Am 21. Juni 1891 wurde Hermann Carl Julius Scherchen in Berlin geboren. Sein Vater ist der Berliner Gastwirt Carl Scherchen (1857-1912), seine Mutter Bertha, geb. Burke (1862-1950). Die Familie stammt aus Schlesien, wie es sich für einen richtigen Berliner gehört und der Großvater Carl Gottlob war dort Schneider, verheiratet mit Johanna, geb. Ranze (1830-1866).
Nach dem Tod ihres Mannes zieht Mutter Bertha nach Gravesano, einer Gemeinde im Kreis Taverne, Bezirk Lugano im Tessin, von wegen: Det is die Berliner Luft… Scherchen wird ihr später dorthin folgen.
Bereits als 7 jähriger bekommt Hermann Carl Julius Scherchen Violinenunterricht. Nach dem Abschluss der Realschule studiert er an der Berliner Musikhochschule und nebenbei spielt er in Kaffeehaus-Kapellen.
Im Jahre 1907 beginnt seine Laufbahn als Musiker im neu gegründeten „Blüthner-Orchester“.
Das „Blüthner-Orchester“.
Im Jahre 1907 gründet sich in Berlin als Sinfonieorchester das „Blüthner-Orchester“. Es besteht bis 1925 unter diesem Namen und nennt sich dann „Berliner Sinfonie-Orchester“. „Nachkomme“ dieser beiden Orchester ist das heutige „Konzerthausorchester Berlin“.
„Sponsor“ des Orchesters ist die „Julius Blüthner Pianofortefabrik GmbH“, gegründet am 7. November 1853 von Julius Blüthner in Leipzig. „Sie gehört heute neben Steinway & Sons, Bösendorfer und Carl Bechstein zu den führenden Pianoherstellern weltweit, schreibt Wikipedia, Der erste Konzertmeister war Louis Persinger. Sein Domizil war der „Blüthner-Saal“, einem großen, zum Klindworth-Scharwenka-Konservatorium gehörenden Konzertsaal in der Genthinerstraße 11 in Berlin-Tiergarten. Bereits im Gründungsjahr begann Hermann Scherchen als Bratschist in diesem Orchester seine Laufbahn. Ab 1909 bis 1910 übernahm der Dirigent Josef Stránský die Leitung des Orchesters.
Julius Ferdinand Blüthner – geboren am 11. März 1824 in Falkenhain, gestorben am 13. April 1910 in Leipzig – war Klavierbauer und Gründer der Julius Blüthner Pianofortefabrik.
In der Tischlerei seines Vaters machte er eine Lehre als Möbeltischler und als Achtzehnjähriger arbeitete er in der Pianofortefabrik „Hölling und Spangenberg.
Louis Persinger – geboren am 11. Februar 1887 in Rochester, Illinois, gestorben am 31. Dezember 1966 in New-York – war Violinist und Pianist. Er lernte am Konservatorium in Leipzig und schloss seine Ausbildung in Brüssel ab. Nach einem Gastspiel beim Berliner Philharmonischem Orchester und dem Royal Opera Orchestra in Brüssel ging er bei Ausbruch des I. Weltkrieges in die USA zurück.
Das „Blüthner-Orchester“ – unter der Leitung von Paul Scheinpflug – trat deutschlandweit auf. In Berlin aber waren seine Sonntags-Sinfoniekonzerte besonders beliebt. „Die Beteiligung des Blüthner-Orchesters im Januar 1919 an einem von der Berliner SPD organisierten Neujahrskonzert, also einem „proletarischen Konzert“, war wohl weniger auf die Favorisierung einer bestimmten politischen Linie durch das Orchester als vielmehr auf sein Bestreben um Popularität zurückzuführen. Es kam zu einem Skandal um das Orchester, als es nach der Ermordung von Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg am 15. Januar 1919 auf deren Totenfeier spielte. Nur eine Entschuldigung des Dirigenten Paul Scheinpflug konnte das Orchester wieder rehabilitieren“ so Wikipedia.
