… wurde am 2. Mai 1886 in Mansfeld – Mark Brandenburg geboren und starb am 7. Juli 1956 in Berlin. Gottfried Benn war Arzt, Dichter und Essayist.
Arzt und Dichter ist klar und was man unter einem Essayist versteht, beschreibt Wikipedia so:
„… Der bzw. das Essay (Plural: Essays), auch Essai genannt, ist eine geistreiche Abhandlung, in der wissenschaftliche, kulturelle oder gesellschaftliche Phänomene betrachtet werden. Im Mittelpunkt steht die persönliche Auseinandersetzung des Autors mit seinem jeweiligen Thema. Die Kriterien wissenschaftlicher Methodik können dabei vernachlässigt werden; der Schreiber hat also relativ große Freiheiten.
Ähnliche Textarten, teilweise auch synonym verwendet, sind Traktat, Aufsatz und (veraltet) Causerie. Verwandte journalistische Darstellungsformen sind die Glosse, die Kolumne, der journalistische Kommentar und der Leitartikel.
Im Blick auf den Geistreichtum eines guten Essays kann man den Essay als den „großen Bruder“ des Aphorismus auffassen.“
Der Vater
Gustav Benn wurde 1857 geboren und wurde wie sein Vater evangelischer Pfarrer.
In einem Brief am Hans Egon Holthusen (geb. 15. April 1913 in Rendsburg, gestorben 27. Januar 1997 in München, Lyriker, Literaturwissenschaftler, Essayist und Kritiker) vom 16. Mai 1954 beschreibt Gottfried Benn seinen Vater:
„… Ich habe ja ein ausgesprochenes Faible für das Pfarrhäusliche, obschon ich mich so weit davon entfernte. In meinem heimatlichen gab es keinen Chopin, es war völlig amusisch, mein Vater hat nie in seinem Leben ein Buch gelesen, einmal, Anfang des Jahrhunderts, war er in Berlin im Theater gewesen, in Wildenbruchs „Haubenlerche“, erinnere ich mich. Aber ein großer Zelot und Fanatiker war er auch; aber es ging von ihm eine Stärke aus, wie ich sie nie wieder an irgendeinem Menschen erlebt habe: wenn er neben Ihnen stand, konnte Ihnen nichts passieren und Sie konnten nicht sterben — ein seltsamer Mann.“
Und weiter:
„…Es kreuzen sich in dieser Ehe aber auch die beiden tiefen typologischen Gegensätze der Kretschmerschen Konstitutionslehre (Ernst Kretschmer (geb. 8. Oktober 1888 in Wüstenrot bei Heilbronn; gest. am 8. Februar 1964 in Tübingen, war ein deutscher Psychiater. Er erforschte die menschliche Konstitution und stellte eine Typenlehre auf): mein Vater körperlich leptosom (in Bezug auf den Körperbautyp schmal, schlankwüchsig) streng, hager; meine Mutter pyknisch (in Bezug auf den Körperbautyp) kräftig, gedrungen und zu Fettansatz neigend, alpin untersetzt. Ergänzt und nochmals aufgenommen in den Merkenschlagerschen beiden Grundtypen der europäischen Bevölkerung:
Züge des Urjägers der eiszeitlichen Megalithkultur; meine Mutter irdisch, allem Lebendigen nah, die Gärten, die Felder säend und gießend: Ackerbautyp, Pfahlbürgertyp, mit dem realen Sein voll Lächeln und Tränen.“
Die Mutter
Walter Lennig schreibt in seiner Benn-Biographie:
„… Caroline Jequier – geboren 1858 – stammt aus einer alten Uhrmacherfamilie in der französischen Schweiz, war ein Jahr jünger als ihr Mann und hatte zeitlebens etwas Schwierigkeiten mit der deutschen Sprache (so weit bekannt, hat sie nach der Heirat ihre Heimat nie wieder besucht).“
Und Gottfried Benn über seine Mutter:
„… Sie stammte aus einem kleinen Ort der französischen Schweiz, dicht an Frankreichs Grenze, mit Namen Fleurier, in den Bergen des Jura. Dort war sie geboren und aufgewachsen, aus einer alten welschen einheimischen Familie, sie kam erst mit zwanzig Jahren nach Deutschland. Sie sprach infolgedessen die deutsche Sprache immer mit Akzent, gewisse deutsche Worte wollten ihr ihr Leben lang nicht gelingen, und sie sang ihre vielen Kinder mit französischen Liedern ein. Ein Lied begann, ich erinnere mich deutlich: „les cloches sonnent, l’air en rayonne“ – ein Volkslied, ich weiß leider nicht mehr, wie es weiterging, aber ich wüsste gern, ob es heute noch in der Welt irgendjemand wo singt.
Meine Mutter erzählte uns viel von ihrer Heimat, uns Norddeutschen von den Bergen. Ungeheuerlich, gefüllt mit nie endenden Strahlen, sah ich immer ihre Landschaft, wenn sie von ihr sprach. Eine Erzählung aus ihrer Kindheit, allerdings eine düstere, hat mich immer besonders erregt. Sie handelte vom Januar 1871, die Bourbakische Armee war geschlagen und trat auf das Schweizer Gebiet über. Der Übertritt erfolgte in der Nähe von Fleurier. Die Scharen wurden entwaffnet und zogen nun, geschlagen, frierend und verhungert durch die Grenzorte und wurden auf den Straßen ernährt. Meine Mutter stand mit ihren Schwestern vor ihrem Haus neben großen Kesseln dampfender Erbssuppe und kellte den Vorüberziehenden Essen in ihr Kochgeschirr. Tagelang zogen die Scharen vom Morgengrauen bis in die Nacht. Bei Anbruch der Dunkelheit näherten sie sich den Häusern, suchten dort Schutz und schliefen auf den Treppen. Morgens kehrten meine Mutter und ihre Schwestern den Schmutz, die Lumpen, das Ungeziefer von den Stufen herab. Ungeheurer Eindruck für uns Kinder dieser unheimliche Zug der verhungerten und verwundeten Scharen! Fern vom Krieg und fern von jenen Bergen hörten wir uns diese Geschichte immer wieder an.
Meine Mutter sah dann nach ihrer Heirat ihre Heimat nicht wieder, wir wurden viele Geschwister, und die Verhältnisse waren nicht so. Sie schenkte ihrem neuen Vaterland sechs Söhne, von denen fünf in den Krieg zogen, in den anderen, den zweiten, nicht den bourbakischen Krieg. Aber schon vorher hatten wir von ihr scheiden und sie in der Erde Norddeutschlands begraben müssen, doch die Erinnerung an sie, die über alles zärtliche und treue Mutter, lebt in den Kindern weiter, die Erinnerung an sie, ihre Heimat, ihre Berge.
Genealogisch war sie reine romanische Rasse, Jurarasse. Rasse der jodarmen Landschaft mit den nahen Beziehungen zur Schilddrüse, und in der Tat litt sie an Basedow und hatte die Wuchsform und Konstitution der alpinen Rasse. Von Stand stammte sie aus der Schweizer Uhrmacherindustrie, dem gleichen Gewerbe und der gleichen Landschaft, der Rousseaus Vater zugehörte. Aber um das Wichtigste und den Ausgangspunkt meines Aufsatzes nicht zu vergessen: ich verfüge über alle Dokumente und Papiere ihrer Heimatbehörde, dahin lautend: que tous les ressortissants de la famille Jequier de Fleurier sont d’origine Suisse et de religion protestante-calviniste.“
Am 22.7.1884 heirateten der 27 jährige Gustav Benn und die ein Jahr jüngere Caroline Jequier. Kennengelernt hatten sich der Hauslehrer und die Erzieherin auf Schloß Gadow bei der Familie von Wilamowitz-Moellendorf.
Schloss Gadow – ein ehemaliger Rittersitz – liegt im Nordwesten der Prignitz, inmitten der wald- und wiesenreichen Landschaft der Löcknitz-Niederung, benannt nach dem gleichnamigen Fluss Löcknitz, der in die Elbe mündet.
Im Jahre 1885 kommt das erste Kind des Ehepaares in Mansfeld auf die Welt – Tochter Ruth – und am 2, Mai 1886 folgt der älteste Sohn, Gottfried.
Walter Lennig schreibt:
„… Er wurde am 2. Mai 1886 im Dorfe Mansfeld (Westprignitz) als zweites Kind und erster Sohn des protestantischen Pfarrers Gustav Benn und dessen Frau Caroline, geb. Jequier, geboren — im gleichen Pfarrhaus übrigens, in dem bereits des Dichters Großvater als Geistlicher gewirkt hatte. Gustav Benn war damals 29 Jahre alt und hatte bis zu seiner Amtseinsetzung einige Jahre als Erzieher in den Schlössern des preußischen Landadels gewirkt.“
Nach Gottfrieds Geburt verließen die Eltern Mansfeld im November 1886 und übernahmen die etwas einträglichere Pfarrstelle in Sellin.
Das heutige Czelin – deutsch Zellin oder Sellin ist ein Dorf mit 420 Einwohnern (Stand 2006) der Gemeinde Mieszkowice (Bärwalde) im Powiat Gryfiński der polnischen Woiwodschaft Westpommern, gelegen in der ehemaligen Neumark, acht Kilometer westlich von Bärwalde/Neumark (Mieszkowice) am rechten Ufer der Oder.
Wikipedia schreibt über Sellin und das dortige Kriegsende:
„… Gegen Ende des Zweiten Weltkriegs besetzte im Frühjahr 1945 die Rote Armee die Region mit dem Ort. Bald darauf wurde Zellin von der Sowjetunion unter polnische Verwaltung gestellt. Zellin erhielt den neuen polnischen Namen Czelin. In der darauf folgenden Zeit wurde die deutsche Bevölkerung aus Zellin vertrieben.
Und in Sellin wurden die weiteren Kinder des Ehepaares Benn geboren, sechs Söhne und zwei Töchter.
Walter Lennig:
„…Wenn auch eines der Kinder, ein Sohn, bereits im Kindesalter starb, so blieb das materielle Leben für die völlig unvermögenden Eltern doch eine höchst entsagungsvolle Aufgabe, und an Sorgen aller Art hat es nie gefehlt.“
Gottfried Benn beschreibt 1934 in „Lebensweg eines Intellektualisten“ seine Kindheit in Sellin:
„… Ein Dorf mit 700 Einwohnern in der norddeutschen Ebene, großes Pfarrhaus, großer Garten, drei Stunden östlich der Oder. Das ist auch heute noch meine Heimat, obgleich ich niemanden mehr dort kenne, Kindheitserde, unendlich geliebtes Land. Dort wuchs ich mit den Dorfjungen auf, sprach platt, lief bis zum November barfuß, lernte in der Dorfschule, wurde mit den Arbeiterkindern zusammen gesegnet, fuhr auf den Erntewagen in die Felder, auf die Wiesen zum Heuen, hütete die Kühe, pflückte auf den Bäumen die Kirschen und Nüsse, klopfte Flöten aus Weidenruten im Frühjahr, nahm Nester aus. Ein Pfarrer bekam damals von seinem Gehalt noch einen Teil in Naturalien, zu Ostern musste ihm jede Familie aus der Gemeinde zwei bis drei frische Eier abliefern, ganze Waschkörbe voll standen in unseren Stuben, im Herbst jeder Konfirmierte eine fette Gans. Eine riesige Linde stand vorm Haus, steht noch heute da, eine kleine Birke wuchs auf dem Haustor, wächst noch heute dort, ein uralter gemauerter Backofen lag abseits im Garten. Unendlich blühte der Flieder, die Akazien, der Faulbaum. Am zweiten Ostermorgen schlugen wir uns mit frischen Reisern wach, Ostaras Wecken, alter heidnischer Brauch; Pfingsten stellten wir Maien vor die Haustür und Kalmus in die Stuben. Dort wuchs ich auf, und wenn es nicht die Arbeiterjungen waren, waren es die Söhne des ostelbischen Adels, mit denen ich umging. Diese alten preußischen Familien, nach denen in Berlin die Straßen und Alleen heißen, ganze Viertel, die berühmten friderizianischen und dann die bismarckischen Namen, hier besaßen sie ihre Güter, und mein Vater hatte einen ungewöhnlichen seelsorgerischen Einfluss gerade in ihren Kreisen.“
Und nochmal Walter Lennig über die Entwicklung des Sohnes Gottfried und die Gegensätze zum Vater:
„… Es sei andererseits aber auch gleich festgehalten, wie auffällig gegensätzlich sich Gottfried Benn zu seinem Vater entwickelte. Für soziale oder gar sozialistische Strömungen hat er nie Sympathie bekundet; vom Kirchenglauben hat er sich spätestens als Student der Medizin getrennt; dem Familienleben war er nur wenig zugetan; ganz anders als der stimmgewaltige, stets frei sprechende Prediger hatte Gottfried Benns Stimme einen verhältnismäßig leisen und gedämpften Klang, und vor einem Auditorium hielt er sich stets an ein sorgfältig ausgearbeitetes Manuskript.“
Patronatsherr von Sellin war der Graf von Finckenstein, aus einem alten, reichverzweigten Geschlecht, das in der preußischen Geschichte oft sehr namhaft hervortrat. Mit dem Sohn Heinrich des Patronatsherrn ist der junge Gottfried, wohl auch durch Hauslehrer, bereits in Sellin auf die Höhere Schule vorbereitet worden; mit ihm zusammen ging er, noch nicht zehnjährig, nach Frankfurt an der Oder aufs dortige Gymnasium, und lebte mit ihm in der gleichen Pension“, schreibt Walter Lennig.
An Börries von Münchhausen schreibt Gottfried Benn am 30. April 1934, nachdem man im III. Reich an seiner „arischen Abstammung“ zweifelte:
„… Ich bin aufgewachsen im Hause der Trossiner Grafen Finckenstein, fünf Söhne, war später mit ihnen zusammen in Pension, bin noch heute mit ihnen, soweit sie nicht im Krieg gefallen sind, in engster freundschaftlicher Verbindung. Mich verbindet überhaupt mit dem ostelbischen Adel, infolge der fünfzigjährigen seelsorgerischen Tätigkeit meines Vaters ganz besonders innerhalb dieser Familien, die vielfältigste Freundschaft. Und alle diese Namen, die Ihnen ja doch näher stehen noch wie mir, könnten Ihnen versichern, wie absolut unjüdisch ich bin und lebe, seien es die Rohr’s oder die Kalckreuth’s, die Lützow’s oder die Pfuel’s (die Letzten), die Schulenburg’s oder die Saldern’s, die Gerlach’s oder die Senff von Pilsach’s. In allen diesen Familien hat mein Vater getauft, getraut, beerdigt, beraten, getröstet, Leben und Sterben bewacht. Sie würden jetzt alle für mich eintreten, wenn ich sie darum bäte.“
Unsinnig boshaft und falsch war diese Behauptung schon deshalb, weil sein Bruder Stephan, evangelischer Superintendent in Templin in der Uckermark wurde.
Gottfried Benn’s Geschwister von ihm beschrieben:
Ruth, sie stirbt 1952 und war ein Jahr älter – verheiratet einem Oberfinanzpräsidenten.
Stephan, vier Jahre jünger als ich. Superintendent in Templin (Uckermark).
Theodor, kriminell, Fememörder. Weiß nicht, wo er ist, keine Verbindung.
Siegfried, gefallen 1916
Ernst-Victor, z Zt. großer Mann in Industriekonzern in Essen, Dr. jur. Assessor usw.
Edith, 52 Jahre, geschieden, augenkrank, trägt Blindenabzeichen.
Ein weiterer Bruder Benns, Hans-Georg, geboren im Marz 1895, starb im Alter von drei Jahren.
Im Herbst 1914 heiratete Gustav Benn ein zweites Mal. Seine Frau Sophie Kolbe bekam zwei Söhne: Friedrich (geb. 1916) und Hans-Christoph (geb. 1920).
Gymnasialzeit
Im September 1897 wechselt Gottfried Benn nach Frankfurt/Oder an das dortige Friedrichs-Gymnasium.
Walter Lennig:
„…Dieses Gymnasium war damals der höchste Stolz der Stadt Frankfurt an der Oder und gewissermaßen die letzte Erinnerung an die einstige Universität, die bekanntlich nach dem Frieden von Tilsit nach Berlin verlegt worden war. Am Frankfurter Gymnasium hatte von 1818 bis 1825 der später weltberühmte Historiker Ranke als Lehrer gewirkt. Es stand an Ruf und Rang dem berühmten Gymnasium von Neuruppin in nichts nach: gerade diese altpreußischen Provinzgymnasien gehörten damals zu den hervorragendsten Anstalten ihrer Art. Das Hauptgewicht lag natürlich auf den alten Sprachen, aber auch die Mathematik wurde nicht vernachlässigt. Es wurde viel verlangt und streng zensiert. An das unvermeidliche Pauken hat sich der alte Benn noch mit respektvollem Abscheu erinnert. Er war nicht gerade ein Vorzugsschüler, hat jedoch stets das „Klassenziel“ zur durchschnittlichen Zufriedenheit erreicht; auch erwartete man natürlich, dass er seinem gräflichen Kameraden beim Lernen behilflich war. Weihnachten, Ostern und die großen Ferien verlebte er selbstverständlich zu Hause in Sellin, und man darf ihm glauben, dass er sich allemal darauf freute.“
Und weiter:
„… Es liegen indessen Anzeichen vor, dass in dieser Gymnasiastenzeit nicht nur Gottfrieds Selbstbewusstsein erwachte, sondern auch bereits strapaziert wurde. In Frankfurt war er zwar der väterlichen Tyrannei entrückt, aber eben doch nur um den Preis eines kaum minder drückenden Schulzwangs, denn auch „Betragen“ war damals ein wichtiges, für die Gesamtzensur oft entscheidendes Fach. Im Gymnasium und in der Pension traf der junge Benn zahlreiche andere Söhne des preußischen Landadels aus der umliegenden Gegend beiderseits der Oder. Das waren ja nun keineswegs immer reiche Geschlechter, auch wurden Junkersöhne in der Regel materiell nicht eben verwöhnt — aber gerade die relative Kargheit des äußeren Lebenszuschnittes führte nicht selten zu einer gewissen starren Betonung des sozialen Rangs, oder, wie es einer aus dieser Schicht einmal formulierte, „man ersetzte die fehlenden Mittel durch Distanz und Haltung“. Zwar betrachtete man protestantische Pfarrer dem sozialen Rang nach als beinahe ebenbürtig — auch die Heirat mit einem Pastor galt bei den meisten Junkern noch als „standesgemäß“ (wobei es sich freilich meist um „minderbemittelte“, also nur knapp mit Mitgift oder Ausstattung versehene Töchter der oft sehr kinderreichen Adelsfamilien handelte). Trotzdem lag zwischen Junker- und Pastorensöhnen noch eine kleine Welt des Unüberbrückbaren, des Geltungs- und Wertungsunterschieds. Das war bereits Gottfrieds Vater mit aller Schärfe aufgegangen, sonst hätte er wohl kaum den „Vorwärts“ abonniert, und dessen wurde nun auch Gottfried in seiner Gymnasiastenzeit deutlich inne. Bei ihm schlug allerdings das Ressentiment eine andere Richtung ein: sein sicheres Überlegenheitsgefühl suchte und fand Ausdruck in zunehmender menschlich-persönlicher Verschlossenheit, in einer „Distanz des Schweigens“.
