Hermann Schultz – Pastor in Crossen von 1913-1944 (Auszüge)
Sein Sohn Hermann Schultz schreibt über seine Erinnerungen an die Crossener Zeit:
In meinem Zimmer in Dießen hängt eine recht genaue Bleistiftzeichnung von Grete, meiner ältesten Schwester. Man sieht darauf das Odertal bei Crossen und im Vordergrund rechts ein Haus, es ist das Haus an der Bismarckstraße, in dem ich geboren bin. Diese Zeichnung hat meine Erinnerung wach gehalten. Denn als ich drei Jahre alt war, sind wir dort weggezogen, und nur einige schwache Bilder sind noch in meinem Gedächtnis.
Dieses Haus behielt einen besonderen Nimbus in der Familie. Meine älteren Geschwister hatten dort ihre Kinderzeit verlebt und das Einfamilienhaus an der Bismarckstraße bildete ein Reich für sich.“
Unser Vater Hermann Schultz, der spätere Pastor, wurde am 21.12.1869 in Bromberg (poln. Bydgoszcz) in der preußischen Provinz Posen geboren. Bromberg wurde mit dem Ende des ersten Weltkrieges polnisch. Hermanns Vater Rudolf Schultz war Tischlermeister. (…) Er hatte die Bertha Albin aus Frankfurt/Oder zur Frau genommen.
Ihr Sohn Hermann Schultz war ein sehr guter Schüler und konnte daher das Gymnasium in Bromberg besuchen. Er bekam daraufhin ein Stipendium, um Theologie zu studieren. Etwa 1895 war seine Ausbildung zum evangelischen Pastor abgeschlossen. Hermann Schultz wurde Mitglied im Gustav-Adolf-Verein zur Unterstützung der evangelischen Kirche in der Diaspora. (…)
Hermann Schultz trat seine erste Pfarrstelle etwa 1895 in Wissek (poln. Wysoka) an, einer kleinen Landstadt im Landkreis Wirsitz im Regierungsbezirk Bromberg der preußischen Provinz Posen. (…)
Meine Mutter Martha Schirmer wurde am 09.03.1883 in Schneidemühl, dem ersten Wohnsitz der Familie Emil und Olga Schirmer, geboren. Die Stadt Schneidemühl (poln. Piła), in der preußischen Provinz Posen gelegen, wurde 1945 polnisch. (…)
Pastor Hermann lernte seine spätere Frau Martha vor ihrem 18. Geburtstag kennen, offenbar beim Konfirmandenunterricht. Als Martha 1901 volljährig wurde, heirateten sie in Wongrowitz, dem zweiten Wohnort der Eltern Emil und Olga Schirmer. Die Stadt Wongrowitz (poln. Wągrowiec) lag in der seit 1815 preußischen Provinz Posen, in der 2/3 der Bevölkerung polnisch sprachen. Die Stadt wurde 1920 polnisch. (…)
Im Jahre 1913 zogen meine Eltern nach Crossen an der Oder (heute Krosno Odrzańskie), das zum Regierungsbezirk Frankfurt/Oder im Südosten der Provinz Brandenburg gehörte. Dort gab es höhere Schulen und die Kinder kamen jetzt in das entsprechende Alter. Nach einer vorübergehenden anderen Wohnung zogen meine Eltern in das Haus in der Bismarckstraße, das der Stadt gehörte und in dem sie bis 1924 wohnten.
Die Bismarckstraße galt als die schönste Straße von Crossen. Sie verlief etwa einen Kilometer parallel zur Oder, die hier von Osten nach Westen fließt, am Fuße der „Berglehne“, ein steiler Südhang, der hier teilweise mit Wein bepflanzt war. Auch hinter unserem Haus war der obere Teil des Gartens ein Weingarten. (…)
Das Odertal wurde auf der Südseite von den „Rusdorfer Höhen“ begrenzt. Dort gab es einen Segelfliegerhang, an dem ich als „Hitlerjunge“ bei der „Flieger-HJ“ erste Flugübungen machte („A-Prüfung“).
In der Inflationszeit (1923), verkaufte die Stadt das Haus an einen Industriellen aus der Nachbarstadt Guben.
(…) Das Haus an der Bismarckstraße steht noch. Es wurde später etwas erweitert als Landwirtschaftsschule benutzt. Als wir 1992 einen Besuch in Crossen machten, war es eine Musikschule.
