Am 8. Mai 1884 kommt Ernst Heinrich als jüngstes von fünf Kindern des Ehepaares Carl Samuel Gräser (1839–1894) und Charlotte, geborene Pelzer im siebenbürgischen Kronstadt, dem heutigen Brașov (Rumänien), auf die Welt.
Wie seine beiden Brüder Gusto und Karl ist er vielseitig begabt, er zeichnet, schreibt und spielt Geige. Ab 1902 entscheidet er sich zum Studium der Malerei. Zunächst an der Akademie der bildenden Künste in München, dann in Zürich und Ascona, von 1908 bis 1914 wechselt er an die Königlich Württembergischen Akademie der bildenden Künste in Stuttgart. Seine Professoren waren dort Christian Landenberger (7. April 1862 in Ebingen – 13. Februar 1927 in Stuttgart), ein impressionistischer Maler und Professor an der Stuttgarter Kunstakademie und Adolf Richard Hölzel (13. Mai 1853 in Olmütz in Mähren – 17. Oktober 1934 in Stuttgart), ein deutschmährischer Maler, ein früher Protagonist der Abstraktion und Wegbereiter der Moderne.
Wikipedia schreibt über Christian Landenberger:
„… Ab 1879 erhielt er eine künstlerische Ausbildung an der Stuttgarter Kunstschule. Von 883 bis 1887 studierte er an der Münchner Akademie, wo sich seit Mitte des 19. Jahrhunderts eine neue Malweise durchgesetzt hatte, die zu einer Schule der Freilichtmaler geführt hat. 1890 folgte seine erste öffentliche Ausstellung auf der Münchner Internationalen Kunstausstellung, zwei Jahre später wurde er Gründungsmitglied der Münchner Secession und stellte regelmäßig bis 1916 aus. Im Jahr 1895 gründete er eine private Malschule, zwischen 1899 und 1905 arbeitete er als Zeichenlehrer an der Damenakademie des Münchner Künstlerinnenvereins. Die Stuttgarter Akademie berief ihn 1905 „auf die im Etat (des Jahres) neuerrichtete Professur für ‚technisches Malen‘“. Christian Adam Landenberger war Mitglied im Deutschen Künstlerbund.“
Und über Adolf Hölzel:
„… Adolf Hölzel, als Sohn des Verlegers Eduard Hölzel im selben Jahr geboren wie Vincent van Gogh und Ferdinand Hodler, absolvierte ab Mai 1868 eine dreijährige Ausbildung als Schriftsetzer in Gotha in der Kartographisch-Geographischen Verlagsanstalt von Friedrich Andreas Perthes und nahm privaten Zeichenunterricht. 1871 zog er mit seinen Eltern nach Wien. Von 1872 an studierte er an der Wiener Akademie Malerei und setzte seine Studien ab 1876 in München an der Kunstakademie fort. (…) Nach Beendigung seiner Studienzeit (1882) heiratete Adolf Hölzel Karoline Emilie von Karlowa (1858–1930). Das Ehepaar wohnte mit dem 1886 geborenen Sohn teils in Rothenburg ob der Tauber und teils in München. In München lernte er den impressionistischen Maler Fritz von Uhde kennen und gründete mit Ludwig Dill und Arthur Langhammer die „Dachauer Malschule“ (…), was ihn zu einem der ersten Vertreter der Künstlerkolonie Dachau machte. (…). 1904 beteiligte sich Adolf Hölzel an der ersten (noch von den Münchener Sezessionisten ausgerichteten) Ausstellung des Deutschen Künstlerbundes. (…)In Dachau lebte Hölzel von 1888 bis 1905. Seine neuartige Unterrichtsmethode zog bald junge Künstler aus dem In- und Ausland an. (…)
Hölzel zählt nicht nur zu den Gründern der Münchner Secession, sondern auch zu denen der Wiener Secession. (…). Eng mit Carl Moll befreundet, zählt er zur Gruppe der Stilkünstler um Gustav Klimt, die 1905 geschlossen aus der Secession austrat. (…)
Nachdem Ferdinand Hodler die Nachfolge Leopold von Kalckreuths ablehnte, wurde Hölzel 1905 als Professor und Leiter einer Komponierschule an die „Kgl. Akademie der bildenden Künste“ in Stuttgart (heute Staatliche Akademie der Bildenden Künste Stuttgart) von Karl von Weizsäcker berufen. Er malte – bereits mehrere Jahre vor Wassily Kandinsky – abstrakte Kompositionen.
Adolf Hölzel starb am 17. Oktober 1934 in Stuttgart. Der große Erfolg blieb ihm versagt. Sein Grab befindet sich auf dem Waldfriedhof Stuttgart.
Bereits in den Jahren seines Studiums stand Ernst Gräser den Gedanken von Rudolf Joseph Lorenz Steiner (27. Februar 1861 in Kraljevec, Königreich Ungarn, heute Kroatien – 30. März 1925 in Dornach, Schweiz), einem Esoteriker und Begründer der Anthroposophie, nahe.
In seiner Münchner Zeit lernte Ernst Gräser die einem alten ungarischen Geschlecht entstammende Geigerin und nicht weniger begabte Malerin Klementine Baronin Pongracz de Szentmiklos et Ovári kennen, die er im Februar 1916 in München heiratete, um mit ihr ein Leben freien Künstlertums zu führen. Dass Ernst Gräser, ebenfalls doppelt begabt, gelegentlich selbst zur Geige griff, um klassische Musik zu treiben, oder auch nur, um sich als besonderer Kenner ungarischer Zigeunerweisen zu erweisen, konnte die Verbundenheit des Künstlerpaares nur noch enger gestalten.“ (Hermann Müller) Die Ehe blieb kinderlos und das Ehepaar zog in den Großraum Stuttgart, zuletzt dauerhaft nach Stuttgart-Sillenbuch. Unter anderem „tauchte“ er in diesen Jahren auch in Waiblingen auf und in Backnang entwarf er ein Fenster der Stiftskirche.
Durch die Teilnahme an einer Vielzahl von Ausstellungen erwarb sich Gräser einen größeren Bekanntheitsgrad – 1920 wurde er z.B. Ehrenmitglied der Dresdner Kunstgenossenschaft und drei Jahre später war er Gründungsmitglied der Stuttgarter Sezession (1923–1932), an deren Ausstellungen er jährlich teilnahm. In den Jahren 1923, 1924 und 1927 wurde er dort Jurymitglied.
Zur Dresdner Kunstgenossenschaft lese ich bei Wikipedia:
„… Die Dresdner Kunstgenossenschaft wurde am 2. Dezember 1836 unter dem Namen „Dresdner Künstlerverein“ gegründet. Zu den Gründungsmitgliedern gehörten u. a. Ludwig Richter, Johan Christian Clausen Dahl, Ernst Rietschel und Gottfried Semper. Die Dresdner Kunstgenossenschaft stellte bis etwa 1890 jeweils die Leiter der staatlichen und städtischen Sammlungen, die Künstlervorstandsmitglieder des Sächsischen Kunstvereins und vertrat die Interessen der Künstlerschaft in den behördlichen Kunstkommissionen.“
Und die Stuttgarter Sezession beschreibt die gleiche Quelle:
„… Die Stuttgarter Sezession (auch Secession geschrieben) war eine deutsche Künstlergruppe von Malern und Bildhauern, die sich im Frühjahr 1923 vom Künstlerbund Stuttgart aufgrund dessen veralteten Führungsstils und seiner konservativen Kunstpolitik abspaltete. Die Gestaltung der Ausstellungen war der wesentliche Streitpunkt, der zu dieser Abspaltung führte, welche sich im Namen an frühere Abspaltungen (= Secessionen) von Künstlergruppen anlehnte. (…)
Heinrich Altherr war von 1923 bis 1928 der erste Vorsitzende. Seine Persönlichkeit prägte und dominierte die Stuttgarter Sezession geistig. 1933 wurde die Künstlervereinigung im Zuge der nationalsozialistischen Gleichschaltung praktisch aufgelöst. Formal existierte sie allerdings noch bis Anfang 1937. Das endgültige Aus kam Ende 1937 durch die Säuberungsaktion der Nationalsozialisten in der Staatlichen Gemäldegalerie in Stuttgart, bei der zahlreiche Werke der Mitglieder und Ausstellungsteilnehmer entfernt und zerstört wurden.
