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Ernst Rüdin – geboren am 19. April 1874 in St. Gallen; gestorben am 22. Oktober 1952 in München – war ein schweizerisch-deutscher Psychiater, Humangenetiker und Rassenhygieniker.
Leben
Ernst Rüdin wurde geboren als Sohn eines Lehrers und späteren Textilkaufmanns. Er hatte drei ältere Schwestern; die mittlere war eine der ersten Frauen in der Schweiz, die Medizin studierten: Pauline (1866–1942). Sie heiratete 1890 den Rassenhygieniker Alfred Ploetz. Bereits am Gymnasium wandte sich Rüdin unter dem Einfluss seiner Schwagers und dem Vorbild des Psychiaters Auguste Forel der Rassenhygiene und der Abstinenzbewegung zu. Von 1893 bis 1898 studierte er Medizin an den Universitäten Genf, Lausanne, Neapel, Heidelberg, Berlin, Dublin und Zürich. 1898 absolvierte er das Staatsexamen. 1899 wurde er Assistent an der Psychiatrischen Universitätsklinik Zürich (Burghölzli) unter Eugen Bleuler. 1900 ging er für ein Jahr als Assistent zu Emil Kraepelin nach Heidelberg. Danach kehrte er zurück nach Zürich, wo er 1901 mit der Schrift „Über die klinischen Formen der Gefängnisspsychosen“, die er in Heidelberg erstellt hatte, zum Dr. med. promoviert wurde. Anschließend wechselte er nach Berlin, wo er, nach neurologischer Tätigkeit unter Hermann Oppenheim, ein Volontariat an der Beobachtungsabteilung der Strafanstalt Moabit absolvierte. Seit 1903 plädierte Rüdin für staatliche Eingriffe in die Fortpflanzung unter eugenischen Gesichtspunkten. Er war 1904 Mitgründer und von 1905 bis 1907 hauptamtlicher Redakteur des von Ploetz herausgegebenen Archivs für Rassen- und Gesellschaftsbiologie. 1905 gehörte er zu den Gründungsmitgliedern der von Ploetz präsidierten Gesellschaft für Rassenhygiene.
1907 ging er Kraepelin folgend nach München, wo er sich 1909 mit der Schrift „Über die klinischen Formen der Seelenstörungen bei zu lebenslänglicher Zuchthausstrafe Verurteilten“ für das Fach Psychiatrie habilitierte. Im selben Jahr wurde er zum Oberarzt befördert. 1912 wurde er in Deutschland eingebürgert.
Er wurde 1915 zum außerordentlichen Professor für Psychiatrie ernannt.
In der Studie „Zur Vererbung und Neuentstehung der Dementia Praecox“ (1916) entwickelte Rüdin die statistische Methode der „empirischen Erbprognose“, mit der er wissenschaftlich bekannt wurde. Dabei griff er auf methodische Vorarbeiten des Medizinalstatistikers Wilhelm Weinberg zurück.
Als Kraepelin 1917 die Deutsche Forschungsanstalt für Psychiatrie in München gründete, übernahm Rüdin die Leitung der „Genealogisch-Demographischen Abteilung“, die bald zu einem international anerkannten Zentrum der psychiatrisch-genetischen Forschung wurde. In den letzten Monaten des Ersten Weltkriegs und nach dem Ende der Münchner Räterepublik begutachtete er einige Revolutionäre, die er nach psychopathologischen Kriterien abwertete, während er dem Grafen von Arco-Valley, der 1919 den bayerischen Ministerpräsidenten erschossen hatte, „keine Zeichen einer Geisteskrankheit“ unterstellte. 1925 übernahm Rüdin den Lehrstuhl für Psychiatrie an der Universität Basel, der mit der Leitung der Heil- und Pflegeanstalt Friedmatt verbunden war, hielt aber die Leitung seiner Abteilung in München weiter inne. Da er in Basel seine psychiatrisch-genetischen Forschungen nicht im erhofften Umfang weiterführen konnte, kehrte er 1928, zwei Jahre nach Kraepelins Tod, an die Deutsche Forschungsanstalt für Psychiatrie zurück. 1931 wurde er geschäftsführender Direktor der Forschungsanstalt; die Forschungsanstalt war 1924 als „Kaiser-Wilhelm-Institut für Psychiatrie“ in die Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft aufgenommen worden.
1932 wurde Rüdin als Nachfolger von Charles Davenport zum Präsidenten der International Federation of Eugenic Organizations gewählt; 1936 folgte ihm Torsten Sjögren als Vorsitzender dieses internationalen Zusammenschlusses.
Nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten kam es zu einer engen Zusammenarbeit der neuen Machthaber mit dem renommierten Wissenschaftler Rüdin sowie mit z. B. Robert Ritter. Rüdin war als Vorsitzender der Gesellschaft Deutscher Neurologen und Psychiater „einer der wichtigsten Legitimationsträger der nationalsozialistischen Gesundheits- und Wissenschaftspolitik“. Seine Abteilung bei der Deutschen Forschungsanstalt für Psychiatrie wurde mit Mitteln der Reichskanzlei unterstützt. 1933 wurde er Obmann der Arbeitsgemeinschaft für Rassenhygiene und Rassenpolitik des Sachverständigen-Beirats für Rassen- und Bevölkerungspolitik beim Reichsminister des Innern. Das „Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“ vom 14. Juli 1933, mit dem „biologisch minderwertige[s] Erbgut“ durch Zwangssterilisation ausgeschaltet werden sollte, basierte unter anderm auf Rüdins „Erbprognosen“. Im Auftrag der Reichsregierung verfasste er zusammen mit Arthur Gütt und Falk Ruttke den amtlichen Kommentar zum Gesetz. Darin bezeichnete er das Gesetz als „die humanste Tat der Menschheit“.
1934 wurde Rüdin Beisitzer beim Erbgesundheits-Obergericht in München. Robert Ritter erhielt 1935, aufgrund einer Empfehlung von Ernst Rüdin, vom Reichsgesundheitsamt den Auftrag, „eine gründliche rassenkundliche Erfassung und Sichtung aller Zigeuner und Zigeunermischlinge durchzuführen“. Von 1936 bis 1944 leitete er kommissarisch das Institut für Rassenhygiene in München, an dem zuvor Lothar G. Tirala Direktor war. 1937 wurde Rüdin Mitglied der NSDAP; er trat auch weiteren NS-Organisationen bei, wie der Nationalsozialistischen Volkswohlfahrt (NSV), dem Reichsluftschutzbund und dem NS-Dozentenbund. 1939 verlieh ihm Adolf Hitler die Goethe-Medaille für Kunst und Wissenschaft. Während des Zweiten Weltkriegs unternahm Rüdin zusammen mit Fritz Roeder im Auftrag der Luftwaffe Untersuchungen Über das chemische Verhalten des Hirnparenchyms und des Liquorsystems bei Sauerstoffmangel, die auf Menschenversuchen beruhten.
Im Jahr 1943, als Rüdin bereits bekannt war, dass „Rassenhygiene“ als Deckbezeichnung für die Mordtaten des NS-Regimes stand, schrieb er im Archiv für Rassen- und Gesellschaftsbiologie, es sei „das unvergängliche geschichtliche Verdienst Adolf Hitlers und seiner Gefolgschaft, über die rein wissenschaftlichen Erkenntnisse hinaus den ersten wegweisenden und entscheidenden Schritt zur genialen rassenhygienischen Tat in und am Deutschen Volk gewagt zu haben“.
1945 wurde ihm das Schweizer Bürgerrecht entzogen. Die US-Militärregierung enthob Rüdin seines Amtes und internierte ihn im Herbst 1945. Im folgenden Entnazifizierungsverfahren wurde er als „Minderbelasteter“ und nach einer Bewährungsfrist als „Mitläufer“ eingestuft. Bereits 1946 wurde er freigelassen, nachdem Max Planck sich für ihn eingesetzt hatte. Als Rüdin 1952 starb, stand in der Todesanzeige des Max-Planck-Instituts für Psychiatrie, Rüdin sei „einer der hervorragendsten Begründer der genetischen Forschung in der Psychiatrie“ gewesen.
Ernst Rüdin war zweimal verheiratet. 1920 heiratete er Ida Editha „Itha“ Senger, Tochter des Gymnasialkonrektors Joseph Senger. Nachdem seine Ehefrau 1926 gestorben war, heiratete er 1929 deren Schwester Theresia Ida „Resa“ Senger. Aus der ersten Ehe hatte er eine Tochter, Edith Zerbin-Rüdin (1921–2015), die ebenfalls Psychiaterin und Humangenetikerin wurde.
Auszeichnungen und Ehrungen
1932: Wahl zum Mitglied der Deutschen Akademie der Naturforscher Leopoldina.
1944: Adlerschild des Deutschen Reiches