppen. Also wurden sie Karl übergeben, der nach dem Bau seines zweiten Hauses in seinem ersten genügend Platz hatte, die Gemälde unterzubringen und zur Besichtigung aufzuhängen. So konnte ihm, von den gelegentlichen Besuchern, ein kleiner Nebenerwerb zufließen. Und so entstand auf dem Monte Verità ein Museum, das man „Galleria Gusto ed Ernesto Graeser“ hätte nennen können. Es sollte das erste und einzige Museum in Ascona bleiben bis zur Gründung des Museo Comunale im Jahre 1921.“
Im Haus von Karl Graeser und Jenny Hofmann leben im Sommer oder Frühsommer zeitweise auch die Brüder Gusto und Ernst, sowie die Mutter der drei Brüder. Nach einem Streit hat Gusto das Haus verlassen und ist ins Dorf Ascona gezogen. Karl macht einen Versuch zur Versöhnung. Er schreibt ihm:
„… Unsere Mutter ist in Mitleidehaft. Sie haben wir beide nicht das Recht, in unsere Händel hineinzuziehen.
Es ist unsere Sache, uns gegenseitig soweit aufzugeben, dass Mutter nicht leidet.
Darum bitte ich, wie bis jetzt (aus dem Dorf Ascona) heraufzukommen, wie bis jetzt hier (in meinem Hause) zu sein, auch hier zu schlafen, sich jedoch dabei durchaus als Gast der Mutter zu betrachten.
Zu meiner Genesung kannst Du nichts beitragen, sorge, dass Du nicht weiter zu viel zum Gegenteil verhilfst.
Unser guter Ernst (der jüngste der drei Gräserbrüder) fängt auch an, hart und ungerecht zu werden. – Es sind die Folgen seines Aufenthaltes an unzeitgemäßem Ort. Er ist angekränkelt, angesteckt, wie ich es war, von Ideen, die in den Himmel wachsen und dann ihre irdische Berechtigung nicht mehr haben. –
Obwohl mir das „Maßlose“ deines Strebens durchaus klar ist, verbinden mich mit Dir doch noch gemeinsame Interessen. Wir haben eine Mutter, die die Freude jedes einzelnen von uns mitfühlt wie seinen Schmerz, und dieser neutrale, besser, gemeinsame Punkt ist es, der mich diese Worte, wie sie eben sind, finden lässt.
Dein Werk kann sich in Dir nur erfüllen, wenn du es in Zusammenhang bringst mit der heutigen Zeit. Noch nie hat ein Mensch, auch der größte nicht, etwas vollbracht ohne die Mithülfe seiner Umgebung. Es wäre auch unverständlich, dass sich etwas realisierte, das kein Bedürfnis des Ganzen ist.
Was Dir und andern gelungen ist, gelang mit Hülfe der Umgebung.
Dein Streben scheint mir nicht schlecht, im Gegenteil, aber himmelschreiend maßlos und darum eitel, unwahr, unwirklich. Dein Wille, dein Sehnen ist in keinem Einklang mit deiner Macht, hier rechnest du mit unserer Zeit, in der es, wie du meinst, absolut nicht mehr so weitergehen kann; und doch lauft das Werk, das große, wie du siehst. Du und wir alle können nicht dies oder jenes arrangieren, um dieses große Werk zu beeinflussen, aber erkennen können wir, mit offenen klaren Sinnen, die überall hineinschauen, „wie es ist“. Nicht Seiten des Ganzen betrachten sondern das Ganze selbst; und du kannst noch so wenig von Grund auf, darum kannst Du auch nicht dauernd überzeugen. Sicher überzeugst Du mit dem, was du hinter dir hast und was Du gerade hast, nie – niemals mit dem, was kommen „wird“.