Franz Leopold Ranke, ab 1865 von Ranke
Geboren am 21. Dezember 1795 in Wiehe, einem Ortsteil der Stadt und Landgemeinde Roßleben-Wiehe im äußersten Osten des thüringischen Kyffhäuserkreises, gestorben am 23. Mai 1886 in Berlin.
Über ihn lese ich bei Wikipedia:
„ …war ein deutscher Historiker, Historiograph des preußischen Staates, Hochschullehrer und königlich preußischer Wirklicher Geheimer Rat.
Leopold von Ranke wurde als ältester Sohn des Rechtsanwalts Gottlieb Israel Ranke (1762–1836) und seiner Ehefrau Friederike Ranke, geb. Lehmicke (1776–1836), geboren. Er war der Bruder des Theologen Friedrich Heinrich Ranke (1798–1876) und des Theologen Ernst Ranke (1814–1888). Seine Neffen waren der Physiologe und Anthropologe Johannes Ranke, der 1891 ebenfalls geadelte Mediziner Heinrich von Ranke und der Hauptpastor Leopold Friedrich Ranke.
Ranke heiratete 1843 Helena Clarissa Graves (1808–1871) aus einer alten englischen Familie: die Tochter des Dubliner Polizeikommissars John Crosby Graves (1776–1835) und der Helena Perceval (1785–1835).
Das Ehepaar Ranke hatte drei Söhne Otto (1844–1928), Generalmajor Friedhelm (1847–1917), der seine Cousine Selma von Ranke heiratete, und Albrecht (1849–1850) sowie eine Tochter Maximiliane (1846–1922). Der britische Dichter und Schriftsteller Robert von Ranke-Graves war ein Großneffe Leopold von Rankes.
Er wurde am 22. März 1865 in Berlin in den preußischen Adelsstand erhoben. (…)
Ab 1818 war er Gymnasiallehrer in Frankfurt (Oder). 1824 wechselte er nach Berlin und wurde an der dortigen Universität außerordentlicher Professor. (…) 1832 nahm ihn die Preußische Akademie der Wissenschaften in Berlin als Mitglied auf.
Mit siebzehn Jahren bestand Gottfried Benn 1903 sein Abitur; „dass er es so zeitig tun konnte, spricht dafür, dass er, wenn auch kein begeisterter, so doch ein überdurchschnittlicher Schüler gewesen sein muss, schreibt Walter Lennig.
Wikipedia schreibt über die Schulzeit in Frankfurt/Oder ergänzend:
„… Er wohnte vier Jahre in einer Pensionsstube zusammen mit dem gleichaltrigen Grafen Heinrich Finck von Finckenstein, den er schon seit dem Hauslehrerunterricht seines Vaters bei der Familie kannte. Benn hatte allgemein eher mittelmäßige Noten. In Latein und Altgriechisch war er dagegen gut. Dies spiegelt sich später auch in der engen Beziehung seiner Dichtung zur griechischen Antike und ihrer Mythologie und Götterwelt wider.“
Die „Pensionsstube“ ist bekannt. Sie lag im Haus Gubener Str. 31 a. Und es geht noch genauer: „Das 2. Obergeschoß nutzte um die Jahrhundertwende Agnes Leonhard als Schülerpension. Bei ihr wohnten in ihrer Friedrichsgymnasiastenzeit die Dichter Gottfried Benn von 1897 bis 1903 und Alfred Henschke. genannt Klabund. von 1906 bis 1909.
„Stubengenosse“ von Klabund war Gottfried Benns jüngerer Bruder Stephan und daraus entstand die Legende, Gottfried Benn und Klabund seien zur gleichen Zeit Schüler am Friedrich Gymnasium gewesen und hätten in der Gubener Straße 31 a gewohnt.
Im Klabund-Portrait habe ich geschrieben: „Sicher berichtete Stephan Benn seinem älteren Bruder Gottfried von den dichterischen Versuchen seines Pennäler Freundes. Bei einer Geburtstagsfeier lernte der vier Jahre ältere Medizinstudent Klabund flüchtig kennen. Dieser las ihm ein paar Gedichte vor – „Gottfried Benn äußert sich anerkennend und behält den Eindruck von einem entsetzlich hageren Jungen mit großem Kopf und klugen, blauen bebrillten, glänzenden großen Augen – ein Junge, der nach außen hm frisch witzig und lebhaft ist, aber im Inneren sinnend und nachdenklich.“ (Kaulla) Eine Freundschaft zwischen ihnen entwickelt sich zu diesem Zeitpunkt jedoch nicht.“
Nach dem Abitur begannen die Auseinandersetzungen zwischen Vater und Sohn, denn ersterer hielt es für selbstverständlich, dass Sohn Gottfried Theologie studiere, oder wenigstens eine Disziplin, die auf eine Laufbahn im höheren Schulwesen vorbereite, er aber fühlte sich zur Medizin oder den Naturwissenschaften hingezogen. „Damit drang er zunächst allerdings nicht durch; auch wird ihn die wirtschaftliche Situation seiner Familie mit ihren sieben Kindern, von denen natürlich alle Söhne studieren sollten, nicht ganz uneinsichtig gefunden haben.
Der Vater bestimmte Marburg als Studienort. Er hatte nämlich Verbindungen dorthin und konnte seinen Sohn bei seiner alten Korporation, der „Turnerschaft“, billig unterbringen. Es war dem Pastor begreiflicherweise wichtig, dass sein Sohn schnell, ohne Semesterverlust und mit Wahrnehmung aller Förderungsmöglichkeiten studiere. In einem kinderreichen Pfarrhaus musste mit jedem Pfennig gerechnet werden“ so Walter Lennig.
Aus Wikipedia:
„… Zum Wintersemester 1903/1904 nahm Benn also das Studium der Evangelischen Theologie und der Philosophie in Marburg auf. (…) Im Wintersemester 1904/1905 wechselte er zum Philologiestudium an die Friedrich-Wilhelms-Universität in Berlin. Benn scheint für beide Studiengänge wenig Interesse aufgebracht zu haben und wurde im Sommer 1905 wegen „Unfleißes“ aus der Universitätsmatrikel gestrichen.“
Walter Lennig schreibt:
„… Der Vater war unzufrieden mit seinem Sohn, der lustlos und ohne rechten Plan studierte. Die Spannung zwischen den beiden trübte auch die Ferienzeit auf dem neumärkischen Pfarrhof. Die Mutter litt wohl darunter, aber helfen konnte sie ihrem Sohn auch nicht, sie hätte sich gegen den alles beherrschenden Ehemann gar nicht durchzusetzen vermocht. Da kam in großer Verzweiflung Rat von anderer Seite: Gottfried wurde auf die Berliner „Pepiniere“ hingewiesen, die „Kaiser-Wilhelm-Akademie für das militärärztliche Bildungswesen“. „Pepiniere“ bedeutet Pflanzstätte; als solche war die Akademie für den sanitätsdienstlichen Nachwuchs der preußischen Armee 1795 von jenem Johann Görcke gegründet worden, von dem auch die erste und weiterhin vorbildliche „Militär-Sanitätsverfassung“ stammte. Als gut empfohlener Pastorensohn hatte Gottfried Benn keine Schwierigkeiten, aufgenommen zu werden.
Im ersten Teil von „Doppelleben“ (Lebensweg eines Intellektualisten), erschienen 1950 schreibt Gottfried Benn über dieses Institut:
„… Eine vorzügliche Hochschule, alles verdanke ich ihr! Virchow, Helmholtz, Leyden, Behring waren aus ihr hervorgegangen, ihr Geist herrschte dort mehr als der militärische, und die Führung der Anstalt war mustergültig. Ohne den Vater stark zu belasten, wurden für uns alle die teuren Kollegs und Kliniken belegt, die die Zivilstudenten hören mussten, dazu bekamen wir die besten Plätze, nämlich vorn, und das ist wichtig bei den naturwissenschaftlichen Fächern, bei denen man sein Wissen mit Hilfe von Experimenten, Demonstrationen, Krankenvorstellungen in sich aufnehmen muss. Dazu hatten wir aber noch eine Fülle von besonderen Kursen, Repetitorien, hatten Sammlungen zur Verfügung, Modelle, Bibliothek, bekamen Bücher und Instrumente vom Staat geliefert. Dazu bekamen wir eine Reihe von Vorträgen und Vorlesungen über Philosophie und Kunst und allgemeine Fragen und die gesellschaftliche Bildung des alten Offizierkorps. Für jedes Semester, das man studierte, musste man ein Jahr aktiver Militärarzt sein. Im übrigen war das Leben dort das vollkommen freier Studenten, wir hatten keine Uniform.“
Einen „Haken“ hatte dieses Studium aber doch: Die Auflage, für jedes Studiensemester später ein Jahr als Militärarzt zu dienen. Sechs Jahre dauert das Studium, dann wird Benn ab Oktober 1910 Unterarzt im Infanterie-Regiment 64, stationiert in Prenzlau.
Wikipedia schreibt:
„… und hospitierte gleichzeitig von Oktober 1910 bis November 1911 als Unterarzt in der Charité, vermutlich in der Psychiatrie. In dieser Zeit verfasste Benn mehrere medizinische Studien zu psychiatrischen Fragen, von denen eine (Die Ätiologie der Pubertätsepilepsie) den ersten Preis der Berliner Medizinischen Fakultät von 1910 errang. Im Oktober 1911 legte er sein medizinisches Staatsexamen ab, erhielt die Approbation, und 1912 promovierte er mit „Über die Häufigkeit von Diabetes mellitus im Heer“ zum Doktor der Medizin.“
Gottfried Benn selber formuliert seine Studiumsjahre, den Abschluss und die kurze militärärztliche Zeit so:
„… Um zu Ende zu kommen: nachdem ich approbiert und promoviert hatte, kam ich als Militärarzt erst zum Infanterieregiment 64. nach Prenzlau, dem Regiment von Mars-la-Tour, dann zum 3. Pionierbataillon nach Spandau, dem Bataillon vom Übergang nach Alsen. Mit der Waffe hatte ich beim 2. Garderegiment zu Fuß gedient. Ich musste jedoch schon im ersten Jahr meiner Dienstzeit wieder ausscheiden, da sich bei einer Korpsübung, bei der ich den ganzen Tag im Sattel sitzen musste, ein angeborener Schaden herausstellte, der mich sowohl feld- wie garnisonsdienstunfähig machte. Ich nahm den Abschied. In diesem Jahr meiner aktiven Offiziersdienstzeit erschien mein erster Gedichtband: „Morgue“, bei Alfred Richard Meyer in Wilmersdorf, der im gleichen Jahr, 1912, Marinetti, Carossa, Lautensack mit ihren ersten Veröffentlichungen herausbrachte. Schon diese erste Gedichtsammlung brachte mir von Seiten der Öffentlichkeit den Ruf eines brüchigen Rottes ein, eines infernalischen Snobs und des typischen – heute des typischen jüdischen Mischlings, damals des typischen – Kaffeehausliteraten während ich auf den Kartoffelfeldern der Uckermark die Regimentsübungen mitmarschierte und in Döberitz beim Stab des Divisionskommandanten im englischen Trab über die Kiefernhügel setzte.“
(Aus Lebensweg eines Intellektualisten)
Der Gedichtband: „Morgue“ erregte gewaltiges Aufsehen, das Deutsche Literaturarchiv Marbach titelt:
„… Im März des Jahres 1912 schlugen Gottfried Benns Verse auf das heiße Pflaster von Berlin auf und erregten größtes Aufsehen.“
Und der Journalist Rainer Schmitz schreibt:
„… Wilder Ekel – geiles Grauen – Vor 100 Jahren erschien der Gedichtzyklus „Morgue“ von Gottfried Benn.
„La Morgue“ heißt das berühmte Leichenschauhaus in Paris. Der bis dahin völlig unbekannte Autor und angehende Militärarzt Gottfried Benn beschreibt in seinem gleichnamigen Gedichtzyklus Begebenheiten aus dem Leichenschauhaus – eiskalt und ekelerregend – und traf damit einen Nerv.“
Ein ersoffener Bierfahrer wurde auf den Tisch gestemmt.
Irgendeiner hatte ihm eine dunkelhellila Aster
zwischen die Zähne geklemmt.
Als ich von der Brust aus
unter der Haut
mit einem langen Messer
Zunge und Gaumen herausschnitt,
muss ich sie angestoßen haben, denn sie glitt
in das nebenliegende Gehirn.
Ich packte sie ihm in die Bauchhöhle
zwischen die Holzwolle,
als man zunähte.
Trinke dich satt in deiner Vase!
Ruhe sanft,
kleine Aster!
Bereits vor Erscheinen der Morgue-Gedichte hatte Benn diese im damalig noch nicht so berühmten Kabarett „Schall und Rauch“ vorgetragen. „Es wird berichtet, dass er dabei sogar Applaus hatte, der wohl nicht zuletzt dem paradoxen Gegensatz zwischen dem schüchtern wirkenden, leise sprechenden (Vortragenden und den „nach Schwefel und Absinth“ schmeckenden Gedichten zuzuschreiben ist, schreibt Walter Lennig.
Walter Lennig:
„… Zwischen 1910 und 1912 trat Benn in Verbindung mit Dichtern und Publizisten, die dem Umfeld des Expressionismus zuzuordnen sind, wie Carl Einstein, Alfred Lichtenstein, Franz Pfemfert, Herwarth Walden, und Paul Zech. Noch während seiner Ausbildungszeit werden erste literarische Werke Benns veröffentlicht. Dies sind vier Gedichte im Jahr 1910, ein im selben Jahr in der Zeitschrift „Der Grenzbote“ erschienener Text mit dem Titel „Gespräch“ und der Prosatext „Unter der Großhirnrinde“. „Briefe vom Meer“ im Jahr 1911. In beiden Texten werden in fiktiven Gesprächen zweier Protagonisten die Gegensatzpaare von Intellekt und Seele, Bewusstem und Unbewusstem sowie darauf aufbauende Modelle für die Dichtung diskutiert. Benn wird damit ein Autor, der bald auch in literarischen Zirkeln bekannt und geachtet wird.“
Und Gottfried Benn berichtet einmal:
„… Als ich die „Morgue“ schrieb, mit der ich begann und die später in so viele Sprachen übersetzt wurde, war es abends, ich wohnte im Nordwesten von Berlin und hatte im Moabiter Krankenhaus einen Sektionskursus gehabt. Es war ein Zyklus von sechs Gedichten, die alle in der gleichen Stunde aufstiegen, sich heraufwarfen, da waren, vorher war nichts von ihnen da; als der Dämmerzustand endete, war ich leer, hungernd, taumelnd und stieg schwierig hervor aus dem großen Verfall.“
(Aus Lebensweg eines Intellektualisten)
Noch 1912 – Im Sommer – begegnete er der Dichterin Else Lasker-Schüler, mit der sich darauf auch eine Liebesbeziehung entwickelte.
Wikipedia:
„… Else Lasker-Schüler, eigentlich Elisabeth Lasker-Schüler (geboren am 11. Februar 1869 in Elberfeld (heute Stadtteil von Wuppertal); gestorben am 22. Januar 1945 in Jerusalem), war eine bedeutende deutsch-jüdische Dichterin. Sie gilt als herausragende Vertreterin der avantgardistischen Moderne und des Expressionismus in der Literatur. Sie trat aber auch als Zeichnerin hervor.