1947 wurde die „Stuttgarter Sezession“ neu gegründet und existierte ohne eigene Ausstellungsmöglichkeiten bis 1967.“
Mit dem Brand des Münchner Glaspalastes erlitt Gräser einen enormen Verlust. Acht seiner großen Gemälde wurden vollständig vernichtet, auch wirtschaftlich ein „Desaster“.
Wikipedia beschreibt diesen Brand:
„… Am 6. Juni 1931 brannte der Münchner Glaspalast vollständig ab, wie fünf Jahre später sein Londoner Vorbild. Der Alarm wurde um 3.30 Uhr ausgelöst. Am Morgen waren von dem Gebäude nur noch rauchende Trümmer, geschmolzenes Glas und verbogene Stahlträger übrig. Als Ursache wurde zunächst Selbstentzündung von ölgetränkter Putzwolle vermutet, später wurde jedoch nach einem Gutachten Brandstiftung als Ursache ermittelt.
Bei dem Feuer wurden über 3000 Kunstwerke unwiederbringlich zerstört, darunter die komplette, 110 Gemälde umfassende, Sonderausstellung „Werke deutscher Romantiker von Caspar David Friedrich bis Moritz von Schwind“.
Weitere 1000 Werke damaliger zeitgenössischer Künstler waren schwer beschädigt worden und nur 80 Kunstgegenstände konnten unversehrt geborgen werden.“
Der Glaspalast war ein Ausstellungsgebäude in der Münchner Innenstadt auf dem Gelände des Alten Botanischen Gartens, 1854 errichtet und gänzlich aus Glas und Gusseisen erbaut.
Wikipedia:
„… Im Glaspalast wurde 1858 die „Erste deutsche allgemeine und historische Kunstausstellung“ veranstaltet, es folgte 1869 die „I. Internationale Kunstausstellung“, 1888 die „III. Internationale Kunstausstellung“. Ab 1889 wurde der Glaspalast fast ausschließlich für Kunstausstellungen genutzt. Diese entwickelten sich gleichermaßen zum Forum als auch zum Ort des internationalen Kunsthandels. In den 1880er Jahren erfüllte der Glaspalast nicht nur seine wichtigen Funktionen im künstlerischen, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Leben der Stadt München, sondern begründete vor allem den Ruf Münchens als „Stadt der Kunst und Kultur“ und ermöglichte der Landeshauptstadt somit den Ruf eines Ausstellungs- und Messestandortes sowie einer Kongressstadt.“
Im „Neuen Wiener Tagblatt“ vom 7. Juni 1931 ist über den Brand zu lesen:
„… Der Brand des Glaspalastes stellt eine der größten Katastrophen dar, die Europas Kunstwerke vernichtet hat. In Deutschland sind seit dem Dreißigjährigem Krieg nicht mehr auf einmal so viele Kunstwerke vernichtet worden wie durch diesen Brand. Von den 2820 ausgestellten Werken der Malerei, Graphik und Plastik sind nur 80 gerettet worden. Der Schaden wird auf 25 bis 30 Millionen Mark geschätzt. […] Eine besondere Tragikomik bildet der Umstand, dass in einem benachbarten Lagerschuppen die von der Jury abgelehnten Bilder von den Künstlern lagerten, die von dem Feuer nicht berührt wurden. Über die Ursache des Brandes werden nur Vermutungen bekannt. Vorläufig kursiert das Gerücht von einem Racheakt künstlerisch Missvergnügter, der aber durch nichts bestätigt werden kann. Die letzten Ermittlungen haben die Möglichkeit ergeben, dass der Brand in der Tischlerei ausgebrochen sein kann, wo am Tage zuvor noch gearbeitet wurde. 20 Feuerwehrleute wurden bei den Bergungsarbeiten verletzt. Generaldirektor Zimmermann, der sich unter Einsatz seines Lebens bemühte, Kostbarkeiten aus den 75 vollständig ausgebrannten Sälen zu retten, musste zunächst mit Gewalt von der Polizei zurückgehalten werden. In der am Nachmittag beendeten Besprechung im Kultusministerium wurde beschlossen, sofort durch einen öffentlichen Aufruf an das ganze deutsche Volk eine Hilfsaktion anlässlich des nationalen Unglücks einzuleiten.“
Eigentlich sollte der Glaspalast an der gleichen Stelle wiederaufgebaut werden, die Nazis haben es verhindert und statt dessen 1937 dort das Haus der Deutschen Kunst eröffnet. An der Stelle des Glaspalastes steht heute das Park Café, ein als Restaurant und Bar genutztes Gebäude mit vorgelagertem Biergarten.
Aus einer geplanten Berufung Mitte der 1930er Jahre als Professor an der Berliner Kunstakademie ist sicher aus politischen Gründen nichts geworden.
Aus Wikipedia:
„… In der Zeit um den Ersten Weltkrieg drückte Graeser den Kampf des „Guten gegen das Böse“ in vielen bildnerischen Darstellungen aus. Zum Ende der 1930er Jahre äußerten sich seine Gefühle gegenüber dem problematischen gesellschaftlichen Zeitgeschehen vor allem in Gedichtform. Die in freien Rhythmen formulierten Gedichte fasste er um 1942 in der Gedichtsammlung „Samen für die neue Erde“ zusammen.“
„Samen für die neue Erde“ (um 1942)
Das Samenkorn
Es keimt ein Samen in eisiger Sturmesnacht
dem Sonnenschein der Zukunft entgegen.
Der Boden bebt, darinnen er ruht,
träumend vom Reichtum künftiger Entfaltung.
Doch mag es noch so stürmen und drohen,
er fühlt sich sicher geborgen,
Im Schoss seiner dunklen Erde.
Stark und warm keimt er, Hoffnung durchströmt,
kommendem Morgen entgegen.
Graeser war als Maler sehr vielseitig – nicht festlegbar auf einen bestimmten Kunststil. Am ehesten können viele Gemälde Graesers dem Spätimpressionismus zugeordnet werden. Erhalten sind von ihm geblieben Radierungen, Ölgemälde im Monumentalstil (biblische Themen), Landschaftsmalerei, Aquarelle, Portraits, Illustrationen, Zeichnungen in Kohle, Feder und Tusche, Fresken und Glasmalerei. Von der Kunstkritik in der Zeit um den 1. Weltkrieg wird er als „der bedeutendste – auf alle Fälle innerlichste – religiöse Maler seiner Generation“ bezeichnet.
Und nochmal Wikipedia:
„Heute befinden sich von ihm u. a. in den Depots der Staatsgalerie und des Kunstmuseums Stuttgart zahlreiche Gemälde und graphische Arbeiten.
Nachweisbar sind in den Jahren 1907 bis zu seinem Tod insgesamt 42 Einzel- und Kollektiv-Ausstellungen. Zuletzt erschien seine Radierung „Engelskampf“ in einer Symbolismus-Ausstellung im italienischen Ferrara.
Die frühesten Werke seiner Studienzeit waren vorwiegend Radierungen. Viele davon sind dem Symbolismus zuzuordnen. Die Radierung gehörte in diesen Jahren zu seinen Lieblingstechniken.
Um die Zeit des Ersten Weltkrieges bildete der Themenkreis „Gewalt, Krieg und Tod“ einen besonderen Schwerpunkt. Auf zahlreiche patriotische Kompositionen folgte gegen Ende des Krieges Kritisches. Für Ölgemälde entwickelte Graeser um die gleiche Zeit einen für seine Person charakteristischen Monumentalstil mit großflächig aufgetragener Farbe. Er setzte diesen Stil vorwiegend zur Darstellung von biblischen Themen ein. Die Kunstkritik nennt ihn den bedeutendsten, auf alle Fälle innerlichsten religiösen Maler seiner Generation.