Es geht ja seinen Gang, wozu denn sich in Sehnsuchten verzehren, die erst in unseren Urenkeln – vielleicht, als Sehnsuchten berechtigt sind. – Auch hierin kann die Tugend zum Laster werden, wie alles, wenn es maßlos ist – wenn das Ersehnte mit dem eigenen Leben nicht mehr erlebt werden kann. –
Eben kommt Mutter in ihrem Leid und sagt als Morgengruß, dass es ihr unmöglich sei, ein solch unnatürliches Verhältnis zu ertragen und bittet, du möchtest doch heraufkommen können und hier wohnen und dich an dem Nötigen betätigen können, sie fühlt auch, dass Du ein Angriffsfeld brauchst.
Nun weiter. Deine Arbeiten wären gut, aber sie sind nicht begehrt, bloß von dir, dann sind sie nichts, und wieder wären sie alles, das Beste, wenn sie außer Deinen ehrgeizigen Plänen – die sich aber nicht realisieren können, weil du keine Helfer hast – wenn sie in das Allgemein-Menschliche gerückt würden. …
Du wirst sicher Achtung, Liebe und alles, was man mit Glück bezeichnet, auch ein Weib, erringen können, wenn Du Deine wahren Bedürfnisse äußerst. Dein Wesen besticht alle, mit denen Du welche Verbindung findest, jedoch nur kurze Zeit, sobald die Andern erkennen, dass sie auf dem Weg mit Dir ihre natürlichen Bedürfnisse verhüllen lernen müssen. Machtlos klein sein wollen, mit der größten Sehnsucht nach Macht des eigenen Ichs.
Du bist genügend fähig, um als ehrlicher Mann zu leben, deine Unfähigkeit liegt bloß in dem Verhältnis, das du zu allen einnimmst. Nicht betrachte dich als etwas Besonderes, das frei und in Allem anders grünen müsse wie die andern, du bist ja ein Mensch mit menschlichen Bedürfnissen, lebe sie!
Sogar einen Rat will ich dir hier geben, und der ist, mache dich ansässig. Du wirst liebenswürdig – auf diese Art. Du hast dadurch Gelegenheit, Beziehungen zu knüpfen, die von Dauer sind. Du hast Ursache, für etwas zu wirken, zu gestalten und vor allem „deine wirkliche Kraft“ kennen zu lernen. Ich glaube, dies ist ein Weg, wo du wirklich bescheiden, wirklich einfach (werden) und wirklich zu Deinen Bedürfnissen kommen kannst. …
Ohne Besitz kannst Du ja nicht leben, du Kleid- und Kahnbesitzer, erweitere nun diesen soweit, dass nicht bloß einige Passionen, dass sich alle Passionen in dir sich ausleben können, und da könnte es leicht sein, dass wir auch zusammenkommen. …
Zweifel bringst du, Sehnsuchten weckst du, aber bloß, um so Angeregte nach einer Zeit – ganz zu verlieren. Dein Streben ist also eitel, nicht weil es in falscher Richtung geht, weil es maßlos ist. Deine Entwicklung stockt, nicht weil die Anlage fehlt, bloß weil du deine Kräfte nicht gibst, wo sie benötigt sind. Du bist, wie Ott schreibt, ein von der Schönheit, von der Güte Besessener, ohne dieser wirklich Ausdruck geben zu können, dein Streben geht zu sehr nach der Erscheinung, die du mit deiner Macht nicht erfüllen kannst, alles ist aber gut in sich, wenn du daran glaubst, dass Du ein einfacher, genügend begabter Mensch bist, der lebt, um andern Menschen dienend, frei dienend, selbst Liebe und Leben zu empfangen.“
„Der Brief ist gekürzt. Inhaltliche Wiederholungen, die den Aussagen von Karl nichts Neues hinzufügen, wurden weggelassen. Der Schluss fehlt, schreibt Hermann Müller.