Holger Hof schreibt in seinem Buch „Benn – Sein Leben in Bildern und Texten“:
„…Wann genau die exzentrische Dichterin (1869-1945), deren zweite Ehe mit Herwarth Waiden, dem Herausgeber des „Sturm“, im November 1912 geschieden worden war, den 17 Jahre jüngeren Arzt-Dichter kennenlernte, ist nicht bekannt. Die ersten dichterischen Zeugnisse sind Else Lasker-Schülers Gedicht „0, deine Hände“, erschienen im Oktober 1912, sowie ein Brief an Franz Marc vom 25.1.1913. So wenig über die Umstände ihrer Begegnung bekannt ist, so wenig lässt sich Genaues über ihr Verhältnis sagen. Auch das Ende der Beziehung, das im Herbst 1913 auf Hiddensee vollzogen worden sein soll, liegt im Dunkeln. Seine Faszination für die Lasker-Schüler brachte Benn noch einmal in einer zu Ehren der Dichterin am 23. 2.1952 im British Centre gehaltenen Rede zum Ausdruck:
„Es war 1912, als ich sie kennenlernte. Es waren die Jahre des „Sturms“ und der „Aktion“, deren Erscheinen wir jeden Monat oder jede Woche mit Ungeduld erwarteten. Es waren die Jahre der letzten literarischen Bewegung in Europa und ihres letzten geschlossenen Ausdruckswillens. Else Lasker-Schüler war ein knappes Jahrzehnt älter als wir, 1902 war ihr erster Gedichtband „Styx“ bei Axel Juncker erschienen, 1911 erschienen ihre „Hebräische Balladen“ bei Alfred Richard Meyer, der „Styx“ noch jugendlich, die Balladen vollendet in großem Stil. Frau Else Lasker-Schüler wohnte damals in Halensee in einem möblierten Zimmer, und seitdem, bis zu ihrem Tode, hat sie nie mehr eine eigene Wohnung gehabt, immer nur enge Kammern, vollgestopft mit Spielzeug, Puppen, Tieren, lauter Krimskrams. Sie war klein, damals knabenhaft schlank, hatte pechschwarze Haare, kurzgeschnitten, was zu der Zeit noch selten war, große rabenschwarze bewegliche Augen mit einem ausweichenden unerklärlichen Blick. Man konnte weder damals noch später mit ihr über die Straße gehen, ohne dass alle Welt stillstand und ihr nachsah: extravagante weite Röcke oder Hosen, unmögliche Obergewänder, Hals und Arme behängt mit auffallendem, unechtem Schmuck, Ketten, Ohrringen, Talmiringen an den Fingern, und da sie sich unaufhörlich die Haarsträhnen aus der Stirn strich, waren diese, man muss schon sagen: Dienstmädchenringe, immer in aller Blickpunkt. Sie aß nie regelmäßig, sie aß sehr wenig, oft lebte sie wochenlang von Nüssen und Obst. Sie schlief oft auf Bänken, und sie war immer arm in allen Lebenslagen und zu allen Zeiten. Das war der Prinz von Theben, Jussuf, Tino von Bagdad, der schwarze Schwan. Und dies war die größte Lyrikerin, die Deutschland je hatte.“
Mutter
Ich trage dich wie eine Wunde
auf meiner Stirn, die sich nicht schließt.
Sie schmerzt nicht immer. Und es fließt
das Herz sich nicht draus tot.
Nur manchmal plötzlich bin ich blind und spüre
Blut im Munde.
Zum Jahr 1912 gehört auch der Tod der Mutter – Caroline Benn starb am 9.4.1912 an den Folgen einer Krebserkrankung.
In einem Brief an Leo Königsmann vom 2. Mai 1912 schreibt Gottfried Benn:
„… Gleich nach Ostern ist dann meine Mutter endlich gestorben. Sie starb den schwersten Tod, den ich gesehen habe, wochenlang. Sie bekam die letzten zwei Monate täglich etwa nur soviel Luft, wie unsereiner stündlich zu sich nimmt. An Liegen war gar nicht zu denken. Sie konnte nur noch in einer bestimmten Stellung sitzen, bei der noch Luft durchging. Und Tag und Nacht musste ihr jemand den Kopf halten, weil sie zu schwach war, es zu tun und weil er sonst abgeknickt wäre. Die ganze eine Lunge war voll Metastasen, desgl. Leber, u.s.w. gar nicht zu beschreiben. Und sie selber und alle wussten, dass sie aufgegeben war und nicht mehr zu helfen. So war in diesem Sinne ihr Tod jedenfalls ein Glück. Aber einsamer und verwaister fühlt man sich nun doch als früher. Wenn es auch schließlich nur das war, dass sie manchmal sagte, man sollte sich neue Nachthemden kaufen, oder sie einem neue Strümpfe schickte, e; war doch jedenfalls Liebe, die nicht mal Dank erwartete und glücklich war über jedes gute Wort. Und die eben da war, wenn man sie brauchte.“
Und am 11. April 1937 – 25 Jahre später – in einem Brief an Elinor Büller:
„… Ich habe in diesen Tagen so an meine Mutter gedacht, die sich zum 2. Mal nicht mehr operieren lassen wollte, da es zu teuer war und sie das nicht für sich ausgeben wollte oder konnte bei 7 Kindern. So traurig alles. In was für ein Leben sind wir gestellt u. von nirgends ein Hinweis, was es eigentlich bedeutet.“
Wikipedia schreibt:
„… Als Benns Mutter an Brustkrebs litt, verbot sein Vater dem schon approbierten Sohn aus religiösen Gründen – da der Schmerz gottgewollt sei – sogar die Behandlung der Mutter mit schmerzlindernden Morphinen. Dies führte zu einem schweren Zerwürfnis zwischen Benn und seinem Vater, und Benn unterbrach den Kontakt für die nächsten Jahre vollständig. Dieser Gesamtkomplex eines Vater-Sohn-Konfliktes ist exemplarisch in Benns zwischen 1912 und 1917 geschriebenem und 1922 veröffentlichtem Gedicht „Pastorensohn“ zu beobachten, in dem er – bis zur Kastration des Vaters gehend – mit diesem radikal abrechnet:
(…) Verfluchter alter Abraham,
zwölf schwere Plagen Isaake
haun dir mit einer Nudelhacke
den alten Zeugeschwengel lahm.
Im Gedichtzyklus „Söhne“ von 1913 scheint die Kritik am Vater dann in einem im Expressionismus durchaus üblichen Gesamtzusammenhang eines historischen und überindividuellen Generationenkonflikts erneut auf (Gedicht „Schnellzug“):
(…) Von meinen Schultern blättern die Gefilde,
Väter und Hügelglück –;
Die Söhne wurden groß. Die Söhne gehn
nackt und im Grame des entbundnen Bluts
die Stirn aufrötet ein Abgrundglück.
Im Sommer 1913 lernt Benn auf der Insel Hiddensee eine Frau kennen, über die er 1928 in einem Brief schreibt:
„… Eine ganz charmante elegante Dame von Welt, viel gereist, mir weit überlegen, 8 Jahre älter als ich, sehr wohlhabend, aus einer Dresdner Patrizierfamilie, 2 Onkel, Brüder ihres Vaters, aktive Generäle, einer Excellenz u sächsischer Ministerpräsident, königlicher“.
Walter Lennig schreibt über diese Beziehung:
„… Wieder verliebt er sich in eine Frau, die älter ist als er. Edith Osterloh war acht Jahre älter, schlank, brünett, eine sehr gepflegte, elegante Erscheinung. Der junge Arzt lernte sie auf Hiddensee kennen, der schönen Ostseeinsel, schon damals ein bekanntes Sommerbad, mit Vorzug aufgesucht von Künstlern und Schauspielern; Gerhart Hauptmann ließ sich später sogar ein Haus dort bauen. Aber Gottfried Benn lernte nicht Hauptmann kennen, versuchte es auch gar nicht (er machte sich nie viel aus ihm), er zog überhaupt sein Leben lang hübsche Frauen jedem Umgang mit männlichen Berühmtheiten vor. Er lernte also Edith Osterloh, seit kurzem Witwe und Mutter eines kleinen Knaben, kennen, es wurde eine herzliche Bekanntschaft und recht bald mehr als eine Bekanntschaft. Man sah sich in Berlin und in München, wo die 35 jährige Witwe mit ihrem kleinen Sohn damals lebte. Man schrieb sich natürlich auch, aber von der damaligen wie von der späteren Korrespondenz mit ihr hat sich nichts erhalten.“
Wenige Monate vor Ausbruch des I. Weltkrieges fährt Benn von März bis Juni 1914 als Schiffsarzt auf dem Doppelschrauben-Postdampfer Graf Waldersee nach New York. Nach seiner Rückkehr aus New York siedelt er nach München über, nur unterbrochen durch Vertretungen in den Lungenheilanstalten in Schömberg (Schwarzwald) und Bischofsgrün (Thüringen), die Universitätsklinik Würzburg sowie die Hautpoliklinik der Universität in München.
Über München schreibt er in einem Brief an Hans Grassmann sehr viel später, nämlich im Juni 1951:
„… München! Ich lernte es 1914 im Sommer kennen, und der Eindruck war überwältigend für mich als Norddeutschen, der weder Romanisches noch Barock noch Italienisches bis dahin gesehen hatte. Die Erinnerung an diese drei Monate München lebt unvergesslich in mir. Am 1. August 1914 fuhr ich mit dem letzten Zug, der abfuhr, nach Berlin zurück, wo ich bei den Pionieren in Spandau zur Mobilmachung musste.“
„Am 30.7.1914 heirateten sie standesamtlich, nachdem Benn, mit dem Gestellungsbefehl im Gepäck, aus Bischofsgrün noch einmal nach München zurückgekehrt war. Edith brachte ihren Sohn Andreas (1912-1930), den Benn später adoptierte, mit in die Ehe. Zwei Tage später zog er in den I. Weltkrieg, so Holger Hof.
Weihnachten 1914 besucht ihn seine Frau und neun Monate später, am 8. September 1915 kommt Tochter Irene Michaele in Hellerau bei Dresden auf die Welt. In einem Artikel lese ich: „Vater Benn jedoch, zu dieser Zeit Militärarzt in Brüssel, hatte sich mittlerweile in eine literarische Figur, in die Nele aus de Costers „Ulenspiegel“, verliebt. Während eines Urlaubs ließ er im Kirchenbuch zu den zwei Namen seiner Tochter noch einen dritten, Nele, nachtragen.“
Walter Lennig:
„… (sie) ist das erste und einzige Kind Gottfried Benns, es gibt keine anderen und zwar nicht, wie kluge Leute schrieben, weil er „bionegativ“ war, sondern weil er zeitlebens kleine Kinder nicht ausstehen konnte. Kinder stören, Kinder kosten Geld, bringen Unruhe in den privaten Alltag. Man muss dazu wissen, dass Gottfried Benn um eine nahezu pedantische Regelmäßigkeit des Tagesablaufs bemüht war, ein festes Stundengerüst war ihm am liebsten und wohl auch nötig und unentbehrlich. Störungen, Eindrücke, Unangenehmes mied er, soweit nur angängig. Was ihn trotzdem erreichte, rechnete er dann stoisch zu den Unvermeidlichkeiten und war um Fassung und Haltung bemüht.
Er sah seine Tochter erst im folgenden Jahr, als er einen kurzen Urlaub in Hellerau verlebte.“
Zurück zu Gottfried Benn, Walter Lennig schreibt über den Beginn seiner Dienstzeit:
„… Und dann zieht der erst vor zwei Jahren aus dem aktiven Dienst Entlassene wieder die Uniform mit den Äskulap-Stäben an. Ein „Schicksalsrausch“ packt ganz Deutschland, auch zwei Männer, die in jenen Tagen im gleichen München lebten: Rainer Maria Rilke und Thomas Mann. Von dem ersten stammt jenes Wort am Ende des Krieges, das Benn so oft zitierte: „Wer spricht von Siegen – Überstehn ist alles!“ Von dem anderen das erwähnte Wort „Schicksalsrausch“ – auch darauf gilt es sehr viel später noch zurückzukommen.
Gottfried Benn wird nach Belgien beordert, war bis fast zum Ende des Jahres im Zuge der Besetzung des Landes in verschiedenen Verwendungen, auch in Feldlazaretten tätig. Anfang Oktober ist er bei den Truppen General v. Beselers, die Antwerpen belagern. Als am 8. Oktober über die zerstörten Forts von allen Seiten zum Sturm angesetzt wird, lässt sich der junge Oberarzt von der allgemeinen Begeisterung mitreißen und kämpft bei der Erstürmung in vorderster Linie. Dafür erhält er als einer der ersten Sanitätsoffiziere des Heeres das EK. Bald darauf wird er zur Gouvernementsverwaltung kommandiert und bleibt, von kurzen Dienstreisen im Etappengebiet abgesehen, drei Jahre in Brüssel. Es wurden für den Dichter Benn entscheidende Jahre: er selbst hat das oft bezeugt, schriftlich und mündlich und auf eine Weise, dass man annehmen muss, es sei, wenigstens streckenweise, auch eine glückliche Zeit gewesen — glücklich im Sinne von Ungestörtsein und in Übereinstimmung mit sich selbst.“
Und Gottfried Benn schreibt über die Brüsseler Zeit:
„… Was ich an Literatur verfasste, schrieb ich, mit Ausnahme der „Morgue“, die 1912 bei A. R. Meyer erschien, im Frühjahr 1916 in Brüssel. Ich war Arzt an einem Prostituiertenkrankenhaus, ein ganz isolierter Posten, lebte in einem konfiszierten Haus, elf Zimmer, allein mit meinem Burschen, hatte wenig Dienst, durfte in Zivil gehen, war mit nichts behaftet, hing an keinem, verstand die Sprache kaum; Strich durch die Straßen, fremdes Volk; eigentümlicher Frühling, drei Monate ganz ohne Vergleich, was war die Kanonade an der Yser, ohne die kein Tag verging, das Leben schwang in einer Sphäre von Schweigen und Verlorenheit, ich lebte am Rande, wo das Dasein fällt und das Ich beginnt. Ich denke oft an diese Wochen zurück; sie waren das Leben, sie werden nicht wiederkommen, alles andere war Bruch. (Epilog und Lyrisches Ich)“
1917, im schwersten Kriegsjahr, erschien Benns neue Gedichtsammlung „Fleisch“ im Verlag A. R. Meyer.Im Spätsommer wurde Gottfried Benn demobilisiert, also aus dem Kriegszustand in Friedensverhältnisse überführt – auf gut Deutsch aus der Armee entlassen, Wikipedia schreibt:
„… Im Spätsommer 1917, mehr als ein Jahr vor Kriegsende, wurde Benn demobilisiert. Die Gründe dafür sind nicht mehr feststellbar. In Berlin arbeitete er dann für einige Wochen als Assistenzarzt für Dermatologie an der Charité, bevor er am 10. November 1917 seine eigene Praxis für Haut- und Geschlechtskrankheiten in der Belle-Alliance-Straße 12 (heute Mehringdamm 38), in der er auch eine Wohnung hatte, eröffnete. Benns Frau und Tochter wohnten allerdings in einer Familienwohnung in der Passauer Straße 19 im Bayerischen Viertel.“
Tochter Nele Poul Soerensen erinnert sich:
„… Aber zurück in die Passauer Straße, in jene . Zeit, als ich eben den Arzt und Vater entdeckt hatte. Da lagen wir nun abends, mein Bruder Andreas und ich, in unseren Betten. Er war drei Jahre älter als ich. Schwester Emmy hatte uns vor dem Lichtausmachen gesagt, dass der „schwarze Mann“ käme und uns holen würde, falls wir im Dunkeln redeten. Das taten wir natürlich, und auf dem Balkon vor unserem Zimmer hörten wir dann plötzlich die grausige Stimme des schwarzen Mannes. Wir schrien auf. Unsere Eltern kamen hinzu, sammelten erst einmal all ihren Mut, um der strengen, aber so tüchtigen Schwester Emmy diese Art der Erziehung zu verbieten, und trösteten nachher uns.“
Und nochmal Wikipedia:
„… Benns Tochter erinnerte sich später, dass der Vater ab und an, aber wohl nicht oft dort anwesend war. Benn brauchte diese Trennung für seine Unabhängigkeit, seine literarische Produktion, aber auch für seine erotischen Abenteuer. So hatte Benn ab 1921 ein Verhältnis mit der zwölf Jahre jüngeren Bibliothekarin Gertrud Zenzes und in den zwanziger Jahren wurde ihm eine Liaison mit der Gesellschaftsfotografin Frieda Riess nachgesagt, der er auch ein Gedicht widmete Die überlieferten Briefe Benns aus dieser Zeit deuten an, dass er sich damals seelisch und auch körperlich nicht sehr wohl fühlte. Dazu mögen die wenig glückliche Ehe, sein Gelangweiltsein durch die alltäglichen beruflichen Aufgaben, aber auch eine allgemeine Depressivität beigetragen haben. Auch lief seine Arztpraxis wirtschaftlich nicht sonderlich gut.“
Gertrud Zenzes beschreibt er am 29. Dezember 1921 in einem Brief seinen Gemütszustand:
„… Mir geht es heute miserabel. Vollkommen dezentralisiert, überarbeitet, verludert. Es ist kein Leben dies tägliche Schmieren u. Spritzen u. Quacksalbern u. abends so müde sein, dass man heulen könnte. Aber wenn ich mir vorstelle, was ich machen sollte, weiß ich es auch nicht. Den Laden verkaufen u. fortgehn! Aber wohin? In Frage kommt nur ein warmes Land, aber der Süden hat Devisen, die nicht bezahlbar sind. Oder die Zahl der Sprechstunden einschränken, aber entweder hat man eine Praxis, dann kann man sie nicht beschränken, ohne sie ganz zu ruinieren, oder man hat keine. Oder die ganze Passauerstraße zum Deibel jagen, aber eine Tochter kann man nicht zum Deibel jagen, wenngleich – ja, wenngleich, aber immerhin. Oder eine Arbeit anfangen, ein Stück, eine Novelle, aber wozu, für wen, worüber, alles so erledigt, ausgepowert, abgeknabbert u. schließlich kotzt man vor sich selber, vor der Methode seiner eigenen Gedanken, seiner produktiven Technik, kurz: der Mechanik des Genialen. Wobei ich nicht sage, was ich betonen möchte, dass ich etwa Geniales schriebe. Ich meine: auch das Spontane ist methodisch u. Prometheus pedantisch mit seinen Geiern u. sonstigen Ungeziefer u. eine unerträgliche Figur. Und Arbeiten an seinen eigenen Sachen macht in einer Weise mange e des Morgens, verdirbt den Appetit, belegt die Zunge, ruiniert den Magen, macht mürrisch u. depressiv, wie es sich einer nicht leisten kann, der von morgens 8 Uhr an höflich u. nichtssagend seine Schmutzfinken von Patienten empfangen muss.“
Das intime Verhältnis mit Gertrud Zenzes endete bereits im September 1922, ihre Freundschaft währte bis zu Benns Tod.