Nach dem Ersten Weltkrieg wurde die Landschaftsmalerei eindeutiger Schwerpunkt seines künstlerischen Schaffens. Graeser wurde von der Presse bald als „Frühlingsgräser“ bezeichnet. Die Vielseitigkeit Gräsers zeigt sich auch in weiteren unterschiedlichsten Darstellungsformen: in seinen Kohle-, Feder- und Tusche-Zeichnungen, seinen teilweise großflächigen Aquarellen, in Buchillustrationen sowie seiner Porträt-Malerei.“
Bereits Ende der 20er Jahre beschäftigte sich Gräser mit den Entwürfen von Glasfenstern in Kirchen. „Von einer großen Zahl an ausgeführten Aufträgen sind heute noch 17 Standorte bekannt, darunter die 1929 geschaffenen drei neun Meter hohen Fenster für den Chor der Backnanger Stiftskirche. Das letzte bekannte und erhaltene Fenster entwarf er 1939 für den Chor der kleinen St. Bernhardt-Kirche in Esslingen“ schreibt Wikipedia.
Glasfenster von Ernst Gräser:
Backnang, Chorfenster in der Stiftskirche, 1929
Großheppach, Rundfenster und Freskogemälde in der St.Ägidius-K.irche 1929
Zwickgabel, ??
Bernloch, St.Georgskirche, 1930
Sielmingen, verschiedene Fenster in der St.Martinskirche, 1931
Stuttgart-Sillenbuch, Martin-Luther-Kirche, 1933
Schwenningen, Stadtkirche, 1936,
Esslingen, St.Bernhardt-Kirche, 1939
In allen Aufzeichnungen über Ernst Heinrich Gräser ist wenig über sein Verhältnis zu seinen beiden Brüdern zu finden. Bekannt ist aber z.B. die gemeinsame Arbeit von Gusto und Ernst wie schon im Kapitel Karl Gräser beschrieben, die zuerst im Winter 1906/1907 in Locarno eine Ausstellung von Bildern organisierten und dann in Karls Haus ober auf dem Berg eine ständige Gemäldegalerie einrichteten. In diesen Jahren zog es Ernst immer wieder auf den Berg und dort lebte er zeitweisen mit seiner Mutter und den Brüdern.
Den Streit zwischen Karl und Gusto habe ich schon beschrieben, aber auch Ernst war darin verwickelt. Wahrscheinlich konnte Ernst trotz seiner Nähe zu Rudolf Steiner mit der Lebensweise seiner Brüder nicht allzuviel anfangen, bzw. war diese nicht „sein Ding“. Ernst Gräser lebt zu dieser Zeit bereits ausschließlich vom Verkauf seiner Bilder. So findet eine erste Ausstellung in Deutschland 1907 in Freudenstadt statt, in dem Jahr, indem er nach einer dritten Musterung vom Militärdienst freigestellt wird. Freigestellt wahrscheinlich aus gesundheitlichen Gründen, denn verweigert hat er den Militärdienst im Gegensatz zu Gusto nicht.
Nach der „Machtergreifung“ der Nazis sind die Spannungen zwischen Gusto und Ernst sicher gewachsen. Gusto mit Verboten belegt – Ernst schreibt und malt ziemlich unbehelligt weiter. Ernst Gräsers Einstellung zum III. Reich sei unklar gewesen, schreibt Albrecht Vaihinger:
„… Wie auch zu Beginn des 1. Weltkriegs scheint Gräser zunächst als „Mitläufer“ völkisch-national eingestellt zu sein.
Nur weniges Bekannte aus den 30er Jahren zeigt die Spannbreite dieser Lebensphase:
1934 veröffentlicht der NS-Kurier Gräsers Artikel „Über das Staunen“. Graeser entwickelt in diesem Text Überlegungen darüber, dass die Fähigkeit des Menschen zum Staunen für seine Weiter- und Höherentwicklung von grundlegender Bedeutung sei. (…)
Große Ehren werden Graeser zu seinem 50. Geburtstag 1934 zuteil, u.a. durch eine Würdigung in der (ab 1936 im Reichsgebiet verbotenen) anthroposophischen Wochenschrift „Das Goetheanum“. In den Räumen des Württembergischen Kunstvereins veranstaltet er eine umfangreiche Einzelausstellung mit Werken seiner bisherigen Schaffensperioden. Die Ausstellung führt zum Ankauf verschiedener Bilder durch die öffentliche Hand. Dies bedeutet keine nachhaltige Besserung der bescheidenen finanziellen Lage in seinem letzten Lebensjahrzehnt.
„Ernst hat in jungen Jahren zu Gusto eine nahe, später jedoch wegen der unterschiedlichen Lebensauffassungen und Lebensstile selten konfliktfreie Beziehung“ schreibt Albrecht Vaihinger. Davon zeugt ein Protestschreiben im August 1915 anlässlich der Verhaftung und angedrohten Ausweisung seines Bruders und mehrere Briefe an Gustos Tochter Gertrud.
Hermann Müller berichtet über das Protestschreiben:
„… Anlässlich der Verhaftung und angedrohten Ausweisung seines Bruders aus Stuttgart schreibt Ernst einen offenbar vervielfältigten Protestbrief, der vermutlich an die Polizeidirektion, das Gericht und an Privatpersonen versandt wurde. Aus seinem Schreiben geht hervor, dass er Gustos Waldandachten im Bopserwald mehrmals besucht hat. Vermutlich hat er seinen Bruder während dessen Aufenthalt seit Frühjahr 1913 – er wohnte mit seiner Familie in einem Gartenhaus in Degerloch-Falterau – auch sonst nach Möglichkeit unterstützt. Er zeichnet auch die beiden Töchter Trudchen und Bernhardine (in Rückenansicht, an einem Tischchen sitzend) in Falterau. Sein Brief ist allerdings, im Unterschied zu den geharnischten Protesten anderer Freunde von Gusto, auffallend lau und gewunden im Ausdruck. Eine innere Distanz wird spürbar. Es versteht sich, dass Gustos Auftritte in Stuttgart für ihn eine Belastung bedeuteten.
„Die Ausweisung Gusto Gräsers nötigt folgendes in kurze Erwägung zu ziehen. Sind seine Vergehen vor unvoreingenommenen Augen derart, dass sie die schwere Maßnahme einer Ausweisung erklärlich machen? Oder – sind die Anregungen, von ihm gegeben durch das eigenartige Verhältnis, in das ihn sein Geschick und Streben zu Menschen rückt, nicht derart, dass man wünschen darf, der Richter hätte dies für sein Urteil berücksichtigen müssen? Ist er, der durch sein Dichten und Trachten die Verkörperung einer Lebensanschauung ist, die, wenn auch vielleicht ein Extrem und eine Reaktion unserer nicht so ganz einwandfreien Zivilisation bedeutet, nicht gerade hierdurch und für jede denkende Persönlichkeit unseres dankbaren Interesses wert? …
Es scheint fast, als ob die hier Richtenden gefürchtet hätten, Gräser könne der Ordnung des Staates gefährlich werden. Da wäre man allerdings sehr falsch unterrichtet, zumal er zu allem, was Staatswesen und Politik heißt, kaum Fähigkeiten besitzt und deshalb, selbst wenn er wollte, nicht gefährlich werden könnte – und als Dichter und Künstler, als der er einzig zu nehmen ist, auch nicht gefährlich werden kann – denn als solcher wirkt er in seinen Reden an der Schillereiche, die übrigens qualitativ merkwürdig verschieden sind, – aufbauend.
Nebenbei bemerkt bezweifle ich, dass der Richter von seinen Untergebenen wohl unterrichtet werden kann, wie es hier geschah. So sehr an den Spürsinn dieser Leute geglaubt werden kann, etwa die verwickelten Absichten eines Diebes an dessen Nase abzulesen – bedingt doch die sittliche und künstlerische Beurteilung gerade Gräsers Vortragsart andere Organe. Eine Persönlichkeit kann nur von einer Persönlichkeit beurteilt werden.
Dies im Namen vieler, die an Gräsers edles Wollen glauben. E. H. G.