Und weiter:
„… Als einziges Dokument der Beziehung Karls zu seinem Bruder Gusto hat sich dieser undatierte Brief erhalten, der sich im Archiv der Jugendbewegung auf Burg Ludwigstein befindet. (…)
Aus anderen Quellen wissen wir, dass Gusto sich zeitweise bei Bewohnern von Ascona verdingte und in seinem Einbaum schlief, den er unter den Brissagobrücken festgemacht hatte. Normalerweise konnte er selbstverständlich im Hause seines Bruders schlafen und auf dessen Gut auch mitarbeiten. Dass er Karls Haus verlassen hatte und ins Dorf hinuntergegangen war, dort das Brot von Fremden aß und die Nächte in seinem Boot verbrachte, ist der Anlass dieses Briefes. Ein heftiger Streit muss dem vorangegangen sein, sicher mit eben den Vorwürfen und Ermahnungen Karls, die er im Brief wiederholt: Er sei zu wenig zur Mitarbeit bereit, solle von seiner wildfreien Lebensweise ablassen, endlich sesshaft werden, einen ordentlichen Beruf ausüben und heiraten. Das war selbstverständlich auch der Wunsch der Mutter. Ihre Anwesenheit, ihr Drängen mag zum Ausbruch des Bruderzwists beigetragen haben. Nun aber leidet sie schwer unter dem Bruch des Familienfriedens und der Trennung von ihrem Gusto. Offenbar auf ihren Wunsch hin schreibt Karl den obigen Brief an seinen Bruder, der ihn zur Rückkehr bewegen soll. (…)
Der Brief scheint nicht zur Versöhnung sondern zur endgültigen Trennung der Brüder geführt zu haben. Ein Freund Gustos in Deutschland weiß über dessen Besuch zu berichten: „Seine Heiterkeit war die alte geblieben, und doch lag eine herbe Enttäuschung hinter ihm. Er hatte bereits in den ersten Tagen nach seiner Rückkehr zum Bruder einen störenden Streit durchlebt und einsehen gelernt, dass dort kein Bleiben für ihn sein werde. Kurz entschlossen, war er wieder umgekehrt, sich anderwärts einen Aufenthalt zu suchen“ (Gustav Naumann: Vom Lärm auf dunkeln Gassen. Berlin 1907, S. 265). (…)
Das Tischtuch zwischen den Brüdern war und blieb zerschnitten. Das Leben schrieb seinen eigenen Kommentar zu Karls Ermahnungen. Karl hatte sich für Weib und Kind und Haus und Hof entschieden. Die Ehe blieb kinderlos, Karl und seine Frau Jenny endeten beide im Irrenhaus und starben früh. Der besitzlose Gusto wurde achtzig Jahre alt.“
Ein weiteres Haus entsteht auf dem Berg, Mutter Gräser in ihrem Tagebuch: Von November 1906 bis September 1907 war ich bei Karl. Es war für mich und alle, denn meistens waren auch Gust und Ernst mit uns zusammen, gut. Die Veranlassung zu dieser Reise war Karls Herzkrankheit. Doch gottlob war dies Leiden in der ganzen Zeit unseres Zusammenseins so, dass er sich alles selbst machen konnte. Er hat viel gearbeitet und auch viele schwerere Arbeiten wie Sägen, Hobeln (Bienenkasten) und den Zementboden in der neuen Kammer eigenhändig gemacht.
Hermann Müller:
„…1906/7, war also das neue Haus von Karl schon fertig, sein zweites auf dem Gelände des Monte Verità. Die erweiterte Wohnstatt konnte er freilich nicht allzu lange genießen, denn um 1915, nach vielfachen Rückschlägen und Niederlagen, verfiel er in tiefe Depression und musste in eine Nervenheilanstalt gebracht werden. Sein Unglück wurde zum Glücksfall für seinen Bruder Gusto, denn nun konnte dessen Familie das herrenlos gewordene Anwesen beziehen. Nach seiner Rückkehr aus österreichischer Gefangenschaft wurde das gastfreie Haus Anlaufstelle für Künstler und Kriegsgegner: für die Maler Adolf Stocksmayr und Arthur Segal, den Philosophen Ernst Bloch, die Malerin Marianne von Werefkin, die Tänzerin Mary Wigman, den Tiefseeforscher Auguste Piccard, den Dramatiker Reinhard Goering und andere. In besonderem aber für den Schriftsteller Hermann Hesse und dessen Frau Mia. In diesem Hause und in der sogenannten „Ruhinne“, dem ersten Haus von Karl, das nun zu Gustos Atelier geworden war, fanden jene Gespräche statt, die in Hesses Demian-Roman ihren Niederschlag gefunden haben. Da mit „Demian“ niemand anders als Gusto Gräser gemeint ist, darf das bis heute erhaltene Bauwerk mit dem „Sonnenfenster“ mit Fug und Recht als „Demianhaus“ bezeichnet werden.