Eines der letzten Konzerte des „Blüthner-Orchesters“ fand am 16. Oktober 1924 im Berliner Sportpalast statt, im Mai 1924 wurde es vom Berliner Symphonie-Orchester übernommen.
Neben seinem Engagement im „Blüthner-Orchester“ spielte Scherchen auch als Aushilfe beim Berliner Symphonie-Orchester und in der Krolloper. Durch intensive Partiturstudien erlernte er seinen späteren Beruf als Dirigent hauptsächlich als Autodidakt.
Im Jahre 1911 wurde Arnold Schönbergs „Pierrot lunaire“ uraufgeführt, Scherchen wirkte bei der Vorbereitung mit und gab sein Debüt als Dirigent bei der Premiere, der Beginn seines lebenslangen Einsatzes für Arnold Schönberg.
Kurz vor Ausbruch des I. Weltkrieges wurde Scherchen in Jürmala als Dirigent des Rigaer Symphonieorchesters berufen und dort überraschte ihn auch der Krieg. Als russischer Zivilgefangener interniert, sammelte er weitere Erfahrungen als Dirigent, Bratscher und Lehrer und widmete sich auch der Komposition von Kammermusik und Liedern, lernte Russisch, und vertiefte sich in sozialistische Literatur. Das Kriegsende erlebte er als ziviler Kriegsgefangener in einem Lager im Ural und 1917 machte er die russische Oktoberrevolution mit.
Über Jürmala schreibt Wikipedia:
„… Jürmala (deutsch Riga-Strand) ist ein lettischer Ostsee-Badeort am Rigaischen Meerbusen mit 57.371 Einwohnern (Stand: 1. Januar 2016).
In Jürmala mündet die Lielupe ins Meer, 10 km südöstlich befindet sich die lettische Hauptstadt Riga.
Jürmala erstreckt sich über etwa 40 km nordwestlich von Riga entlang der Küstenlinie und setzt sich von West nach Ost aus den Teilorten Ķemeri, Jaunķemeri, Sloka, Kauguri, Vaivari, Asari, Melluži, Pumpuri, Jaundubulti, Dubulti, Majori, Dzintari, Bulduri, Lielupe und Priedaine zusammen.
Der Ortsteil Bulduri hieß früher Bilderlingshof und war vor 1914 der bevorzugte Sitz der deutsch-baltischen Intelligenz, des Geld- und Blutadels. Ein Teil zwischen Dzintari und Bulduri wurde eine Zeit lang Edinburgh genannt, zu Ehren der Eheschließung zwischen Maria Alexandrowna Romanowa und dem britischen Prinzen Alfred im Jahre 1874.
In Jürmala gibt es Freizeiteinrichtungen, eine Promenade und Gastronomie. Der Ort hat einen langen weißen Strand, der sich nach Osten 10 km auf Riga zu erstreckt, während man westwärts, durch nichts unterbrochen, mehr als 20 km an einem Stück vorfindet.
Jürmala ist ein Kurort, der zu touristischen Hochzeiten nur nach Entrichtung einer Straßenbenutzungsgebühr, einer Art Kurtaxe, von Gästen befahren werden darf; er gilt als bevorzugte Wohnlage. Sehenswert sind die Villen in Holzbauweise aus der Zeit der Jahrhundertwende zum 20. Jahrhundert, die im Jugendstil errichtet wurden. Im Ortsteil Ķemeri befinden sich schwefelhaltige Heilquellen.“
1918 übersetzte Hermann Carl Julius Scherchen das Arbeiterlied „Brüder, zur Sonne, zur Freiheit“ aus dem Russischen ins Deutsche.
Wikipedia:
„… Brüder, zur Sonne, zur Freiheit ist der Titel der deutschen Nachdichtung des russischen Arbeiterliedes „Tapfer, Genossen, im Gleichschritt“, das 1895/96 von Leonid Petrowitsch Radin im Moskauer Taganka-Gefängnis gedichtet wurde.
