Gusto Gräser

„Ich hatte das Gefühl, zum ersten Mal in meinem Leben einem Menschen begegnet zu sein“, sagte Hermann Müller – sein Biograph – über:

Gustav Arthur Gräser

Gusto Gräser

Der wurde am 16. Februar 1879 in Kronstadt in Siebenbürgen als zweiter von drei Söhnen geboren. Seine Eltern waren das Ehepaar Carl Samuel Gräser (1839–1894) und Charlotte, geborene Pelzer. Insgesamt hatten die Eltern fünf Kinder, drei Söhne und zwei Töchter.

Die Familie Gräser entstammte einer frommen und gelehrten Familie Siebenbürgens. Drei Bischöfe der evangelischen Landeskirche, Geschichts­schreiber, Bischöfe, Offiziere und Künstler gehören zu den Vorfahren.

Die Eintragung im Taufbuch zu den Eltern von Gustav Arthur Gustav lautet:

„Carl Samuel Graeser, k. Unterbezirksrichter in Kronstadt, in Mediasch geboren, ev. A. B. (evangelisch, Augsburger Bekenntnisses) u. dessen Gattin Karoline geb. Dr. Josef Pelzer, ev. A. B. beide in Kronstadt wohnhaft, Schulgasse 326.“

Die ehemalige Schulgasse in Kronstadt

Der Vater wird am 13, Juni 1738 als Sohn des ev. Pfarrers Carl Samuel Gräser (1817- 1858) und der Josepha Ludovica Wagner, (1819-1892) geboren. Er stirbt am 16. Mai 1894 nachmittags 5 Uhr.

Die Mutter Charlotte Gräser, geb. Pelzer, geboren am 13. Juli 1853 ist die Tochter des Arztes Dr. med. Josef Pelzer. Sie stirbt am 16. Mai 1894, nachmittags 5 Uhr

Am 18. Januar 1871 heiraten Carl Samuel Graeser und Charlotte Pelzer.

Über ihre Kinder schreibt die Mutter In Ihrem Tagebuch:

Am 31. Mai 1872 wird Tochter Caroline (Charlotte, Lottchen) geboren. Sie starb 1891 mit 19

Jahren.

Im folgenden Jahr, 1873, am 19. Oktober wird Tochter Josephine geboren. Sie starb 1943 mit 70 Jahren.

1875, am 13. August kommt Sohn Carl Samuel Josef auf die Welt. Er starb 1920 mit 45 Jahren.

Bruder Carl Gräser

Im Dezember 1875 zieht die Familie nach Kronstadt um – im Tagebuch der Mutter ist zu lesen: „Den 6ten Dezember 1875 sind wir von Mediasch nach Kronstadt übersiedelt.“

Und dort erblickt dann Sohn Gustav Arthur als viertes Kind und zweiter Sohn am 16. Februar 1879 das Licht der Welt. Fünf Jahre später, am 8. Mai 1884 kommt Ernst Heinrich als fünftes Kind in Kronstadt auf die Welt.

Bruder Ernst Heinrich Gräser

Die Jahre 1887 – 1894 lebt die Familie in Tekendorf, Hermann Müller schreibt:

„… Nachdem sie vier Jahre lang pausiert hat, setzt Grossika ihre Eintragungen erst 1891 in Tekendorf fort. Grund für den Umzug war der berufliche Aufstieg ihres Mannes. Karl Samuel Gräser wird nun Bezirksrichter in dem Städtchen Tekendorf – rumänisch Teaca, ungarisch Teke – in Nordsiebenbürgen, Kreis Bistritz-Nassod. Das Amt entspricht etwa dem eines deutschen Landrats. Tekendorf nannte sich zwar Stadt, war aber tatsächlich nicht mehr als ein Dorf von etwa 2000 Einwohnern. Man befindet sich auf dem Land, ist von kulturellen Einrichtungen und Angeboten weitgehend abgeschnitten. Der gutmütige Pfarrersohn Karl Samuel ist im Amt nicht erfolgreich, ja, er scheitert und leidet zunehmend unter asthmatischen Beschwerden. Die Söhne müssen für ihre Weiterbildung in Hermannstadt und Bisztritz untergebracht werden, die Töchter haben keinerlei Bildungsmöglichkeiten, die über häusliche Arbeiten hinausgehen. Für ihre Ausbildung in einer Stadt reicht das Einkommen des Vaters nicht. Wenn Grossika betont, dass ihre Zeit in Kronstadt eine glückliche gewesen sei, dann sagt sie damit zugleich, dass die Periode in Tekendorf sehr unglücklich war. Am härtesten trifft sie das qualvolle Sterben ihrer ältesten, erst neunzehnjährigen Tochter im Kindbett. Zeitweise wünscht sie sich selbst den Tod. Tatsächlich endet die Zeit in Teke mit dem Sterben ihres lange kränkelnden Mannes.“

Aus dem Tagebuch der Mutter ab 1889:

„… Das 1ste Jahr 87 u das 2te 88 ist mir und meiner Familie ziemlich gut vergangen. Die Kinder waren alle noch unter elterlichem Schutz, nur Karlchen kam im Jahre 88 auf das Gymnasium nach Bistritz … Josefinchen war mit Lottchen zusammen nur auf einigen …? in Bisritz, weil wir 3 Kindern auf einmal aus unserem Gehalt das Kostgeld nicht erschwingen konnten.

Das Leben in Tekendorf gestaltete sich in Anfang sehr gut. Meine Mädchen fanden hinreichend Unterhaltung, und was sie an Wissenschaften hier entbehren mussten (denn hier war alles Lernen abgeschnitten) mussten sie im Kochen, Wirtschaften und Haushaltungführen lernen. Doch mein guter Mann, dem seine große Freundlichkeit – jedem Menschen das Beste wollend und entgegenbringend und so auch das Gleiche fordernd – (nur geschadet hat), hat hier gleich in Anfang fehlgeschlagen und so hat er sowohl in als außer dem Amt sehr viele Unannehmlichkeiten durchgemacht, von denen bei seinem guten heiteren Temperament nur sehr wenig auf seine Familie wirkte. Das Jahr 89 u 90 brachte uns viele große Sorgen und oft auch schlaflose Nächte, doch darüber will ich den Schleier der Vergessenheit ziehen.“

Und weiter:

„… 1890, 28. 06. Schwester Lotte heiratet 18 jährig den Forstbeamten Gustav Kofranek-Kováts. Sie wohnen in einem großen Haus in Tekendorf, das der Schwiegervater ihnen kaufte.

Im Jahre 1890, den 28ten Juni, war die Hochzeit unseres Lottchens. … Mein guter Mann litt lange danach an asthmatischen Zuständen, so dass er das Rauchen ganz aufgegeben hat. Es war ihm sehr beengend, in der Nacht besonders (dem Herzen?) gefährlich. Es war eine traurige Zeit für mich.

1890, 30. 08. Gustel kommt 11 jährig aufs Gymnasium nach Hermannstadt. Den 30ten August fuhr ich mit Gustel nach Hermannstadt, fand gleich eine passende Unterkunft bei Lehrer Zinz für ihn.

1890, 15. 09. Karl tritt 15 jährig in die Kadettenanstalt von Hermannstadt ein. Den 13ten oder 14ten September ist unser Karlchen von zuhause fort, um den 15ten (seinen Lebensberuf) in der Kadettenschule in Hermannstadt anzutreten.

Karl als Jesus – Gemälde von Ernst Heinrich Gräser

1891, 09. 04. Enkeltochter Charlotte geboren. Nach kaum einem Jahr der Hochzeit, den 9ten April 1891, Nachmittag zwischen 4 und 5 Uhr, bekam unser liebes Lottchen das Kindchen.“

Aber am 13. April stirbt Schwester Charlotte im Kindbett, die Mutter schreibt in ihr Tagebuch:

„… Den 13ten Juli mein 39ter Geburtstag. Ich dankte Gott inbrünstig, dass er mich bei der überstandenen Ohnmacht doch nicht für immer zu sich berufen hat, was ich in dieser Zeit meines größten Schmerzes einige mal herbeigesehnt hatte.“

Am 16. Mai 1894 stirbt der Vater, im Tagebuch trägt die Mutter ein: „“Mein guter theurer Mann ist im Jahre 1839, den 16ten Juni geboren und den 16ten Mai 1894, Nachmittag 5 Uhr, gestorben.“

Im gleichen Jahr – mit 15 Jahren – muss Gustel wegen schwacher Leistungen in Mathematik das Gymnasium verlassen und ist jetzt auf der Suche nach einer Lehrstelle und am 18. August kommt Bruder Karl aus der Kadettenschule glücklich als Kadett heraus.

Nach dem Tode ihres Mannes zieht Charlotte Gräser nach Mediasch – Gusto soll in Kronstadt eine Lehre antreten, die aber „schmeißt“ er nach 14 Tagen, schreibt die Mutter. Und Bruder Karl tritt am 3. Oktober 1894 seinen Dienst bei einem Regiment in Przemysl an.

Am 26. Oktober der zweite Versuch, Gusto beginnt in Pest eine Lehre als Kunstschlosser und schließt diese nach 2 Jahren erfolgreich ab. August 1896, Gustel gewinnt mit seiner Schnitzarbeit einen ersten Preis der Weltausstellung von 1896 in Budapest, die Mutter schreibt: „In den ersten Tagen des August habe ich die große Freude erlebt, dass mein Gusti für sein schönes Werk den 1sten Preis erworben hat.“

Und weiter: „Den 16ten Januar (1897) ist Gustel von Pest nach Wien in die Kunstgewerbeschule gereist. In der Hoffnung, dass er ganz bestimmt ein Stipendium erhält, hat er diesen Schritt unternommen.“

Wikipedia schreibt:

„… Seit 1897 studierte er Kunst in Wien. Für kurze Zeit schloss er sich 1898 der Künstlergemeinschaft „Humanitas“ des Lebensreformers und Malers Karl Wilhelm Diefenbach auf dem „Himmelhof“ bei Wien an, die ihn stark prägten. Weil er sich dem autoritären Stil seines Meisters jedoch nicht beugen wollte, kehrte er nach Siebenbürgen zurück.“

Ostern 1898: Stehend in der Mitte Diefenbach, ganz links kniend Gusto Gräser

In der Künstlergemeinschaft „Humanitas“ lernt Gräser den Schriftsteller, Wanderredner und Rezitator Johannes Guttzeit (1853-1935) kennen. Dieser hatte einen großen Einfluss auf ihn durch seinen Schüler Anton Losert. Losert war einer der Mitschüler Gräsers in der „Humanitas“, rebellierte mit ihm zusammen gegen den Meister und wurde wie er aus der Gemeinschaft ausgestoßen.

Unter dem Datum des 8. September 1898 schreibt Gräsers Mutter in ihrem Tagebuch unter dem Titel: „Gusto kommt nach Siebenbürgen zurück“ die folgenden Zeilen:

„…“Den 8. oder 9. September bekam ich in Tekendorf (wo sie zu Besuch bei ihrer Tochter war) einen Brief vom Gusti, in dem er mir sein gänzliches Fortgehen vom Diefenbach und sein Kommen nach Tekendorf ankündigte. Ich war sehr überrascht, obzwar ich schon bei meinem Besuch in Wien es herausfühlte, dass Gusti mit den oft haarsträubenden demoralisierenden Verhältnissen nicht zufrieden war und sein konnte.

Ich schickte ihm sogleich das Reisegeld und auch 5 fl., damit er sich Schuhe kaufen kann (denn Kleider hatte er noch), um bei seiner Schwester so, wir gewöhnt sind uns zu kleiden, zu erscheinen.

Er kam an. Doch welcher Schreck, besonders für Josefine: Er kam ohne Kopfbedeckung in seinem von mir verfertigten Kostüm an.

Gusti ist zu der Erkenntnis gekommen, dass nur die rein natürliche Lebensweise, also Pflanzen und Obst und alles aus der Natur genommene Ungefälschte allein für das menschliche Gedeihen notwendig und gut sei. Er verwirft jeden Zwang, Geldverdienen, um sich den Magen mit Fleisch (und) Getränken aller Art anzustopfen, so auch für Kleider. Putz ist Sünde. Gott ist überall, wo wir die Natur erblicken.

Gusti hat bei Josefin bis auf Fleisch, was wir in der Zeit, dass ich bei ihr war, hauptsächlich aus Sparsamkeit nur einmal auf den Tisch brachten, alles gegessen; doch wenn er nur kann, bleibt er bei seiner kalten, ungekochten Lebensweise.