Im „Demian“ schreibt Hermann Hesse über dieses Sonnenfensterhaus:
„… Hinter hohen, regengrauen Bäumen verborgen stand ein kleines Haus, hell und wohnlich, hohe Blumenstauden hinter einer großen Glaswand, hinter blanken Fenstern dunkle Zimmerwände mit Bildern und Bücherreihen. Die Haustür führte unmittelbar in eine kleine erwärmte Halle … Ich sah mich um, und sogleich war ich mitten in meinem Traume.
Von diesem Tag an ging ich im Hause ein und aus wie ein Sohn und Bruder, aber auch wie ein Liebender. Wenn ich die Pforte hinter mir schloss, ja schon wenn ich von weitem die hohen Bäume des Gartens auftauchen sah, war ich reich und glücklich. Draußen war die „Wirklichkeit`, draußen waren Straßen und Häuser, Menschen und Einrichtungen, Bibliotheken und Lehrsäle – hier drinnen aber war Liebe und Seele, hier lebte das Märchen und der Traum.“
Der Züricher Pfarrer Theodor Stern besuchte im Sommer 1907 die Gräsers und schrieb den Artikel „Eine Schweizerreise im Naturkostüm“, erschienen in „Gesundheit. Zeitschrift für gesundes Körper- und Geistesleben. X. Jg., Nr. 16, 7. August 1909“:
„… Über die Vegetarierniederlassungen in Ascona wurde in letzter Zeit wieder viel Lärm geschlagen in den Zeitungen. Es erschienen Spottartikel, in denen die Naturmenschen in Grund und Boden verdammt und lächerlich gemacht waren, in italienischen Blättern soll namentlich gegen das Sanatorium wütend gehetzt werden. Dann wieder folgten andere Stimmen, die die Leute und ihr Treiben in Schutz nahmen und über den Monte Verità viel Lobenswertes berichteten. Aus all dem scheint mir mit Sicherheit hervorzugehen, dass die Welt an den Versuchen einer Lebens-Reform, wie sie in Ascona gemacht werden, regen Anteil nimmt, wenn auch fast wider Willen oder ohne es sich einzugestehen, ja dieselben mit Spannung verfolgt, weil sie im Grunde mit sich selbst sehr unzufrieden und von einer tiefen Sehnsucht nach bessern Zuständen erfüllt ist.
Am bekanntesten ist die Naturmenschenfamilie Gräser, die wenig unterhalb des Sanatoriums wohnen und die ich vor drei Jahren (1905) auch schon besucht hatte. Ich muss gestehen, dass mir damals die Geschichte ziemlich verrückt vorkam und ich nicht recht begreifen konnte, dass Leopold Wölfling, ein früherer Waffenkamerad des ehemaligen österreichischen Offiziers Karl Gräser, diesem Leben und Treiben Geschmack abgewinnen konnte. Er war damals mit seiner inzwischen geschiedenen Frau gerade auf Besuch bei Gräsers. Auch was ich seither gehört, war nicht dazu angetan, mich mit großem Vertrauen zu erfüllen.