Dass Ernst Gräser zu seinem Bruder Gusto nicht ausschließlich ein getrübtes Verhältnis hatte, zeigt auch der von ihm geschriebene und in der „Vossischen Zeitung“ veröffentliche Artikel vom Januar 1928, in dem er seinen Bruder verteidigt:
„Der „Volkswart“ – Ein Vortrag über Menschwerdung
Im Gewühl der Großstadtstraßen begegnen uns zuweilen seltsame Typen-Menschen in togaähnlicher Gewandung und Sandalen, manchmal auch nur ganz dürftig bekleidet, alle mit langem Haar und mit dichten Vollbärten. Sie erinnern in ihrem Aussehen an die Jünger-Erscheinungen auf Heiligenbildern, und man erklärt sich ihre Existenz wohl, dass man annimmt, es seien Oberammergauer Passionsspieler, die hier geschäftlich in Berlin zu tun haben. Der Volksmund nennt sie „gustaf nagels“, nach jenem Naturmenschen, der nicht nur durch seine originelle Erscheinung, sondern durch seine verbesserte Orthographie bekannt geworden ist, vor zwei Jahren aber schon starb.
Unzweifelhaft – all diese Typen bilden – wenn auch in losem Zusammenhang – eine Gemeinschaft, als deren Oberhaupt wohl der „Volkswart“ Gusto Gräser gelten darf. Ein nicht mehr junger Mann mit etwas leidvollen Zügen, dem jeder nachblickt, wenn er ihm begegnet, denn diese hagere, große Erscheinung in ihrer härenen Tracht wirkt absonderlich im Straßenbild.
Wer ist der Mann? Johannes Schlaf hat diesen Siebenbürger Sachsen einmal einen „neuen Dichter“ genannt – aber das liegt etliche Jahre zurück, seitdem hat sich Gusto Gräser wohl mehr zum neuen Heiland entwickelt, der seine Lehre in durchdachten und formvollendeten Versen offenbart. Er stammt aus guter Familie, wurde als junger Mensch Kunstschlosser, Maler und Bildhauer, gab aber, von seinem inneren Drang getrieben, diese Betätigung auf, wurde Mensch, nichts als Mensch. Eine junge Rheinländerin, ebenfalls ein Kind aus gutem Hause, wurde sein Weib, schenkte ihm Kinder, teilte sein Wanderleben mit ihm.
Nun veranstaltet dieser Mann drei „Notwendabende“ (im Schubertsaal in der Bülowstr.), und an dem ersten dieser Abende stellte und suchte er die Frage zu beantworten: „Wie werden wir Volk?“ Etwa hundert Menschen hatten sich eingefunden, darunter viele, die in ihrem Äußern dem Volkswart ähnelten – durch Haar und Barttracht und Kleidung. Die jüngere Generation war nicht ganz so auffallend, trug Schillerkragen und langes Haar, wich in der Kleidung nicht so stark ab.
Dann stand der Volkswart auf dem Podium – sein Blick überflog den Saal, und mit tiefer, klangvoller Stimme bat er: „Kommt näher heran!“ Er setzte sich, sprach einen seiner Verse: „Groß kann ein Volk nur in der Tiefe werden, als wie ein See…“ und begann nun in Prosa: „Wir werden heute nicht die Welt verbessern, aber wir können heute schon mit einem treueren, echteren Leben anfangen. Ja – wir müssen es sogar, denn es tut not. Wie werden wir Volk? Nicht im Hinblick auf die Masse, nicht im Hinblick auf andere, sondern im Hinblick auf unser eigenes Leben. Es war ein Fehler, daß die Nächstenliebe in den letzten zwei Jahrtausenden als Hauptgebot aufgestellt wurde, denn wenn das Leben zur Zweiheit wird, dann zerfällt es. Wenn ich kann und will, gut – dann liebe ich meinen Nächsten, wenn ich aber soll, dann ist das ein Gebot. Kein Sollen, kein Gebot dürfen uns beherrschen, denn dieses Befehlen einer Tugend ist Herrschsucht, ist Herrenwahn, dessen Zeit vorüber ist. Jetzt ist die Zeit der „Herzhaften“ gekommen. Mut gehört dazu herzhaft zu sein, vor der Mühsal des Lebens nicht zurückzuschrecken, die Sicherheit aufzugeben, die Zivilisation oder – auf gut deutsch – „die Sicherheitsmeierei“ …
Er blickte in die Papierrolle, die er in der Hand hielt, und sagte: „Ich habe mir hier so manches aufnotiert, was ich euch sagen wollte, aber es war für einen größeren Kreis bestimmt. Nun suche ich nach einem intimeren Ton, lausche in mich hinein, was ich da höre. Verlangen nach einem Gespräch ist jetzt da – fragt, dann wollen wir unsere Gedanken austauschen. …“
Eine Type erhob sich – in ihrem Aussehen das Modell zu einem Judas – sprach schnell, fließend, gewandt: Nietzsche, Praxiteles, Sokrates, Chikago, New York, Urmensch und Uebermensch – alles dieses wurde erwähnt, verriet eine außerordentliche Gelehrsamkeit, Weltgewandtheit und diente zur Unterstützung einer gegenteiligen Auffasung: „Nicht abschließen sollen wir uns, denn die Entwicklung geht weiter, wir können heute mit unserer Technik da anknüpfen, wo die alten Griechen (aus mangelnder Technik) nicht weiterkonnten. Unsere Aufgabe heißt: Tätig frei zu sein…“
Andere erhoben sich, alte Männer, auch sie begannen zu sprechen – aber es hatte keinen Zusammenhang mit dem, was der Volkswart gesagt. So unterbrach er sie, sobald er dies erkannt: „Auch Sie haben Ihre Lehre, gewiß, gewiß – es mögen gute, kluge, weise Auffassungen sein, aber diese Gedanken haben mit unseren nichts zu tun! …“
Und dann kam er zum Schluß: „Wie werden wir Volk? Wenn wir recht geleitet werden – aber, herzlich, redlich muss man sein, um ein Volk zu leiten.“
Lichtbilder – symbolische Zeichnungen – wurden noch gezeigt, Verse dazu gesprochen, dann ging die Schwärmer-Versammlung auseinander. Viel Idealismus ist bei diesen Menschen – man fühlte bei einem jeden, der da sprach oder eine Äußerung tat, eine inbrünstige Sehnsucht nach einem Leben, das ihn, den „Menschling“, zum Menschen, zum „wahren Menschen“ machen soll. – Ernst Gräser
1928, 16. 11. Ernst schreibt an Gustos Tochter Gertrud:
„Liebe Gertrud! … Zwischen deinem Vater und mir bestehen ja mancherlei schmerzliche Gefühle, an denen ich selbst ja sicher einen Teil Schuld trage. Doch können wir Menschen nicht miteinander leben, wenn wir nicht den Willen haben, auch etwas gegenseitig zu tragen an dieser Schuld – oder Unvollkommenheiten – u. da meine ich vorerst nur die inneren Gefühle, die hierbei eine Rolle spielen. Die Lebensweise deines Vaters stellt an die Kraft seiner Mitmenschen jedenfalls außergewöhnliche Anforderungen (an) dieselbe, besonders, wenn man das Leben anders ansieht, was ja an u. für sich zwischen strebenden Menschen nie ein Hindernis sein braucht. In des Lebens Praxis werden natürlich auch andere Bedingungen eine Rolle spielen, was man bei einem unmittelbaren Zusammenleben merken kann. …
Wir wohnen schon seit 5 Jahren nicht mehr bei Fr. Geiger – u. seit 3 in Stuttgart. So leb wohl – grüß deinen Bräutigam und deinen Vater herzlich. Dein Ernst Onkel.“
1928, 25. 12. Zweiter Brief von Ernst an Gertrud in Berlin:
„Liebes Trudchen … Hast du deinen Vater mit meinem letzten Brief gegrüßt? Ich grüße ihn auch in diesem – u. horche auf ein Echo – leise od. laut.“
1929, Dezember Ernst an Gertrud Gräser:
Liebes Trudchen! … Dein Brief klang nicht schlecht – dass Ihr draußen wohnt, kann angenehm sein, dass dein Mann an einem Verlag tätig ist, förderlich. Die Goetheanum-Bücherstuben überragen jedenfalls alles, was literarisch und geistig in Druck gegeben werden kann. Sie können wohl die beste Nahrung auf allen Gebieten geben. … Ich spreche vor allem von den Werken Dr. Rudolf Steiners.