Nach meinem Bitten und Reden hatte ich Gusti doch so weit gebracht, dass er den nächsten Tag mit Hut und Rock mit uns auf den Friedhof zu unsern theuren Gräbern kam. Auf dem Friedhof sagte er: „Ich weiß es gewiss, dass der gute Vater und du, Mutter, denn Euch habe ich es zu danken, so geworden zu sein, mit meinen Anschauungen vom Leben einverstanden wäre. Ja, wäre ich nur ein paar Jahre, auch nur ein Jahr vor seinem Tode zu dieser Erkenntnis gekommen, so könnte der gute Vater heute noch leben.“

Ende September 1898 nach seiner Rückkehr nach Siebenbürgen bis Januar 1899 malt Gusto Gräser das Ölbild „Der Liebe Macht“, seine Mutter schreibt:

„… In den letzten Tagen des September ist Gusti von Tekendorf nach Mediasch gekommen. Wie große Sorgen machte ich mir um ihn, besonders aus dem Grund, weil ich dachte, er wird ohne Beschäftigung sein. Dies konnte ich immer schwer vertragen, ein großes erwachsenes Kind ohne Arbeit zu wissen.

Diesem war aber nicht so, denn sein Geist hatte, als er zu uns kam, schon fertige Ideen zu einem großen Ölgemälde. Die Vorbereitungen – Leinwand, Farben, Rahmen – dauerten nicht lange, und beiläufig zum halben Oktober begann er sein Werk. Den Entwurf samt den Grundtönen der Malerei hat er in dem ihm zugewiesenen hellen Kasernenzimmer vollbracht. (…) Alle, die es angesehen haben, wunderten sich: So ein Bild in so kurzer Zeit! Denn er konnte nur 3 bis 4 Stunden täglich bei den trüben Wintertagen arbeiten. Mitte Januar 1899 ist das Bild fertig gewesen.“

Der Liebe Macht

Bereits im Februar stellt Gusto Gräser dieses Bild in Hermannstadt aus und die örtliche Presse schreibt:

„… Der Liebe Macht. Das Bild unseres Landsmannes Gustav Gräser „Der Liebe Macht“ ist nun in der evangelischen Knaben-Elementarschule zu sehen. Der Gedankenreichtum, den der junge Künstler in diese seine Schöpfung gelegt hat,

wird gewiss nicht verfehlen, das Interesse weiterer Kreise zu erwecken.“

Und ein weiterer Artikel:

„… Das Bild Gräsers, „Der Liebe Macht“, ist, wie wir schon mitgeteilt haben, seit einigen Tagen in der neuen Knaben-Elementarschule der allgemeinen Besichtigung zugänglich gemacht. Der junge Künstler, ein Autodidakt, hat auf eine einzige Leinwand ein Bild geworfen, das – unterstützt von der Erläuterung des Malers – eine bedeutende Fülle von Gedanken offenbart. Die gegenwärtige Welt mit ihren Schäden des sozialen Elends lässt den Wunsch nach Befreiung und Erlösung zu einem menschenwürdigen Dasein hinüberflüchten aus der brennenden Fabrikstadt zu einer Art idyllischen Lebens im engeren Anschluss an die Mutter Natur, die der Menschheit Labsal und Erquickung und die Gewähr bieten soll, dass sie unter ihrem Einfluss zu einem schöneren Leben gelangen.

Die Entwicklung aber von der zusammenstürzenden Welt zur Rettung, zur segen-spendenden Natur, erscheint allerdings auf einer kleinen Leinwand mehr skizzenhaft ausgedrückt, aber gewiss lässt sich schon aus dem stellenweise gelungenen Entwurf auf die Gedankentiefe und auf das Talent des jungen Malers en nicht unberechtigter Schluss ziehen. Es wäre nur zu wünschen, dass ihm von maßgebenderer Seite als die eines Laien ist, in seinem Vorwärtsstreben Förderung, auch durch Aufdeckung der Fehler, zuteilwürde und zahlreicherer Besuch. Dem Vernehmen nach bleibt das Bild noch einige Tage ausgestellt.“

Ostern 1898 – in der Mitte Gusto Gräser

Zu weiteren Ausstellungen wird es in Kronstadt nicht mehr kommen. „Der Zwanzigjährige zerstört seine Bilder, wirft seine Besitztümer von sich und begibt sich auf die Wanderschaft“ schreibt Hermann Müller und bei Wikipedia lese ich:

„… 1899 brach er alle familiären und gesellschaftlichen Brücken hinter sich ab und lebte fortan auf Wanderschaft quer durch Europa. Er knüpfte Kontakte zu Philosophen, Künstlern und Reformern wie Rudolf Steiner, Gustav Landauer, Erich Mühsam, Alois Riehl, Ernst Horneffer, Gustav Naumann, Ferdinand Avenarius, Friedrich Naumann oder Georg Kerschensteiner.

Schon früh wurde er eine Gestalt der Dichtung, so als „Blüthner, der Evangelimann“ bei Gustav Naumann, als „der bäurische Denker Heinrich Wirth“ und als „der Waldmensch mit dem dritten Auge“ bei Hermann Hesse, als „Narr in Christo“ bei Gerhart Hauptmann. Er lebte von Vorträgen und dem Verkauf seiner selbstgedruckten Gedichte.“

Und einen lapidaren Satz finde ich bei Hermann Müller: „Zusammen mit seinem Bruder Karl und anderen Aussteigern begründet er im Herbst 1900 die Landkommune Monte Veritä bei Ascona.“ Denn mir stellt sich die Frage, ob diese Landkommune ohne den Einfluss Gusto Gräsers ihre Bedeutung erreicht hätte.

Mit den anderen Begründern zerstritt er sich nach kurzer Zeit und nahm seine Wanderschaft bald wieder auf, kehrte jedoch immer wieder auf den Berg zurück und von 1916 bis 1918 lebte er mit seiner Familie auf dem Landgut, dass sein Bruder Karl erworben hatte.

Hermann Müller schreibt:

„…Es kommt jedoch schnell zum Bruch mit dem Geldgeber, dem belgischen Millionärssohn Oedenkoven, der eine kommerziell betriebene Naturheilanstalt anstrebt. Die Gebrüder Gräser halten an ihrem Konzept einer Liebes­kommune fest und verlassen das gemeinsame Unternehmen. Karl siedelt sich auf eigenem Grundstück an, Gusto setzt seine Wanderschaft durch Europa fort.“

Sicher einer der Gründe dieser erneuten Wanderschaft – in Rumänien wollte er nicht mehr leben, nachdem er dort den Militärdienst verweigert hatte. Den Ablauf dieser Weigerung beschreibt seine Mutter in ihrem Tagebuch – November 1901:

„… Vor was mir schon seit zwei Jahren, seit Gustav zum ersten mal bei der Stellung (Musterung) war, bangte, ist den 1sten November eingetreten. Gust hat den militärischen Eid verweigert. O, schrecklicher Gedanke: Gefängnis!

Warum, lieber Gott, ist es so gekommen, dass er bei der Assentierung (Musterung) nicht untauglich war? Es wäre ihm und mir so viel viel Leid erspart geblieben, und er hätte ja doch ein guter Kämpfer für sein Vaterland sein können.

Er konnte nicht gegen sein Gewissen etwas schwören, was er nicht halten kann, amen.

Ich will hier seinen ersten Brief aus dem Arrest (zitieren), wohin er abgeführt wurde, weil er bei der Eidablegung die Kappe vom Kopf nicht nehmen und die Hand zum Schwur nicht erheben wollte – die letzte Strophe eines Verses. Er schreibt:

„In mein Herz sinkt Ruhe und Wonne, das ist der letzte Vers zu einem Gedicht, das ich gestern schrieb …“ – das Papier kommt mir wieder in die Hand – „ … Ja, immer wohler wird mir zu Mut, immer wonniger, denn ich verleugnete die Wahrheit nicht. Auch heute nicht.

Schon in der Kirche, wo wir vor dem Schwur waren, wurde uns, mir, nahegelegt, dass wir ja aufrichtig und ehrlich sein sollten in all unserem Verhalten, denn, sagte uns Prediger Fischer: Was nutzt es dem Menschen, wenn er die ganze Welt gewänne und dabei Schaden litte an seiner Seele? O, es ist nichts herrlicher, als wenn man treu ist einer edlen, einer reinen Überzeugung, mag dann kommen was da will, das Leid wird den, der treu ist, nie übermannen, ihn nie verbittern und die Freude wird ihn traulich begleiten. Könnt ihr mir das glauben, oder vielmehr: könnt ihr das einsehen, dann wird’s Euch wohl sein und so wäre mir noch wohler, wenn ich euch froh wüsste. Ihr habt gar keinen Grund zur Trauer. O, nun das Leid für das Genießen, es hebt zu Freuden groß und leicht. Ich hab Euch nichts mehr zu sagen. – Es kann nicht anders als nur gut gehen, wenn wir es nur an uns nicht fehlen lassen. Ich wünsche, dass es Euch so gut gehe wie mir. Hast Du, meine Mutter, dem Bruder schon geschrieben? Lasse es mich wissen, was Du schreibst. Wie sollte ich etwas schwören können, das ich in allem nicht halten kann? Gustav

Nachschrift. – Und kannst Du Dich meiner nicht freuen, freu Dich des Karls, wie ich mich seiner freue.“

Den 12ten November, Dienstagnachmittag nach 2 Uhr, ist mein Gustav durch 2 Soldaten, die das Bajonett aufgepflanzt trugen, aus der Altstedter Kaserne auf den Schlossberg ins Gefängnis eingesperrt worden. Charlotte Gräser

Der Wanderer Gusto Gräser

Der Berg bleibt in den Jahren seiner Wanderschaft immer eine Art Rückzug für ihn und seine Familie. Zumal die Gemeinde Losone 1903 ihm eine Waldwiese und eine Höhle zum Geschenk gemacht hat.

Wikipedia schreibt dazu:

„… In seiner Felsgrotte im Wald von Arcegno lebte 1907 der junge Hermann Hesse mit ihm zusammen, Gräser führte ihn ein in die Weisheitslehren des Ostens. Gemeinsam lasen sie die „Bhagavad Gita“ und das „Tao Te King“ des Laotse.“

 

Die „Wanderschaft“ des Gusto Gräser führte ihn durch die damaligen deutschen Länder, aber beileibe sehr oft nicht freiwillig – Ausweisungen waren an der Tagesordnung, denn mit diesem „Spinner“, der oft in den Augen der „Herrschaften“ die öffentliche Ordnung störte, konnte man nichts anfangen.

Auch im Simplicissimus tritt Gusto Gräser auf

In Schwabing tritt Gräser 1908 mit Tänzen und Gedichten auf. Ein gewisser Karl Spengler schreibt allerdings 1964 in seinem Artikel „Hinter Münchner Haustüren – Schicksale aus fünf Jahrhunderten“:

„… Um 1905/1906 dürfte Gräser nach München gekommen sein. Wie alles an ihm den anderen ein Miß- oder ein Unverständnis war, so auch sein Name. Er gab sich u. a. als Sprachforscher aus und … bestand hartnäckig darauf, sich „Gras“ zu nennen, statt Gräser. Er sei kein Plural, sondern eine Einzahl, eine Einmaligkeit, meinte er, und verfocht gegen alle Behörden­schaft seine Umbenennung mit kohlhäsischer Unbedingtheit.“ 

Karl Alexander von Müller (geboren am 20. Dezember 1882 in München; gestorben am 13. Dezember 1964 in Rottach-Egern), ein deutscher Historiker, der sich als Gegner der Weimarer Republik hervortat und unter den Nationalsozialisten führende Funktionen im indoktrinierten Wissenschaftsbetrieb innehatte, beschreibt eine Begegnung mit Gusto Gräser:

„… Längere Zeit saß mir gegenüber (im Lesesaal der Bayrischen Staats­bibliothek) ein Original … : in einer Art Oberammergauer Aposteltracht, mit langen Haaren, Sandalen und einem Netz über der Schulter. In diesem trug er, außer ein paar Äpfeln, immer einige gerollte Bogen farbigen Papiers, die er feierlich herausnahm und vor sich ausbreitete. Dann versank er in Nachdenken und dichtete: selten mehr als einige Zeilen am Tag – ich habe sie nie zu lesen bekommen.“

René Prévot (14. Dezember 1880 in Moosch, Elsass – 10. Juni 1955 in München), ein deutscher Journalist französischer Abstammung, schreibt im Münchner Merkur vom 5.7.1950 über Gräser:

„… Diese Gedichte brachten uns einst zusammen. Ich saß damals als Jüngster in der Redaktion der „Jugend“. Eines Morgens stand dieser ungewöhnliche Besucher vor meinem Schreibtisch … „Die Jugend“ druckte einige Proben ab, und wir halfen dem sympathischen Sonderling mit dem wohl­klingenden tiefen Bariton seine Vorträge füllen, die er bald hier, bald dort hielt, um die Masse der Stadtmenschen durch sein Beispiel zum Naturleben zu bekehren. Er selbst lebte – aus Propagandagründen! – nicht ganz das Leben, das er predigte. Allnächtlich saß er im Tabaksqualm und der drangvollen Enge des ,Simpel‘ und trug öfters das eine oder andere Gedicht vor …

Wie, wofür und wovon er lebte, danach fragte niemand. Das war im damaligen Schwabing kein Problem. Man „lebte mit“! Unser Freund war abwechselnd Schlafgast bei jedem von uns.“

Einen weiteren Auftritt in München beschreibt nochmal Karl Spengler:

„…Und an den Litfaßsäulen erschien eines Tages für die weitere Öffentlichkeit ein quadratisches Plakat mit einer Art Sonne im Strahlenkranz und der Ankündigung: „Die Entstehung des Tanzes. Ein Vortrag von Gusto Gras und anderen Werdefrohen und – bist Du, willst Du – auch von Dir!“

Annie Francé-Harrar (2. Dezember 1886 in München – 23. Januar 1971 in Hallein, Österreich), eine österreichische Biologin und Schriftstellerin, damals in München lebend erinnert sich an einen der Auftritte:

„…Ob es wirklich „gusto gras“ war, der damals in einem der Elf! Nachfolgetheaterchen jene unwahrscheinliche Nachmittagsvorstellung gab? Eine mattgrün beleuchtete Bühne. Offen. Leer. Ohne alle Kulissen. Ein neunzehntel nackter, wildbebarteter und wildgelockter Mann Vierzig, der an die Rampe trat und die Zuschauer bat, sie möchten im Chor halblaut „Hummel! Hummel!“ singen. Denn er brauche zwar keine Musik, aber diese Tonkulisse, um ihnen jetzt die wahre Lebensfreude vorzutanzen. Es geschah.

Und ganz außerhalb aller Tanzregeln und Tanzkultur sprang, wand, drehte sich und explodierte in einem körperlichen Überschwang dieser Mensch, den in der laubgrünen Dämmerung der Bühne niemand erkannte. Nein, er brauchte keine fremde Melodie. Er bedurfte nur dieses unregelmäßigen Tongewoges. Aus ihm bildete er sich seinen Rhythmus und den Sinn urwelthaft überschwellender Lebensgefühle. Er war diesseitigstes Diesseits. Er war ein Sturm leiblichen Glückes, ein Irdischer unter Irdischen zu sein. Nein, er war das irdische Sein selbst.“

Elisabeth Dörr

Und in das Jahr 1909 gehört auch seine freie Ehe mit Elisabeth Dörr. „Er wird Pflegevater von 5 Kindern aus der ersten Ehe seiner Frau“ (Hermann Müller).

Nach diesen Auftritten zog Gusto Gräser 1911 mit Frau und Kindern in einem selbstgebauten Wohnwagen – auf dem Dach eine hölzerne Schlange – , von München nach Berlin. „Raus! Raus! Raus!“ stand in Riesenlettern auf seinem zeisiggrünen Wohnwagen.

Drum Raus

RAUS!
Donnerdrein – Du Erdensohn! Komm hervor aus dem Gewohn!
Farbe musst Du mir bekennen – Du, versteh, ich meine – Blut –
innig in der Brust muss brennen, was Dein Haupt, Dein Handel tut.
Auf aus all der Fein – in den Kampf hinein!#

Über all die Wichte halte Dich nit auf –
Deine Schritte richte nach des Blutes Lauf,
thu es nit verbocken in dem dumpfen Haus,
wenn die Lüfte locken –

Raus!

Wichte sitzen in der Kammer, kümmern sich um jeden Schiss –
wichtig tut auch noch ihr Jammer – oh du Kammerkümmernis!
Grauer wird ihr Blut und grauer, denn die Fuß im Sittenloch,
die wird stinkig in der Dauer – raus – denn sonst
erstickst Du noch.

Nur wo Wetter droht – wird Dein Blut Dir rot!
Aber in dem Weichen wirst auch Du ein Wicht,
musst auch Du erbleichen – Bube, weiche nicht!
Fern die Stürme loben und den frischen Straus,
Wenn die Wetter toben –
Raus!

Ohne Kampf in Saus und Braus muss das Herz verderben!
Drum in Deinen Kampf heraus – oder, in dem dumpfen Haus:
ducken, mucken, sterben. – Wer nicht kämpfen will, verdorrt –

Raus,
Gesell, an Deinen Ort!

Kampf ist unser Glück!
Friede — nimmt’s zurück!
Ringen unser Leben,
Wachsen unser Heil –
und dies Leben eben
hält kein Krämer feil.
Bursche, soll was lachen –
lass den satten Graus –
und aus all den Sachen –
RAUS !!!

Zum dunklichten Erdenstern

Im Ortsteil Gautzsch der Stadt Markkleeberg im Landkreis Leipzig taucht Ende Mai 1912 Gusto Gräsers „Karawane“ auf. Der reichlich obskure völkische Verleger und erzgebirgischer Heimatforscher Erich Fürchtegott Matthes (3. August 1888 in Neuhausen/Erzgeb. – 12. Januar 1970 in Hartenstein) schreibt:

„… Ende Mai 1912 kam durch Wandervögel die Kunde, dass auf unserer Waldwiese westlich von Gautzsch ein Planwagen gestanden, dessen Pferde dort grasten. Das Merkwürdige sei aber der Besitzer des Fuhrwerks und seine Frau gewesen Er hätte ausgesehen wie ein „Naturmensch“: sehr langes Haar, großer Vollbart; die Frau hätte ihr Haar offen getragen.

Der Mann habe sie gebeten, sich durch ihn nicht stören zu lassen. Er habe sie auch nicht gestört. Im Gegenteil, er habe an ihren Spielen (Völkerball, Reiterkampf) gern teilgenommen. Die Jungen durften sich auch mal auf die Pferde setzen und reiten.

Sie wussten aber nicht den Namen der Eheleute. Wir sollten nur wiederkom­men, man biwakiere noch etliche Tage, solange das Wetter schön sei.

Mittwoch drauf hatten Hugo Lenßen, Hans Ruoff und Rudolf Mehnert Spielfahrten zur Waldwiese angesetzt; es war also eine ziemliche Menge Jungvolk beisammen. Auch ich fuhr einmal hinaus, mittwochs, als eine große Schar von Wandervögeln Gräsers besuchen wollte.

Das war nun ein ganz anderer Gusto Gräser als der, den ich in „Heimland“ kennengelernt hatte. Er ließ sich jagen und jagte hinter den Bällen her; alle Gemessenheit war abgefallen wie eine Maske. Die Frau beteiligte sich nicht an den Spielen der Jugend. Ich sah sie meist auf dem Kutschersitz des Wagens. Sie kam mir reichlich jung vor, kaum zwanzig.

Mein Freund Hugo Lenßen lud Gusto Gräser zu einem Besuch in Leipzig ein. Lenßen erregte durch seinen Gast am Johannisplatz einen Menschenauflauf. Bei einem zweiten Besuch, etwa acht Tage später, wurde Gräser von einem Polizisten „ersucht“, mit auf die Wache zu kommen, zur Feststellung seiner Personalien. Draußen hatte sich eine ziemliche Menschenmenge angesammelt. Er wurde bald wieder entlassen, Lenßen brachte Gräser zur Haltestelle der Elektrischen, gefolgt von der halben Stadt. Gräser erhielt ein Verbot, in diesem Aufzug in die Stadt zu kommen. Nach der Sonnenwende 1912 bekam er einen Ausweisungsbefehl des Landes Sachsen.“

Martin Müllerott beschreibt in „Gusto Gräser – Prophet auf Spruchkarten“ die „Gründe“ dieser Ausweisung:

„… Die Polizei … die … wie ein kleiner Junge zum Angriff übergeht, wenn sie etwas nicht versteht und sich nicht fürchtet, wies ihn aus, sobald sie nur eine Handhabe fand. So wurde er 1912 aus Leipzig wegen Verbreitung unzüchtiger Schriften ausgewiesen, weil er eines seiner Kinder als kleinen Nackedei auf dem Pferde reitend photographiert hatte. Freunde aus der Jugendbewegung behängten daraufhin den zeisiggrünen Reisewagen mit Korsetten, Büsten­haltern, Modellpuppen und ähnlichen Attributen und gaben ihm so unter Klampfenbegleitung das Geleit bis zur Stadtgrenze.“

Die Ausweisung Gräsers 1912 aus Sachsen durch die Leipziger Polizeibehörde löste Proteste aus. Unter anderem Dehmel, Hauptmann, Schlaf, Avenarius, Hans Thoma und Friedrich Naumann unter­zeichneten diese. Hier einige Äußerungen:

„… Ich kenne Gräser persönlich und hoffe, dass er recht viele Fürsprecher im geistigen Deutschland finden wird. Vielleicht kommt dann die sächsische Polizei dahinter, dass sie durch solch zimperliche Verbote mehr öffentliches Ärgernis erregt, als wenn sie einen erquicklichen, ehrlichen und friedlichen Menschen, wie Gusto Gräser es ist, ruhig seines Weges wandern lässt.“ Richard Dehmel

„,,, Der Gedanke, dass jemand um bescheidener Eigenart willen unter Menschen nicht könnte geduldet werden, ist furchtbar und absurd.“ Gerhart Hauptmann

„… Wie kann man einen Dichter und Philosophen der Gewerbeordnung unterstellen wollen? Das ist so, als wollte man die Temperatur mit der Elle messen. Die Behandlung eines geistig bedeutsamen Menschen als Hausierer ist dasjenige, was jeden Gut- und Großdenkenden empört.“ Rechtsanwalt Dr. Hauptvogel

„…Ein ganzer Kerl! … Gräser ist einer der wenigen urwüchsig schaffenden Dichter unserer Zeit, ein Prachtmensch im Sinne Nietzsches.“ Walter Hammer

„… Was er tut, geht aus einer idealen Gesinnung hervor, von der seine Bilder und Dichtungen zeugen. Er hat es auf sich genommen, die Folgen seiner Gesinnung zu tragen.“ Hans Thoma

„… Wir sind zu lange ungewohnt, Propheten unter uns zu sehen. Propheten sind
eben anders als andere Leute.“ Johannes Schlaf

Also zieht Gusto Gräser weiter, nach Baden – besser ergeht es ihm dort auch nicht. Das Karlsruher Tagblatt schreibt am 31. Juli 1912:

„…Gusto Gräser, der siebenbürger Eigenständige und Dichter, ließ sich vor einer großen Schar Zuhörer über „Das hohe Genießen“ aus. Über den Dichter wurde schon manches gesagt…

Er kam nicht als Prophet, nicht als Dichter, sondern als Freund. Anhänger zu werben, Proselytenmacherei zu treiben, ist ihm fremd … Man glaubt ihm, dass er fern der Lebenslüge zu leben vermag und so etwas vollbringt, was Ibsen als höchste sittliche Forderung aufstellte. Und indem Gräser uns davon überzeugt dass auch in unserer heutigen Kultur Menschentum und Menschenwürde in der Menschenbrust zu schönster Blüte gedeihen können, rückt er uns Mo­dernen mit seiner Seele näher. Wir sehen nicht mehr den Mann im wunderlich erscheinenden härenen Mantel, wir hören nur seine dunkle gütige Stimme, die uns väterlich davon spricht, was es mit dem modischen Treiben für eine hohle Bewandtnis hat. Er erschließt uns die Natur aufs neue und zeigt in tiefer und glühender Sprache ein herrliches Bild ums andere … Er warnte davor, ihn nun nachahmen zu wollen. Er wolle nur diejenigen, die sich berufen fühlen, mahnen, den inneren Menschen nicht verdorren zu lassen.

Warm, innig, überzeugend, oft in schöner dichterischer Form, hielt Gräser seine Zuhörer in Bann. Seine Worte sind einfach, kernig, von wirklichem Leben erfüllt. Er könnte aufreizen, aber seine Güte will nicht bereden. Er will nur Beispiel sein, nicht Führer, nicht Lehrer. Und dass er ein ganzer Mann ist, dem hohe Freundschaft noch nichts Phantastisches geworden ist, hat wohl jeder herausgefühlt. Er ist ein Kämpfer um die Menschenwürde.