Bei meinem diesmaligen Besuch (von 1907) aber bekam ich einen ganz anderen Eindruck. Schon von weitem war ich überrascht, als ich die im italienischen Charakter ausgebauten und zum Teil mit Blech, zum Teil mit Steindach versehenen Häuser durch das Laub schimmern sah. Vor 3 Jahren hatten die Leute nämlich noch in Ruinen gewohnt. Solche Ruinen finden sich hier in ziemlicher Anzahl zerstreut im Walde – Ascona soll im Mittelalter auf dem Berg gestanden haben – und manche Vegetarier richteten sich darin häuslich ein, denen die Mittel oder der Sinn für größeren Komfort abgehen. Karl Gräser fand ich eifrig damit beschäftigt, in dem einen Hause, worin sich unten die Werkstatt mit Hobelbank etc. und oben die Ausstellung des jüngsten Bruders Ernst, des Malers, befindet, einen Zementboden zu legen. Er erzählte mir, dass er das Wohnhaus mit Hülfe von Arbeitern selbst ausgebaut habe nach eigenem Geschmack. Die Holzarbeiten hatte er zum Teil ganz allein gemacht, so die sehr originell aus Baumstämmen und Ästen hergestellten Möbel. Für die Lehne der außen zum ersten Stock heraufführenden Treppe und das Balkongeländer war ein ganzer Baum benutzt worden, was eine sehr malerische Wirkung hervorbrachte. Das Ganze hat nun etwas durchaus Wohnliches und fügt sich harmonisch der Landschaft ein. Auch die Obstanlagen des Grundstückes scheinen gut gepflegt, es finden sich Pfirsiche, Feigen, Mandeln, Erdbeeren, Äpfel, Birnen etc. und alles ist nach eigenen Erfahrungen und sorgfältigen Überlegungen eingerichtet. Da keine Tiere gehalten werden, die Mist liefern, wird alles Gras zu Kompost gemacht, was bekanntlich einen vorzüglichen Dung abgibt, der alle notwendigen Stoffe in richtiger Mischung enthält.
Auch eine ziemlich ausgedehnte Bienenzucht wird betrieben. Kurz, so einfach und primitiv alles ist, so ist es eben doch selber errungen, mühsam und allmählich sich und den Verhältnissen abgerungen, und hat darum einen besonderen Wert. Man ist selber etwas dabei geworden und dies gilt hier als der einzige Zweck, alles andere ist dazu nur Mittel. Gräser macht nichts gedankenlos nach, sondern grübelt an allem herum, studiert und probiert fortwährend. Dadurch, dass er überhaupt alles selbst her zuzustellen sucht, lernt er die Dinge von Grund aus kennen und findet oft neue Wege und Formen. Seine Sandalen z. B. sind sehr praktisch und bequem, dazu schön, und endlich sehr dauerhaft. Im Sandalenmachen besitzt er, nebenbei gesagt, schon große Fertigkeit und verfertigt ein Paar in erstaunlich kurzer Zeit. Auch seine Tracht, die er beim Ausgehen anlegt, ist neu, einfach und durchaus schön. Sein Sinn ist nicht bloß auf das Praktische gerichtet, sondern auch auf das Künstlerische, das ist seine Besonderheit und übrigens Familien-Erbteil, das allen drei Brüdern eigen. Gräser ist der Meinung, dass das immerwährende Kaufen und Andere machen lassen uns vom Leben, von der Wirklichkeit loslöst und innerer Armut und schließlich dem Ruin zutreibt. Man wird und wächst nicht dabei, Hand und Auge und Verstand werden nicht geübt und verkümmern. Man pflegt nur Theorie statt Praxis: liest und schreibt, aber tut nicht, und darum lernt man nicht, und lebt eigentlich nicht. Man will nur genießen und geht zu Grunde an seiner Faulheit, es fehlt die gesunderhaltende, kräftigende Arbeit.