Etwa ab 1922 gibt der Berliner Verleger Erich Reiss Gottfried Benn heraus („Gesammelte Schriften“) und daraus wird eine lange Freundschaft. Reiss ist übrigens auch der Verleger Klabunds und er verlegt neben Klassikern auch zahlreiche herausragende Autoren der damaligen Zeit, genannt seien Hugo von Hofmannsthal, Toller, André Gide, Richard Huelsenbeck, Maurice Maeterlinck, Hugo Ball und Johannes R. Becher.
Erich Caesar Reiß
Erich Caesar Reiß – geboren am 1. Februar in Berlin, gestorben am 8. Mai 1951 in New York – war Inhaber einer der führenden Literaturverlage Deutschlands, indem auch von 1909 bis Mitte 1912 die „Die Schaubühne“, eine Theaterzeitschrift erschien.
Wikipedia schreibt:
„… Erich Reiß, der Sohn des Fabrikanten Alexander Reiss, gründete im Alter von 21 Jahren am 23. November 1908 mit einem Teil des geerbten Vermögens den gleichnamigen Erich Reiß Verlag. Die erste Publikation des Verlages war Leo Greiners Drama „Der Herzog von Boccanera“ . In den nächsten Jahrzehnten erschienen auch zahlreiche weitere Publikationen Greiners im Reiß-Verlag. (…)
Neben literarischen Werken publizierte er auch historische und politische Darstellungen. (…) Neben der „Weltbühne“ erschienen weitere führende Zeitschriften in seinem Verlag, so die „Tribüne der Kunst und der Zeit“, „Der Anbruch“, „Styl“ und „Faust und die Zukunft.“ Veruntreuungen durch einen seiner Angestellten brachten den Verlag 1926 in finanzielle Schwierigkeiten, von denen er sich bis zu seiner Beschlagnahmung 1936 nicht mehr erholen sollte.“
Ab 1934 publizierte der Verlag nur noch Bücher jüdischer Autoren.
Wikipedia:
„… Erich Reiß wurde 1938 im Zuge des Novemberpogroms für mehrere Wochen im KZ Sachsenhausen interniert, bevor er auf Fürsprache der dänischen Schriftstellerin Karin Michaëlis und von Selma Lagerlöf freikam. Anschließend emigrierte Reiß zunächst nach Schweden und dann in die USA. Dort arbeitete er als Theaterkritiker und heiratete 1940 die bereits 1935 emigrierte Fotografin Lotte Jacobi, in deren Fotostudio er später mitwirkte.
Erich Reiß starb 1951 im Alter von 64 Jahren in New York.“
Im selben Jahr, am 19. November 1922, stirbt Benns Ehefrau Edith Osterloh in Jena nach einer Gallenblasenoperation.
Gottfried Benn schreibt an Tochter Nele am 19. November 1947:
„… Es ist heute der Todestag von Mami und es ist heute 25 Jahre her, dass sie starb, daran denke ich sehr.
Ich kam am Morgen in Jena an, da mich Tante Ada am Abend vorher angerufen hatte, um mir zu sagen dass es sehr schlecht stünde und ich fuhr die Nacht hin. Ich sprach Mami den ganzen Tag noch und saß an ihrem Bett, sie litt nicht, hatte keine Schmerzen und wusste nicht, dass sie starb, aber wir wussten, dass es geschehen wurde. Du spieltest in Tante Adas Wohnung mit Evi, Mami lag ja in einer Klinik. Sie war diesen letzten Tag so überaus freundlich und, ich möchte sagen, höflich und ritterlich mit mir, fragte, ob ich zu essen bekäme und gut untergebracht wäre und dachte nicht im Geringsten an sich selbst -, so war sie immer gewesen. Abends um 10 Uhr starb sie in meinen Armen, Mimm und Tante Ada waren dabei. Ich fuhr dann in der Nacht nach Berlin zurück, da ich es in Jena nicht ausgehalten hätte und kam dann mit Onkel Stephan am 21. zurück und am 22. war die Beerdigung. Abends nahm ich dich mit ins Hotel zu mir u. du trugst einen Umhang und eine kleine Kapuze, als wir beide von Tante Adas Wohnung im Dunkel und Regen in das Hotel wanderten. Es war ein sehr schlimmer Tag u. oft sehe ich noch Alles vor mir. Später suchte ich auf dem Kirchhof eine andere Grabstelle, die schöner lag, freier, nicht so zwischen all den andern Gräbern, und wir betteten den Sarg um. Ich weiß nicht, ob du das alles weißt und darum schreibe ich dir heute davon.“
Die Kinder Nele und Andreas blieben wohl zunächst in Jena und Benn „feierte“ dort mit ihnen Weihnachten. Viel anfangen konnte er mit der Tochter nicht und so schickte er sie in das großelterliche Pfarrhaus zu seinem Bruder Stephan nach Sellin.
Holger Hof schreibt über die Zeit nach dem Tod von Edith Osterloh:
„… Nach der Beerdigung Edith Benns lernte Benn auf der Rückfahrt von Jena nach Berlin die dänische Sängerin Ellen Overgaard (1881-1946) kennen, eine Bekannte seiner verstorbenen Frau. Verheiratet mit dem dänischen Industriellen Christen Overgaard, jedoch kinderlos, gastierte sie in jenen Jahren u.a. in Kopenhagen, Berlin, Essen, Bayreuth und Wien.
Die Monate zwischen dem Tod von Neles Mutter und dem Entschluss Benns, auf Ellen Overgaards Vorschlag einzugehen, Nele zu sich und ihrem Mann nach Kopenhagen zu nehmen, verbrachte Nele im Pfarrhaus bei Benns Bruder Stephan in Sellin.“
Und Nele beschreibt ihren Umzug so:
„… Im Frühjahr 1923 aber wurde die Zahl der Kilometer zwischen meinem Vater und mir bedeutend größer. Eines schönen Tages im Monat April reiste ich mit einer dänischen Dame, Frau Ellen Overgaard, nach Kopenhagen. Ich war schnellstens aus Sellin geholt worden, und mein Vater winkte froh, als wir uns auf dem Bahnsteig in Berlin von ihm verabschiedeten.“
Holger Hof:
„… Benn besuchte seine Tochter bis 1934 fast jedes Jahr: „Ich fahre nach Dänemark in ein wundervolles Haus am Oeresund. In diesem tropischen Küstenstrich, lombardisch fruchtbar, blau von Lilien und Meer, in einem hohen Gartenpavillon tags vor den Fähren nach Schweden und nachts unter den Feuern und Lichtern alter Schiffertürme, rings nur Welle und Spiel..“« So lautete die Antwort Benns auf die Rundfrage Paul A. Ottes vom „Berliner Tageblat“t, wohin ihn seine Reise im Sommer 1929 führte.
Im Jahr darauf fuhr Benn wieder zu seiner Tochter, diesmal jedoch aus traurigem Anlaß: Neles Bruder Andreas war am 2. 7.1930 an einer Lungenkrankheit gestorben, und Benn fuhr am 12. für zehn Tage zu seiner Tochter.“
Nele Benn machte eine glänzende Karriere als Journalistin und war u.a. Chefredakteurin der größten dänischen Frauenzeitschrift „Soendags-B.T.“ und arbeitete für die dänische Tageszeitung „Berlinske Tidende“ als Korrespondentin in Berlin.
In erster Ehe war sie mit Preben Topsoe verheiratet. 1944 wurden ihre Zwillinge Tine und Vilhelm geboren. Ihr zweiter Mann war Poul Soerensen, Innenminister in Dänemark.
Nach dem Kriege besuchte Nele als Korrespondentin das zerbombte Berlin und 1947 traf sie Klaus Mann, der sich in Kopenhagen aufhielt und versuchte ihm zu erklären, dass ihr Vater kein Nazi war. Benn war über das Treffen empört, „ich bin mit meiner Lage einverstanden und unternehme selber keinen Schritt, um die Situation zu ändern“.
In Wiesbaden erscheint ihr Buch nach dem Tode des Vaters am 7. Juli 1956 in Berlin: „Mein Vater Gottfried Benn“ – die Aufarbeitung des Verhältnisses von Vater und Tochter. „Oh, mein Papa“, seufzt Nele über ein ganzes Buchkapitel hinweg versöhnlich und zieht das Resümee: „Er war ein schwieriger Mann, nicht immer ein netter Mann, aber kein gemeiner,“ lese ich in einem Artikel.
2012 verstirbt Nele Benn.
Doch noch einmal zurück in die Zeit des I. Weltkrieges: Im Februar 1915 erscheint die erste „Rönne Novelle“ von Gottfried Benn, lese ich in einer anonym veröffentlichten Arbeit, aber er schreibt in einem Brief an den Schweizer Literaturwissenschaftler Ernst Nef: „Das einzige, was ich sicher weiß, ist, dass das Prosastück „Gehirne“ von mir im Juli 1914 verfasst wurde…. Dieser Juli ist also die Geburtsstunde von Rönne.“ Es folgen „Die Eroberung“, „Die Reise“, „Die Insel“ und „Der Geburtstag“.
Wer aber ist dieser fiktive Dr. Werff Rönne – Arzt in einem Hurenhaus? Gottfried Benn beschreibt ihn:
„… Allmählich war er ein Arzt über neunundzwanzig Jahre geworden und sein Gesamteindruck war nicht darnach, Empfindungen besonderer Art zu erwecken.
Aber so alt er war, er fragte sich dies und das. Ein Drängen nach dem Sinn des Daseins-warf sich ihm wiederholt entgegen: er erfüllte ihn: der Herr, der rüstig schritt, den Schirm unter dem Arm; die Hökerin, die vor dem Flieder stand, der Markt war aus, im Abendwehn; der Gärtner, der alle Namen wusste: Kirschlorbeer und Kakteen und dem die rote Beere im toten Busch vorjährig war? Aus der norddeutschen Ebene stammte er. In südlichen Ländern natürlich war der Sand leicht und lose; ein Wind konnte — das war nachgewiesen — Körner um die ganze Erde tragen; hier war das Staubkorn, groß und schwer.
Was hatte er erlebt: Liebe, Armut und Röntgenröhren; Kaninchenställe und kürzlich einen schwarzen Hund, der stand auf einem freien Platz, bemüht um ein großes rotes Organ zwischen den Hinterbeinen hin und her, beruhigend und gewinnend; herum standen Kinder, Blicke von Damen suchten das Tier, halbwüchsige fugend wechselte die Stellung, den Vorgang im Profil zu sehen. Wie hatte er das alles erlebt: er hatte Gerste eingefahren von den Feldern, auf Erntewagen, und das war groß: Mandel, Kober und Kimme vom Pferd. Dann war der Leib eines Fräuleins voll Wasser und es galt Abfluss und Drainage. Aber über allem schwebte ein leises zweifelndes Als ob: als ob Ihr wirklich wäret Raum und Sterne.
Und nun? ein grauer nichtssagender Tag würde es sein, wenn man ihn begrub. Die Frau war tot; das Kind weinte ein paar Tränen. Es war wohl Lehrerin und musste abends noch in Hefte sehen. Dann wäre es aus. Beeinflussung von Gehirnen durch und über ihn zu Ende. Es trat in ihr Recht die Erhaltung der Kraft.
Wie hieß er mit Vornamen? Werff.
Wie hieß er überhaupt? Werff Rönne.
Was war er? Arzt in einem Hurenhaus.
Was schlug die Uhr? Zwölf. Es war Mitternacht. Er wurde dreißig Jahre. In der Ferne rauschte ein Gewitter. In Maiwälder brach die Wolke auf.
Nun ist es Zeit, sagte er sich, dass ich beginne. In der Ferne rauscht ein Gewitter, aber ich geschehe. In Maiwälder bricht die Wolke auf, aber meine Nacht. Ich habe nördliches Blut, das will ich nie vergessen. Meine Väter fraßen alles, aus Trögen Und Stall. Aber ich will mich, sprach er sich Mut zu, auch nur ergehen. Dann wollte er sich etwas Bildhaftes zurufen, aber es misslang. Dies wieder fand er bedeutungsvoll und zukunftsträchtig: vielleicht sei schon die Metapher ein Fluchtversuch, eine Art Vision und ein Mangel an Treue.“
Aus: Der Geburtstag
Walter Lennig bestätigt das Erscheinungsjahr 1914 von „Gehirne“ als erstes Stück, in dem Dr. Werff Rönne erscheint, es beginnt:
„… Rönne, ein junger Arzt, der früher viel seziert hatte, fuhr durch Süddeutschland, dem Norden zu. Er hatte die letzten Monate tatenlos verbracht; er war zwei Jahre lang an einem pathologischen Institut angestellt gewesen, das bedeutet, es waren ungefähr zweitausend Leichen ohne Besinnen durch seine Hände gegangen, und das hatte ihn in. einer merkwürdigen und ungeklärten Weise erschöpft, fetzt saß er auf einem Eckplatz und sah in die Fahrt: es geht also durch Weinland, besprach er sich, ziemlich flaches, vorbei an Scharlachfeldern, die rauchen von Mohn. Es ist nicht allzu heiß; ein Blau flutet durch den Himmel, feucht und aufgeweht von Ufern; an Rosen ist jedes Haus gelehnt, und manches ganz versunken. Ich will mir ein Buch kaufen und einen Stift; ich will mir jetzt möglichst vieles aufschreiben, damit nicht alles so herunterfließt. So viele fahre lebte ich, und alles ist versunken. Als ich anfing, blieb es bei mir? Ich weiß es nicht mehr.“
Gottfried Benn interpretiert die „Rönne Novellen“ so:
„… Eine Art innerer Konzentration setzte ich in Gang, ein Anregen geheimer Sphären, und das Individuelle versank, und eine Urschicht stieg herauf, berauscht, an Bildern reich und panisch. Periodisch verstärkt, das Jahr 1915/16 in Brüssel war enorm, da entstand Rönne, der Arzt, der Flagellant der Einzeldinge, das nackte Vakuum der Sachverhalte, der keine Wirklichkeit ertragen konnte, aber auch keine mehr erfassen, der nur das rhythmische Sichöffnen und Sichverschließen kannte, das fortwährend Gebrochene des inneren Seins und der, vor das Erlebnis von der tiefen, schrankenlosen mythenalten Fremdheit zwischen den Menschen und der Welt gestellt, unbedingt der Mythe und ihren Bildern glaubte“
Aus Lebensweg eines Intellektualisten
Um in Brüssel zu bleiben, Walter Lennig schreibt über diese Zeit:
„… Es entstanden in den Brüsseler Jahren nicht nur die Rönne-Stücke und eine Handvoll drängender Gedichte, sondern auch einige merkwürdige Dramen, wie „Der Vermessungsdirigent“ und „Etappe“ (nur diese beiden hat Benn noch einmal nach 1945 in dem Band „Frühe Lyrik“ und „Dramen“ erscheinen lassen (Limes Verlag, 1952). Man sollte diese Dramen wichtiger nehmen, als es bisher geschehen; sie enthalten manches, was anderswo nicht oder nicht so deutlich steht.“
In den 20 er Jahren entstanden etliche neue Gedichte, sowie die Essays „Das moderne Ich“ (1920) und der Prosatext „Das letzte Ich“.
Und über diese 20 er Jahre schreibt Holger Hof:
„… Das Jahr 1927 stellte für Gottfried Benn in vielerlei Hinsicht einen Wendepunkt dar: Im Februar traf er die Schauspielerin Uli Breda, mit der er bis zu ihrem Selbstmord zwei Jahre später fest liiert war. Bei ihrer Beerdigung lernte er deren Kollegin Elinor Büller kennen, ein Jahr darauf eine weitere Schauspielerin: Tilly Wedekind. Beide Frauen waren seine Geliebten, ohne dass eine von der anderen wusste.
Im Mai 1927 erschien im Verlag der Schmiede der Band „Gesammelte Gedichte“, und bereits wenige Wochen später war Benn das erste Mal im Radio zu hören. Benn erkannte früh die Chancen, die ihm das neue Medium bot. (…) Ebenfalls ins Jahr 1927 fällt die erste englische Prosaübersetzung eines Textes von Benn in der von Eugen Jolas in Paris herausgegebenen Zeitschrift „transition“.
In Davos stirbt am 14. August 1928 sein Freund Klabund – Gottfried Benn hält am Nachmittag des 9. September die Totenrede. Eine sehr bewegende Rede oben auf dem Bergfriedhof in Crossen, wo das Ehrengrab lag. Am Ende des II. Weltkrieges wurde es wie alle anderen Gräber auch eingeebnet.
Und im selben Jahr – 1929 – wird Gottfried Benn in den Berliner PEN-Club aufgenommen.