Und die Badischen Neuesten Nachrichten berichten am 14. März 1913:

„… Gusto Gräser, der für heute Donnerstag (in Mannheim) einen Vortrag angekündigt hatte, ist seinem Schicksal auch hier nicht entgangen, er ist … verhaftet wegen Übertretung des Verbots der Zettelverteilung.“

„Aber der Wagen der rollt“ … Königreich Württemberg, angeblich liberal, kann mit ihm auch nicht viel anfangen. Die „Schwäbische Tagwacht“ vom 5. Mai schreibt:

„… Stuttgart Ein klarer Sonntagmorgen im Mai. Auf den Terrassen des Restaurants „Zur Schillereiche“ blanke Sonne. Weit drunten in leichtem Dunst das Häuser- und Turmgewimmel der Stadt. Die Fernsicht ist im Halbkreis umschlossen von den braunen Höhen des Hasenbergs und der Feuerbacher Heide. In der Nähe ruht das Auge auf dem saftigen Grase, den frischgrünen Flecken und blühen­den Apfelbäumen wohlgepflegter Gärten. Die Luft ist durchklungen von Amsel- und Finkenruf. Es ist 11 Uhr. Allmählich finden sich einige Menschen ein, Leute, die sich einen Frühschoppen leisten, Spaziergänger, die bei einem Glas Milch die Aussicht genießen und Neugierige, die gekommen sind, um Gusto Gräser zu hören und zu sehen.

Wer ist Gusto Gräser? Dort an dem Tische sitzt er mit Weib und Kindern und einem Freunde. – Das Äußere der Familie ist auffallend. Erwachsene wie Kinder tragen langes, offenes Haupthaar, nur von einem schmalen Band zurückgehalten. Die Kleidung besteht zumeist aus verschiedenfarbigen, gro­ben Wollstoffen und macht, was den Schnitt und die Art des Tragens betrifft, einen halb orientalischen, halb antiken Eindruck. Die Männer tragen außer­dem noch eine Art Pilgertasche an der Seite. An den nackten Füßen sind Sandalen. Alle machen den Eindruck einer schönen Gesundheit und freudiger Intelligenz.

Rede auf dem Stuttgarter Killesberg

Nun steht Gusto Gräser auf und beginnt zu reden. Er redet einfach, kunstlos, ohne Pose und ohne sorgfältige Disposition. Er streut Gedichte, Sprüche und Wortspiele ein. Er will nicht bekehren und nicht nötigen. Er streut Samen aus. Da und dort wird schon etwas aufgehen. Er spricht von den heutigen Menschen mit ihrer Sucht nach fremder Art, mit ihrem Hasten nach Äußer­lichem, mit ihrem ängstlichen Sichrichten nach Sitte und Vorschrift. Arme Schlucker sind sie, weil sie alles schlucken, was Autorität und Gewohnheit ihnen gibt. Statt sich nach ihrem Innern zu richten. Statt die eigene Art reden zu lassen. Statt zu tun, was man denkt, was man fühlt, was man mit seinem Innern vertreten kann. Macht euch frei von vorgeschriebenen Pflichten. Euer Inneres macht Vorschriften überflüssig. Aus der Treue zur eigenen Art ergibt sich auch die Treue zur Gemeinschaft. Sei herzhaft. Setze an die Stelle von Formeln werdende Formen. Diese verprügelte Gesellschaft kultiviert nicht den Menschen, sondern den Kram. An die Stelle von Krambehagen trete Kraftbehagen. Man drehe das Wörtchen „soll“ um, damit „los“ daraus werde. Sei unmittelbar und gehorche nicht einmal ohne weiteres dem Gewissen.

Auch das Gewissen ist eine verdächtige Autorität, denn es ist belastet mit Konvention und Sitte. Kein Tier trägt sich dem andern zum Fräße an. Es ist ein widerlicher Eindruck, wenn man einen Hund seinen Maulkorb apportieren sieht. Aber das Menschentier tut das Tag für Tag. Ganz schlimm ist das Schuldbewusstsein, Schuldbewusstsein macht nicht gut. Gut macht das Huldbewusstsein, das Bewusstsein der inneren Güte. Der erste Schritt zur Genesung besteht in der Wahrheit gegenüber der eigenen Art, im Ablegen der Kulturlüge.

Dass das nicht leicht ist, weiß Gustav Gräser; er selber fühlt sich noch nicht vollkommen gesundet, aber er strebt nach Gesundung. Er schließt mit einem Gedicht, das endet mit den Worten:

Menschen, Heimat braucht die Erde —
Hört die Not – sie singt, sie schreit:
„ Mannheit wachse, Heimat werde!“ Es ist Zeit.

Gräser ist offenbar einer von den Menschen, die unter der Unwahrhaftigkeit, Äußerlichkeit und dem Krämergeist unserer kapitalistischen Kultur persönlich schwer leiden. Er hat sich aus ihr befreit, innerlich und äußerlich.

Ende Juni 1915 landet die Familie Gräser in der ehemaligen Arbeitersiedlung „Kolonie Falterau“ im Stuttgarter Vorort Degerloch und Gusto Gräser schreibt seinen „Frust“ über die erneute Ausweisung unter dem Titel „Freunde! Was sagen wir dazu?

Wenn ein deutscher Mann, aus Siebenbürgen stammend, drei Jahre lang in gutem Einvernehmen mit der Bevölkerung Württembergs lebend und wirkend, nun von der Stadtdirektion Stuttgart wegen der Deutschheit seines Tuns aus dem Lande gewiesen werden soll? Jawohl, wegen der Deutschheit seines Tuns, denn es ist aufrichtig und sein Beweggrund ist, des deutschen Lebens Rein- also Einigung.

Als Gründe seiner Ausweisung gelten: – Erstens – Seine wiederholten Gewerbevergehen. Deutsch gesagt – Sein freimütiger Austausch frohgearteter Vers- und Bildwerke, wahrlich nicht um des Gelderwerbes willen, denn aus Begeisterung für deutsche Art von ihm selbst hervorgebracht.

Zweitens — Seine wiederholten Verkehrsstörungen. Deutsch gesagt – Sein ordentlicher Verkehr in der Stadt Stuttgart, der gelegentlich der Verteilung seiner Gedichte und Sprüche auf freieren Plätzen zuweilen die Form eines friedlichen Umstehens von 10 bis 30 Menschen annahm, das nur durch das Hinzutreten des Polizisten sich manchmal in einen Knäuel neugierig Drängender verwandelte.

Drittens – Sein wiederholter Ungehorsam gegen die Straßenpolizei. Deutsch – Sein treulicher Gehorsam gegen den Gemeinde- und Reinigungsmann in ihm selbst, der ihm gebot, sein Dichteramt, das Ermutigung und Ermunterung besonders verlangt, auszuüben – das er aber schlecht übt, wenn er der Angestelltenangst und ihren peinlichen kleinlichen Forderungen nachgibt.

Viertens – Wohl als Hauptgrund angesehen – Sein Widerstand gegen die Staatsgewalt. Deutsch – Seine Folgsamkeit gegen die Lebensgewalt in seinem Blut und Mut, die ihn als Mann und Freund gehen heißt und ihm es oft unmöglich macht, sich von Standes- „Personen“, welchen Standes immer, als Knecht und Feind gängeln zu lassen.

Fünftens – Sein illegitimes Eheverhältnis, das geeignet ist, Anstoß zu erregen. Deutsch – Seine echte Ehe, unentweiht durch Verschwörung und Eingriff fernestehender „Personen “ -Sein freier Ehebund, dem tief verderblichen Gedanken „Ehe tritt erst ein und ist erst dort da, wo das Gesetz den Bund besiegelt“, keinen Vorschub leistend – Seine offene Ehe, die, soweit mir bekannt, bei halbweg ordentlichen Menschen noch kein Ärgernis, wohl aber durch ihre Früchte schon manche Freude erregt hat.

Nun noch sechstens – trifft es nach dem „Paragraphen “ auch nur seine Frau, so wiegt es doch mit bei seiner Belastung und gehört mit hierher zur Reinigung ihres gemeinsames Tisches – Also – Ihre Weigerung, ihre Kinder in die Schule zu schicken. Ins Deutsche übersetzt — Ihr Eifer, ihre Kinder, ihre lieben Lebensaufgaben, selbst zu lösen – Ihre Lust, ihre Lebenskeime selbst zu sonnen, sie geistig und leiblich echt und eigen zu nähren, damit sie zu eigentlichen Menschen erwachen und erwachsen können. Einfach, ihr doch wohl berechtigter Wille, leiblich und geistig eigene Kinder zu haben.

Und auch siebtens – Damit die böse, ei, die heilige Sieben voll wird – Ihre Weigerung, ihre Kinder impfen zu lassen. Auf deutsch aber – Haben sie eben keine Bazillenangst, brauchen sie keine Bazillenpolizei und sind so frei, Zum Wohle aller ihre eigenen Gesundheitswächter zu sein, indem sie immer wacher und wackrer, sich aller kränkend fremden Eingriffe und Einflüsse erwehrend, immer gesünder und gesundheitansteckender leben.

Jawohl, der Mann, ich kenne ihn gut, will und kann seine gemeinschaftswillige Selbstbestimmung, also seine Selbstverantwortung über sich und seine Familie, mit ihr seine Art und mit ihr seinen Wert für sein Volk, als für das Herz der Menschheit, nicht aufgeben.

Dies also sein Sündenregister! Ist’s nicht sein Ehrenschild?… Falterau bei Stuttgart, Ende Wittrer (Juni) 1915 Gusto Gräser

Gusto bei Edmund Müller, Stuttgart 1932

Rechtsanwalt Dr. Alfred Daniel – Stuttgart, Mitte August 1915 Ein offenes Wort:

„… Gusto Gräser, der Vorkämpfer für freies Menschentum und deutsche Heimat, ist vor einigen Tagen durch Befehl der K. Stadtdirektion Stuttgart aus Württemberg ausgewiesen worden …

Weiter: Man hat Gräser in seinem freien Gang und Wandel gehemmt. Auf öffentlichen Plätzen und in verkehrsreichen Straßen sollte er sich überhaupt nicht aufhalten. Gräser hat demgegenüber immer wieder – und zwar mit Recht – betont: Die Straßen und Plätze einer Stadt sind zum Verkehr bestimmt; auch ich will nichts, als mit den Menschen Verkehr (redlichen Verkehr!) pflegen. Warum wird gerade mir, der ich den Menschen suche, der Verkehr beschränkt? In der Tat: Ist es recht und billig, einen deutschen Dichter unter Polizeiaufsicht zu halten, weil er lange Haare und wallende Kleider trägt? … Als Gräser den Ausweisungsbefehl auf 1, Oktober d. J. in der Hand hatte, konnte er sich selbstverständlich nicht stillschweigend darein ergeben … Gräser sprach deshalb am 1. August in seiner Waldandacht am Fischbach­denkmal mit ernster Schärfe gegen den Ausweisungsbefehl … Am 4. August wurde ihm auf Betreiben der Stadtdirektion folgendes eröffnet: „Wenn Gräser fortfahren sollte, die von der Behörde ihm gegenüber getroffe­nen Maßnahmen öffentlich zu kritisieren oder sonst wie Umtriebe gegen seine Ausweisung, wozu auch das Sammeln von Unterschriften gehört, zu veran­stalten oder zu fördern, so würde seine Ausweisung unverzüglich mittels Transports nach Friedrichshafen-Bregenz vollzogen werden.“ … Am Sonntag, den 8. August, teilte Gräser den zu der gewohnten Waldandacht Erschienenen den Erlass der Polizeibehörde vom 4. August mit und lud die Freunde zu einer Aussprache in seine Wohnung ein. Hier las er vor etwa 30 Zuhörern aus seinen Gedichten vor. Von der Behörde sprach er ganz im allgemeinen und ohne jede Kritik in einem Satz nur, im Anschluss an die Verse:

Hinter allem Hohn und Spott
Seh ich immer doch das Meine.

Tags darauf, den 9. abends, wurde Gräser plötzlich verhaftet und Dienstag früh nach Bregenz verschubt… Wie ein Verbrecher fuhr Gräser außer Landes …

„Verschubt“ nennen meine Landsleute die Abschiebung – Phantasie haben sie und vielleicht wäre das ein Begriff für die heutige Politik, es klingt nicht ganz so extrem wie Abschiebung.