Es ist nicht zu leugnen, dass Gräser im Grunde Recht hat. Dem Menschen sollte viel weniger in die Hand gegeben, er vielmehr in der Jugend zum Selbermachen angeleitet werden um seiner selbst willen. Letzteres sollte die Hauptaufgabe der ganzen Erziehung sein. Später wählt er sich dann einen Zweig aus und macht seinen Beruf daraus. So würde der unseligen Zersplitterung von heute gesteuert und ein gewisser Zusammenhang gewahrt, der für die moralische Gesundheit unerlässlich. So kämen auch alle Fähigkeiten zur Entfaltung und die Menschheit in kurzer Zeit unendlich weiter. Mit den Grundarbeiten des Menschen würde jeder vertraut und würde sie auch sein Leben lang beibehalten, denn ein normaler Mensch ohne Gartenbau ist undenkbar. Jedermann muss Spaten und Axt und Säge zu handhaben wissen. Das Wandern ist schön und der Gesundheit sehr zuträglich, doch nur dann, wenn der Mensch ein Heim hat, das er pflegt und baut. Und neben der Arbeit tritt dann auch das Spiel in seine Rechte.
Gräser selbst sind diese Gedanken erst nach und nach recht klar geworden. Früher wusste er nicht deutlich, was er wollte, sondern folgte mehr einem dunkeln Drange. Seine Rede war verworrener und er tat auch manchen Missgriff, wie er jetzt einsieht. Seitdem ihm die freundlich-verständige Mutter das Hauswesen führt, geht es ihm auch äußerlich besser. Zudem hilft ihre Pension noch etwas nach, da die Pflanzung noch zu jung, um die Brüder ganz zu ernähren.
Der jüngste Bruder scheint recht begabt zu sein und manch ansprechendes Bild hängt in der interessanten Ausstellung, die auch Sachen des mittleren Bruders Gustav enthält, der früher ebenfalls malte. Leider dunkelte es schon, als ich die Ausstellung betrat und die Besichtigung wurde dadurch beeinträchtigt.“
Zu erzählen bliebe noch die Geschichte von Karl Gräsers Weihnachtsbaum. „Karl Gräser hat sich den Asconesen eingeprägt als derjenige, der nicht nur den „gotischen Stil“ (gemeint ist der Jugendstil) sondern auch den Christbaum ins Tessin gebracht hat.“ (Hermann Müller)
Der Ortschronist Giorgio Vaccchini weiß zu berichten:
„Dank Vincenzo Bacchi (1891) erfuhr ich eine interessante Geschichte, nämlich wie und wann im Kanton Tessin die nordische Tradition des Weihnachtsbaumes eingeführt wurde. …
Die Sache mit dem Weihnachtsbaum war so: Es war im Jahre 1901. Sie waren vier Knaben im Alter von etwa 10 Jahren. Gräser hatte sie eingeladen, den Weihnachtsbaum anschauen zu kommen. (…) Was kann das bloß sein?“ fragten sie sich. Sie wurden herzlich empfangen. „Kommt nur herein.“ Sie durchquerten den Garten und erblickten jenseits der Wiese „sül mött“, auf dem Hügel, einen Tannenbaum mit allen Herrlichkeiten an den Zweigen: Äpfel, Orangen, Schokolade, Bäckereien, bunte Papiersterne… Die Buben schauten sich an, wie wenn sie sagen wollten: „Halten die uns zum Narren?“ Alle vier hatten den gleichen Gedanken, nämlich dass man ihnen weismachen wolle, alle diese Dinge seien auf dem Baum gewachsen und paff! brachen alle zusammen in schallendes Gelächter aus. Sie hielten sich den Bauch und kniffen die Augen zusammen, um sich gegenseitig nicht anschauen zu müssen. Sie schienen toll geworden zu sein.