Inzwischen war auch dein Vater in Stuttgart. Ich weiß es leider nur von andern! Als ich’s hörte, versuchte ich ihn in seiner früheren Wohnung zu treffen – vergeblich. Als ich in dem vegetarischen Restaurant nachfrug, war er schon offenbar nicht mehr in Stuttgart.
Wenn ich mich auch nicht immer so gegen meinen Bruder benommen hätte – er macht es einem wahrhaftig schwer – wie es genau genommen recht gewesen wäre, habe ich trotz allem mit meiner ganzen Kraft gestrebt, den Kontakt aufrecht zu erhalten. Dies kann ich von mir und andern sagen. Ob er sein Verhalten in diesem Falle verantworten kann?“
1930, 21. 12. Ernst an Gertrud in Oppershausen bei Mühlhausen:
Liebes Trudchen! Nun habe ich schon deinen 2ten Kartengruß … der gerade in den Tagen der Anwesenheit deines Vaters in Stuttgart eintraf. … Möget Ihr u. dein Vater trotz allem Dunkel in der Welt warme u. lichte Weihnacht feiern. Dein Ernst Onkel.
Aus diesen Briefen an Gusto Gräser geht hervor, dass Ernst Gräser immer hinter den Weltanschauungen seines Bruders stand. Hermann Müller schreibt daher völlig berechtigt:
„…Mir scheint auch zu wenig berücksichtigt, dass Ernst Gräser mit seiner Radierung (und Ölgemälde) „UM 1914“ die Weltanschauung von Gusto geradezu musterhaft präsentiert. Meine Vermutung ist außerdem, dass in seinen zahlreichen und intensiven religiösen Bildern um 1910 nicht so sehr oder nicht nur ein Ringen mit Jesus sich abzeichnet (zu dem er sich ja von Kindheit auf bekannte) als vielmehr ein Ringen mit seinem Bruder. Die Radierung „Prophet“ stellt ihn jesuanisch verkleidet dar. Seine Verbundenheit mit Gusto in den frühen Jahren um 1905 geht aus dem Bericht von Leopold Wölfling hervor, der ihn als den sympathischsten der Gräserbrüder darstellt, der beredt und mit voller Überzeugung die Ansichten seiner Brüder zu Nacktheit und Scham vertritt.
Eine Geschichte über das Verhältnis der beiden Brüder erzählt Hermann Müller:
„… Gustos jüngerer Bruder, Ernst Heinrich Graeser (1884-1944), ein überzeugter Anhänger Rudolf Steiners, war ein angesehener Kirchen- und Landschaftsmaler geworden. Im Herbst des Jahres 1931 sucht der wohnungslose Wanderer Gusto bei ihm ein Obdach. An seine Töchter berichtet er später über seine Ankunft in Stuttgart:
… (Alfred) Daniel muss heim – fährt mich aber erst noch zu Freunden Willi Bauers, die nichts, kein Winklein für die Nacht, die nasse Nacht, aber wohl Helferwillen haben. Mit Hilfe Willis komm ich nun zu einem Schlüssel zu einem Gartenhäuschen, das weit in Botnang liegt; ich fahr und tapp mich hin durch dunkle Nacht und Matsch und Quatsch – endlich bin ich darin – ein hartgeripptes enges Feldbett und zwei ganz kümmerliche Decken warten mein – ich denk: so muss es sein – und dank, dass ich bei Bäumen bin, die mich mit Frucht frisch laben.
Da hätt‘ ich mich für den Anfang, bis zu Bessrem, wohl zurechtgenistet, aber ein Lieblicher schickte Nachricht: „Da oben kein weiteres Wohnen gestattet.“ Punkt – . Weiter über andre Bekannte kam ich nun zu einem biedern Tischlermeister, Körner heißt er – der konnt mich nun auf seinem Werkstattboden genug gut betten, mit seiner Schwabenseel‘ und seinen Matrazen.
Das wär für eine Weil ja auch nit Puh und Pech gewesen, ababer aber Etwas schien mir doch zu ungereimt – ging’s Euch nit auch schon durch den Sinn: „Hab doch, wennn ich nit irr, ein Bruderherz hier, nun wär’s doch schön, wenn wir bei diesem Anlass, dieser kleinen Not, mal wieder so recht brudergut zusammenkämen“.
Doch es wird spät, 9 Uhr des Abends wird’s, bis ich Entschluss fass: „Ja – ich muss gehn, sonst wär es mein Verfehlnis“. – Und denkt, wie schön zur rechten Zeit ich kam. – Der Bruder Ernst war noch im Reisemantel, 5 oder 10 Schritt vor mir trat er ein, er kam von Wien zurück, ein weiter Weg. Und seine Frau, von andrer weiter Reise, traf eben soviel Schritt etwa vor ihm im Hause ein, wie ich hörte, ohne vorherige Stundvereinbarung. (Ob vielleicht auch nit Tagvereinbarung, muss das noch klarer machen.)
War das nicht schön?
War das nicht Wink vom Leben: „Allso nun, ihr Brüder – lasst ihr’s so rinnen, ruhn, oder werdet ihr nun auch Dieses, todesbang, zertun ???“ – – –
Ein Stündchen ging im Schwung des Wiedersehns, und meinerseits auch dank des schönen Dreifalls, genügend traulich hin, doch dann musst ja vom Nächsten, Nötigsten die Rede kommen, wie schön, wenn sie von seiner, ihrer Seite kommen wär: „Wo wohnst du, Bruder? – Paar Tage wenigstens, bis wir das Weitre finden, wirst du doch nun ein Weilchen Gast uns sein!?“
Was lag näher? – Was war selbstverständlicher? – Aber nein – nach meiner Frage: „Könnt Ihr raten, taten?“ kam die Pein. –
Dann musste ja der Aufbruch kommen, konnt meinen Tischlermeister, übrigens auch Ernst mit Namen, doch nit ins Bodenlose so warten lassen. Da kam ein Schrein, so halb Gewein: „Ich war doch immer der Zusammenhalter der Familie, und Du fühlst Dich jetzt abgestossen!“ – „Heut nacht doch bleibst Du hier“, meint sie, die Klemmy (Clementine, Frau von E. G.). – Er – keinen Thon dazu. – Dann plötzlich, unvermittelt: „Ja – wenn man immer meint, Ich – Ich, sonst Kaner (Keiner)“ – dann wieder Schluss. Das galt offenbar meiner Nichtanbetung (Rudolf) Steiners. – „Ich geb mich ganz und freu mich aller andern, die auch ihr Theil ganz zur Gemeinschaft tun. Wieso – warum jetzt das? – Ich komme wieder, wenn ich Wohnung hab – schlaft gut!“ –
So ging’s doch wieder auseinander – geht es immer, wo unser Herztun Hirnfrost grausam frisst.
Nun gingen Monate herum – ich schlief beim andern Ernst. Vom Werkstattboden kam ich auf den Stubenboden, dann auf ne enge Polsterbank, ich machte sie mir breiter mit paar Stühlen und war ein Monat wohl beim Biedermann.“
Dazu schreibt Ernst Heinrich Graeser an Gustos Tochter Gertrud, Ende Dezember 1931:
„… Am Weihnachtsabend war dein Vater bei uns. Wir tun ehrlich schwer miteinander. Hoffen möchte ich, dass zu seiner inneren Einsamkeit nicht auch eine äußere zu sehr zunimmt. Er erfordert sehr viel Kraft im Verkehr u. meiner Art mich zu bewegen – eine Kraft, die uns beiden (m. Frau) kaum zur Verfügung steht, wodurch leicht scheinbare u. wirkliche Ungerechtigkeiten entstehen. Ich wünschte, er fände im Leben noch die Eigenschaft, die zu den Dingen u. Menschen leichter ‚Ja’ sagen (kann), man soll u. darf diese suchen. Kann man sich wunder nehmen, wenn sich die Menschen so oft u. zutiefst verneint fühlen, dann die Flucht ergreifen. Möchte dies besser werden.“
Hermann Müller beschreibt diesen „Weihnachtsabend und die folgenden Wochen:
„… Am Weihnachtsabend des Jahres 1931 kamen die Brüder dann doch noch zusammen. Aber offenbar nur für einen Abend und ohne Freude. Sie tun sich schwer miteinander. So schwer, dass Gusto weiterhin um ein Nachtquartier sich durchbetteln muss, weiterhin mal in einer Gartenhütte, mal auf einem Stubenboden oder Werkstattboden oder auf Stühlen liegend die kalten Nächte verbringen muss.