Zu der Erinnerung an die Bismarckstraße gehört auch ein Erlebnis, das ich nur vom Hörensagen kenne: Nach der Revolution von 1918 gab es auch in Crossen Kundgebungen und Aufmärsche von Anhängern neuer Ideen. Bei einer dieser Versammlungen im Freien war wohl auch Grete anwesend, etwa 16 – 17 Jahre alt. Sie ärgerte sich über das Verhalten eines „Kommunisten“ und gab ihm in der Menge stehend einen Tritt von hinten. Die Gesinnungsgenossen dieses Mannes empörten sich darüber und zogen in die Bismarckstraße vor unser Haus und protestierten dort.
An diesem Tag war als Gast bei uns der Theologe Otto Dibelius, der von 1907 – 1912 in Crossen gewirkt hatte, Dibelius war ein guter Redner und ein Diplomat, er ging auf die Straße und konnte die Protestierenden beruhigen. Dibelius hatte noch eine große Karriere vor sich, er wurde später Generalsuperintendent des nördlichen Brandenburgs. Er war wie mein Vater ein Schüler von Adolf von Harnack. Dibelius nannte sich nach 1945 „Bischof“ was ihm einen Protest des Theologen Niemöller eintrug. Dibelius argumentierte, die Besatzungsmächte verständen den Titel „Generalsuperintendent“ nicht.
Meine Jugend im Haus „An der Oder 421c“
Im Jahre 1924 zogen wir im Anwesen „An der Oder 421c“ ein und blieben hier bis 1936. Ich lebte hier bis zum 15. Lebensjahr. Wir wohnten im ersten Stock eines langgestreckten, zweistöckigen Hauses mit mehreren Wohnungen. Die Straße „An der Oder“ war in gewisser Weise eine Verlängerung der Bismarckstraße in Richtung Oder-abwärts, etwas ländlicher und gemischter bebaut.
Wenn man der Bismarckstraße parallel der Oder folgte, erreichte man zunächst die Oderbrücke, dann auf etwas bewegter Straße die Bergkirche, die als „Andreas-Berg-Kirche“ die alte Kirche der Fischer war. Hinter dem Haus lag der „Bischofsgarten“, ein Berghang mit Obstbäumen bestanden. Ein großer Teil meiner Jugenderinnerungen ist an diese Wohnung geknüpft. (…)
Mein Vater wirkte auf mich als ein resoluter, tatkräftiger Mann, der sehr auf Ordnung hielt.
Er hatte oft in der Stadt zu tun, sei es zum Konfirmandenunterricht oder am Küsteramt. In der Stadt besuchte er oft eine Buchhandlung, die gehörte zum „Crossener Tagblatt“. Der Buchhändler, ein gebeugter älterer Herr, hatte in Leipzig gelernt, war also ein echter Fachmann. Beim Mittagstisch berichtete der Vater manchmal von den Gesprächen in der Buchhandlung.
Natürlich gab es am Familientisch auch Gespräche über die sonntägliche Predigt, besonders zur Zeit der Hitlerregierung. Einmal sagte meine Mutter: „Das hättest du heute nicht sagen sollen, der „Kopittke“ war wieder da und hat mitgeschrieben.“ Dieser Polizeibeamte vertrat bei uns die „Geheime Staatspolizei“, was natürlich bekannt war. (…)
Meine Mutter war musikalisch, mein Vater bezeichnete sich als „unmusikalisch“, er hatte kein Instrument erlernt. Er konnte allerdings bei „Bibelstunden“ auf den „Dörfern“ (Dörfer nahe der Stadt, die keine eigene Kirche hatten) ein Kirchenlied anstimmen, mit fester Stimme und in der richtigen Tonlage. Ich weiß das, weil ich ihn gelegentlich begleiten musste, wenn er Lichtbilder vorführen wollte und ich den Apparat bedienen musste.