Hermann Müller schreibt:

„… Eine Zeit dramatischer Umbrüche. Er geht durch extreme Höhen und Tiefen, Höhen der Hoffnung und der Erfüllung, Tiefen der Todesbedrohung, der Not, der Verluste. Die Hoch-Zeit seines Lebens.

Nach Österreich abgeschoben, verweigert er zum zweitenmal den Kriegs­dienst. Mehrfach wird ihm seine Erschießung angekündigt; er wartet drei Tage in der Todeszelle auf die Vollstreckung. Dann aber erklärt man ihn für verrückt, quält ihn monatelang durch Kasernen, Gefängnisse, Irrenhäuser, bis man ihn schließlich als „mit verkehrten Ideen behaftet“ entlässt. Wiederum jäher Umbruch. Er kehrt auf den Monte Veritä zurück.“

Die Ausweisung erregt in Württemberg Aufsehen Jul. Glemser aus Göppingen, der Gusto Gräser kannte, schreibt an den Schweizer Psychiater, Hirnforscher, Entomologe, Philosoph und Sozialreformer Auguste-Henri Forel (1. September 1848 auf dem Landsitz „La Gracieuse“ in Morges – 27. Juli 1931 in Yvorne) den folgenden Brief:

„… Sehr geehrter Herr Professor!

… Sie kennen Gusto Gräser, den Prediger edlen Menschentums, den unerschrockenen Zeugen der Wahrheit; vielleicht kennen Sie ihn besser als ich. Vor dem Krieg hat er in Stuttgart gewirkt. Bei Ausbruch des Krieges ist seine Familie zu seinem Bruder Karl Gräser gezogen; der in Ascona ein größeres Landgut hatte. Gusto Gräser blieb zunächst in Stuttgart, wurde dann aber im Oktober oder November als „lästiger Ausländer“ ausgewiesen – in erster Linie, weil er sich weigerte, Blut zu vergießen. Er ist Siebenbürger Sachse von Geburt. Sie schafften ihn nach Bregenz.

Seine Frau ist von Ascona mit einem etwa fünfjährigen Töchterchen zu ihm geeilt. Zu dritt wurden sie nach Wien und weiter nach Buda-Pest gebracht. Zunächst wurde er von Psychiatern verhört und beobachtet. „Wie denken Sie über den Staat? – Seine Antwort: „Sei wahr und echt.“ – Damit konnten sie natürlich nichts anfangen. Tauglich ist er schon – aber er schwört nicht zur Fahne. Sechs Wochen Gefängnis.

Dann geht’s in seine Heimat nach Kronstadt. In der Kaserne versuchen sie es zunächst mit einer sonst beim Militär undenkbaren Geduld – er zieht die Uniform nicht an. Es muss ein merkwürdiger Anblick gewesen sein: wie der Mann in seinem Täufergewand im Kasernenhof etwa lesend mit einem Buch zwischen den exerzierenden Rekruten auf und ab geht. Die Soldaten fragen ihn: Ja ist es denn nicht recht, in den Krieg zu ziehen? Klug sind seine Antworten: „Tu was deine innere Stimme dich heißt! Sei nur ganz wahr.“ Viele werden unruhig. Da stellt ihn der General vor die Entscheidung: Entweder ziehst du jetzt die Uniform an oder du wirst morgen erschossen. „Tut was ihr müsst“, ist seine Antwort.

Er nimmt von Frau und Kind Abschied. „Ja, Gusto, du kannst ja nicht schwören; wir hatten ja immer damit gerechnet, dass wir auch das Leben lassen müssen für die Wahrheit – morgen früh komme ich mit dem Kind wieder, ich werde dabei sein, wenn sie dich erschießen. Aber“, fügt sie hinzu und er sagt dasselbe, „ich habe gar keine Bangigkeit, dass ein Unglück geschehen dürfte.“ Am andern Morgen ist die Treue schon um sechs Uhr an der etwa eine Stunde vor der Stadt liegenden Kaserne – ihr Mann ist fort!… Sollten sie doch ein Unrecht begangen haben? Doch nein, sie fühlt ja nichts derartiges. Da kommt endlich ein bekannter Offizier und kann ihr sagen, dass ihr Mann in der Nacht fortgeschafft wurde – nach Klausenburg.

Dort brachten sie ihn wieder in eine Irrenanstalt, um ihn weiter zu beobachten. Frau Gräser reist nach. Der Leiter der Anstalt tröstet sie in herzlicher Weise und beruhigt sie über die nächste Zukunft, so dass sie nach Ascona zurückreisen kann. Zu ihren Kindern, für die sie unter dem Herzen schon ein Schwesterlein trägt.

Sechs Monate ist der Mann in Klausenburg, noch zweimal wird er vor das Erschießen gestellt; er ist bereit. Endlich entlässt man ihn als „mit verkehrten Ideen behaftet“. (Mittlerweile haben noch recht viele solche verkehrte Ideen bekommen!)

Wanderer am See

Er eilt nach Ascona. In der Morgenfrühe tritt er ein, da reicht ihm seine Gattin ein achtes, vier Stunden altes Kindlein als Willkomm!

Am 5. September 1916 kehrt Gräser aus Siebenbürgen auf den Monte Verita zurück. Zwei Tage später trifft er sich im Hause Neugeboren in Locarno-Monti mit Hermann Hesse. Nach neunjähriger Flucht und Entfremdung findet Hesse zurück zu seinem „Freund und Führer“.

Zuvor mal wieder Ausweisungen aus Zürich und Bern und dies Ausweisungen ziehen sich durch die nächsten Jahre.

„Der Bund“, eine Schweizer Tageszeitung aus Bern, am 1. Oktober 1850 gegründet, schreibt zum Beispiel am 19. Januar 1917:

„… Vor einiger Zeit wurde in Bern der in Deutschland in weiten Kreisen bekannte Maler und Dichter Gusto Gräser, der „Naturmensch“, gerade als er sich auf Anraten von Bekannten zur Polizei begeben wollte, um sich zu legitimieren, verhaftet und sofort nach seinem gegenwärtigen Wohnort Ascona im Tessin zurückbefördert. Das gleiche Schicksal hatte ihn eine Woche vorher schon in Zürich ereilt und, wie wir hören, ist dort bei der Regierung Protest eingelegt worden. Gusto Gräser bezweckte, seinen Aufent­halt in Zürich sowie denjenigen in Bern mit Vorträgen über soziale Fragen zu beschließen, und nun ist ihm durch das Eingreifen der Polizei die Möglichkeit, für seine achtköpfige Familie das Brot für den Winter zu schaffen, geraubt worden…

Dieser nun, der so treu und selbstbewusst an seiner Eigenart durch alle Hindernisse, die ihm durch die Gesetze unserer Zivilisation geworden sind, festhält, findet immer wieder Menschen, die für ihn eintreten, und so hat sich jetzt auch Hermann Hesse (Melchenbühlweg 26) in liebenswürdiger Weise bereit erklärt, allfällige kleine Geldspenden, die der nun materiell bedrängten Familie den Winter erträglicher machen würden, durch die Post entgegenzunehmen.“

Egal, wo Gusto Gräser auftritt, er ist den Behörden ein Dorn im Auge. So wird er 1918 aus der Schweiz, anschließend aus Bayern und erneut aus dem Großherzogtum Baden verbannt.

Hermann Müller schreibt:

„… Während der Revolutionszeit in München predigt er Gewaltlosigkeit und „Kommunismus des Herzens“. Er wird von Spartakisten niedergeschrien, seine Versammlung wird gesprengt. Nach Niederschlagung der Revolution wird er mit Hunderten anderer ins Gefängnis geworfen, dann aus Bayern ausgewiesen.

Er wandert durch Schwaben, wo seine Freunde mehrere Landkommunen gegründet haben. In der Siedlung am Grünen Weg bei Urach kommt es zu Auseinandersetzungen mit dem marxistisch ausgerichteten Lyriker Johannes R. Becher. Aus Württemberg ausgewiesen. In Freiburg spricht er monate­lang vor vollbesetzten Sälen. Seine Reden sind Stadtgespräch, sie werden auf Flugblättern verbreitet. Hans Thoma setzt sich für ihn ein. Höhepunkt seiner öffentlichen Wirksamkeit. Verhaftet und aus Baden ausgewiesen.“

Wikipedia schreibt:

„… 1920 zog er mit einer „Neuen Schar“ aus jungen Männern und Frauen, die sich um seinen Freund Friedrich Muck-Lamberty gesammelt hatten, singend, tanzend und spielend durch Nordbayern und Thüringen: ein legendärer „Kinderkreuzzug“ oder „Kreuzzug der Liebe“, der von Hermann Hesse in seiner Erzählung „Die Morgenlandfahrt“ in die Legende erhoben wurde.“

Friedrich Muck-Lamberty, eigentlich Friedrich Lamberty (14. Juli 1891 in Straßburg – 7. Januar 1984 in Oberlahr), war ein deutscher Kunsthandwerker, Vertreter der deutschen Lebensreform- und Jugendbewegung und einer der bekanntesten sogenannten Inflationsheiligen der 1920er Jahre. (aus Wikipedia).

Friedrich Muck-Lamberty

Nochmal Hermann Müller:

„… Er inspiriert die Neue Schar: Fünfundzwanzig junge Männer und Mädchen ziehen singend und tanzend durch Thüringen und reißen Zehntausende mit sich. „Ganz Thüringen tanzt“ (Eugen Diederichs). Nach einer Pressekam­pagne wird die Neue Schar aus ihrer Burg vertrieben. Gräser wird verhaftet, interniert und aus Deutschland ausgewiesen.

Die Erinnerung an den Aufbruch dieser „bacchantischen Tanzgemeinde“3 bleibt jedoch erhalten in Hesses „Morgenlandfahrt“, dichterisch gedeutet als Vorstoß „in das Reich einer kommenden Psychokratie“.

Gräser verbringt zwei Jahre in der Schweiz, dann in Dresden. Mitbetroffen von der Tabuisierung der Neuen Schar hat er die Sympathien der Jugendbe­wegung verloren. Er entschließt sich, nach München zu wandern, wo er Vorträge halten will. Wird verhaftet und als „staatsgefährlicher Rumäne“ aus dem ganzen Deutschen Reich verbannt. Bekannte Münchner Schrift­steller, darunter Thomas Mann, protestieren gegen seine Ausweisung.

Hermann Hesse beschreibt die „Neue Schar“ in Die Morgenlandfahrt:

„… Es war ja damals kurz nach dem Weltkriege, und namentlich für das Denken der besiegten Völker, ein außerordentlicher Zustand von Unwirklichkeit, von Bereitschaft für das Überwirkliche gegeben, wenn auch nur an ganz wenigen Punkten tatsächlich Grenzen durchbrochen und Vorstöße in das Reich einer kommenden Psychokratie getan wurden … Erschüttert vom Kriege, verzweifelt durch Not und Hunger, tief enttäuscht durch die anscheinende Nutzlosigkeit all der geleisteten Opfer an Gut und Blut, war unser Volk damals manchen Hirnge­spinsten, aber auch manchen echten Erhebungen der Seele zugänglich, es gab bacchantische Tanz­gemeinden und wiedertäuferische Kampfgruppen.“

Das Ausscheiden Friedrich Muck-Lambertys aus der Neuen Schar lese ich bei Hermann Müller:

„… Als bekannt wird, dass er mit zwei Frauen Kinder gezeugt hat, wird Muck mit Schimpf und Schande aus der Jugendbewegung ausgestoßen, seine Schar wird aus ihrem Quartier auf der Leuchtenburg vertrieben. Dennoch sammelt und erhält sich eine „Junge Volksgemeinde“ um Gräser und Muck. Ihr Kern lässt sich als „Handwerkerschar“ in Naumburg nieder. Aus ihrem Haus heraus wird Gräser im Herbst 1921 verhaftet, in einem Internierungslager für Abschiebehäftlinge gefangen gesetzt und aus Deutschland ausgewiesen.

Mucks „Kreuzzug der Liebe“ wird erst als mutigste Tat der Jugendbewegung gefeiert, dann aber, nach seiner Unterdrückung, vollständig tabuisiert. Erst Hermann Hesse wagt es, zehn Jahre später, den Aufbruch um Gräser und Muck ins Gleichnishafte der Legende zu erheben.“

„Egal, wo Gusto Gräser auftritt, er ist den Behörden ein Dorn im Auge“, schreibe ich, aber einen wesentlichen Anteil an allen Anfeindungen spielt die so genannte „rechte Presse“ für die Gräser nicht mehr ein Dorn im Auge, sondern ein großer Balken ist. Passt er doch so gar nicht in deren Vorstellungen ihres Deutschlands. Einem Deutschland, das die Weimarer Republik dem Erdboden gleich machen will zugunsten einer rechten Diktatur.