Endlich, es muss zu Anfang des Jahres 1932 gewesen sein, findet er Unterkunft bei einem alten Bekannten in Sillenbuch, also nicht weit von der Wohnung des Bruders entfernt. Edmund Müller ist es, der ihn aufnimmt, ein Journalist und Fotograf, den er schon seit 1929 kannte. Edmund hatte damals Aufnahmen vom Vagabundenkongress auf dem Killesberg gemacht. Bei dieser Gelegenheit müssen sie sich kennengelernt haben. Edmund machte mehrere Bilder, in denen Gusto im Mittelpunkt steht; er war sichtlich von ihm beeindruckt. Gusto seinerseits scheint sich im Winter 1932 an diesen Bekannten erinnert und bei ihm angeklopft zu haben.
Edmund Müllers Interesse am Vagabundenkongress war kein rein berufliches, kein rein kommerzielles. Er hat sich dieses Thema ausgesucht aus christlich-brüderlicher Verbundenheit mit den Armen. Der Fotograf gehörte dem Bund der Köngener an, einer jugendbewegten Gruppe, die aus einem Bibelkreis hervor-gegangen war. Jesus stand für diese Menschen im Mittelpunkt ihres Denkens, und zwar besonders unter dem Gesichtspunkt des Heute, der Gegenwart. Wie hat ein Christ heute zu leben, wie müsste ein zeitnahes Christentum aussehen? Deshalb wurden, wie mir Luise Schäfer berichtete, eine Ledige, die dem Haushalt von Müller angehörte, Redner verschiedenster Richtung zu ihren Sitzungen eingeladen, von Theosophen und Anthroposophen bis zu Kommunisten. Zu diesem Sichkümmern um die Armen und Ausgestoßenen, die Randfiguren und suchenden Einzelgänger gehörte es auch, sich der Vagabunden anzunehmen, mindestens aus Interesse und Neugier, eher noch aus innerer Verbundenheit mit jenen, die wie einst Jesus ein Leben auf der Straße führten.
So musste Edmund Müller auf Gusto Gräser treffen; so musste Gusto Gräser bei Edmund nicht nur eine widerwillig geduldete sondern eine liebevolle und ehrende Aufnahme finden. Den Fotos von Edmund ist dies abzulesen. Gusto nimmt an den Festen der Familie teil, auch seine Tochter wird eingeladen, gehört bald mit zum Haushalt. Auch andere Stuttgarter Freunde von Gusto können sich bei Edmund mit ihm treffen, so der Bankangestellte Willy Bauer, der, ein Buch lesend, auf einem der Fotos zu sehen ist. Gusto scheint im Hause von Edmund für einige Monate eine echte Heimat gefunden zu haben.
Bitter muss es für ihn gewesen sein – und letztlich auch für Ernst -, dass Fremde ihn beherbergten, Fremde ihn ehrend aufnahmen, viele Fotos von ihm machten, der örtlich benachbarte Bruder aber nicht. Gusto durfte ihn zwar gelegentlich kurz besuchen, zum Bleiben eingeladen wurde er nicht. Andere fotografierten ihn, Ernst aber nicht. Mit Ausnahme einer flüchtigen Skizze von 1942 scheint der Maler kein einziges Abbild seines großen Bruders geschaffen zu haben. Das sagt genug darüber, wie kalt die Luft zwischen den Brüdern war.
Dabei war keineswegs menschliche Abneigung im Spiel. Die Kluft war eine weltanschauliche. Hier der Dichterprophet, der die kirchlich-christliche Weltsicht als lebensfeindlich bekämpfte, der dem Diesseits sein Recht erstreiten wollte – dort der Maler, der aus christlicher und mehr noch aus anthroposophischer Überzeugung in der Weltüberwindung seine Bestimmung sah: – sie konnten auch bei gutem Willen nicht zusammenkommen. Beide litten unter diesem Zerwürfnis, beide suchten von Zeit zu Zeit die Kluft zu überwinden; letztlich aber blieben sie getrennt, getrennt durch ihre je eigene Überzeugung vom rechten Weg zum Heil.“
Am 12. März 1943 schreibt Ernst Gräser in sein Notizbuch zu den am Vortag erfolgten Luftangriffen auf Stuttgart:
„… Heut haben mit Donnergeklirr und Gekrache Bomben in Schwefeldunst – Dämonen, die der Mensch rief – in durchdröhnter Nacht die Straßen zerrissen.
Und heut morgen – ? strahlt klar schon wieder der Tag im Lichte des knospenden Frühlings und die Vögel im Blauen zwitschern dazu.
O wärst du fähig, auch nur einen Strahl dieses Ganzen voll zu erleben, dünkt mich – du lerntest dem Wüten der Dämonen zu wehren.“
Der von ihm beschriebene Luftangriff ist nicht der erste und wird auch nicht der letzte bleiben. Am 25. August 1940 beginnen die Angriffe, die Bilanz 4 Tote und starke Zerstörungen in Gaisburg und Untertürkheim. Am 19. April 1945 um 22.12 Uhr erfolgt der letzte Angriff auf die Stadt und auch hier Tote und Verletzte.
Und just an diesem Tag machte sich einer der Getreuesten Hitler-Anhänger – Wilhelm Murr (16. Dezember 1888 in Esslingen am Neckar – 14. Mai 1945 in Egg) feige aus dem Staub. Murr war ab Februar 1928 bis zu seinem Tod Gauleiter der NSDAP in Württemberg-Hohenzollern, von März bis Mai 1933 außerdem Staatspräsident und dann bis 1945 Reichsstatthalter in Württemberg.
Unter ihm wurden im Dezember 1944 Evakuierungspläne ausgearbeitet, die vorsahen, die Stuttgarter Bevölkerung nach Südosten zu führen und die Stadt zu zerstören. Diese Pläne gab er allerdings im März 1945 auf. Am 10. April rief er noch zur Verteidigung der Stadt bis zum Äußersten auf und verbot am 13. April unter Androhung von Exekution und Sippenhaft das Zerstören von Panzersperren und Hissen von weißen Fahnen“, schreibt Wikipedia. Nach ihrer Flucht beginnen Murr und seine Frau Selbstmord.
Nochmal Wikipedia:
„… Zu Kriegsbeginn im September 1939 wurde Murr zum Reichsverteidigungskommissar im Wehrkreis V ernannt, was ihm einen Machtzuwachs bescherte. Wichtige Bereiche des Militärs und der Zivilverwaltung unterstanden ihm nun direkt oder mussten sich de facto mit ihm arrangieren. Ohne Zustimmung Murrs oder seiner Beauftragten konnte in Württemberg praktisch nichts mehr geschehen. Der Mord an den Juden und an den Geisteskranken konnte wegen Murrs bedingungsloser Ausführung der Befehle von Führer und Partei in Württemberg reibungslos vonstattengehen.
Ende Januar 1942 wurde er zum SS-Obergruppenführer befördert.“
Wikipedia schreibt über die Luftangriffe auf Stuttgart:
„… Bei den Luftangriffen auf Stuttgart wurde während des Zweiten Weltkrieges die württembergische Hauptstadt Stuttgart schwer getroffen. Bei 53 Angriffen kamen 4562 Menschen ums Leben, darunter 770 Ausländer, von denen der größte Teil Zwangsarbeiter waren. Der schwerste Luftangriff in der Nacht des 12. September 1944 durch die britische Royal Air Force, bei dem im Stuttgarter Talkessel ein Feuersturm entstand, forderte 957 Opfer.