Zur Zeit der Hitlerregierung gab es den sogenannten „Kirchenkampf“, in der evangelischen Kirche eine Spaltung in „Deutsche Christen“ und in die „Bekennende Kirche“. Die Deutschen Christen schlossen sich gewissen Thesen der neuen Regierung an, die Anhänger der bekennenden Kirche hielten an den alten Glaubenssätzen fest. Mein Vater hielt zur „Bekennenden Kirche“, Gretes späterer Mann, Otto Dreier, tendierte zu den „Deutschen Christen“. Das führte natürlich zu Spannungen, die aber nie zu bösartigen Auseinandersetzungen führten. (…)
Zur Zeit des „3. Reiches“ gab es einmal in Crossen eine ernstere Situation. Die Pfarrer der „Bekennenden Kirche“ hatten am 17.03.1935 (am 2. Sonntag der Passionszeit) in Altpreußen eine Kanzelabkündigung verlesen, in der die Weltanschauung des Nationalsozialismus scharf kritisiert wurde. Alle beteiligten Pfarrer wurden sofort verhaftet und festgesetzt. Mein Vater und andere Crossener Pfarrer mussten im Rathaussaal auf Matratzen kampieren. Hermann Schultz durfte vom Rathaus aus als Gefängnisseelsorger die sieben im Gefängnis untergebrachten Amtsbrüder besuchen. Das Stadtgefängnis war mit Geistlichen aus dem Landkreis überfüllt. Ilse und ich brachten täglich eine Essensmahlzeit in das Rathaus.
Die Angelegenheit hatte auch zu Unruhe geführt. Etwa 600 Gemeindeglieder hatten sich vor dem Rathaus versammelt und den Choral „Harre meine Seele“ angestimmt. Am Dienstag wurden alle Inhaftierten wieder freigelassen. Das ganze sollte ein Warnschuss sein.
Wir hatten einen jüdischen Hausarzt, Dr. Köhler. Bald nach 1933 gab er aus Altersgründen seine Praxis auf. In der sogenannten „Kristallnacht“ („Kristall“ wegen der vielen zerstörten Schaufensterscheiben) randalierten SA-Leute vor seiner Wohnung, und er zog bald danach nach Berlin. Als ich im Winter 1939/40 als Praktikant in Berlin bei der AEG tätig war, traf ich ihn eines Tages auf der Straße in der Nähe der Technischen Hochschule.
Ich sprach ihn an und wir wechselten einige Worte. Etwa ein Jahr später, als ich schon Soldat war, erzählte mir meine Mutter, dass Dr. Köhler eine Einberufung in ein Lager zur „Kriegsarbeit“ erhalten habe. Er war über 70 Jahre alt und ahnte wohl Schlimmes. Er nahm sich mit einer Spritze das Leben. Meine Mutter sagte dazu, es gibt Leute, die sagen, sie werden alle umgebracht. Mir schien das ganz unglaublich, und doch lernten wir später, dass das stimmte.
Dr. Köhler war unverheiratet und gelegentlich luden ihn meine Eltern ein, gemeinsam mit dem katholischen Pfarrer der kleinen Crossener Gemeinde von St. Hedwig, dabei wurde Apfelsaft als Getränk angeboten. Mein Vater war Antialkoholiker und Mitglied des „Blau-Kreuz-Bundes“. Die Zusammenkunft fand im Sommer auch auf dem Balkon statt. Der war für die Nachbarn einsehbar und diese mögen sich gewundert haben, dass der evangelische Pfarrer mit dem jüdischen Arzt und dem katholischen Amtsbruder zusammentraf.
Mein Vater gehörte zum „Gustav-Adolf-Verein“, der kleine evangelische Gemeinden im Ausland unterstützte. Außerdem engagierte er sich für die „Mission“. Wenn Missionare in Crossen weilten, wohnten sie meist bei uns. Wir Kinder hörten interessiert zu, wenn sie aus Afrika oder China berichteten.
Meine Mutter hatte dunkle Haare ein lebhaftes Wesen und man konnte glauben, dass in ihrer Ahnenreihe ein französisches Element vorhanden sei. Sie war eine geborene Schirmer und ihre Mutter eine „George“. Und ein George, so wird berichtet, stammte aus Frankreich. Er war als Waisenjunge in die Frankeschen Stiftungen in Halle gekommen. (…)
Dass meine Mutter musikalisch war, habe ich schon erwähnt. Sie spielte etwas Klavier und Harmonium und bei Bedarf auch in der kleinen Schlosskirche die Orgel. Manchmal konnte sie diplomatisch antworten. Als ich sie kurz vor dem Ausbruch des Polenkrieges 1939 fragte, wie sie die Polen sähe, sie kam ja aus der früheren Provinz Posen und die Zeitungen überschlugen sich damals mit Nachrichten über die bösen Polen, antwortete sie: „Die gebildeten Polen spielen gut Klavier und sprechen gut Französisch“. (…)
Meine Mutter hat mit Ursel und der gerade einmal ein Jahr alten Dorit Crossen beim Nahen der russischen Truppen im Januar 1945 auf einem Wehrmachtsfahrzeug verlassen. Ab Guben ging es mit der Bahn über Berlin und Boffzen (Grete) nach Aschen Kr. Diepholz – ländliches Gebiet mit großen Mooren. (…)
Die Schulzeit in der „Bergstraße 9“, Freunde und Spielgefährten
Im Jahre 1936 zogen meine Eltern aus der Wohnung „An der Oder“ aus. Mein Vater war jetzt im Ruhestand, allerdings noch nicht ganz, er behielt noch die Amtsgeschäft für die kleine Gemeinde der Schlosskirche. Walter und Ilse waren nicht mehr im Haus und die Eltern suchten eine kleinere Wohnung. Diese fanden sie im Haus von Frau Gräf, einer Malerin und Witwe eines Malers. Sie hatte ein kleines Haus auf der Berghöhe mit der Adresse „Bergstraße 9“, später umbenannt in „Bergstraße 21“. Das Haus hatte eine schöne Aussichtslage, im Vordergrund etwas Weinberg, dann der Blick auf die Stadt und die Oderniederung.
