Dramaturgische Blätter

Klabund – Die Volksdichtung

Während die von Walter, Gottfried usw. geschaffene Kunst­dichtung entartete, erlebte die deutsche Volksdichtung: das Volkslied und das Märchen: im 15. und 16. Jahrhun­dert ihre üppigste Blüte. Die schönsten der von Herder, Arnim und Brentano, Erk und Böhme später aufgezeichne­ten Volkslieder sind damals entstanden. Die Dichter der von den Gebrüdern Grimm gesammelten Kinder- und Hausmärchen wandelten als Gumpelmänner, Vagabunden und Gott weiß was durch die deutschen Lande. Ihnen waren Tier und Blume, Berg und Teich wie Bruder und Schwester vertraut. Sie hatten kein ander Bett als die Erde, keine andere Decke als die Sternendecke des Himmels. Ein ver­lassener Ameisenhaufen war ihr Kopfkissen. Eichhörnchen hüteten ihren Schlaf, und der war voll von Träumen wie ein Kirschbaum im Juni voll von Kirschen. Da gaben sich der Froschkönig, die Bremer Stadtmusikanten, der Teufel mit den drei goldenen Haaren, der Räuberhauptmann, Frau Holle, Daumerling, Doktor Allwissend, das kluge Schnei­derlein, der Vogel Greif und viele andere wunderliche und seltsame Wesen ihr heimliches Stelldichein. Und der Vo­gel Greif schnaufte: Ich rieche, rieche Menschenfleisch…, aber dann ließ er sich doch von seiner Frau übertölpeln (wie listig sind die Frauen, wenn sie lügen!). Die neidi­sche und eitle Königin befragte den Spiegel an der Wand:

Spieglein, Spieglein an der Wand,
Wer ist die schönste im ganzen Land?
Und der Spiegel antwortete:
Frau Königin, Ihr seid die schönste hier.
Aber Schneewittchen über den Bergen
Bei den sieben Zwergen
Ist noch tausendmal schöner als Ihr.

Auf einem Lindenbaum saß ein Vogel, der sang in einem fort:
Kywitt, kywitt,
wat vorn schöön Vagel bün ick…

Aber dieser Vogel war kein richtiger Vogel. Er war ein Mensch, der sich nach seinem Tod in einen Vogel verwan­delt hatte. Denn wir Menschen sterben nicht. Das Volks­lied und das Volksmärchen läßt unsere Seele wandern. Vogel und Blume können wir werden: ja Blume auf unse­rem eigenen Grabe, dann kommt wohl die Geliebte, be­gießt uns mit Tränen, oder sie pflückt und drückt uns, Veilchen oder Lilie, an den Busen. Sind wir aber böse, so werden wir verflucht und verzaubert in Werwölfe. Die Wur­zeln von Märchen und Volkslied gehen bis tief in die heid­nische Vorzeit zurück, da des Menschen Frömmigkeit vom Diesseits, seine Augen von Sonne, Himmel und der wei­ten, weiten Welt ganz erfüllt waren. Ihm war der Tod nur eine andere Art des Lebens. Verwandlung. Eine Tür fällt ins Schloß, und eine andere geht auf. Auf Tag folgt Nacht, aber wieder Tag. Er war nicht zerrissen in Leib und Seele. Die waren eins. Die Märchen und Lieder sind so bunt wie die Natur selbst. Wie die Sonne über Gerechte und Unge­rechte scheint, so fühlt der Dichter mit allen seinen Krea­turen, auch den erbärmlichsten. Irgendein armseliger Stra­ßenräuber (der arme Schwartenhals) steht ihm so nahe wie die zwei Königskinder, die zueinander nicht kommen konnten, „das Wasser war viel zu tief“. Goethe ist ohne das deutsche Volkslied, Volksmärchen, Volksepos nicht zu denken. Er steht auf den Schultern von tausend anonymen Autoren, die kommen mußten, damit er kommen konn­te. Im 15. und 16. Jahrhundert wurde der Grundstock ge­legt zu jenem Gebäude des 18. Jahrhunderts voll vollen­deter Klassizität, das den Namen Goethe tragen sollte. Aber auch Matthias Claudius, Clemens Brentano, Eichendorff, Heine haben mit den Bausteinen gearbeitet, die jene be­scheidenen Männer schichteten. Vielleicht sind ihre Werke der lauterste Ausdruck des deutschen Kunstwillens und des deutschen Geistes, der dann am tiefsten ist, wenn er aus dem Unbewußten steigt, dann am reinsten, wenn er aus den dunkelsten Quellen schöpft. Diese Dichter ohne Namen tragen den Himmel in ihren Händen, aber sie ste­hen mit beiden Beinen fest auf der Erde.