Wikipedia über den Autorenverband:
„…Der P.E.N. ist einer der bekanntesten internationalen Autorenverbände. Er wurde am 5. Oktober 1921 von der englischen Schriftstellerin Catherine Amy Dawson Scott in London gegründet. Der Name P.E.N. war ursprünglich die Abkürzung für Poets, Essayists, Novelists („Dichter, Essayisten, Romanautoren“). Seitdem Vertreter aller schreibenden Berufe Mitglieder sein können, hat der Name nicht mehr diese Bedeutung. Er spielt aber nach wie vor auf das englische Wort pen („Schreibfeder“) an. (…)
Auf dem Internationalen P.E.N.-Kongress in Budapest 1932 eröffnete John Galsworthy die Vollversammlung mit einer fünf Punkte umfassenden Erklärung, in der er betonte, der P.E.N. und seine Mitglieder hätten sich jeglicher Art von Propaganda, politischer Einflussnahme, Kriegstreiberei und Einmischung in innerstaatliche Konflikte zu enthalten.(…)
Nur wenige Monate später, im April 1933, kurz nach der Machtübernahme Hitlers, wurde in der deutschen Presse vermeldet, der deutsche P.E.N. habe in einer Generalversammlung dem „einmütigen Willen“ Ausdruck gegeben, „fortan im Gleichklang mit der nationalen Erhebung zu arbeiten“. Der vormalige Präsident des Deutschen P.E.N., Alfred Kerr, war bereits im Januar 1933 aus Deutschland geflohen und der neue Vorstand des deutschen P.E.N., der vor allem aus Mitgliedern des Kampfbundes für deutsche Kultur bestand, wie etwa Hanns Johst und Hans Hinkel, machte sich unverzüglich daran, Juden und Kommunisten aus ihrem Verband auszuschließen. (…)
Der deutsche P.E.N. wurde 1947 neu gegründet, spaltete sich jedoch bereits 1951 wieder in die Sektion der Bundesrepublik und die Sektion „Ost und West“, später DDR. Erst im Oktober 1998 gelang es nach mühsamen Verhandlungen und unter Protesten ostdeutscher Dissidenten die beiden Gruppen wieder zu einem Verband zusammenzufügen. Heute engagiert sich der deutsche P.E.N. mit dem Programm „Writers in Exile“ vor allem für verfolgte Autoren und knüpft damit ausdrücklich an die Geschichte des deutschen Exils an.“
Und nochmal Holger Hof:
„… In den folgenden Jahren unternahm Benn, eingeladen vom befreundeten Galeristen Franz M. Zatzenstein, vier größere Reisen nach Frankreich. Eine dieser Reisen führte ihn im August 1929 in die Redaktion der neu gegründeten Zeitschrift „Bifur“, für die er bis ins Jahr 1931 als „Deutschland Korrespondent“ tätig war.
Der literarische Außenseiter stand in regelmäßigem Kontakt mit den Kollegen Alfred Döblin, Bertolt Brecht und dem befreundeten Oskar Loerke. Benns literarische Karriere steuerte ihrem bisherigen Höhepunkt entgegen. Allein 1930 sprach er zehnmal im Radio. Er las in der Akademie der Künste, (…) veröffentlichte Aufsätze in der „Neuen Rundschau“, im „Querschnitt“ und in Berliner Tages-Zeitungen. Ende des Jahres fasste das bei Kiepenheuer erschienene Buch „Fazit der Perspektiven“ die essayistische Arbeit dieses Jahres zusammen.“
Am 1. Februar 1929 begeht die Schauspielerin Lili Breda Selbstmord mit der Benn befreundet war. An Gertrud Zenzes schreibt er am 24 Februar:
„… „Meine Freundin, die ich ja im Grund unverändert liebte, tief liebte, wie in den Jahren des Altwerdens u. der schwindenden Gefühlsfähigkeit, ist am I.II. freiwillig aus dem Leben geschieden. Auf grauenvolle Art. Sie stürzte sich hier von ihrer Wohnung im 5.Stock auf die Straße und kam tot dort an. Sie rief mich an, daß sie es tun würde. Ich jagte im Auto hin, aber sie lag schon zerschmettert unten u. die Feuerwehr hob den gebrochenen Körper auf.”
Am 21. November 1931 wird das Oratorium „Das Unaufhörliche“ von Paul Hindemith in der Berliner Philharmonie unter Leitung von Otto Klemperer uraufgeführt. Gottfried Benn schrieb die Texte und Walter Lennig schreibt:
„… Zum weiteren Schicksal des Oratoriums: die Uraufführung im November 1931 wurde zwar verhältnismäßig freundlich aufgenommen und wenigstens von der Berliner Presse mit Respekt besprochen, aber das Werk vermochte sich in dieser bereits sehr aufgewühlten, von politischen Leidenschaften geschüttelten Zeit nicht mehr durchzusetzen.“
Im Januar 1932 wurde Benn durch Zuwahl in die Preußische Akademie der Künste, Sektion Dichtkunst, aufgenommen, und in der „Neuen Rundschau“ wurde sein berühmt gewordener Aufsatz „Goethe und die Naturwissenschaften“ veröffentlicht, dessen Erscheinen der Bremer Kaufmann Friedrich Wilhelm Oelze zum Anlass nahm, einen Briefwechsel zu beginnen, ohne den die schriftstellerische Existenz Benns ab diesem Zeitpunkt nicht mehr zu denken ist, schreibt Walter Lennig.
Am 30. Januar 1932 schreibt der Dichter und Mitglied der Preußische Akademie der Künste, Sektion Dichtkunst, Oskar Loerke:
„… Freitagmorgen zur Akademie. Um halb elf Wahlsitzung. Anwesend die auswärtigen Herren: Thomas Mann, Schickele, Mombert, Halbe, Däubler. Herzliche Stimmung, sachliches Verfahren. Drollig Ricarda Huchs Widerstand gegen die Wahl Benns. Schließlich aber wurde er doch gewählt, außer ihm Mell, Pannwitz, Paquet, Ina Seidel, Binding. Benn telephonisch erreicht. Er freute sich ungeheuer über die Wahl: „Aber machen Sie doch keine Witze mit mir altem Mann!“ Um halb acht wieder zu Hause. Anruf bei Ina Seidel. Sie war wie erstarrt vor Freude, wusste gar nicht zu antworten. Diese beiden Ergebnisse waren mein schönstes Erlebnis in der letzten Zeit.“
„Laut Sitzungsprotokoll erhielt Benn 11 von 16 Stimmen. Welch ein Beginn des Jahres 1932, da Benn „stilgerecht am Heiligabend bei Glatteis am Autobus fiel u. mit einem cigarrenkistengrossen Hämatom am Rücken beschert wurde“. (Holger Hof)
Über seinen beginnenden Briefwechsel und seine Verbundenheit mit Friedrich Wilhelm Oelze äußert sich Benn:
„… Ich lebte also so dahin in Wohnungen mäßigen bis mittleren Grades ohne viel Verbindungen, aber 1932 trat jener Herr Oelze aus Bremen in mein Leben, den ich selten sah, in dessen Haus ich nie war, mit dem ich, mit dem wir beide gegeneinander hinsichtlich des Privaten immer „die Regeln wahrten“, der mich aber brieflich hoch- und wachhielt und in jenen Jahren Balsam in meine Schrunden träufelte. Literarisch spezialisiert war der Grund seines ersten Besuches bei mir mein Aufsatz über „Goethe und die Naturwissenschaften“, der in dem dann berühmt gewordenen Heft der „Neuen Rundschau“ im April 1932 stand – in seinem Alt-Bremer Patrizierhaus war Goethe seit Generationen sehr gepflegt. Aus diesem Besuch entwickelte sich eine Korrespondenz, immer wachsend, die sich heute auf nahezu 2000 Briefe belaufen wird, und vieles von dem, was in meinen neuen Büchern steht, fand sich als Keim und Setzling in unseren schriftlichen Gesprächen auf jenen blauen Bogen, die er wie ich benutzten. Ich habe ihm daher die erste Arbeit, die nach 1936 wieder erschien, „Die drei alten Männer“, in Dankbarkeit gewidmet.“
Nationalsozialismus
Aus Wikipedia:
„… Das Verhältnis Benns zum Nationalsozialismus wird häufig allzu schematisch als zwei scharf voneinander getrennten Phasen von Zustimmung und anschließender Ablehnung beschrieben. In Wirklichkeit war seine Einstellung gegenüber dem Nationalsozialismus durchaus differenziert. Die Dialektik im Wesen und Denken Benns schwankte zwischen leidenschaftlichem Engagement und resignierend beleidigter Abkehr von der Politik in rein ästhetische Bereiche, was aber den künstlerischen Rang seines Werkes nicht berührte.
Nur in Vorträgen und Abhandlungen bekannte er sich zeitweise zu dem, was er für die NS-Ideologie hielt, in seinem lyrischen Werk hingegen finden sich keine eindeutigen Hinweise auf das entsprechende Gedankengut.
1932 rückte Benn dann aber durch die Wahl in die Sektion für Dichtkunst der Preußischen Akademie der Künste stärker in den Fokus des öffentlichen kulturpolitischen Interesses.
Nach der Machtübergabe an die Nationalsozialisten wurde er als Nachfolger Heinrich Manns kommissarischer Vorsitzender der Sektion. Am 13. März, kurz nach der Reichstagswahl März 1933, verfasste er zusammen mit Max von Schillings eine Loyalitätsbekundung für Hitler, die den Mitgliedern eine nicht-nationalsozialistische politische Betätigung verbot“.
Die Loyalitätsbekundung im Wortlaut:
„… Sind Sie bereit unter Anerkennung der veränderten geschichtlichen Lage weiter Ihre Person der Preußischen Akademie der Künste zur Verfügung zu stellen? Eine Bejahung dieser Frage schließt die öffentliche politische Betätigung gegen die Reichsregierung aus und verpflichtet Sie zu einer loyalen Mitarbeit an den satzungsgemäß der Akademie zufallenden nationalen kulturellen Aufgaben im Sinne der veränderten geschichtlichen Lage.“
Wer diese Erklärung nicht unterschrieb, wurde mit Ausschluss bedroht, alternativ blieb nur der freiwillige Austritt. „Thomas Mann und Ricarda Huch traten aus; Gerhart Hauptmann, Oskar Loerke und Alfred Döblin, der dennoch als Jude seinen Austritt erklärte, und viele andere unterschrieben. Ausgeschlossen wurden z. B. Franz Werfel und Leonhard Frank, lese ich bei Wikipedia.
Der „Judenboykott“ 1933 – in Bezug auf fünf in seinem Haus praktizierende Kollegen und die daraus folgende Willkür und Rechtslosigkeit in unmittelbaren Umgebung erlebt, der Röhm-Putsch 1934 – ließen in ihm schon im Verlauf des Jahres 1933 Zweifel am neuen Staat aufkommen. Dennoch setzte Benn sich durch essayistische Schriften für den Nationalsozialismus ein. Ging es nach dem Motto: Wo gehobelt wird, fallen auch Späne? Oder genügte die Haltung, man wolle zwar einen neuen Staat, aber nicht unbedingt unter Führung der NSDAP?
Gottfried Benn jedenfalls neben vielen Kollegen unterschrieb am 29. April 1933 das Gelöbnis treuester Gefolgschaft für Adolf Hitler, das am 26. Oktober 1933 gedruckt wurde und insgesamt 88 Kollegen unterzeichneten ebenso.
Aus Wikipedia:
„… Die Initiative für das „Gelöbnis“ ging von der Sektion für Dichtkunst der Preußischen Akademie der Künste in Berlin aus, nachdem diese im Frühjahr und Frühsommer 1933 handstreichartig umgebaut und mit Anhängern des Nationalsozialismus besetzt worden war und sich kurz darauf in „Deutsche Akademie der Dichtung umbenannt hatte.“ Zeitgleich hatten im Frühjahr 1933 überall in Deutschland Bücherverbrennungen stattgefunden, denen auch die Werke ausgeschlossener Akademiemitglieder zum Opfer gefallen waren.
Der Text erschien am 26. Oktober 1933 in der „Vossischen Zeitung“ und wurde gleichzeitig auch in anderen Zeitungen wie der „Frankfurter Zeitung“ abgedruckt.
Der Text:
„…Die Unterzeichner erklärten:
„Friede, Arbeit, Ehre und Freiheit sind die heiligsten Güter jeder Nation und die Voraussetzung eines aufrichtigen Zusammenlebens der Völker untereinander. Das Bewusstsein der Kraft und der wiedergewonnenen Einigkeit, unser aufrichtiger Wille, dem inneren und äußeren Frieden vorbehaltlos zu dienen, die tiefe Überzeugung von unseren Aufgaben zum Wiederaufbau des Reiches und unsere Entschlossenheit, nichts zu tun, was nicht mit unserer und des Vaterlandes Ehre vereinbar ist, veranlassen uns, in dieser ernsten Stunde vor Ihnen, Herr Reichskanzler, das Gelöbnis treuester Gefolgschaft feierlichst abzulegen.“
Wikipedia zur Bücherverbrennung 1933:
„… Die Bücherverbrennung in Deutschland am 10. Mai 1933 war eine von der Deutschen Studentenschaft geplante und inszenierte Aktion, bei der Studenten, Professoren und Mitglieder nationalsozialistischer Parteiorgane die Werke von ihnen verfemter Autoren (siehe Liste der verbrannten Bücher 1933) ins Feuer warfen. Sie fand unter der Führung des Nationalsozialistischen Deutschen Studentenbundes (NSDStB) auf dem ehemaligen „Berliner Opernplatz“ (seit 1947 Bebelplatz; benannt nach August Bebel) und in 21 weiteren deutschen Universitätsstädten statt.
Die öffentlichen Bücherverbrennungen waren der Höhepunkt der sogenannten „Aktion wider den undeutschen Geist“, mit der kurz nach der „Machtergreifung“ der Nationalsozialisten, im März 1933, die systematische Verfolgung jüdischer, marxistischer, pazifistischer und anderer oppositioneller oder politisch unliebsamer Schriftsteller begann.“
Mittendrin in dieser Aktion wider jegliche Kultur meine eigene Mutter – ranghöchste BDM-Führerin im Kreis Birkenfeld im Hunsrück. Verbrannt haben sie und andere die Bücher, die ich bereits als Kind und Jugendlicher gelesen habe und die zur Weltliteratur gehören. Einige fand ich in den 50 er Jahren dann doch im eher bescheidenen Bücherregal meiner Eltern, auf das ich nicht besonders angewiesen war, da die Stadt Stuttgart eine entsprechend sortierte Bücherei zur Verfügung stellt.
Eine Liste der „verbrannten Autoren/innen“ und der verbrannten Werke hier einzustellen, ist nicht möglich, sie würde dieses Portrait sprengen. So bleibt den Lesern/innen nur das Internet.
Zurück zu Gottfried Benn. Aber die Frage, warum er gegen die Bücherverbrennung nicht klar Stellung bezogen hat, stelle ich mir schon. Zumal er eine ganze Reihe der Autoren persönlich kannte, z.B. seinen Freund Klabund, der zu den verbotenen Autoren gehörte. Ihm und den anderen eine Einstellung „wider den deutschen Geist“ zu unterstellen, war miese Propaganda gegen Menschen, die dieses System ablehnten.
Und diesen Satz aus Wikipedia sehe ich als „Verniedlichung“: „Bald danach stellte Benn seine Bemühungen ein, sich einen staatlich sanktionierten Platz im nationalsozialistischen Literaturbetrieb zu sichern. Benns Werke nach 1934 sind dann verstärkt distanziert bis kritisch gegenüber dem NS-Regime.“
Am 4. Oktober 1933 wurde das Schriftleitergesetz erlassen, das zum 1. Januar 1934 in Kraft treten sollte und den Weg für die Gleichschaltung der gesamten deutschen Presse frei machte.
Wikipedia:
„… Das Schriftleitergesetz war eines der wichtigsten Instrumente zur Gleichschaltung der Presse im nationalsozialistischen Deutschen Reich. In ihm wurden die Erlaubnis zur Ausübung des Berufs und die Aufgaben des Schriftleiters (Redakteurs, Journalisten) festgeschrieben.
Das Gesetz schuf die rechtliche Grundlage für die Kontrolle der Presseinhalte und regelte die persönlichen und politischen Voraussetzungen, die ein Schriftleiter zu erfüllen hatte, um den Beruf ausüben zu dürfen.“
Am 15. November 1933 eröffnete Joseph Goebels die Reichskulturkammer und die ersetzte endlich mit „viel Kultur“ die bisher eigenständige „Akademie der Dichter“. Mit anderen Worten, die Diktatur war komplett.
Natürlich oder Gott sei Dank gab es Proteste und die zogen sich auch in die Nachkriegszeit und sie waren sehr berechtigt. Denn Gottfried Benn erklärte sich nach der Machtübernahme Adolf Hitlers aus eigenem freiem Entschluss und sehr öffentlich für den neuen deutschen Staat. In Rundfunkreden und Aufsätzen wie „Züchtung“ und „Der neue Staat und die Intellektuellen“ verlieh der Dichter diesem Bekenntnis polemisch Ausdruck. Genannt sei der Vortrag „Antwort an die literarischen Emigranten“. Im Berliner Rundfunk vom Dichter persönlich gelesen.
Ein Ausschnitt:
„… Da sitzen Sie also in Ihren Badeorten und stellen uns zur Rede, weil wir mitarbeiten am Neubau eines Staates, dessen Glaube einzig, dessen Ernst erschütternd, dessen innere und äußere Lage so schwer ist, dass es Illiaden und Äneiden bedürfte, um sein Schicksal zu erzählen. Diesem Staat und seinem Volk wünschen Sie vor dem ganzen Ausland Krieg, um ihn zu vernichten, Zusammenbruch, Untergang. Da werfen Sie nun also einen Blick auf das nach Afrika sich hinziehende Meer, vielleicht tummelt sich gerade ein Schlachtschiff darauf mit Negertruppen aus jenen 600.000 Kolonialsoldaten der gegen Deutschland einzusetzenden berüchtigten französischen Forces d’outremer, vielleicht auch auf den Arc de Triomphe oder den Hradschin, und schwören diesem Land, das politisch nichts will als seine Zukunft sichern, und von dem die meisten unter Ihnen geistig nur genommen haben, Rache.“
Benn „musste jedoch bald erkennen, dass die formale und inhaltliche Modernität seiner Werke unvereinbar war mit der nun herrschenden Ideologie. Nachdem schon seit September 1933 keine Gedichte von ihm mehr gesendet werden durften und seine Zulassung als Arzt gefährdet war, wurde Benn ab Mai 1934 verboten, Vorträge im Radio zu halten. Zwar wurde Benn noch im Frühjahr 1934 Vizepräsident der „Union nationaler Schriftsteller“. Er wurde jedoch schon früh (seit 1933) von verschiedenen Organen der Nationalsozialisten, wie z. B. im „Schwarzen Korps“ (Organ der SS) angegriffen, vor allem von Börries Freiherr von Münchhausen, der ihn wegen seines Namens, den er mit dem jüdischen „Ben“ assoziierte, als „Juden“ zu diffamieren suchte, und schließlich 1936 vom Völkischen Beobachter (offizielles „Schmierenblatt der NSDAP) als „Schwein“ bezeichnet, schreibt Wikipedia.