Als musikalische Vorlage diente Radin das Studentenlied „Langsam bewegt sich die Zeit“, zu der Iwan Sawwitsch Nikitin im September 1857 den Text schrieb, veröffentlicht 1858 unter dem Titel „Lied“) in der russischen Zeitschrift „Russisches Gespräch“. Radin veränderte außerdem den Rhythmus der bisherigen langsamen Walzer-Melodie in einen flotten und kämpferischen Marsch.
Das Lied wurde erstmals 1898 von politischen Gefangenen auf dem Marsch in die sibirische Verbannung gesungen. Das Lied wurde wegen seiner mitreißenden Art schnell bekannt, allerdings auch auf Grund der Herkunft seiner Melodie: In der russischen Revolution von 1905 und der Oktoberrevolution 1917 wurde es in Russland zur Hymne. Radin selbst hat beides nicht mehr erlebt; er starb 1900 im Alter von nur 39 Jahren.
Der deutsche Dirigent Hermann Scherchen, Leiter eines Arbeiterchores, lernte das Lied 1917 in russischer Kriegsgefangenschaft kennen und schuf 1918 eine deutschsprachige Fassung. In Deutschland wurde „Brüder, zur Sonne, zur Freiheit“ am 21. September 1920 in Berlin zum ersten Mal vom „Schubert-Chor“ öffentlich gesungen. Während Radin allerdings sieben Strophen dichtete, umfasste Scherchens deutsche Fassung nur drei. Während der Zeit der Weimarer Republik entstanden eine 4. und eine 5. Strophe von unbekannten Verfassern.
1921 erschien das Lied sogar in einem religiösen Gesangbuch. Die von Eberhard Arnold herausgegebenen Sonnenlieder, bis heute das Gesangbuch der pazifistisch-täuferischen Bruderhofgemeinschaft, führen es unter der Liednummer 63. Die letzte Zeile der dritten Strophe wurde allerdings durch Erich Mohr (1895–1960) verändert. Bei Hermann Scherchen, dem deutschen Übersetzer des Arbeiterliedes, lautet die Schlussstrophe: „Brüder, in eins nun die Hände, / Brüder, das Sterben verlacht! / Ewig, der Sklaverei ein Ende, / heilig die letzte Schlacht!|. In den Sonnenliedern heißt es im letzten Vers / Heilig der Liebe Macht!
Die Nationalsozialisten verwendeten das beliebte Lied einerseits mit einer eigens angepassten vierten Strophe, dichteten es andererseits 1927 um in Brüder in Zechen und Gruben, eines der bekanntesten Propagandalieder der NSDAP im Dritten Reich, und ebenfalls 1927 in „Brüder formiert die Kolonnen“, ein Kampflied der SA.
„Brüder, zur Sonne, zur Freiheit“ entwickelte sich im Laufe der Jahrzehnte zum wohl meistgesungenen Lied der Arbeiterbewegung nach dem Zweiten Weltkrieg. Es gilt neben „Wann wir schreiten Seit’ an Seit’“ als Parteihymne der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands (SPD) und wird jeweils zum Abschluss der SPD-Parteitage gesungen, hatte aber auch seinen Platz auf den Parteiversammlungen der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands (SED).
Am 17. Juni 1953 wurde das Lied in zahlreichen Orten in der Deutschen Demokratischen Republik (DDR) auf den Demonstrationen gesungen. Genauso wurde es mehrfach bei den Montagsdemonstrationen 1989 in Leipzig angestimmt. Es gibt weitere Übersetzungen in zahlreiche europäische Sprachen (z. B. Dänisch, Norwegisch, Kroatisch, Estnisch).“
Noch 1918 kehrt Hermann Scherchen nach Deutschland zurück. In Berlin gründet er das „Scherchen-Quartett“ und die Musikzeitschrift „Melos“.