Insgesamt 39.125 Gebäude wurden zerstört oder beschädigt, was 57,5 Prozent der Bausubstanz entsprach. Die Innenstadt war hierbei mit einem Zerstörungsgrad von 68 Prozent der Gesamtbausubstanz am schwersten betroffen. (…)
Neben den über 4500 Opfern wurden bei den Angriffen 8908 Menschen verwundet, 85 Personen blieben vermisst.“
In Stuttgart bin ich aufgewachsen und zur Schule gegangen, an die zerstörte Innenstadt und die vielen Ruinen bis weit in die 50er Jahre erinnere ich mich noch gut. Und ein Lehrer erzählte mir, Gauleiter Murr sei beim Besuch einer Stuttgarter Schule gebeten worden, sich in das Gästebuch einzutragen. Er habe sich zurückgezogen und dann nach einigen Minuten erklärt, er habe sich nun vor dem Herrn Homer verewigt. Homer sprach er aus, wie man es schreibt. Ein ungebildeter Dummkopf war er also auch noch, bei Nazis keine Seltenheit.
Am 10. Dezember stirbt Ernst Gräser nach einem Krebsleiden in Stuttgart-Sillenbuch. Seine Urne wurde auf dem Stuttgarter Waldfriedhof beigesetzt. Die Traueransprache hielt Pfarrer Rudolf Daur.
Ansprache von Stadtpfarrer Daur bei der Feuerbestattung von Maler Ernst Graeser, Stuttgart, 15.12.1944:
„… Verehrte, liebe Trauergemeinde!
Als ich gestern früh am Totenbett des entschlafenen Meisters stand und versunken das Gesicht des scheinbar sanft Schlummernden betrachtete, auf dem die Zeichen tiefen, schmerzvollen, aber mit wahrem Heldenmut getragenen und nun sieghaft überstandenen Leidens lagen und von dem ein großer, stiller und stillmachender Friede ausströmte, da ging mir plötzlich ein Wort aus dem Neuen Testament durch den Sinn, das Wort des großen Wissenden: Selig sind, die reinen Herzens sind, denn sie werden Gott schauen.Wenn ich dieses Wort hier ausspreche und über unsere Trauerfeier stelle, dann tue ich es nicht, um aus Ernst Graeser einen Heiligen zu machen, einen Menschen ohne Spannungen, Kämpfe und Schatten. Er würde selbst dagegen in seiner unerbittlichen Wahrhaftigkeit und seiner großen Bescheidenheit am nachdrücklichsten protestieren: Ich bin ein Mensch gewesen, und das heißt ein Kämpfer sein, das heißt auch, ein Wesen mit Widersprüchen, mit Ecken und Kanten, mit Leidenschaften und innersten Nöten. Aber er, der die reinen Herzen selig pries, war ja nicht der Lobredner der Braven und Gerechten, der Fertigen, tadellosen Bürger, sondern der Bruder der einsamen Kämpfer, der unruhvoll Suchenden, der Schwimmer gegen den Strom, aber eben derer, die in all solchen Kämpfen, Suchen und Versuchen lauteren Willens, einfältig, im schönsten Sinne des Wortes einfältigen Wesens sind.
Ich glaube, das ist Ernst Graeser gewesen. Es kann nicht meine Aufgabe sein, hier über sein künstlerisches Wollen und Schaffen zu reden. Das steht anderen zu. Ja vielleicht wird erst die Zukunft ganz zu überschauen vermögen, was das deutsche Volk an diesem Maler hatte, der die Technik vollendet beherrschte und dabei so ganz und gar nicht Techniker, nicht Routinier war, sondern ein Mensch des Geistes und der Seele, ein Liebender und Ehrfürchtiger, ein frommer Mensch im Ursprünglichsten Sinn des Wortes.
Nomen est omen: manchmal stimmt es in einer ganz seltsamen Weise, dass der Name für das Wesen eines Menschen bedeutsam ist. Selten hatte ich so stark dies Gefühl wie bei Ernst Graeser.
Wer könnte den Namen „Gräser“ hören, ohne dass der ganze zarte Duft der Wiesen um ihn aufstiege, die taublinkende Herrlichkeit des Frühlingsmorgens ihn umfinge. Wie fein und gewissenhaft bis ins Kleinste hat Graeser alles gestaltet, Bäume und Wasser, schneebeglänzte Berge und azurblauen Himmel. Aber nicht umsonst hieß er „Ernst“. Es war kein genießerisches Naturschwärmertum in seinen Bildern noch in seinem Wesen und Handeln, sondern ein ganz großer, tiefer Lebensernst.
Auch die Kunst war ihm heiliger Dienst, Gottesdienst. Er war ein Wanderer, der die geistige Welt suchte und Schritt um Schritt und immer neu entdeckte. Selig sind, die reines Herzens sind, denn sie werden Gott schauen. Gott schauen nicht nebendraußen, neben der Wirklichkeit seiner Welt, sondern in dieser seiner Schöpfung, in ihren großen Ordnungen und kleinen Wundern, in ihrem gelösten Spiel und ihrem fordernden Muss.
Gott schauen auch nicht erst nach dem Tode einmal, sondern in diesem Leben, in einem Leben, das Tiefgang hat, das voller Geheimnis und Offenbarung ist.
Wahrlich, der Tod eines solchen Menschen ist ein herber Verlust nicht nur für die Nächsten, für Gattin und Freunde, für Kunstliebhaber und schönheitshungrige Augen, sondern für unser ganzes Volk, das er liebte und an dessen Zukunft er hoffend, bangend und schaffend in seiner Art mitzugestalten sich berufen wusste.
Und doch können wir nicht klagen und trauern! Nicht nur, weil wir ihm aus tiefstem Herzen gönnen müssen, dass das qualvolle Leiden zum Ende gekommen ist, weil wir dies friedvolle Antlitz vor uns schauen durften und ihn nicht zurückrufen möchten, wenn wir´s gleich könnten, in die Schmerzen seiner Krankheit, in die Schrecken und Wirrnis einer Welt und seiner Zeit, die alles Stille, Zarte und Schöne zu verschlingen droht. Ja, es ist so, wie wir´s an seinem Sterbelager einander sagten:
Die in Liebe Dir verbunden, werden immer um Dich bleiben,
werden klein´ und große Runden treugesellt mit Dir beschreiben,
und die werden an Dir bauen, unverwandt, wie Du an ihnen,
und erwacht zu einem Schauen werdet Ihr wetteifernd dienen.
Wetteifernd dienen: das war sein Lebensweg. Er ist diesen seinen Weg gegangen, lernend, dankbar empfangend und doch immer ganz er selbst, ganz ein eigener, mit seinen Gaben und Kräften dienend in selbstlosem Wetteifer, in tiefer Treue.
Nun hat er eine neue Stufe des Schauens erstiegen. Die Augen, die so viel Schönheit in sich tranken, um sie dann weiterzuschenken, sind geschlossen. Die irdische Hülle zerfällt, aber das Kind des Vaters geht seinen Weg weiter von Klarheit zu Klarheit und ruft uns, den Bleibenden, zu:
Versäumt nicht zu üben die Kräfte des Guten!
Hier flechten sich Kronen in ewiger Stille,
die werden mit Fülle die Tätigen lohnen.
Wir heißen Euch hoffen.
Selig sind, die reines Herzens sind, denn sie werden Gott schauen. Dass wir ihn, sein Walten, seine Fürsorge (ach, wie oft hat der Entschlafene sie wunderbar erfahren!) auch jetzt im Dunkel des Leides schauen und dadurch stark, getrost und des ewigen Lebens gewiß werden möchten! Selig sind, die reines Herzens sind, denn sie werden Gott schauen.“
Rudolf (Rudi) Daur (26. Januar 1892 in Korntal – 17. Juni 1976 in Stuttgart) war evangelischer Pfarrer in Stuttgart und Leiter des Bundes der Köngener, auch „Köngener Bund“. Dieser war ein deutscher Jugendverband. Er entstand 1920 aus Älterengruppen der Schülerbibelkreise (BK), die von der deutschen Jugendbewegung beeinflusst waren, und löste sich 1934 auf.
„1953 engagierte er sich gegen die Wiederbewaffnung Deutschlands und war verantwortlich für die „Erklärung württembergischer und badischer Theologen“ gegen die Remilitarisierung Deutschlands“, so jedenfalls Wikipedia.