„die Praxis ist zu Ende, titelt Holger Hof:
„… Spätestens seit dem Röhm-Putsch Anfang Juli 1934 brachte Benn Freunden und Bekannten gegenüber seine Enttäuschung über die politischen Entwicklungen zum Ausdruck: „Gewisse Dinge haben mir den letzten Stoß gegeben. Schauerliche Tragödie! Das Ganze kommt mir allmählich vor wie eine Schmiere, die fortwährend „Faust“ ankündigt, aber die Besetzung langt nur für „Husarenfieber“. Wie groß fing das an, wie dreckig sieht es heute aus. Aber es ist noch lange nicht zu Ende. – Ich sitze hier, war noch gar nicht fort. Habe eine Vertretung in der Stadt. Beratungsstelle übernehmen müssen, da nicht genug arische Ärzte im Bezirk vorhanden. Außerdem, um das Leben zu fristen, so lächerlich es ist, dass man es immer noch tut.“
Walter Lennig beschreibt die vom Saulus zum Paulus wandelnde Einsicht so:
„… Es dauerte dieser Irrtum dann bis 1934, genauer: bis zum 30. Juni 1934, dem Tage der „Röhm-Revolte“, in deren Verlauf über einhundert missliebige Persönlichkeiten ohne Urteilsspruch ermordet wurden – die nachträgliche „Legalisierung“ änderte nichts daran, dass die deutsche Regierung die Bahn des offenen Verbrechens beschatten hatte; dergleichen hatte sich in Deutschland vorher noch nie ereignet.
Freilich waren Benn bereits früher Zweifel gekommen; sie sind belegbar. Aber diese Dinge gaben ihm „den letzten Stoß“. Jetzt gab es keine Illusionen mehr, jetzt galt es nur noch aus dem Irrtum, aus der einjährigen Verblendung die Konsequenzen zu ziehen; diese Konsequenzen konnten nicht in der — an sich damals durchaus noch möglichen — Emigration ins Ausland bestehen, wo man ihn mit Hohngelächter und Schadenfreude empfangen hätte. Das war die Lage.
Es ist über diesen politischen Irrtum Benns zeitweilig mehr geschrieben und debattiert worden, als über die Leistungen, die dem gegenüberstehen und seinen Namen weitertragen. Der Umfang und die Leidenschaftlichkeit dieses Streits rührt freilich in erster Linie daher, dass es nicht irgendjemandes Irrtum, sondern der Irrtum eines der größten deutschen Dichter des 20. Jahrhunderts ist, eines dieses Jahrhundert erheblich mitbestimmenden Geistes. Das reicht indessen nicht hin, die Beharrlichkeit des Streites, sein Andauern bis heute, also seine relative Endlosigkeit zu erklären. Es wirken da ganz seltsame Momente mit. Eines der fassbarsten besteht vielleicht in dem uneingestandenen Dilemma, jemand bewundern zu müssen, obgleich er mit diesem unbegreiflichen Irrtum belastet ist; das Eingeständnis also, unablässig weiter geistig und ästhetisch fasziniert zu sein von einem Manne, der sich von der schauerlichen Geistlosigkeit des Hitlerregimes düpieren ließ. Das macht Kopfschmerzen, bereitet Unruhe, denn es betrifft einen Widerspruch, der zwar als solcher zu erkennen, rational jedoch nicht zu beheben ist. Ein anderes Moment reflektiert den Bennschen Irrtum mit seiner ganzen Unbegreiflichkeit auf den historischen Anlass zurück und fragt etwa: was überhaupt bei den Trägern der «Bewegung» konnte auch nur annähernd die Vermutung erwecken, man habe es mit einem geistigen Gebilde zu tun? Oder war da, wenigstens am Anfang, womöglich wirklich etwas, was einen Kopf wie Gottfried Benn in Bann schlagen konnte?“
Die Alternative? Gottfried Benn schreibt an Frank Maraun am 27, März 1835:
„… Um mich zurückzuziehen, gab es für mich nur einen Weg, er lautete: die Armee. Die Kollegen und Kameraden, mit denen ich zusammen studiert hatte, waren zun Teil nach dem I. Weltkrieg im Hunderttausendmann-Heer geblieben und jetzt in maßgeblichen Stellungen. Ich trat mir ihnen in Verbindung und fragte an, ob ich wieder eintreten könnte. Ich wollte aus Berlin heraus und aus den Verbindungen, meine Stellung in der Literatur mit sich brachte. Das war möglich unter gewissen Voraussetzungen und Risiken. Darunter war die größte, dass ich ein halbes Jahr Zivil Probezeit absolvieren musste, ohne sicher zu sein, dann übernommen zu werden. … Damals prägte ich das Wort, das bis 1945 im Oberkommando umlief, ohne dass allerdings glücklicherweise noch jemand wusste, von wem es stammte: „Die Armee ist die aristokratische Form der Emigration.“ (veröffentlicht in „Doppelleben“)
Hiermit nehme ich Abschied von Ihnen, ich verlasse für immer Berlin. Ich kehre als Arzt dahin zurück, von wo ich ausgegangen bin: in die Armee. Mein Standort ist Hannover. Meine Adresse: Hohenzollernstr 11. Der Abschied von Berlin ist mir unendlich schwer, aber hier kann ich mich nicht mehr halten, die Praxis ist zu Ende. Auch steigt hier eine Welt auf, zu der ich nicht mehr gehöre, – also fort.“
Und Walter Lennig weist auf das „Wissen“ Benns über den Nationalsozialismus hin:
„…An diesem Irrtum ist zunächst bemerkenswert, dass es weit mehr ein Irrtum Benns über sich selbst als über den Nationalsozialismus war. Sich und seine geistige Position kannte er ja, den Nationalsozialismus weit weniger, fast gar nicht – das war von Anfang an verhängnisvoll. Er kannte weder das Parteiprogramm noch „Mein Kampf“, er kannte keine der führenden Persönlichkeiten, war nie in einer politischen Versammlung, ja, er hatte sich, so merkwürdig das klingt, bis zum Tage der „Machtergreifung“ eigentlich gar nicht mit der NSDAP befasst, wenn man von der Zeitungslektüre absieht. (…)
Seine Reaktion auf die Ereignisse war rein stimmungsmäßiger, emotionaler Art, also kein denkerischer Akt. Er selbst hat in „Doppelleben“ zur Erklärung die von Thomas Mann (für 1914) geprägte Vokabel „Schicksalsrausch“ reklamiert. Nun ging aber tatsächlich im Frühling 1933 für kurze Zeit etwas von der Art durch Deutschland, und wer das nicht wahrhaben will oder heute nicht mehr wahrhaben will, der muss dann allerdings noch zu weit irrationaleren Vorstellungen, zu Astrologie und Massenwahn greifen, wenn er nach erklärenden Vokabeln für etwas seiner ganzen Natur nach Unerklärliches sucht. Es entlud sich mit einem mal eine Unsumme von Hoffnung und Verzweiflung, von niedergehaltener Tüchtigkeit und nationalem Groll in die Stimme des „Endlich geschieht etwas! Endlich wird gehandelt und nicht nur geschwätzt!“ Die Ingredienzien dieser Volksstimmung, die Elemente ihrer Aura genau zu analysieren, erübrigt sich, sie ist im ganzen keine böswillige Erfindung oder ein Narrenschauspiel, ihr eignet im Rückblick sogar eine doppelte Tragik, weil ein verzweifeltes Volk aufstand und seine Hoffnungen auf einen Mann setzte, der es dann in den grauenhaftesten Abgrund seiner ganzen tausendjährigen Geschichte führte. Es wäre mit Gewissheit nie so weit gekommen, wenn die Politiker und Intelligenzler der Weimarer Republik nur ein klein bisschen weniger versagt hätten, als es tatsächlich der Fall war. Weit mehr als seine eigene Propaganda war es die politische Unfähigkeit seiner Gegner, die Hitler zur Macht kommen ließ.
Es gehört sicherlich zu den sonderbarsten Erfahrungen unseres Zeitalters, wie Gottfried Benn innerhalb eines Jahres zu der Erkenntnis der völligen Unhaltbarkeit seiner Entscheidung kam. Bestand überhaupt Gefahr, dass die Nazis Benn als Paradepferd behandeln und mit ihm und seinem Namen Propaganda machen würden? Darauf kann man heute mit einem ganz unwiderleglichem Nein antworten; es bestand von vornherein für Benn höchstens Gefahr für Leib und Leben – ohne den mächtigen Schutz, dessen er sich dann versicherte, hätte er vielleicht das Hitlerreich gar nicht überlebt. Benn war für die neuen Machthaber nicht bloß unbequem, er war — nach einer Vokabel aus dem „Wörterbuch des Unmenschen“ – „untragbar“. Es war überhaupt nichts an ihm, was in die „neue Landschaft“ gepasst hätte. Zug um Zug erfuhr er Gegnerschaft, Ablehnung, Feindschaft. In dem Maße, wie er nun zunehmend genötigt war, sich dagegen zu verteidigen, deckte er, bewusst wie unbewusst, nur umso deutlicher auf, wie antipodisch er in seinem ganzen Habitus war. In dem schon erwähnten Vortrag „Verteidigung des Expressionismus“ findet man ganze Passagen aus den einstigen Streitschriften gegen die marxistische, totale Linke. Das geschah natürlich nicht unbewusst, es verdeutlicht vielmehr, dass Benn schon Ende 1933 das tolle Paradoxon seiner Lage aufgegangen war: der totale Staat des Massenzeitalters ist prinzipiell und notwendig kunst- und geistfeindlich, die einschlägigen Argumente von links oder rechts treffen sich im geradezu instinktiven Misstrauen. die „Führer“ wittern unfehlbar, dass Kunst und Freiheit nahezu Synonyma sind. (Wobei man gern einräumt, dass die kommunistisch-sowjetische Kunstfeindlichkeit von einer gewissen brutalen Ehrlichkeit ist gegenüber der heuchlerischen Doppelzüngigkeit der Nazis.)
In Hannover beginnt Benn wieder zu schreiben, „Schreibtischladenarbeit“ nennt Walter Lennig diese Arbeiten, denn an eine Veröffentlichung ist nicht zu denken. Darunter „Weinhaus Wolf“ und eine Ergänzung zu den „Ausgewählten Gedichten“. Nach reichlich Theater wegen „Anstößigkeit“ mit der „Schrifttum-Überwachungsstelle“ erscheint dann ein bereinigter Band, das noch existierende „Berliner Tagblatt“ erwähnt die Sammlung lobend.
„Aber nicht nur die braune und kulturlose „Schrifttum-Überwachungsstelle“ sondern auch am 7. Mai die offizielle Wochenzeitschrift der SS, „Das Schwarze Korps“, fahren unter dem Titel „Der Selbsterreger“ einen wüsten Angriff gegen den Autor des eben erschienenen Gedichtbandes. „Ferkel“ wurde er darin tituliert, „widernatürliches Schwein“, „warmer Bruder“, „Judenjunge“, „dreckige Schmierereien“, „scher dich doch dahin, wo deine Genossen Kerr, Tucholsky, Kästner sitzen“.
Der „Völkische Beobachter“, das offizielle Parteiorgan, übernahm diesen Artikel am Tage darauf. Selbst der Verleger, der Benns Gedichtband in Stuttgart herausgebracht hatte, wurde drohend zur Rede gestellt. Ohne Benns vorzügliche Beziehungen zu hohen Vorgesetzten und das zu jener Zeit unter älteren Offizieren vorherrschende Ressentiment gegen Partei und besonders SS, hätte Benn weder diesen Schlag noch die kommenden überstanden. Gerade „Das Schwarze Korps“ war berüchtigt wegen seines denunziatorischen Eifers und gefürchtet schon allein dadurch, dass es von niemand belangt oder gar verklagt werden konnte; es hat viele Existenzen auf dem Gewissen“, schreibt Walter Lennig.
Das Schwarze Korps mit dem Untertitel „Zeitung der Schutzstaffeln der NSDAP – Organ der Reichsführung SS“ galt als das Kampf- und Werbeblatt der SS. Das SS-Blatt erschien im Franz-Eher-Verlag, der auch den Völkischen Beobachter herausgab. Rechnet man noch den „Stürmer“ hinzu, der auch zur „Pflichtlektüre“ zählte, ist der braune Abschaum vollständig.
Aus Wikipedia:
„… Diese Zeitung erschien jeden Mittwoch im freien Verkauf und jeder SS-Mann war verpflichtet, sie zu lesen und für deren Verbreitung zu sorgen. (…) Das Blatt war kirchenfeindlich, in zahlreichen Artikeln wurde auch gegen Freimaurer und Juden gehetzt.
Hauptsächlich wurde aber die SS verherrlicht und es gab zahlreiche Artikel, die stolz über die Arbeit der SS-Totenkopfstandarten in den Konzentrationslagern berichteten; so berichtet zum Beispiel der Artikel „K.Z. und seine Insassen“ (Heft 7 vom 13. Februar 1936, S. 10) über das Konzentrationslager Esterwegen.
Die erste Auflage des „Schwarzen Korps“ erschien am 6. März 1935 mit 70.000 Exemplaren. Im November des gleichen Jahres waren bereits 200.000 und Ende 1944 rund 750.000 Stück aufgelegt. Die letzte Auflage erschien im April 1945.“
Eigestellt wurde dieses Blatt wegen Auflagen des Alliierten Kontrollrates, der Blatt und dahinterstehende SS als verbrecherische Organisation einordnete.
Holger Hof:
„… Seit Januar 1937 bemühte sich Benn aktiv um die Versetzung nach Berlin. „In Berlin wieder Fuß fassen in einer neuen Stellung beim Militär u. dann abhauen – das ist meine Absicht.“ (An Elinor Büller, 1.3.1937). Im Mai wurden die Pläne konkreter. „Es wurde ein San Offiz. gesucht, der zur Luftwaffe übertreten will u. dann in Berlin einen wissenschaftlichen Posten übernimmt.“ Dank der Hilfe Walther Kittels, dessen Einfluss bereits Benns Reaktivierung beförderte, gelang es Benn, die Versetzung zu bewirken. Am 1. uli 1937 trat er seinen neuen Dienst an: als Sanitätsoffizier beim Stab des Generalkommandos des 3. Armeekorps.“
Auch in Berlin mehrere Versuche, den so unbeliebten Autor endlich mundtot zu machen. Der dritte Versuch hatte Erfolg. Im März 1938 erging die Ausschluss Erklärung aus der „Reichsschrifttumskammer“, also das Verbot „jeder weiteren Berufsausübung“. Wer dahinter steckte, ist nie geklärt worden.
Im Sommer 1936 lernt er Herta von Wedemayer (1907-1945) kennen – sie wird seine zweite Ehefrau. Im Dezember 1937 beziehen die beiden eine gemeinsame Wohnung in der Bozener Straße 20. An Tochter Nele schreibt er am 16. Januar 1938:
„… Also: Herta: wie Du aus der Anzeige siehst, sehr gute Familie, aus dem Milieu, in dem ich leben muss. Sie ist 31 Jahre, also im Alter Dir näher wie mir, aber sie ist sehr erfahren, hat es schwer gehabt im Leben, weil ihr Vater früh starb, sie ist in Berlin verloren, wohnt in Hannover bei ihrer Mutter, hat eine jüngere Schwester, Doris, unverheiratet. Ich kenne sie über ein Jahr. Ihr Äußeres: groß, schlank, überzüchtet, nicht hübsch, aber apart; blaue Augen, dunkelblondes Haar (aber eher braun), vorstehende weiße Zähne, kleine Nase, rote Hände, hübsche Beine, sie sieht ganz u. gar nicht gewöhnlich aus, sondern kapriziös u. intellektuell, sie ist sehr klug. Ich glaube, sie wird Dir gefallen. Sie ist ungeheuer geschickt, kann kochen, nähen, Schreibmaschine schreiben, hat Geschmack, – ein reizender Gebrauchsgegenstand: Sie ist eine große Tänzerin. Ihr Vater war Vortänzer beim Kaiser, als Gardeoffizier hier in Berlin, u. sie hat das Talent geerbt. Mit 3 Jahren konnte sie Spitzentanz, ist richtig ausgebildet als Tänzerin -: dafür habe ich ja nun keine Verwendung, aber Du kannst mit ihr tanzen gehn! Das Regiment ihres Vaters, das auf der Anzeige steht, war eines der feinsten Garde-Regimenter Berlins! Du, Kleine, hast mehr gelernt wie sie u. bist gebildeter als sie. Sie ist in den schlimmen Nachkriegsjahren aufgewachsen, wo man sich ja um alles Derartige nicht kümmerte: ihre Mutter hatte sich wieder verheiratet u. vernachlässigte die beiden Töchter etwas. Sie konnten sehn, wo sie weiterkamen.