Hugenberg in Bad Harzburg, 1931 mit Prinz Prince Eitel Friedrich By Bundesarchiv, Bild 146-2005-0129 / Unknown author / CC-BY-SA, CC BY-SA 3.0 de, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=5419856

Einer der wichtigsten „Persönlichkeiten“ dieser rechten Front war Alfred Ernst Christian Alexander Hugenberg (19. Juni 1865 in Hannover – 12. März 1951 in Kükenbruch) Hugenberg war Montan- und Rüstungsunternehmer, aber viel wichtiger, der einflussreichste Medienunternehmer, Wikipedia schreibt:

„… Er gilt als bedeutendster bürgerlicher Wegbereiter des Nationalsozialismus. Mit seinem Hugenberg-Konzern, einem Medienkonzern, der die Hälfte der deutschen Presse kontrollierte, trug er mit nationalistischer und antisemitischer Propaganda maßgeblich zum Aufstieg der rechten bzw. rechtsextremistischen Parteien in der Weimarer Republik bei. Nach der „Machtergreifung Hitlers wird er als Vorsitzender der DNVP Minister für Wirtschaft, Landwirtschaft und Ernährung in dessen erstem Kabinett.“

Zudem war Hugenberg Initiator der so genannten Harzburger Front, einer der übelsten rechtsradikalen Organisationen, in der alles vertreten war, was der rechte Rand zu bieten hatte.“

Wikipedia:

„…Wie so viele der Förderer Hitlers spielte er im weiteren Verlauf der nationalsozialistischen Diktatur keine Rolle mehr, wohl aber die durch Hugenberg konzentrierte Presselandschaft. Der Großteil wurde von NS-Verlagen übernommen, so vom monopolistischen, NSDAP nahen Franz-Eher-Verlag.“

Nach Kriegsende von den Briten interniert, betreibt Hugenberg – unterstützt vom ehemaligen Reichstagsabgeordneten der DNVP und Rechtsanwalt Joseph Borchmeyer einen mehrjährigen Rechtsstreit um seine Entnazifizierung.

Joseph Borchmeyer Von unbekannt – Büro des Reichstags (Hg.): Reichstags-Handbuch 1933, VIII. Wahlperiode, Verlag der Reichsdruckerei, Berlin 1933, PD-§-134, https://de.wikipedia.org/w/index.php?curid=4942149

Wikipedia:

„… In mehreren Berufungsverfahren erfolgte 1948 die Einstufung in die Kategorie III (Minderbelastete), welche 1949 in die Kategorie IV (Mitläufer) und 1950 in die Kategorie V (Entlastete) geändert wurde. Das Gericht ging letztendlich mit Blick auf sein hohes Alter davon aus, dass von ihm keine weitere politische Betätigung mehr zu erwarten sei. Zurückgezogen starb Hugenberg 1951 in Kükenbruch bei Rinteln auf dem familieneigenen Gutshof.

Am 17. März 2005 bestätigte ein Senat des Bundesverwaltungsgerichts (AZ: 3 C 20.04) die Rolle Hugenbergs als Wegbereiter der nationalsozialistischen Herrschaft. In einem Prozess um das 1945 von der Sowjetischen Militäradministration (SMAD) enteignete Rittergut in Uhsmannsdorf bei Rothenburg/O.L. in Sachsen urteilte er, dass Hugenberg „dem nationalsozialistischen System erheblichen Vorschub geleistet hat“, und verweigerte deshalb seinen Nachkommen eine Entschädigung.“

Übrigens, die Deutschnationale Volkspartei (DNVP) war eine nationalkonservative Partei in der Weimarer Republik, ihre Programmatik: Nationalismus, Nationalliberalismus, Antisemitismus, kaiserlich-monarchistischen Konservatismus sowie völkische Elemente. Ab 1930 verlor die Partei zunehmend an Bedeutung. Nach der Selbstauflösung im Juni 1933 schlossen sich ihre Reichstagsabgeordneten der NSDAP-Fraktion an.

Ab 1920 wurde der „Völkische Beobachter“ das Kampfblatt der NSDAP, hervorgegangen aus dem am 2, Januar 1887 gegründeten „Münchner Beobachter“. Ab 1918 wurde die Thule Gesellschaft dessen Besitzer, eine Vereinigung allerübelster Antisemiten und Nationalisten, unter anderem verantwortlich für die Ermordung des bayerischen Ministerpräsidenten Kurt Eisner am 21. Februar 1919. Der Mörder Eisners war Anton Graf von Arco auf Valley, ein Mitglied der Thule Gesellschaft.

Wikipedia schreibt:

„… Am 17. Dezember 1920 erwarb die NSDAP das damals marode Blatt für 120 000 Mark.

Dietrich Eckart Quelle: Wikipedia

(…) Tags darauf firmierte der VB öffentlich als Parteizeitung der NSDAP. Finanziert wurde der Kauf auf Vermittlung des antisemitischen Literaten Dietrich Eckart durch den Generalmajor Franz Ritter von Epp, der ein Darlehen von 60 000 Mark zur Verfügung stellte, offenbar aus einem Geheimfonds der Reichswehr zur Unterstützung rechtsextremer Organisationen.“

Bliebe noch der Stürmer, Wikipedia schreibt:

„… Der Stürmer, mit dem Untertitel ab 1932 „Deutsches Wochenblatt zum Kampfe um die Wahrheit“, war eine am 20. April 1923 vom NSDAP-Gauleiter von Franken Julius Streicher in Nürnberg gegründete und herausgegebene antisemitische Wochenzeitung. Sie erschien am 22. Februar 1945 letztmals.

Julius Streicher als Angeklagter bei den Nürnberger Prozessen, 1946 Quelle: Wikipedia

Der Stürmer bediente sich einer besonders hetzerischen Sprache und zeichnete sich durch drastische – bei Schilderungen von „Rassendelikten“ pornographische – Berichte, Bilder und Karikaturen aus. Die Zeitung war keine offizielle NS-Publikation, sondern Streichers Privatbesitz. Der Internationale Militärgerichtshof schätzte die Auflagenhöhe zwischen 1935 und 1939 auf 700.000 Exemplare, die Sondernummern zu den Reichsparteitagen auf mindestens zwei Millionen Stück. Das Blatt diente der propagandistischen Vorbereitung und Begründung des Holocaust.

Eine „prächtige Sammlung“ und gegen diese hatten Menschen wie Gusto Gräser keine Chance und so war Bayern für ihn „kein gutes Pflaster“ und nachdem man ihn dort bereits zweimal ausgewiesen hatte, kam er 1927 nach Berlin. Dort arbeitet er im Anti-Kriegs-Museum, des anarchistisch-pazifistischen Kriegsgegners Ernst Friedrich in Berlin, in der Brüsseler Straße 21 im Ortsteil Wedding, Bezirk Mitte, das er 1923 gegründet hatte. Es war das weltweit erste Museum gegen den Krieg und dort wurden auch seine Plakate gedruckt.

Anti-Kriegs-Museum, des anarchistisch-pazifistischen Kriegsgegners Ernst Friedrich in Berlin

Ernst Friedrich wurde am 25. Februar 1894 in Breslau geboren und starb am 2. Mai 1967 in Le Perreux-sur-Marne, Frankreich.

Hermann Müller schreibt:

„… Im Winter 1927/1928 hält er (Gusto Gräser) eine Reihe von einundzwanzig „Notwendge­sprächen“ ab. Besprechungen in der Vossischen Zeitung und im Berliner Tageblatt. „Diktator oder Dichter – wer ist der Völkerrichter?“ ist eines seiner Themen, ein anderes: „Wald und das Wohl der Welt.“ Er will eine öffentliche Erklärung abgeben, aber „es waren ihrer zu wenige“. Seine Zuhörerschaft schrumpft, von vierzig Getreuen ist die Rede. Dem Trommler gehört die Gunst der Massen: nach der Machtübernahme durch die Nazis wird das Antikriegsmuseum verwüstet und in ein SA-Heim umfunktioniert.“

So etwa 1931 lebt Gusto Gräser zeitweise in der Reformsiedlung Grünhorst bei Berlin, einem Treffpunkt der Jugendbewegung und der „Biosophischen Bewegung“ um Ernst Fuhrmann.

Über Ernst Fuhrmann schreibt Wikipedia:

„… Ernst Fuhrmann (19. November 1886 in Hamburg – 18. November 1956 in New York City) war ein Dichter und Schriftsteller, Philosoph und Fotograf. 

Fuhrmann war Begründer einer organisch-ökologischen Denkweise, die er „Biosophie“ nannte und gehört als Fotograf zu den Pionieren der Neuen Sachlichkeit. Er war Leiter des Folkwang-Verlags, nach dessen Konkurs 1923 war er beteiligt an der Gründung des Auriga-Verlages in Darmstadt und Berlin, 1928 des Folkwang-Auriga Verlags in Friedrichssegen/Lahn.

Porträtfoto von Harro Schulze-Boysen Quelle: Wikipedia

Ab 1931 lieferte er auch regelmäßig Beiträge für die von Franz Jung und Harro Schulze-Boysen herausgegebene Zeitschrift „Der Gegner“. Er war beteiligt an der Zeitschrift „ Der Dom“ von 1930, in der Vertreter der Lebensreform (Gusto Gräser, Max Schulze-Sölde), der Jugendbewegung (Friedrich Muck-Lamberty, Karl Otto Paetel) und der Biosophischen Bewegung (Ernst Fuhrmann, Hugo Hertwig, Franz Jung) zusammenfanden. In seinem gleichnamigen Buch von 1932 hat er die naturmystischen Ideen dieser Vorläufer einer „grünen“ Bewegung näher ausgeführt.

Er war letzter Direktor des Folkwang-Museums und der Nachlassverwalter des Kunstmäzens Karl Ernst Osthaus. Fuhrmann emigrierte 1938 nach New York, er hinterließ sein Archiv dem Hamburger Verleger Wilhelm Arnholdt. Ein weiterer umfangreicher Nachlassteil befindet sich im Deutschen Literaturarchiv Marbach.

Er war verheiratet mit der Dichterin Elisabeth Paulsen (1879–1951), einer Tochter des Theologen Theodor Paulsen. Sie blieb mit dem Sohn Arend in Deutschland. 1953 heiratete Ernst Fuhrmann erneut.“

Wikipedia:

„… Das Museum Folkwang ist ein Kunstmuseum in Essen. Es wurde 1902 in Hagen von dem Kunstmäzen Karl Ernst Osthaus unter dem Namen Folkwang Museum eröffnet und hatte lange Zeit eine Vorreiterrolle im Bereich der modernen Kunst.“

Wohnhaus Grünhorst

Zurück nach Grünhorst – ab 1931 übernehmen Henri Joseph und Gertrud Gräser den Betrieb, Hermann Müller schreibt:

„… Wohl ab Jahresbeginn 1931 übernahmen Henri Joseph und Gertrud Gräser pachtweise den Gutshof von Borscheid in der Nähe zum Roten Luch. Der vereinsamte Siedler Streiter, dessen Grundstück im Luch gekündigt worden war, schloss sich ihnen an, zusammen mit seiner Frau Erna, die am 11. Mai 1930 ihre erste Tochter Marianne geboren hatte. Zwei junge Paare waren also die Gründer, denen sich Gertruds Schwester Heidi für einige Zeit zugesellte.“

Mit wechselnden Besuchern und Mitstreitern wurde die „Reformsiedlung“ betrieben und … “Henri und Gertrud blieben mit ihren 1933 und 1934 geborenen Kindern Christel und Angela allein auf dem Gut zurück. Der Zuzug der Familie von Waldemar Rafalowitz und anderen war wohl nur eine vorübergehende Sache. Die Besuche von Wandervögeln und Lebensreformern mögen oft mehr Störung als Hilfe gewesen sein. Die weite Fahrt zum Markt in Berlin kostete viel Kraft und Zeit. Der wirtschaftliche Aufschwung nach Hitlers Machtübernahme brachte wieder bessere Arbeitsmöglichkeiten in der Stadt“ so Hermann Müller.