Gräser und seine Freunde waren begeistert von dem Erfolg und füllten voll Rührung Hände und Taschen der Knaben mit den Süßigkeiten vom Baum. Sie bestanden darauf, die Kinder möchten soviel essen wie sie wollten. Vincenzo Bacchi und seine Freunde ließen sie gewähren, denn es lohnte sich ja, aber sie lächelten immer noch und blinzelten sich zu. „War es möglich, dass diese Leute wirklich meinten, sie glaubten an den Zauber?“ Alle vier hörten auch auf dem Heimweg nicht auf, sich über die Naivität und Dummheit jener „Züchitt“ lustig zu machen, jener Kürbisse ohne Verstand. Sie waren zum Platzen satt. Vincenzo beendete seine originelle Erzählung mit der fast entschuldigenden Bemerkung: „Natürlich können die heutigen Kinder nicht verstehen, was uns passiert ist, aber wie konnten wir etwas anderes denken, da wir noch nie einen Christbaum gesehen hatten, noch jemals davon gehört hatten? Sicher war jener der erste Weihnachtsbaum im ganzen Kanton Tessin!“
Karl Gräser stirbt 1920 in Kassel und über die Umstände ist wenig oder nichts bekannt. Warum, dazu schreibt mir Hermann Müller:
„… über die Krankheit von Karl ist nichts genaues bekannt, selbst das Datum seines Todes ist nicht belegt. Ich habe mal was von „religiösem Wahn“ sprechen hören; Depressionen sind ziemlich sicher und auch verständlich. Denn er war von Pech verfolgt. Zuerst hatte seine Gefährtin Jenny Hofmann mehrere Fehl- oder Totgeburten, worauf sie in eine Nervenheilanstalt gebracht werden musste. Dann, nachdem er mit großer Anstrengung eine kleine Bienenkastenfabrik hochgezogen hatte, brach der Weltkrieg aus und stürzte seine Firma in den Ruin. Aber wie gesagt, genaues weiß man nicht, die Erkrankung von Karl wurde den Kindern von Gusto verschwiegen, man erzählte ihnen, der Onkel sei gestorben. Dass eine Syphiliserkrankung vorlag, wie Bollmann ohne jeden Beleg behauptet, ist zwar nicht auszuschließen aber eben nicht mehr als eine boshafte Unterstellung. Er wurde von der dritten Hofmann-Schwester, genannt Lilly, bis zu seinem Tode gepflegt. Sie war mit einem methodistischen Pastor verheiratet, und offensichtlich hat man den kranken Karl missionarisch-rettend bearbeitet. So dass er gegen seine einstigen Prinzipien seine Jenny doch noch amtlich ehelichte und sein irren bereut haben soll. Lilly wanderte anschließend nach Südamerika aus. Auch das ein Grund, warum schriftliche Quellen fast vollständig fehlen.“
Im Internet fand ich die Behauptung, Karl Gräser sei in einem „Irrenhaus“ gestorben und ich wollte von Hermann Müller wissen, ob das so stimme, seine Antwort:
„…Irrenhaus“ bzw. Nervenheilanstalt mag richtig sen, wir haben dazu aber nichts schriftliches. Wenn Lilly Hofmann ihn gepflegt hat, dann könnte das auch in ihrem Haus gewesen sein. Übrigens kommt als Sterbeort eher Nassau in Frage, wo die Familie Brepohl wohnte. Dort gab es auch ein Sanatorium dieses Namens. Nachfragen dort führten bisher zu keinem Ergebnis.“
Die restliche Geschichte des Hauses ist schnell erzählt und zwar auch von Hermann Müller:
„… Zunächst zu Soffel. Er hat nicht etwa die Villa Neugeboren übernommen sondern das Haus von Karl und Gusto Gräser auf dem MV. Ich erinnere mich an einen Brief von ihm (oder von Klabund?) an Hesse, in dem er über die Mutter von Hilde klagt, dass sie die Miete erhöht habe etc. Albine Neugeboren, nicht ihre Tochter Hilde war die Eigentümerin des Hauses. Leider kann ich den Brief, der auch sonst interessant ist, im Moment nicht finden. Das Haus in Ascona hat Gräser im Herbst 1918 seinem zeitweiligen Schüler Ludwig Häusser übereignet, der es dann wohl an Soffel verkaufte. Soffel taufte es „Casa Francesco“, also Haus des Franziskus, und ließ sowohl an der Außenwand wie im Inneren ein Fresko des Heiligen anbringen. Das farbige Innenfresko hat sich bis heute erhalten.“