Wikipedia:
„… Melos war eine deutschsprachige Musikzeitschrift. Sie wurde im Februar 1920 von dem Dirigenten Hermann Scherchen als Organ der – bereits 1918 gleichfalls von Scherchen gegründeten – Neuen Musikgesellschaft ins Leben gerufen.
Zentrales Thema bildete die zeitgenössische Musik und die Vermittlung der Ideen des musikalischen Expressionismus an ein breites Publikum. Dabei war ein interdisziplinärer Ansatz angestrebt, der auch die Berührung mit anderen Künsten einbezog. Als Anregung dienten eine 1917 in St. Petersburg erschienene gleichnamige russischsprachige Zeitschrift und die ab 1919 von der Universal Edition herausgegebenen, insbesondere dem Werk Arnold Schönbergs und seinem Kreis gewidmeten Musikblätter des Anbruch.
Scherchen übergab 1921 die Redaktion an Fritz Fridolin Windisch. Die anfangs halbmonatlich erscheinende Zeitschrift erschien nunmehr monatlich, ab August 1922 bis 1924 wurde das Erscheinen aufgrund der Inflation gänzlich eingestellt.“
An der Hochschule für Musik in Berlin begann er eine Lehrtätigkeit und leitete zwei Arbeiterchöre.
Leipzig 1920/21 dirigierte Scherchen das „Orchester des Konzertvereins“ und 1922-1924 als Nachfolger von Wilhelm Furtwängler schwang er den Dirigentenstab in Frankfurt am Main als Leiter der Museumskonzerte der Frankfurter Museumsgesellschaft.
Über seine weiteren Engagements schreibt Wikipedia:
„… und wirkte in Winterthur (1922–1950), als Generalmusikdirektor in Königsberg (1928–1931) und war daneben bis 1933 musikalischer Leiter des dortigen Rundfunksenders. In Winterthur machte er als Dirigent das von Mäzen Werner Reinhart geförderte Stadtorchester Winterthur (heute Musikkollegium Winterthur) europaweit bekannt.
Ab 1923 engagierte sich Scherchen in der Internationalen Gesellschaft für Neue Musik (IGNM). In diesem Umfeld lernte er auch Karl Amadeus Hartmann kennen, zu dessen Mentor er wurde. 1926 dirigierte Scherchen erstmals bei den Donaueschinger Musiktagen.
Scherchen gehörte der KPD zwar nicht als Mitglied an, stand aber politisch links und war ein großer Freund der Sowjetunion. 1933 verließ er wegen seiner Ablehnung des Nationalsozialismus Deutschland. In Brüssel gründete er den Musikverlag „Ars viva“, der neben der Publikation unbekannter älterer Werke vor allem der Verbreitung zeitgenössischer Partituren und Textbücher, etwa von Karl Amadeus Hartmann und Wladimir Vogel, sowie der Zeitschrift „Musica viva“ diente, aber keinen langen Bestand hatte. 1937 zog er in die Schweiz.
Nach dem Zweiten Weltkrieg war Scherchen von 1945 bis 1950 musikalischer Leiter beim Radioorchester Zürich, welches in Radio Beromünster umbenannt wurde, und Chefdirigent des Studioorchesters beim Schweizer Rundfunk. Ab 1950 engagierte er sich bei den Darmstädter Ferienkursen für Neue Musik und verhalf vielen der damaligen Avantgarde-Komponisten zu Uraufführungen. Im selben Jahr gründete er den Musikverlag „Ars viva“ in Zürich neu. 1951 leitete er an der Berliner Staatsoper die Uraufführung von Paul Dessaus „Das Verhör des Lukullus“. 1954 gründete Scherchen in seinem Wohnort Gravesano mit Unterstützung der UNESCO ein Studio für Forschungen auf dem Gebiet der Elektroakustik (Rundfunk- und Aufnahmetechnik), wo Komponisten wie Vladimir Ussachevski, Luc Ferrari, François-Bernard Mâche und vor allem Iannis Xenakis arbeiteten. Die Ergebnisse dieser Forschungen veröffentlichte Scherchen in den „Gravesaner Blättern“.