1936 brennt Grünhorst ab: Hermann Müller:

„… Ob der Brand des Anwesens vor oder nach ihrem Abzug sich ereignet hat, ist unklar. Jedenfalls zogen die Gräsers um 1936 nach Berlin. Als Otto Großöhmig nach seiner Entlassung die alten Freunde in Grünhorst besuchen wollte, fand er nur noch verkohlte Reste vor. Die Häusermauern blieben zwar noch bis in die Nachkriegszeit erhalten, ihre Steine wurden dann aber zum Bau anderer Häuser verwendet. So kam es, dass heute die utopische Gründung „Grünhorst“ vom Erdboden verschwunden und der Platz von Wald überwuchert ist.“

Ihren Auszug Ostern 1936 beschreibt Tochter Gertrud Heinze-Gräser:

„… Ich werde an Ostern meine Zelte hier abbrechen, um mit einigen Freunden zusammen in der Nähe von Berlin eine Siedlung zu beginnen. Ich glaube es ist an der Zeit, nun bald mit der Organisation des Religiösen National-Kommunismus zu beginnen.

Grünhorst, weit draußen vor Berlin gelegen, war ein total verlassenes Vor­werk, das einem gewissen Baron von Borscheid gehörte. Es lag sehr einsam am Wald, rings von Natur umgeben. Mein Gefährte pachtete es für etwa sechs bis sieben Jahre. Wir fingen allein an alles aufzubauen, biologisch zu düngen und nur Reformhäuser zu beliefern, mit Gemüse, Brot, Kräutern, die herrlich dufteten, und Eiern von etwa 60 Hühnern.

Nach Jahren unseres Dortseins stellte sich der meinem Mann bekannte Freund Max Schulze-Sölde ein, zuerst alleine, dann kam von Eden seine Freundin Irma Leidig hinzu. Ich selbst war damals für unsere kleine Siedlung viel unterwegs, mit Sprüchen und Bildkarten von meinem Vater sowie von Max, um zu unserem Aufbau beizutragen. Max war in inneren und äußeren Nöten, suchte einen Platz, um seinen Wunschtraum einer Siedlung verwirklichen zu können.

Mein Vater kam dann eines Tages in gleicher Absicht, eine Zuflucht zu finden, zu uns. Es war im Jahre 1934, als mein erstes Kind Christel geboren war. Für einige Monde blieb er mit Max Schulze-Sölde zusammen in Grün­horst. Max malte Bilder und schrieb an seinem Buch. Da aber die große Einsamkeit des Vorwerks oft lange Zeit nur von uns beiden belebt war, die körperliche Tätigkeit für Vater nicht in Frage kam, hielt es ihn da nur für kurze Zeit – dann flog er wieder ins Land.

„Dann flog er wieder“, heißt mit seinem Schwiegersohn Otto Großöhmig (1909 – Dezember 2005) zog er mit einem Eselswagen durch Deutschland, seine Schriften verteilend und verkaufend. „Die Fahrt im Eselwagen endete für Großöhmig nach der NS-Machtübernahme 1933 im Konzentrationslager“, so Hermann Müller.

Unter Beobachtung steht auch Max Schulze-Sölde, er schreibt an Friedrich Muck-Lamberty am 5. 5. 1930: „Der Völkische Beobachter“ veröffentlichte am 29. 4. 1930:

„… Haltet die Augen offen, Nationalsozialisten in den Bauerndörfern! Gegenwärtig durchzieht ein Redner, namens Schulze-Sölde, die Dörfer unseres Kreises.“

Und an Hugo Hertwig, am 20. 3. 1931:

„… Die Nazis sind mir wenig grün und fangen schon an, vor mir zu warnen. Aber mir soll‘s recht sein. Je toller der Kampf, desto lieber ist es mir.“

Max Schulze-Sölde (25. Januar 1887 in Dortmund – 1. Juli 1967 in Theiningsen bei Soest) war ein deutscher Maler, schreibt Wikipedia.

Die „Machtübernahme“ der NSDAP trifft wie erwartet natürlich auch Gusto Gräser, Hermann Müller:

„… Nach 1933 keine Plakate mehr, keine Vorträge, keine Besprechungen. Seine Ausgrenzung ist eine endgültige geworden. Doch verteilt er weiterhin seine Spruchkarten und Handzettel. Darin ruft er zur Bildung einer „Herzgemeinde“ auf, die „des deutschen Volkes Gesundung herbeiführen“ soll.

Schon im September 1933 begannen die Nazis mit einer groß herausgestellten „Bettlerrazzia“. Polizei, SA und SS verhafteten in einer gemeinsamen Aktion Tausende von Bettlern. Landstreicher galten als Unruhepotential. Gräser war ein „Landstreicher“.

Gräser war ein „Asozialer“. Es sei denn, er wäre als Schriftsteller oder Künstler offiziell anerkannt worden. Nach dem 15. Dezember 1933 durften „Kulturschaffende“ ihren Beruf nurmehr ausüben, wenn sie in die Reichskulturkammer aufgenommen worden waren. Gräser dachte nicht daran, sich registrieren zu lassen. Er wich zunächst in die Siedlung Grünhorst aus, zu Tochter und Schwiegersohn. Es lag jedoch nicht in seiner Art, sich zu verstecken. Nach einigen Monaten hält es ihn nicht länger, er kehrt in die „Reichshauptstadt“ zurück.

Trudchen bewirtet Gusto

Er rettet sich in die Sprache. Ein Buch über „Unsre Sprachlaute – heimliche Schlüssel zum Aufschluss unsrer Welt“ entsteht. „Nun warf ich mich der Mutter Sprache in die Arme – sie tröstet, kräftigt, heilt und wärmet jeden, der sie hebt.“

Im Sommer 1938 wurden im Rahmen der Aktion „Arbeitsscheu Reich“ weitere 11 000 „Bettler, Landstreicher, Zuhälter und Zigeuner“ verhaftet und in das KZ Buchenwald eingeliefert. In einigen KZs machten die mit dem schwarzen Dreieck gekennzeichneten Häftlinge der Kategorie „asozial“ die Mehrheit aus. Jetzt bleibt auch Gräser keine andere Wahl, als sich um seine Anerkennung als Maler oder Schriftsteller bei der Kulturkammer zu bemühen. Er wird jedoch weder als Maler noch als Schriftsteller anerkannt, stattdessen „mangels Zuverlässigkeit und Eignung“, mit Schreibverbot belegt.“

Gusto Gräser wehrt sich und schreibt an das Reichsministerium für Volksaufklärung und Propaganda:

„… Von der Reichsschrifttumskammer erhielt ich am 4. April (…) die Mitteilung: „Ihre Aufnahme in die Kammer wird auf Grund des § 10 des Reichskulturkammergesetzes vom 4. Nov. 1933 mangels erforderlicher Zuverlässigkeit und Eignung (siehe Ihre sechs Vorstrafen) mit Untersagung jeder schriftstellerischen Tätigkeit abgelehnt.“ (gekürzt)

Hat man auch brav geprüft, und kennt man mich und mein Werk auch wirklich, dass man so einen harten Schritt, ja Schnitt in meine tief ins deutsche Land geschlagenen Lebens­wurzeln verantworten könnte? In den fünf Jahren meines Aufenthaltes und Durchhaltens hier in Berlin wäre wohl Zeit und Gelegenheit zum Kennenlernen gewesen. Aber trat man nahe genug – ließ man genug nahe herantreten? Fernbehandlung hat‘s in sich, gar leicht in Misshandlung umzukippen…

Die weitläufigen Geschichten meiner sieben, zu Missetaten gestempelten Zusammenstöße kann ich, weil wirklich gar zu plump und dump mir in ihren Einzelheiten aus dem Gedächtnis zumeist erloschen, nicht gut erzählen. Unterstreichen aber, dass all die Strafen nur Folgen meiner schlechtrecht-aufrichtigen, also gerade nicht gemein missetätern, nicht schwindeln, diebeln und dergl. könnenden Lebensbewegung, Folgen meines allerdings gar nicht dienernden, gerade darum aber wohl dienenden Lebenswerkes waren, das kann ich wohl…“

1938 erwirbt Gusto Gräser ein Hausboot auf dem Seddinsee bei Berlin, er schreibt an Wolfgang Kassner am 26. September 1938:

„… „Dass ich hier in meinem Hausboot hause, weißt Du ja – hätt hier manchmal nen tüchtigen Gesellen gebraucht, der mir geholfen hätt, mein „Schäfchen“, das jetzt auf Grund und voll Wasser sitzt, ins Trockene und in Ordnung zu bringen“

Die Geschichte zu diesem Boot erzählt Hermann Müller so:

„Im April 1938 konnte Gräser ein Hausboot auf dem Seddinsee bei Berlin erwerben. Das Schiff lag abseits von menschlichen Behausungen, nur von Wald und Wasser umgeben, am äußersten Stadtrand von Berlin, in der Nähe von Grünau. Seine Tochter Gertrud schreibt: „Das Hausboot, auf dem Vater da mal lebte, hab ich mit Henri erlebt. Vater musste jeden Tag viele Liter Wasser herauspumpen, das war sehr lästig für ihn.“

Schreibverbot, mehrfache Verhaftungen – der Boden in Berlin wir zu heiß. Gusto Gräser verkauft 1940 sein Wohnboot und geht nach München. Hermann Müller:

„…und flüchtete nach München, wo er in den Dachkammern von befreundeten Professoren die Jahre des Terrors überstand (Schwegerle, Dombart und Buschor), am Ende halbverhungert. In dieser Zeit entstanden seine späten Hauptwerke, das „Siebenmahl“ und das an Stuttgart adressierte „Brieflein Wunderbar“.

Die Journalistin Eva-Maria Manz veröffentlicht 2004 in der Stuttgarter Zeitung einen Artikel:

„… Gusto Gräser kennt in München vom Sehen fast jeder. Der raubärtige Naturmensch fällt auch noch als Greis auf. Seine bewegten Zeiten liegen lange hinter ihm. Kaum einer weiß, dass er ein Dichter ist, Hermann Hesses Mentor war, Thomas Mann sich für ihn einsetzte, Hunderte ihm bei seinen Reden in den zwanziger Jahren zujubelten. Jetzt sitzt der Alte allein im Café Klein-Bukarest, in der Volksküche, wo er für 80 Pfennig isst, oder in der Staatsbibliothek. Ein Verrückter, sagen die einen, ein Landstreicher die anderen.“

Portraitkarte

Seine Familie war nach Berlin gezogen und unterhielt im “Gräser-Haus” ein heimliches Refugium für Kriegsgegner. Und dem will ich hinzufügen, dass eine der Gräser-Töchter – Gertrud Gräser (Trudel, Trudchen) – zusammen mit ihrem Mann jüdische Mitbürger versteckte und damit rettete. Einen Platz und einen Baum in der „Allee der Gerechten unter den Völkern“ in Yad Vashem wollte sie nicht. Es sei für sie eine Selbstverständlichkeit gewesen, erzählt mir ihre Enkelin.

Nachkriegszeit 1945 – 1958 – Hermann Müller schreibt:

„… Gräser fast völlig vereinsamt. Keine Möglichkeit mehr zu öffentlichem Wirken. Er lässt seine Flugblätter vom Turm des Münchner Rathauses auf den Marienplatz flattern. Immerhin: ein junger Architekt wird sein „Eckermann“, tippt seine Manuskripte ab. Ihn, den er jeden Freitag besucht, nennt er, als „Robinson“, seinen Inselgenossen „Freitag“.

Unter dem Druck der äußersten Not wird der Kämpfer zum Seher. Urbilder der Menschheit steigen in ihm auf: der Lebens- und Weltenbaum, die Heilige Hochzeit, das Heilige Mahl, Urmutter Not, der Erdsternsohn, das Leben als Tanz, als göttliches Spiel, der Jungäon, das Menschenreich.

ein dichterisch-prophetisches Alterswerk entsteht: ,Siebenmahl, ,Brieflein Wunderbar‘, ,Fünklein, flieg!‘ 

Widerstand und Hohn der stumpfen Welt ballen sich ihm zu einer Teufelsfigur zusammen, die ihn verschlingen will – und die er lachend überwindet. Da st nichts mehr, was ihn stören kann bei seinem „ambrosischen Welt­hochzeitmahl“.

An den Münchner Journalisten René Prévot – Mitarbeiter im Münchner Merkur schreibt er am 5. Juli 1950 über sein Leben in der Stadt und den Umgang mit ihm:

„… … Mein heutiger Gang durch die Stadt schmeckte ein wenig nach Spießruten. Die Kohlrabi, der Individualist, Jochanaan und der „nackete Kerl“ waren etwas scharfer Toback sogar für mich dickhäutig gewordenen Alten, der sich an so manches in seinem langen Leben gewöhnen könnt. Was Sie da schreiben, Herr Prevot, heißt auf gut deutsch: Der Gräser war verrückt und ist es noch immer.