Sie ist furchtbar lieb u. bescheiden. Hat große Ehrfurcht vor mir u. Furcht vor Dir! Sie war ein paar Tage jetzt in Berlin, wohnte hier in der Wohnung, hat immer in der Küche gearbeitet u. sauber gemacht, getraute sich kaum in die Stube zu mir! Sie ist wie ein kleiner Page, den ich mir engagiert habe u. der mir alles abnehmen soll. Das wird sie tun. Sie ist sehr gut u. gewissenhaft u. sehr klug.“
Wieder Berlin bedeutete auch ein Wiedersehen mit seinem alten Freund und unterdessen besten Freund dem jüdischen Verleger Erich Reiß. Der besorgte ihm in der Bozener Straße 20 eine Wohnung, die Benn bis zu seinem Tode bewohnte.
Am 8. Oktober am 1939 stirbt der Vater, Benn schreibt an Nele:
„…Es hingen ja viele einfache und auch sehr aristokratische Leute an ihm. Die Feier in Mohrin war wunderbar friedlich und still. Der Sarg war in der Kirche aufgebahrt, mit herrlichen Kränzen bedeckt. Onkel Stephan hielt eine großartige Rede und dann gingen wir alle auf den Kirchhof vor der kleinen Stadt und nicht weit von der alten Mauer und begruben ihn neben meiner Mutter. Wir älteren Geschwister waren alle da . . . und viele Menschen aus Sellin, Trossin usw. Abends fuhren wir alle in der Dunkelheit nach Berlin zurück.“
Walter Lennig:
„… Im Juni 1940 heiratet seine Tochter in (dem seit April wie ganz Dänemark von Deutschland besetzten) Kopenhagen; Benn erhält keine Reiseerlaubnis zur Hochzeit. Im September 1943, also kurz vor Beginn der schweren Luftangriffe auf die Reichshauptstadt, wird die Dienststelle samt ihrem Chef, dem nunmehrigen Oberstarzt Benn, nach Landsberg an der Warthe verlegt.“
„Ich nahm meine Frau mit, verschaffte ihr eine Stelle als Tippdame, wir wohnten in einer herrlichen Kaserne hoch über der Stadt, bekamen Essen … zu tun war nichts mehr, ich hatte so viel Zeit wie nie in meinem Leben, las, schrieb, — eigentlich waren diese anderthalb Jahre die ruhigste und glücklichste Zeit meines Lebens“ schreibt Benn später an Thea Sternheim.
„Er würde schon zu den Großen der deutschen Literatur gehören, wenn er nur die stählerne, die gehämmerte Prosa „IV. Block II, Zimmer 60“ geschrieben hätte, die unvergängliche Schilderung eines Kasernenbetriebes in der Agonie des Zweiten Weltkrieges als kurze Durchgangsstation für die letzten Jahrgänge, die noch zu „verheizen“ waren, so Walter Lennig.
Der Schluss dieses Prosastückes:
„… Und dann kam im Osten das Ende. Wenn man am 27.1. 45 beim Stadtkommandanten vorsprach und fragte, was machen wir denn mit unseren Sachen, die wir mühsam seinerzeit aus Berlin hierhergeschleppt hatten, wenn die Russen kommen, antwortete der Adjutant, ein SS-Hauptmann: wer so fragt, wird an die Wand gestellt, die Russen kommen nicht durch. Möglich, dass mal ein Spähpanzer in der Ferne sichtbar wird, aber die Stadt wird gehalten und wer etwa seine Frau nach Berlin zurückschickt, wird ebenfalls erschossen. In der folgenden Nacht um 5 Uhr war dann Alarm, Artilleriebeschuss und wir liefen mit einer Aktenmappe im Schneesturm bei 10 Grad Kälte zu Fuß nach Hause auf den vereisten Chausseen, verstopft von den endlosen Trecks mit ihren Planwagen, aus denen die toten Kinder fielen. In Küstrin wurden wir dann auf einen offenen Viehwagen verfrachtet, der uns die 60 Kilometer nach Berlin in zwölf Stunden unter Fliegersalven zum Bahnhof Zoo brachte. So verlief das Ende des ganzen Ostens, Stadt für Stadt. In der Wohnung waren dann fremde Leute, die Stuben leer, wir deckten uns mit meinem Soldatenmantel und Zeitungspapier zu, um aufzuwachen, als die Sirenen heulten. So klang es aus, das Blockleben, Zimmer 60.“
Das Ende des Krieges und das Ende dieser kurzen Ehe beschreibt Walter Lennig:
„… Benns Frau Herta litt damals schwer an Arthritis, konnte kaum gehen; er schickte sie so bald wie möglich aufs Land, ins Dorf Neuhaus bei Wittenberge an der Elbe. Keine Dienststelle in Berlin mehr, die für ihn zuständig gewesen wäre, das übliche Hin- und Herschieben, wenige Wochen später begann die Einschließung Berlins und bald darauf die Eroberung, ein Bezirk nach dem anderen. Am 30. April dringen die Sowjetsoldaten auch in die Bozener Straße ein. Die darauffolgenden sechs Wochen bis zum Eintreffen der westalliierten Truppen gehören zusammen mit den Wochen der vorangegangenen Straßenkämpfe zum Inferno Berlins – es gibt bis heute keine umfassende und verlässliche Chronik darüber; vielleicht lässt es sich auch gar nicht beschreiben. (…)
Am 5. April war Herta Benn in das bereits erwähnte Dorf an der Elbe gefahren. Bald darauf hörte jeglicher Postverkehr auf, keine Nachricht erreichte mehr ihr Ziel. Im Juni schickte Benn seine Hausangestellte mit Papieren, Geld und etwas Lebensmitteln los, aber das bedauernswerte Wesen wurde auf halbem Wege von der Soldateska aufgegriffen und kehrte erst nach Wochen ergebnislos, völlig zerschunden und krank zurück. Erst kurze Zeit nach dem Einzug der Amerikaner, am 27. Juli kam die erste Nachricht. „Es klingelte, draußen stand ein kleiner fremder Mann mit riesig viel Goldzähnen, der mir einen Brief von Herta brachte, dann eine lange Pause machte und sagte: „ich muss aber leider hinzufügen, dass sich der Briefschreiber am nächsten Tag das Leben nahm“ -; ich denke immer noch jeden Tag an diese grauenvolle Stunde. Weiteres wusste er nicht, er hatte den Brief von Flüchtlingen bekommen und Weiteres erfuhr ich erst wochenlang später.
Das Dorf Neuhaus rechts der Elbe war erst von Engländern besetzt gewesen, bald aber wieder geräumt und wie alles Gebiet rechts der Elbe den Russen übergeben worden. Sie wollte über die Elbe auf das andere Ufer, wurde im Stich gelassen und kam nicht mit. Kehrte um und fand ihr Unterkommen besetzt. Hatte wohl niemanden, der ihr helfen konnte. Sehr mutig und lebensvoll war sie schon lange nicht mehr, vor allem: sie war ohne jede Nachricht von mir, hielt mich wohl für tot oder gefangen und da tat sie es denn.“
Im April 1946 besuchte ihn seine Tochter als Kriegsberichterstatterin in Berlin und beschreibt ihren Vater:
„… Er öffnete selbst die Tür. Da stand er, völlig verändert. Mein Vater war doch seit seinem dreißigsten Jahr immer vollschlank — dick wollen wir nicht sagen. Er war immer ein kleiner, breiter Mann von sehr gesundem und wohlgefüttertem Aussehen. An diesem Aprilnachmittag 1946 aber stand in der Tür ein ganz kleiner, dünner Mann, der viel, viel älter aussah als seine bald sechzig Jahre. Seine Augen waren von schwarzen Rändern umgeben und lagen tief in den Höhlen. Ich musste weinen. Er sah unheimlich aus . . .» Bald darauf, am 2. Mai, war sein 60. Geburtstag.
„Am späten Nachmittag gegen sechs Uhr kam Frau Anne Ullstein zu ihm“, heißt es dazu in dem Erinnerungsbüchlein seiner Tochter Nele. Sie fährt fort:
„Mein Vater kannte die Ullsteins seit 1919 und die Freundschaft wurde bis zu dem Tode meines Vaters bewahrt. Frau Ullstein brachte ihm zum Geburtstag einen großen Strauß Flieder und dazu sogar eine kleine Flasche Kognak.
„Ich brauchte nicht zu läuten“, so erzählte sie mir: „Denn er stand in der offenen Tür und sagte: ,Ich wusste, dass Sie kommen.“ Wir gingen dann in sein Zimmer und haben uns mit allen vorhandenen Mänteln und Decken eingewickelt, denn es war grausam kalt. Er als Arzt hatte die Erlaubnis, zeitweise seinen elektrischen Ofen zu benutzen. Der Ofen stand vor uns, und wir warteten, dass der Strom eingeschaltet würde. Er wurde aber nicht eingeschaltet. Wir sprachen lange miteinander . . .“
Seine persönliche Stimmung an diesem Geburtstag beschreibt er so:
„… die vier Jahrzehnte, in denen ich geistig tätig sein konnte, sind dahin. Und wenn man das Ganze überdenkt, überblickt, kommen Stunden, wo man müde wird, stumpf, von Apathie bedrängt. Man war im günstigsten Fall ein Chargenspieler, ein Sonderfall, ein Spezialist – große Rollen, abendfüllende Figuren fielen einem nicht zu. Sechzig Jahre – und des Lebens Verfall und Verwahrlosung in einige Prosasätze bündeln oder in ein paar Verse balancieren – wenn das alles ist, gibt es offenbar nur eins: nicht alt werden, nicht so alt, dass man seine eigene Leiche liegen sieht und über sie lacht. . .“
Gottfried Benn taucht bereits wenige Monate nach Kriegsende wieder in der „literarischen Öffentlichkeit“ auf. Schon im September 1945 nimmt er an der ersten Sitzung der Akademie der Künste in Berlin teil und im Oktober trifft sich mit dem Verleger Peter Suhrkamp und Mitte Dezember tritt der junge Berliner Verleger Karl Heinz Henssel an Benn heran mit dem Plan, die „Statischen Gedichte“ erscheinen zu lassen.
Holger Hof schreibt:
„… Bis zum Spätsommer 1947 arbeitete Benn an seinem letzten zu Lebzeiten veröffentlichten größeren Prosatext. Mit den „Statischen Gedichten“ und dem Essayband „Ausdruckswelt“ lagen für diese beiden Gattungen bereits publikationsreife Manuskripte vor. Offenbar hatte Benn den Ehrgeiz, pünktlich zu seinem Comeback der wahrend derzeit allergrößter Publikationshindernisse in Hannover geschriebenen Novelle „Weinhaus Wolf“ und dem „Landsberger Fragment Roman des Phänotyp“ eine weitere „Berliner Novelle, 1947“ hinzuzufügen.“
Der Plan mit den „Statischen Gedichten“ scheitert. Im April – die Fahnen waren schon gedruckt – musste Henssel zurückziehen und schreibt am 11.4.1946 an Benn:
„… ich habe gestern nochmals mit Herrn Bleistein über die Veröffentlichung Ihrer Gedichte gesprochen. Er will nicht, und zwar hält er sich an die Liste, die vom Volksbildungsamt ausgegeben wurde.“
Gemeint ist die am 1. April aufgestellte „Liste der auszusondernden Literatur“, auf der Benn mit zwei Büchern vertreten ist: „Kunst und Macht“ und „Der neue Staat und die Intellektuellen“. Herausgeber der Liste der „Deutschen Verwaltung für Volksbildung in der sowjetischen Besatzungszone“, die wie die anderen Besatzungszonen das Schreibverbot des III. Reiches aufrecht erhält.
Karl Heinz Henssel schlägt Benn vor, Wilhelm Henry Goverts Verlag in Hamburg solle alle Arbeiten Benns übernehmen. Dies geschah, woraufhin der Privatdruck zum 60. Geburtstag hergestellt wurde.
Govert war sicher eine gute Wahl, denn Wilhelm Henry Goverts stand nun wirklich nicht im Verdacht, einen „alten Nazi“ zu unterstützen, schließlich war er wegen seiner Verbindungen zur Widerstandsgruppe Kreisauer Kreis nach Vaduz geflohen. Dort blieb er auch nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges. Außer Govert bemühten sich Johannes Weyl vom Konstanzer Süd-Verlag und Ernst Rowohlt um den „verbotenen“ Autor und ab Dezember Benns alter Verlag, die DVA. Alle Bemühungen scheiterten, denn die Verlage fürchteten die Auflagen der Zensurbehörden.
Benns Stimmungstief erklärt sich nicht nur aus den Erlebnissen der vorangegangenen Jahre, sondern auch zu den Betrachtungen über das Schicksal seiner Generation. Er schreibt:
„… Meiner Generation – soweit sie am Leben blieb und Zeit hatte, etwas anderes zu betreiben als Aufmärsche und Krieg. Ganz direkt gesagt: soweit sie Zeit hatte, nackte, körperliche Zeit, so weit ihr der das ließ, der sich Staat nannte und nichts anderes tat, als Tod und Genickschüsse in sie zu säen und Lügen über das Menschenwesen und eine wahre, erbarmungswürdige Notdurft an Sachen und Brot. Als Beispiel dieser Generation erwähne ich meine eigene Familie: drei meiner Brüder fielen auf dem Schlachtfeld, ein vierter wurde zweimal schwer verwundet, die Übriggebliebenen wurden total bombengeschädigt, verloren alles. Mein Vetter ersten Grades, der Schriftsteller Joachim Benn, fiel in der Somme-Schlacht, sein einziger Sohn im letzten Kriege, von diesem Zweig der Familie ist nichts mehr übrig. Ich selbst war folgende Jahre ohne Unterbrechung als Arzt im Krieg: 1914 bis 1918, 1939 bis 1944. Meine Frau kam 1945 in unmittelbarem Zusammenhang mit den Kriegshandlungen um. Dieser Überblick wird ungefähr der Durchschnitt dessen sein, was eine etwas umfangreiche deutsche Familie der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts erlebte. Da blieb nicht viel Muße, diese Zeit im Sinne Hegels in Begriffe zu fassen.“
Aus „Ausdruckswelt“ – Vorwort
Zustimmung oder Ablehnung, die ersten Artikel die sich wieder mit dem „Verbotenen Autor“ nach dem Krieg beschäftigen, erscheinen in der Schweiz, Schweden und auch in Amerika und 1948 kam der Gedichtband „Statische Gedichte“ im Arche Verlag Zürich des Verlegers Peter Schifferli mit 43 Gedichten aus den Jahren 1937 bis 1947 heraus.
Walter Lennig schreibt:
„… Die zu einem Teil geradezu enthusiastischen Besprechungen dieses Gedichtbandes in der Zeitungs- und Zeitschriftenpresse wie auch im Rundfunk schlug die erste entscheidende Bresche in die Mauer des Schweigens und Verschweigens. Neben den Gedichten Benns nahm sich die gesamte zeitgenössische Lyrik so kümmerlich und eklektisch aus, dass nahezu mit einem Schlage wieder ein zureichender Maßstab gesetzt werden konnte. Auch die Münchner Zeitschrift „Merkur“ griff in die Diskussion ein; ihre Herausgeber wandten sich an den Dichter um Beiträge. Benns Antwort, bald darauf unter dem Titel „Berliner Brief“ während der Berliner Blockade veröffentlicht, hatte die Wirkung einer Fanfare.“
Der „Berliner Brief:
„… Der Ruhm hat keine weißen Flügel, sagt Balzac; aber wenn man wie ich die letzten fünfzehn Jahre lang von den Nazis als Schwein, von den Kommunisten als Trottel, von den Demokraten als geistig Prostituierter, von den Emigranten als Renegat, von den Religiösen als pathologischer Nihilist öffentlich bezeichnet wird, ist man nicht so scharf darauf, wieder in diese Öffentlichkeit einzudringen. Dies umso weniger, wenn man sich dieser Öffentlichkeit innerlich nicht verbunden fühlt. Ich meinerseits habe es nämlich nicht unterlassen, die literarische Produktion der vergangenen drei Jahre auf mich wirken zu lassen und mein Eindruck ist folgender: innerhalb des Abendlandes diskutiert seit vier Jahrzehnten dieselbe Gruppe von Köpfen über dieselbe Gruppe von Kausal- und Konditionalsätzen und kommt zu derselben Gruppe von sei es Ergebnissen, die sie Synthese, sei es von Nicht-Ergebnissen, die sie dann Krise nennt – das Ganze wirkt schon etwas abgespielt, wie ein bewährtes Libretto, es wirkt erstarrt und scholastisch, es wirkt wie eine Typik aus Kulisse und Staub. Ein Volk oder das Abendland, das sich erneuern möchte, und manches lässt darauf schließen, dass es sich auch noch erneuern könnte, ist mit dieser Methode nicht zu regenerieren. – Ein Volk regeneriert sich durch Emanation von spontanen Elementen, nicht durch Pflege und Hochbinden von historisierenden und deskriptiven. Diese letzteren aber füllen bei uns den öffentlichen Raum. Und als Hintergrund dieses Vorgangs sehe ich etwas, das, wenn ich es ausspreche, Sie als katastrophal empfinden werden. Das Abendland geht nämlich meiner Meinung nach gar nicht zugrunde an den totalitären Systemen oder den SS-Verbrechen, auch nicht an seiner materiellen Verarmung oder an den Gottwalds und Molotows, sondern an dem hündischen Kriechen seiner Intelligenz vor den politischen Begriffen. – Sie winkten mir freundlich mit einem Handschuh und ich erwidere mit etwas wie einer Nilpferdpeitsche. Aber ich wiederhole nochmals, ich verallgemeinre nichts, ich erweitere meine Existenz nicht über meine Konstitution. Sie sollten nur aus meinen Zeilen entnehmen, dass meine Besorgnis, nicht wieder gedruckt zu erscheinen, keine große sein kann – mein Nihilismus ist universal, er trägt – er weiß die unausdenkbare Verwandlung. Und damit leben Sie wohl und nehmen Sie Grüße aus dem blockierten, stromlosen Berlin, und zwar aus dem seiner Stadtteile, der … nahe am Verhungern ist. Geschrieben in einem schattenreichen Zimmer, in dem von vierundzwanzig Stunden zwei beleuchtet sind, denn ein dunkler, regnerischer Sommer nimmt zusätzlich der Stadt die letzte Chance eines kurzen Glücks und legt seit dem Frühjahr einen Herbst über ihre Trümmer. Aber es ist die Stadt, deren Glanz ich liebte, deren Elend ich jetzt heimatlich ertrage, in der ich das zweite, das dritte und nun das vierte Reich erlebe und aus der mich nichts zur Emigration bewegen wird, ja, jetzt könnte man ihr sogar eine Zukunft voraussagen: in ihre Nüchternheit treten Spannungen, in ihre Klarheit Gangunterschiede und Interferenzen, etwas Doppeldeutiges setzt ein, eine Ambivalenz, aus der Zentauren oder Amphibien geboren werden“ …
Ilse Kaul, der Mensch, dem ich meinen Namen übergebe und hinterlassen will …
„Sie kam zur Typhusschutzimpfung, die befohlen war, zu mir in die Sprechstunde und so ergab es sich!“
Holger Hof:
„… Ende Juli 1946 suchte Ilse Kaul zum ersten Mal Benns Praxis auf. Fünf Monate später waren die beiden verheiratet.“
Walter Lennig schreibt über diese dritte Ehe:
„…Im Dezember 1946 schließt Benn seine dritte und letzte Ehe mit der Zahnärztin Dr. Ilse Kaul, die nicht weit von seiner Wohnung ihre Praxis betrieb und die er kennengelernt hatte, als sie zu ihm in die Sprechstunde kam, um sich gegen Typhus impfen zu lassen, laut Vorschrift der Militärregierung. Es war zunächst ein gewisses Wagnis für beide Teile, denn Gottfried Benn ist beinahe doppelt so alt wie seine junge Frau. In der Folge jedoch wurde es von allen drei Ehen Benns nicht nur die längste, sondern auch die beste und glücklichste, ja, man darf behaupten, dass Benn erst in dieser Verbindung ein bemerkenswertes Talent zum Ehemann entwickelte und damit viele entgegenstehende Aussprüche und Bemerkungen in seinen Briefen und Werken praktisch desavouierte. Ilse Benn pries er als die Gefährtin, „eine Generation jünger als ich, die nun mit zarter und kluger Hand die Stunden und die Schritte und in den Vasen die Astern ordnet.“ Ihr verdankt er sehr wesentlich den enormen Auftrieb, die große Woge künstlerischen Schaffens im letzten Jahrzehnt, das vielgerühmte „Alterswerk“.