Von 1959 bis 1960 war er außerdem Chefdirigent der Nordwestdeutschen Philharmonie in Herford.
Scherchen setzte sich in seiner Karriere wie kaum ein zweiter Dirigent für die Neue Musik ein. Er dirigierte viele Uraufführungen, darunter Werke von Arnold Schönberg, Alban Berg, Anton Webern, Paul Hindemith, Ernst Krenek, Richard Strauss, Karl Amadeus Hartmann, Edgar Varèse, Luigi Nono, Luigi Dallapiccola, Paul Dessau, Boris Blacher, Hans Werner Henze, Alois Hába, Albert Roussel, Claude Ballif, Karlheinz Stockhausen und Iannis Xenakis. Daneben gründete er Ensembles, die sich der Aufführung zeitgenössischer Musik widmeten, und Zeitschriften, die sich publizistisch um deren Verbreitung bemühten.
Scherchen war als Dirigent für unkonventionelle Interpretationen bekannt. So existiert eine Aufnahme der 5. Sinfonie von Gustav Mahler, in welcher Scherchen erhebliche Striche in der Partitur vornahm (möglicherweise, um eine einstündige Radioübertragung zu ermöglichen). Auch gehörte er zu den Ersten, die Beethovens Metronomangaben ernst nahmen, was auf einigen seiner Aufnahmen zu hören ist.
Zu seinen Schülern gehörten Karl Amadeus Hartmann, Ernest Bour, Bruno Maderna, Luigi Nono, Francis Travis und Harry Goldschmidt.
Familie
Aus Wikipedia:
„… Hermann Scherchen war zunächst verheiratet mit Auguste (Gustl) Maria Jansen; der Ehe entstammt der Sohn Karl Hermann Wolfgang (Wulff), geboren 1920. 1927–1929 war er verheiratet mit der Schauspielerin Gerda Müller, war darauf wieder mit Gustl Jansen zusammen, bevor er 1936 die Komponistin Xiao Shuxian (Hsiao Shu-hsien) in Peking heiratete. 1937 wurde ihre gemeinsame Tochter Tona Scherchen geboren. Diese kehrte 1949 mit ihrer Mutter nach China zurück. Später machte sie sich einen Namen als Komponistin, vor allem nachdem sie 1972 nach Frankreich gezogen war. Scherchens letzte Frau war die in Zürich lebende Mathematiklehrerin Pia Andronescu (Heirat 1954), mit der er fünf Kinder hatte.“
Sozusagen zu Scherchens Familie gehörte auch Carola Neher. Sie lernte ihn 1929 in Berlin kennen und war von 1930 bis 1932 mit ihm liiert.
Auszeichnungen
1930 Verleihung des Ehrendoktors der Philosophie (Albertus-Universität Königsberg)
1957 Deutscher Kritikerpreis
1961 Silberne Medaille der Stadt Paris
1961 Ehrenmitgliedschaft der Internationalen Gesellschaft für Neue Musik
Werke
„Lehrbuch des Dirigierens“, Leipzig 1929,
„Lehrbuch des Dirigierens“. Schott, Mainz, Nachdruck 2006,
„Vom Wesen der Musik“, Winterthur 1946
„Musik für Jedermann“, Winterthur 1950
„Alles hörbar machen: Briefe eines Dirigenten“ 1920–1939, Berlin 1976
„Aus meinem Leben“, Berlin 1984
Schallplattenaufnahmen von mehreren hundert Werken vom Barock bis zur Moderne (wenige noch im Handel erhältlich).