In der Stuttgarter Zeitung erscheint ein Nachruf auf Ernst Gräser:
„… „Der Maler Ernst Graeser“ Nachruf von Fritz Schneider
In Stuttgart – Sillenbuch ist nach längerem Leiden der Maler Ernst Graeser im sechzigsten Lebensjahr gestorben. Daß die Wiege dieses deutschen und seit vielen Jahren im Schwabenland heimatlich gewordenen Künstlers außerhalb der Reichsgrenzen in Siebenbürgen gestanden hat, hörten wir seinem Tonfall ab und der besinnlichen Präzison seiner Sprache. Es ist fast merkwürdig, daß uns, die den Verstorbenen näher kannten, die spontane Erinnerung an Ernst Graeser nicht den großen Lyriker schwäbischer Landschaftsbilder ans innere Auge stellt, nicht den Zauberer duftiger Frühlingsstimmungen, halb bekränzter Sommerauen und Baumblätter herbstlicher Farbenräusche, sondern einen ernsten tiefen Menschen voll Gedankenleidenschaft, eine über das erwartete Maß gebildete, denkerisch ausgreifende Persönlichkeit. Im Anfang seines malerischen Schaffens steht eine Reihe figürlicher Kompositionen, in denen der Künstler sein geistiges Welterleben in Sinnbilder zu gestalten versuchte. Diese Tafeln, auch als Lichterscheinung dramatisch gespannt und voll künstlerischer Unruhe, bleiben eher doch mehr vom Gedanklichen her bewegt, als von der lebendigen Aussagekraft ihrer malerischen Form. Da aber dem Künstler echtes Gefühl für malerische Werte innewohnte, im Einklang mit einer ungewöhnlichen Empfänglichkeit für die schwebenden Reize jahreszeitlicher Landschaftsstimmungen, gedieh sein reifes Schaffen immer mehr zur stillen, farbig feingestimmter Kunst der landschaftlichen Idylle. Und wenn wir an viele Ausstellungseindrücke von Bildern Ernst Gräsers zurückdenken, bleibt uns in Summe die Erinnerung an eine lichte morgenfrische, zärtlich aufgrünende und aufblühende Welt duftiger Farbenklänge, in einer fröhlichen Heimatwelt mit Wiese, Busch und Baum und bunter Bauerngärten, inwendig voll Musik wie ein Gedicht vom Schwaben Mörike.“
Wahrscheinlich noch 1946 schreibt die Stuttgarter-Zeitung:
„… Mit einer Gedächtnis-Ausstellung für den im Dezember 1944 verstorbenen Maler Ernst Graeser hat der Württ. Kunstverein eine Ehrenpflicht gegenüber einem Künstler erfüllt, der viele Jahre das Gesicht der Stuttgarter Malerei – wenn man diesen Begriff verwenden darf – mitbestimmt hat. … Es sind teils religiöse, teils Zeitprobleme, die darin behandelt werden, so der Kampf ums Goldene Kalb und eine deutliche Absage an den Krieg – wohlgemerkt schon 1914! … In diesen Werken erkennt man das große Wollen und die Ideenwelt des Künstlers, der an seiner Zeit und besonders unter dem Ungeist des braunen Regimes gelitten hat. – Der 1884 in Kronstadt in Siebenbürgen geborene Künstler, der über die Münchner Akademie 1906 nach Stuttgart gekommen ist und unter Landenberger und später Hölzel sich weitergebildet hat, war ein feiner und zarter Mensch, dessen Tod nicht zuletzt durch die Unterdrückung und Unfreiheit der Hitlerzeit beschleunigt worden ist. Eine charakteristische, ungemein lebendige Büste von Jakob Brüllmann hält die Züge des Verstorbenen fest.“
In der Siebenbürgischen Zeitung vom 30. April 2009 erscheint zum 125. Geburtstag Ernst Gräsers’s eine Würdigung mit dem Titel „Vergessen und wiederentdeckt“. Auszüge:
„… Die meisten seiner Werke sind dem Spätimpressionismus zuzuordnen. Trotzdem gehörte zu Gräsers Eigenheiten, dass er sich bewusst seine eigene künstlerische Freiheit erhielt und sich keinem „-ismus“ unterwarf. 1922 wurde dies in der Presse folgendermaßen beschrieben:
„Ernst Gräser gehört zu der gar nicht großen Gruppe von Künstlern, die es verschmähen, sich eine Manier anzueignen. Das bedeutet bewussten Verzicht auf Popularität und Marktgängigkeit. Bilder, deren Urheber jeder halbwegs unterrichtete Kunstfreund auf den ersten Blick errät, sind nun einmal beim kaufenden Publikum am beliebtesten. Graeser aber hat sich die innere Freiheit bewahrt, auf verschiedene Stimmungen und Eindrücke verschieden zu reagieren“. Trotzdem lässt seine Landschaftsmalerei dieser Jahre einige Charakteristika erkennen. Dazu gehörte sehr dünner Farbauftrag, skizzenhafte Behandlung, die Bilder unfertig erscheinen lassen, meist gegen die Sonne gemalt, gewollter Kontrast durch figürliche Belebung. (…)
Seit 1927 beschäftigte sich Gräser zusätzlich mit dem Entwurf von glasgemalten Kirchenfenstern. Neben der Freiluftmalerei war dies für etliche Jahre eine seiner wichtigen Erwerbsquellen. Von ursprünglich 26 Standorten konnten noch 17 Kirchen in Württemberg mit Graeser-Fenstern ermittelt werden. Das wohl imposanteste Werk schuf er mit drei ca. 9 m hohen Fenstern für den gotischen Chor der Backnanger Stiftskirche. Über den Entwurf von Kirchenfenstern erhielt er auch Aufträge für Freskomalereien in Kirchen und öffentlichen Gebäuden. Leider sind hierzu außer Abbildungen keine erhaltenen Werke mehr bekannt.
Auf Grund der politischen Entwicklung in Deutschland löste sich mit dem Ende der Weimarer Republik die Stuttgarter Sezession auf. Ab 1933 wurden Künstler und Kulturschaffende in Deutschland von der „Reichskammer der bildenden Künste“ überwacht. Seit den „Ermächtigungsgesetzen“ begleiteten Graeser viele Ängste, Spannungen und Schwierigkeiten. Auch wenn Graeser mit seiner eher gefälligen und zeitlosen Kunst nicht auffällig wurde, musste er unter dem Wegfall der möglichen künstlerischen Vielfalt der Jahre vor 1933, verbunden mit dem Schicksal vieler Künstlerkollegen/innen, die, da „entartet“, mit Ausstellungs- und Arbeitsverbot bestraft wurden, gelitten haben. Schmerzhaft für ihn als Sympathisant der Anthroposophie waren deren Verbot in Deutschland ab 1935, eine nicht erfolgte Berufung auf eine Bewerbung zum Professor an der Berliner Kunstakademie sowie finanzielle Schwierigkeiten durch den Wegbruch des Marktes für christliche Kunst. Hinzu kommen Beziehungsprobleme mit seinem Bruder Gusto, dessen Verhaftung und Bestrafung mit fortdauerndem Schreibverbot, sowie gesundheitliche Probleme seiner Frau und der Beginn des eigenen langen Krankenlagers.
Während seiner letzten Lebensjahre erkannte Gräser, dass die von ihm und anderen erhoffte geistige Erneuerung und Veränderung in Deutschland nicht stattfand. In den fortgeschrittenen Kriegsjahren, auch unter dem Erleben der Bombenangriffe auf Stuttgart, entstanden viele in freien Rhythmen formulierte Gedichte. Sie zeigen, wie sehr Gräser von den Stürmen der Zeit erfasst und betroffen war und immer wieder versuchte, sich neue Hoffnungszeichen zu schaffen. Es entstand 1942 die Gedichtsammlung „Samen für die neue Erde“. Noch vor Kriegsende, am 11. Dezember 1944, erlag Gräser in Stuttgart-Sillenbuch einem Krebsleiden. Seine Ehefrau, Freiin Klementine Gräser, geborene von Pongrácz, lebte nach seinem Tode hauptsächlich vom Verkauf hinterlassener Bilder. Sie starb 1958. Wie sich Ernst Gräsers farbige Glasfenster aus vielen Teilen, hellen und dunklen, zusammensetzten, fügt sich sein Leben zu einem interessanten Gesamtbild.“