Ilse Benn erinnerte sich nach 30 Jahren: „Wir knieten nieder und tauschten die Ringe in einer eiskalten Kirche am Bayerischen Platz, deren Fenster notdürftig mit Pappe vernagelt waren. Zu unserem Erstaunen huschten Menschen zur Teilnahme herein mit Kopftüchern, in Mänteln aus Wolldecken und Uniformen und was man sonst so trug nach Krieg und Flucht. Es waren meine und seine Patienten, Praxisangestellten und Wohnungsnachbarn. Dabei hatten wir uns alle Mühe gegeben, unsere Eheschließung geheim zu halten.“
Der Verleger Max Niedermayer in Wiesbaden bekommt endlich gegen alle Widerstände eine Druckerlaubnis für Gottfried Benn. Als erstes Buch erscheint „Drei alte Männer“. In der zweiten Auflage findet sich ein Hinweis, der wohl sein musste: „Dies ist das erste Buch Gottfried Benns, das nach zwölfjähriger Unterbrechung – 1948 – wieder in Deutschland erschien.“
Als Lizenzausgabe für Deutschland folgen die in der Schweiz bereits erschienenen „Statischen Gedichte“, „Der Ptolemäer“, (darin auch „Weinhaus Wolf“ und „Roman des Phänotyp“), sowie der Essayband „Ausdruckswelt.“
Und nochmal Walter Lennig:
„… Es verging hierauf bis zum Tode Benns fast kein Jahr mehr ohne neue Publikation, Lyrik oder Prosa. Zwischen dem Dichter und dem Verleger entwickelte sich auch bald ein persönliches Vertrauensverhältnis. (…)
Er zog sich später völlig, auch mit seiner eingeschränkten Praxis, in das kleine Hofzimmer zurück: als er 1953 (nachdem ihm endlich eine Pension auf Grund seiner langen militärärztlichen Tätigkeit bewilligt worden war) seine Praxis schloss, beließ er alle ärztlichen Requisiten darin. Zum gemeinsamen Wohnzimmer diente nun das dritte der drei Vorderzimmer; hier empfing er auch seine Gäste: nie unangemeldet, immer mit der Bitte, nicht allzulang zu bleiben. (…)
Die Wenigsten ahnten oder wussten gar, wie krank Gottfried Benn bereits am 2. Mai, seinem letzten Geburtstag, war, was es ihn kostete, diesen strapaziösen Tag mit Feiern, Ansprachen, Empfängen durchzustehen. Das Merkwürdige war bis zuletzt, dass man ihm die Todeskrankheit kaum ansah.
Was ihm jedoch fehlte, vermochte keiner anzugeben, zu den Schmerzen hieß es „Ätiologie unbekannt“, Mittel dagegen rein palliativ. (Die Todeskrankheit ist überhaupt nicht klar diagnostiziert worden, nicht das so plötzliche Ende. Bei einer Sektion nach dem Tode – dann freilich. Aber Frau Dr. Benn hielt es mit einer entsprechenden Anweisung Arthur Schopenhauers: „Haben sie (die Ärzte) vorher nichts gefunden, dann brauchen sie auch nachher nichts zu finden“. Auch schlief er schlecht, wachte oft auf.“
Letztlich wurde ihm eine Kur in Schlangenbad empfohlen, Benn willigte ein. Am 14. Juli aber schreibt er von dort:
„… Die Sache hier verlief leider ganz anders, als wir hofften. Als ich halbtot vor Schmerzen hier ankam, warf ich mich aufs Bett, bat einen Badearzt zu mir, ein sehr netter, sympathischer Mann, der sah meine Dokumente aus Berlin an, hörte meine Geschichte an und sagte: „Lieber Freund, Sie sind hier fehl am Platz, Sie sind 4 Wochen zu früh gekommen, völlig ausgeschlossen, bei einem so akuten schweren Anfall von Rheuma und Neuritis und so hoher Blutsenkung irgendeine balneologische Maßnahme zu ergreifen, würde die Sache nur verschlimmern. Sie bleiben fest im Bett liegen und bekommen jeden Tag eine Spritze Irgapyrin von mir.“ So geschah es. Habe jetzt 7 Spritzen ohne eine leiseste Besserung, die Schmerzen sind enorm. Esse im Bett, da ich im Restaurant gar nicht sitzen kann, war noch keinen Schritt aus dem Bett. Dazu das Wetter. Regen, Nebel, Kälte. Eine ganz desolate Lage. Aber wo soll ich hin?“
Ein merkwürdiges Erlebnis in Schlangenbad erzählt Benn: Da er sich im Bett nicht selber rasieren konnte, ließ er den Badefriseur kommen, plauderte mit ihm, und es stellte sich heraus, dass dieser Barbier einst in Davos gewirkt und dort auch den Moribundus Klabund rasiert hatte …
„… Dann kam der Vormittag, an dem mich Frau Benn anrief und das Ende berichtete, das plötzliche, so plötzlich von niemand erwartete Ende. Und wieder ein paar Tage später war ich unter den Hunderten im Dahlemer Waldfriedhof, bei den Reden, den kirchlichen und den weltlichen, in der Kapelle und am Grab mit seinem Gebirge von Kränzen. Er war also wirklich nur die siebzig Jahre alt geworden, die er mehrmals als sein mögliches Alter genannt, aber natürlich nicht geradezu ersehnt hatte, auch war der Wunsch in Erfüllung gegangen, im Sommer zu sterben, wenn die Erde leicht und locker sei. Es war ein heißer Tag, die Sonne brannte, oben summten die Flugzeuge. Tout Berlin hatte sich eingefunden und Dutzende von Trauergästen kamen von auswärts. Einen Augenblick bannte mich Benns große, so oft wiederkehrende Vision, die Hauptformel: Trauer und Licht! Aber dann erblickte ich die vielen gespannten Intellektuellengesichter, es war klar: das sehr ergiebige, postume Wertungs- und Deutungsgeschäft der Literatur konnte jetzt beginnen,“ … so schildert Walter Lennig den Tod von Gottfried Benn.
Der war am 7. Juli 1956. Gottfried Benn litt seit Beginn des Jahres 1956 unter heftigen Schmerzen, deren Ursache, Knochenkrebs, jedoch erst kurz vor seinem Tod eindeutig festgestellt wurde.
Johannes R. Becher – damals Kultusminister der DDR – schreibt, als er vom Tode Benns erfährt, dieses Gedicht:
Er ist geschieden, wie er lebte: streng,
Und diese Größe einte uns, die Strenge,
Uns beiden war vormals die Welt zu eng,
Wir blieben beide einsam im Gedränge.
Unwürdig war ein: nihil nisi bene,
Der Juli summt ein Lied dir: „Muß i denn . . .“
Mein Vers weint eine harte, strenge Träne,
Denn er nahm Abschied von uns: Gottfried Benn.
Else Lasker-Schüler schrieb in der Zeitschrift „Die Aktion über ihn:
„… Er ist ein evangelischer Heide, ein Christ mit dem Götzenhaupt, mit der Habichtnase und dem Leopardenherzen. Sein Herz ist fellgefleckt und gestreckt. Er liebt Fell und liebt Met und die großen Böcke, die am Waldfeuer gebraten wurden. Ich sagte einmal zu ihm: „Sie sind allerleiherb, lauter Fels, rauhe Ebene, auch Waldfrieden, und Bucheckern und Strauch und Rotrotdorn und Kastanien im Schatten und Goldlaub, braune Blätter und Rohr. Oder Sie sind, Erde und Wurzeln und Jagd und Höhenrauch und Löwenzahn und Brennnesseln und Donner.“ Er steht unentwegt, wankt nie, trägt das Dach einer Welt auf dem Rücken.“
Die Totenrede hält der Journalist und Schriftsteller Clemens Graf von Podewils-Juncker-Bigatto:
„…Was in seinem Werk auseinanderzuklaffen scheint, Hart und Innig, Kälte und Ergriffenheit, Schroffes und Wärmendes — der Mensch hat es in der Einheit seiner Person versammelt. Er war ein Herr von alter Art: Darin beschlossen ist Männlichkeit und Wohlwollen, Zurückhaltung und Entgegenkommen und eine Unerschrockenheit, die sich nicht anders als bescheiden geben kann. Er hatte Maß.
Solche Ausgewogenheit hat nichts Starres. Ihre Bewegung ist rhythmisch — und Rhythmus war das Gesetz seiner Dichtung. Das gilt nicht nur für die strenggefügten Strophen, sondern auch noch für die ganz zerlöst scheinenden Gebilde. Diejenigen, die sich seine Jünger nennen, werden das beherzigen müssen. Weder auf Rhythmus noch auf Sinn verzichtet sein Gedicht, mag es uns auch durch das weither Zusammengeholte seiner Farben, Klänge und Worte zunächst befremden und erst durch die Befremdung hindurch am Ende beglücken.“
Wie es sich gehört, bleibt noch nachzutragen: 1951 verleiht man Gottfried Benn den Georg Büchner Preis und an seinem 67. Geburtstag 1953 wurde ihm durch Bundespräsident Theodor Heuss das Verdienstkreuz des Verdienstordens der Bundesrepublik Deutschland verliehen und 1956 erhielt er den großen Kunstpreis des Landes Nordrhein-Westfalen.
Gottfried Benns Grab ist ein Ehrengrab der Stadt Berlin auf dem Waldfriedhof Dahlem.
Nach Gottfried Benns Tod wollte seine Frau nicht länger in Berlin bleiben. Sie zog mit ihrer Praxis nach Bernhausen bei Stuttgart, erwarb ein paar Jahre später ein Haus in Wolfschlugen bei Nürtingen, betrieb dort weiterhin ihre Zahnarztpraxis und hatte bald viele freundschaftliche Kontakte in Stuttgart, unter anderem zum Kreis um HAP Grieshaber.
Gottfried Benns Werke und dabei beziehe ich mich auf Wikipedia:
Werke in Buchform
Über die Häufigkeit des Diabetes mellitus im Heer. Dissertation (Berlin 1912)
Morgue und andere Gedichte (1912)
Söhne. Neue Gedichte (1913)
Gehirne. Novellen (Leipzig 1916)
Fleisch. Gesammelte Gedichte (1917)
Die Gesammelten Schriften (1922)
Schutt (1924)
Spaltung. Neue Gedichte (1925)
Gesammelte Gedichte (1927)
Oratorium. Das Unaufhörliche (1931), Musik von Paul Hindemith
Der neue Staat und die Intellektuellen (1933)
Kunst und Macht (1934)
Ausgewählte Gedichte (1936)
Zweiundzwanzig Gedichte (1943)
Statische Gedichte (1948)
Drei alte Männer (1949)
Der Ptolemäer (1949)
Ausdruckswelt. Essays und Aphorismen (1949)
Trunkene Flut. Ausgewählte Gedichte (1949)
Roman des Phänotyp (seit 1943, veröffentlicht 1949, 1961 als Nr. 734 in der Insel-Bücherei)
Doppelleben (1950)
Fragmente. Neue Gedichte (1951)
Probleme der Lyrik (1951)Essays (1951)
Die Stimme hinter dem Vorhang (1952)
Destillationen. Neue Gedichte (1953), darin: Nur zwei Dinge
Altern als Problem für Künstler (1954)
Aprèslude (1955)
Primäre Tage. Gedichte und Fragmente aus dem Nachlaß (1958)
Werkausgaben
Gesammelte Werke. Hrsg. von Dieter Wellershoff. 4 Bände. Limes, Stuttgart 1958–1961.
Bd. 1: Essays, Reden, Vorträge. 1959.
Bd. 2: Prosa und Szenen. 1958.
Bd. 3: Gedichte. 1960.
Bd. 4: Autobiographische und vermischte Schriften. 1961.
Gesammelte Werke. Hrsg. von Dieter Wellershoff. 8 Bände. Limes, Wiesbaden 1968.
Bd. 1: Gedichte.
Bd. 2: Gedichte (Anhang).
Bd. 3: Essays und Aufsätze
Bd. 4: Reden und Vorträge.
Bd. 5: Prosa.
Bd. 6: Stücke aus dem Nachlaß, Szenen.
Bd. 7: Vermischte Schriften.
Bd. 8: Autobiographische Schriften.
Das Hauptwerk. Hrsg. von Marguerite Schlüter. 4 Bände. Limes, Wiesbaden 1980.
Bd. 1: Lyrik.
Bd. 2: Essays, Reden, Vorträge.
Bd. 3: Prosa, Szenen.
Bd. 4: Vermischte Schriften.
Gesammelte Werke in der Fassung der Erstdrucke. Textkritisch durchgesehen und hrsg. von Bruno Hillebrand. 4 Bände. Fischer Taschenbuch, Frankfurt am Main 1982–1990.
Bd. 1: Gedichte in der Fassung der Erstdrucke. 1982.
Bd. 2: Prosa und Autobiographie in der Fassung der Erstdrucke. 1984.
Bd. 3: Essays und Reden in der Fassung der Erstdrucke. 1989.
Bd. 4: Szenen und Schriften in der Fassung der Erstdrucke. 1990.
Sämtliche Werke. Stuttgarter Ausgabe. 7 Bände in 8 Teilen. Hrsg. von Gerhard Schuster (Bd. 1–5) und Holger Hof (Bd. 6/7). Klett-Cotta, Stuttgart 1986–2003, ISBN 978-3-608-93943-9.
Bd. 1: Gedichte 1 [Gesammelte Gedichte 1956]. 1986.
Bd. 2: Gedichte 2 [Zu Lebzeiten veröffentlichte Gedichte, die nicht in die Sammlung von 1956 aufgenommen wurden; Gedichte aus dem Nachlass; Poetische Fragmente 1901–1956]. 1986.
Bd. 3: Prosa 1. 1987.
Bd. 4: Prosa 2 [1933–1945]. 1989.
Bd. 5: Prosa 3 [1946–1950]. 2001.
Bd. 6: Prosa 4 [1951–1956]. 2001.
Bd. 7,1: Szenen und andere Schriften. 2003.
Bd. 7,2: Vorarbeiten, Entwürfe und Notizen aus dem Nachlass, Register. 2003.
Filmographie
Fernseh-Gespräch anlässlich des 70. Geburtstages vom 3. Mai 1956; 16 mm Film, 9 Minuten
Reisen mit Benn. Ein Film von Andreas Christoph Schmidt mit Ursula Ziebarth über die letzten Lebensjahre Benns. SFB/WDR 1998, 45 min
„Gottfried Benn. Schakal und Engel – hellgeäugt und schwarzgeflügelt“, Dokumentation, 45 Min., Deutschland 2006, Regie: Jürgen Miermeister, Produktion: ZDF, Erstausstrahlung: 20. Juli 2006.
Quellen:
„Benn – Sein Leben in Bildern und Texten“ von Holger Hof. Erschienen im Klett-Cotta Verlag Stuttgart. © 2007 Klett-Cotta – J.G. Cotta’sche Buchhandlung Nachfolger GmbH, Stuttgart.
https://www.klett-cotta.de/home/
ISBN 978-3-608-9545-9
„Gottfried Benn in Selbstzeugnissen und Bilddokumenten dargestellt von Walter Lennig“ – erschienen bei Rowolth Taschenbuch Verlag GmbH Reinbeck bei Hamburg 1962 – Herausgegeben von Klaus Kusenberg.