(aus: Dramaturgische Blätter 2, 1920/21)

Klabund – Kurzer Brief an einen politischen Dichter

Lieber – Hier stock‘ ich schon — darf ich Sie Freund nennen? Nein, weder will noch wage ich das. Sondern: lassen Sie mich Sie »lieber Feind« nennen. Ich habe Ihre Aufsätze, Gedichte, Dramen, Novellen mit der größten Teilnahme gelesen. Gestatten Sie mir aber, zu bemerken, daß ich ganz entgegengesetzter Ansicht über den Grundbegriff der Dichtung bin: über das, was ihr Wesen und ihren Wert ausmacht. Ich weiß, neunundneunzig vom Hundert der jun­gen Dichter stehen auf Ihrem Standpunkt und verteidigen ihn ekstatisch. Und der Augenblick scheint ihnen Recht zu geben. Aber was ist der Augenblick vor der Ewigkeit? Was ist diese Zeit im Spiegel aller Zeiten? Sie verkündigen mit Pathos und Feuer das Evangelium des neuen Menschen. Gestatten Sie mir, Ihnen zu sagen, daß ich an den neuen Menschen nicht glaube. Ich glaube an den alten Menschen. An das Menschliche des Menschen, wie es immer war und immer sein wird. An das Wesen des Dichters, wie es immer war und immer sein wird: an Goe­the, Hafis, Litaipe.

Sie wollen den Dichter, die Dichtung politisieren, morali­sieren, aktivieren, demokratische Verse schreiben und sin­gend zur sozialistischen Republik rufen. Erinnern Sie sich an die Dichter von 48: Herwegh, Fallersleben, Dingelstedt. Haben Sie wie Platen oder Eichendorff in sich und aus sich eine Welt der heiligen Worte aufgebaut, die Bestand hatte, die noch heute wie ein Tempel ragt und die ewig leuchten wird? Was ist von ihnen geblieben als die Erin­nerung, daß sie in gut geformten Versen die Tyrannei bekämpften und das Volk besangen? Was besagt eine Staats­form oder Staats-Unförmigkeit im Kosmisch-Innerlichen? (Im Irdisch-Äußerlichen besagt sie viel.) Was hat das Lied der Lynceus oder die Septembersonne mit Autokratie oder Demokratie zu tun? Wohl verstanden: ich bin für Demokra­tie und bin es immer gewesen. Aber ich bin gegen falsche Argumentation, gegen falsche Begründung — und gegen Mißbrauch der Sonettform zum Zweck der Unterstützung, sei es auch welcher Politik, immer.

Halten Sie wirklich Herwegh, in dessen Fußspuren Sie bewußt oder unbewußt treten, für einen größeren Dichter als Eichendorff – weil er Aktivist war? Weil er große Ge­ste sang — und Eichendorff nur kleine Liebe, blauen Som­mertag?

Sie wissen, ich bin kein unpolitischer Mensch. Ich treibe Politik. Ich schreibe politische Aufsätze — aber ich dichte keine Politik. Sondern Verse, Sterne, Frauen. Ich sage nicht: Der Mensch ist gut. Sondern: Jene Frau ist schön.

Sie predigen eine Weltmoral. Ich eine Welt-Anschau­ung.

Ich weiß: ich gelte Ihnen als Ketzer. Und meine Gesin­nung, da ich das Symbol der geliebten Frau habe, scheint Ihnen zweifelhaft. Was tuts? Es hat mir nie an Mut ge­fehlt, meine arme Menschlichkeit einzugestehen. Und ich fürchte mich weder vor Attacke noch Blamage. Lesen Sie das Buch der Zeit, das vor Ihnen aufgeschlagen ist: das Paradies ist nicht der Sozialismus. (Und mögen Millionen daran glauben, Millionen haben auch an diesen Krieg ge­glaubt – bis vor sechs Wochen. Und Millionen glauben noch daran …)

Der Sozialismus kann nur ein Weg sein. Niemals liegt in ihm das Ziel des Geistes beschlossen. Die ewige Seeligkeit, lieber Freund (jetzt nenne ich Sie so), liegt nur in Ihnen selbst. Nur in ihrem Herzen, und nur mit seiner Kraft und der ergänzenden Kraft anderer Herzen ist sie zu gestalten und zu vollbringen. Der Achtstundentag ist eine herrliche sozialistische Er­rungenschaft (und hoffentlich kommen wir noch zum Vierstundentag, denn Zeit braucht der Mensch vor allem, um zu leben). Aber Sie sollten besseres tun, als ihn bedichten. Sein Wesen ist nicht die Idealität sondern die Realität. Sehen Sie den Mond dort! Den Schatten dort am Fenster! Ein Mensch weint — so weinen Sie mit ihm…

(aus: Dramaturgische Blätter 1, 1919/20)

Dramaturgische Blätter 

… Organ für das deutsche Theater – Essays über musikalische Bühnenwerke und Bühnenfragen, Komponisten und Darsteller. Sie erschienen in fortlaufenden Bänden. Robert Friese schreibt:

„Die dramatischen Blätter sollen in zwanglosen Heften erscheinende Abhandlungen über dramatische Poesie und theatrale Darstellungen bringen:

Die äußeren Gründe des Verfalls der Bühne – Das Theater als Staatanstalt – Die Fälschung der öffentlichen Meinung über Theaterangelegenheiten – Die Bühne und die Geschichte – Stoff und Form – Die Unnatur im Drama – Lyrik, Ethik und Dramatik – Die Übersetzung und Bearbeitung für die Bühne – Die dramatische Composition – und dergleichen.

Dies Abhandlungen, welche einzelne dramatische Fragen zeitgemäß zur Sprache zu bringen bestimmt sind, werden von einem in sich einheitlichen Kunststandpunkt ausgehen. Sie werden den ästhetisch und sittlich gebildeten Freunden der Bühne, welche deren Erhebung wünschen und hoffen, namentlich aber denen empfohlen, welche zu dieser Erhebung mitzuwirken berufen sind.