Spaß muss ja freilich sein, doch Obacht – zu viel und unangebracht verschwatzt er, verscherzt er unsere Freude, die köstlich freundliche.

Nun kann ich Ihnen nicht einmal so unrecht geben. Bin freilich verrückt, sogar weit von der ins Elend rasenden Zeit; zumal mir völlig klar ist, dass diese Erde von Verrückten wimmelt, die sich nur in der Farbe unterscheiden, so dass – sagen wir – der Durchschnitt schwarz; rot, braune Vögel, und gerade ich einen grünen Vogel hab.

Aber nun kommt die Summe, Herr Prevot.

Über ein halbes Jahrhundert trage ich meinen Grünspecht im Kopf und schaue hinein in den rot, braun, schwarzen Wahnsinn und erlebe 50 Jahre lang, wie das, was man die Menschen heißt, immer toller, verrückter und immer schwärzer und schwärzer wird, wie sie immer schneller zu ihren „Suppenschüsseln“ rasen, sich die Brocken vom Munde zu reißen, – wie sich der Krampf ihrer Verrücktheit immer höher steigert, so dass ihnen ein paar Weltkriege schon nicht mehr gelingen, ihre Verrücktheit auszutoben, – während mein Grünspecht immer noch fidel über Wahnsinnswüsten in seine Wälder fliegt und damit mir selbst und meiner kilometerfressenden Umwelt den Beweis liefert, dass mein Vogel der gesündere ist.

Glauben Sie mir, der Alte hätte seiner Mitwelt, wo sie nur die Ohren, das Herz hätt‘ ihn unbefangen anzuhören, ihn ein wenig zu vertragen, manch heilheitre Wahrheit zu sagen. Aber wo hat je ein Narr gelebt, der sich selbst als Narr erkannt – und wo ein Weiser, der nicht zum Gespött der Närrischen ward?…

Also – ist nicht alles Kohlrabi, was Kohlrabi scheint, und meine geistige Rohkost (Frohkost) – ich glaub, uns Menschen tat sie not …

Ihr Gräser oder sagen wir. Gras“

Am Montag, den 27. Oktober 1958 stirbt Gusto Gräser im Münchner Stadtteil Freimann bei München.

„Nun ist Gustav Gräser gestorben. Man fand den Einsamen tot in seinem Zimmer. Uns bleibt bekümmert nur übrig, zu bedenken, wie arm die Welt wird, je mehr die Gusto Gräsers aussterben und die Roboter und Elektronen­gehirne nachfolgen. Schade, dass wir uns so wenig um ihn, der in so vielem und am meisten im Herzen ein Diogenes war, gekümmert haben. Vermutlich geschah das gegenseitig. Vielleicht aber hat er uns mit seiner Laterne vergeb­lich gesucht?

Vale, St. Transsylvane! Ich sehe dich auf der Wanderschaft über den Wolken … im Tragnetz eine Handvoll Sterne. Ist das der Ertrag eines Lebens? Dulce est desipere in loco. Süß ists, zu seiner Zeit den Toren zu spielen,.“ schreibt Hans Wühr (25. Januar 1891 in Reghin (Sächsisch-Regen), Siebenbürgen, Österreich-Ungarn – 23. April 1982 in Grunwald, Landkreis München), ein Kunsthistoriker und Autor.

Hans Wühr ist wahrscheinlich ein alter Bekannter, arbeitete er doch nach seinem Studium im Brukenthal-Museum in Hermannstadt.,

Die Beerdigung ein Armenbegräbnis – er stirbt ohne eine einzige Zeile seines großen Werkes je in Buchform gedruckt gesehen zu haben. Sein dichterisches Werk wurde im letzten Moment vor der Vernichtung aus dem Müll gerettet. Es befindet sich heute in der Stadtbibliothek München und im Monte Verità Archiv Freudenstein.

Gusto Gräser vor dem Münchner Kriegs-Ruinen, Er lehrte ein Leben für den Frieden und so endete es. Das wohl traurigste Bild von ihm.

Und nochmal Hermann Müller:

„…Wie sind solche Einschätzungen für einen Mann möglich, der zu seinen Lebzeiten von den Behörden als „Vagabund“, „verkappter Bettler“ oder „staatsgefährlicher Rumäne“ registriert wurde? Den die Umwelt meist für einen „Sonderling“, „Narren“ oder „Schmarotzer“ hielt?

Hesse hat einen Menschen gekannt, den die meisten für einen Narren hielten. Er aber hat in ihm einen Heiligen erkannt, einen Seher und Weisen. Zu diesem Menschen zu stehen, sein Bild und seine Einsichten der Menschheit zu vermitteln, erkannte er als seine Aufgabe. Er hat sich gegen diese Aufgabe gewehrt, er hat sich ihr durch Flucht zu entziehen versucht, Zweifel und Ängste haben ihn immer wieder an den Rand des Selbstmords getrieben, aber letzten Endes ist er seiner Berufung treu geblieben.

Besser als die gelehrten Philologen haben ihn seine Leser verstanden. Seit Generationen wird er immer wieder von suchenden Menschen entdeckt, gelesen, verehrt, gefeiert. Seine Schriften werden als Wegweisungen fürs Leben verstanden. Das Bild eines außergewöhnlichen Men­schen wird durch alle Verhüllungen hindurch instinktiv wahrgenommen. Wie wir inzwischen wissen, ist es das Bild des Wanderers, Einsied­lers und Dichters Gusto Gräser. Hesses Weg mit Gräser war ein extremes Hin und Her zwischen Hingabe und Flucht. 1907 folgt er seinem Freund in dessen Felshöhle „Pa­gangrott“ hoch über dem Maggiatal im Tessin. Er fastet, meditiert, läuft nackt durch die Wälder. Gemeinsam studieren sie die heiligen Schriften der Inder. Aber Hesse kann den entscheidenden Sprung der Hingabe nicht leisten und kehrt ins bürgerliche Leben zurück. Er verhöhnt sogar seinen einstigen Meister als in den Bäumen han­gelnden Gorilla. Doch kann er seine Abwehr auf Dauer nicht durchhalten, sie endet 1916 mit seinem Zusammenbruch. Jetzt sucht er wieder Zuflucht bei Gräser. Auf dem Monte Verità von Ascona erlebt er eine seelische Neugeburt. Der in Depressionen Versunkene erlebt eine Glücks­zeit, fühlt sich aufgenommen in den Bund einer zukünftigen Gemeinschaft, die sich ihm in Gusto Grä­ser, seinem „Demian“ und neuen „Zarathustra“, verkörpert.
Der ehemalige Kriegsfreiwillige wandelt sich zum entschiedenen Kriegsgegner. Doch wagt er kein öffentliches Be­kenntnis, verbreitet seinen Roman unter Pseudonym. 1919 zieht er sich ein zwei­tes Mal von Gusto Gräser zurück – und stürzt in den Abgrund seiner „Steppen­wolf“-Krise. Selbstmord­gedanken verfolgen ihn, bis er nach zehn Jahren, dem Erblinden nahe, wiederum zusammenbricht. Nun schreibt er einen langen offenen Brief der Reue, der Beichte und der Bitte um Wiederannahme durch den Freund in der Erzählung „Morgenlandfahrt“. Auch sein letztes großes Werk, das „Glas­perlenspiel“, kreist um das Thema der Rückkehr zu einem Freund und Meister. 1907 hatte ihm Gräser den Weg ins geistige Indien geöffnet. 1916 richtet sich der politisch Isolierte an dem Kriegsdienstverweigerer auf, erlebt den „Berg der Wahrheit“ als eine „Traum­insel“ der Menschlichkeit und als Vorahnung einer künftigen Kultur. Mitten im Krieg, im Jahre 1917, schreibt er, verzweifelt über die Verken­nung seines Freundes und zugleich in Hoffnung selbstbewusst: „Wir, die mit dem Zeichen, moch­ten mit Recht der Welt für seltsam, ja für verrückt und gefährlich gelten. Wir waren Erwach­te, oder Erwachende. Aber während wir Gezeich­neten den Willen der Natur zum Neuen, zum Vereinzelten und Zukünftigen darstellten, lebten die andern in einem Willen des Beharrens. Für sie war die Menschheit etwas Fertiges, für uns war die Menschheit eine ferne Zukunft. Unsere Aufgabe war, in der Welt eine Insel darzustellen, vielleicht ein Vorbild, jedenfalls aber die Ankündigung einer anderen Möglichkeit zu leben.“

Und auch dieser traurige Satz von Hermann Müller:

„… Während Hesse, mit Ehrungen überhäuft, zum großen moralischen Vorbild aufsteigt, an dem die besiegten Deutschen sich wieder aufrichten, verhungert unbemerkt in einer Münchner Dachkammer sein Freund und Meister – Gusto Gräser.

Hermann Hesse

Hermann Hesse:

„… Es sind Menschen unter euch gewandelt wie brennende Lichter und niemand hat sie gesehen! Während ein Dutzend toller Affen „große Männer“ spielte, lebten sie vor euren Augen, und es war, als lebten sie nicht, man sah an ihnen vorbei.“

Werke:

„Efeublätter“. Gedichte. Wien 1902.
„Ein Freund ist da – mach auf!“ Flugschrift, Berlin 1912.
„Heimat“. Flugschrift, Berlin/Birkenfeld 1912.
„Winke zur Genesung unsres Lebens“. Sprüche und Gedichte. Ascona 1918.
„Zeichen des Kommenden“. Sieben Steindrucke mit Textblättern. Dresden 1925.
„Notwendwerk“. Zeichnungen und Gedichte. Steindruckmappe. Dresden 1926.
„Bucheckern“. Eine Druckschrift. Berlin 1930.
„Wortfeuerzeug“. Sprüche und Gedichte. Berlin 1930.
Tao. „Das heilende Geheimnis“. Büchse der Pandora, Wetzlar 1979, ISBN 3-88178-032-7, und Umbruch-Verlag, Recklinghausen 2008, ISBN 978-3-937726-04-5.
„AllBeDeut. Unsere Sprachlaute – heimliche Schlüssel zum Aufschluss unsrer Welt“. Deutsches Monte Verità Archiv Freudenstein 2000.
„Erdsternzeit. Eine Auswahl aus dem Spätwerk“. Herausgegeben von Hermann Müller. Umbruch-Verlag, Recklinghausen 2007 und 2009, ISBN 978-3-937726-02-1.
„Gedichte des Wanderers“. Herausgegeben von Frank Milautzcki. Verlag im Proberaum 3, Klingenberg 2006.
„Der Liebe Macht“. Ölgemälde im Museum Casa Anatta auf dem Monte Verità, Ascona 

Quellen 

Mein Dank geht an Hermann Müller. Konrad Klein schreibt über ihn:

„…Hermann Müller, 1931 in Göppingen geboren, gilt als der beste Kenner des Gräser’schen Werkes. Er kannte Gräser und besuchte ihn auch mehrmals – nachdem er ihn im Herbst 1955 in Aurica Popescus Café Klein Bukarest (damals in der Luisenstraße 45) in München kennengelernt hatte. Müller besitzt neben der Münchner Monacensia-Bibliothek die vollständigste Sammlung an Gräser-Materialien und Memorabilien (Deutsches Monte Verità Ar­chiv Freudenstein).

1986-2002 gab Müller die Gräser-Blätter (später Monteveritana) heraus. Mittlerweile hat er vier Bände mit Texten aus dem Nachlass und eine Gräser-Biographie veröffentlicht. Anlässlich der Ausstellung war eine erweiterte Neuauflage geplant, die wegen eines Unfalls des Autors nun erst Ende 2009 erscheinen kann. Mit seinen Recherchen zum Einfluss von Gräser auf Hesse und sein Werk hat sich Müller Suhrkamp-Verlag – dem Hausverlag Hesses – „unbeliebt“ gemacht. Als ob Müllers „Enthüllungen“ dem Autor des Steppenwolf noch das Wasser abgraben könnten!“

Hermann Müller (vordere Reihe Mitte)

Alles zu Gusto Gräser unter der von Müller aufgebauten Seite www.gusto-graeser.info.

Bücher von und über Gustav Arthur Gräser gibts am ehesten in alternativen Buchläden oder direkt beim Umbruch-Verlag http://www.umbruch-verlag.de/

Alle nicht mit Quellenangaben versehene Bilder stammen von Hermann Müller, dafür danke ich ihm!

http://www.gusto-graeser.info/Leben/Lebenslauf/lebenslauf_index.html