Erwähnenswert wäre noch Scherchens Studio in Gravesano, dass er 1954 eröffnete, Rolf Amgarten schreibt dazu:
„… 1954 hatte Scherchen in Gravesano mit Unesco-Unterstützung ein Studio für Forschungen auf dem Gebiet der Elektroakustik, des Rundfunks und der Aufnahmetechnik gegründet. Vor allem Iannis Xenakis arbeitete dort mit ihm zusammen.“
Der Künstler und Ausstellungsmacher in Lugano Luca Frei, mit dem Scherchen zusammenarbeitet meint:
„… Scherchen glaubte ans emanzipatorische Potential von Musik, er begrüßte Radio und Fernsehen als neue Medien, mit denen so viele Menschen erreicht werden konnten”.
Rolf Amgarten ergänzt:
„… Allerdings auch mit Kriegspropaganda und Reklame. Bereits in den 30 er Jahren wollte Scherchen wissenschaftlich die Wirkung von rundfunkgemäßer Musik erfassen, indem er akribische Berichte von Hörenden im Aufnahmestudio, im Tontechnikerraum und bei einem gewöhnlichen Rezipienten am Lautsprecher zuhause anfertigen ließ.“
Und weiter:
„… In Gravesano wagt er sich ab 1954 an weit größere Grenzen heran: Ein französisches Musiklexikon schreibt laut Musikforscher Müller dazu: “Gravesano ist heutzutage ein Weltzentrum der audiovisuellen Forschung.” Scherchen greift über die Grenze des Klanglichen ins Audiovisuelle hinein. Freund Xenakis will dort ein Musikstück aus Klangquanten von kürzester Dauer zusammensetzen. Der Übergang vom Ton zum Bild soll geschaffen werden. Scherchen selbst habe mittels Ultraviolettstrahlern rotierende Kugellautsprecher beleuchtet, filmte die Reflexionen und synchronisierte die so entstandenen visuellen Bewegungsmuster mit der Musik von Xenakis. So sei laut Müller ein abstrakter Film mit abstrakter Musik entstanden. Zu Beginn der 60 er Jahre nahm Scherchens Interesse am Gravesaner Studio ab. Er war als Dirigent dermaßen gefragt, dass ihm keine Zeit mehr blieb. Nach seinem Tod im Jahre 1966 wurde das Studio liquidiert.“
Hingegen hatte Scherchen seine theoretischen Gedankengänge in den Gravesaner Blättern von 1955 bis zu seinem Tode weitergeführt. Über Scherchens überaus bewegtes, ruheloses und von Umzügen geprägtes Leben geben im Detail Online-Einträge Auskunft. Nur eine Anekdote am Rande: Scherchens erste Frau – insgesamt waren es vier – hatte eine Schwester namens Lene. Diese war mit Sandor Rado verheiratet, welcher zur Widerstandsbewegung “Rote Kapelle” gehörte. Scherchen versteckte Rado im Jahr 1944 in seiner damaligen Wohnung in Genf. Scherchen habe zwar nicht aktiv der Kommunistischen Partei Deutschlands angehört, sei aber politisch klar links gestanden und ein Freund der Sowjetunion gewesen. “Das elektroakustische Experimentalstudio, das der Dirigent Hermann Scherchen, ein engagierter Förderer der zeitgenössischen Musik, ab 1954 in Gravesano bauen ließ, mochte in einem eigentümlichen Gegensatz stehen zu jenem Dorf, katholisch und kommunistisch zu gleichen Teilen, dessen größte Schätze ein damaliger Besucher (Fred K. Prieberg) wie folgt aufzählte: ‘Ein paar Ziegen, ein bisschen roter Wein und Berghänge voller Kastanien’”, zitiert Musikforscher Patrick Müller in einem Beitrag für die NZZ.
Während eines Konzerts in Florenz 1966 erlitt er einen Herzinfarkt und verstarb am 12. Juni 1966 in Florenz. Beigesetzt wurde er in Gravesano – seinem Wohnort – und auf seinem Grabstein stehen die Anfangsnoten von Bachs Kunst der Fuge.