Ich selber hatte in dem Haus ein winziges Zimmer und fühlte mich dort sehr wohl. In der Nachbarschaft wohnte ein Mitschüler, Helmut Köhler, er hatte wie ich Interessen auf technischem Gebiet und wir bastelten zusammen aus dem Gebiet der Radiotechnik.
In diesem Haus ist mein Vater am 31.01.1944 gestorben. (…)
Ostern 1927 kam ich in die Volksschule, 1931 auf das Realgymnasium, das als Fremdsprachen Französisch, Englisch und Latein (in dieser Reihenfolge) anbot. Im 2. Schuljahr auf der Grundschule wurde ich geprüft, ob ich eine Klasse überspringen sollte, diese Prüfung bestand ich nicht, der einzige Mitschüler, der hier erfolgreich war, hieß „Hans Ulrich Wein“, er war der Sohn des Schriftleiters des „Crossener Tagblatts“. Er wurde später Journalist und wurde nach dem Kriege für uns Crossener wichtig, da er zunächst zusammen mit seinem Vater, eine kleine Zeitung herausgab, die verstreute Crossener sammelte und mit Adressen versorgte. Später gab er auch noch zwei Jahrbücher über Crossen heraus.
Ein Mitschüler vom ersten Schultage an, hieß Werner Littau. Er wohnte im Hause seiner Eltern, das Grundstück lag gegenüber vom Hause „An der Oder“. Der Vater hatte eine Kohlenhandlung und einen Speditionsbetrieb. Das große Grundstück war für uns ein beliebter Spielplatz.
Dieser Mitschüler veranlasste mich auch im „Jungvolk“ dem Fanfarenzug beizutreten. So lernte ich Fanfare blasen, ein Instrument ohne Klappen, auf dem man nur die Dreiklangtöne hervorbringen kann. Auf Grund dieser Kenntnisse habe ich später beim Militär noch gelegentlich abends den „Zapfenstreich“ geblasen.
Meine musikalische Ausbildung begann mit Klavierstunden, bei einer älteren Dame, die unter uns im Hause „An der Oder“ wohnte. Ich habe es aber nicht zu solcher Vollkommenheit gebracht, wie Ilse, die auch noch einen vertieften Unterricht bei dem Musiklehrer unseres Gymnasiums hatte. Auf der höheren Schule schloss ich mich einer Blockflötengruppe an und spielte im Schulorchester mit. Auf Grund dieser Aktivität erhielt ich im Abiturzeugnis in Musik ein „sehr gut“.
Das Abiturzeugnis hatte nur noch eine weitere „eins“ nämlich in „Leibesübungen“. Hier war ich gut im Schwimmen und in Leichtathletik. Das Schwimmen lernten wir beim Spielen im Sommer an der Oder. (…)
Praktikum, Beginn des Studiums und Wehrdienst
Ich selber verließ das Haus „Bergstraße 9“ Ostern 1939. Nach dem Abitur kam die Arbeitsdienstzeit. Einen Teil dieser Zeit verbrachte ich bei einem Bauern. Am 1. September 1939 war ich am Vormittag beim Pflügen auf dem Felde. Der Bauer brachte das Frühstück und sagte „es ist Krieg, wir sind in Polen einmarschiert.“ Bald darauf musste ich unser bestes Pferd bei der Wehrmacht abliefern.