Dialog über Politik und Dichtung

PAUSANIAS: ES ist mir recht, Sokrates, daß ich dich gerade eben treffe.
SOKRATES: Was hast du auf dem Herzen, Pausanias, oder auf den Lippen?
PAUSANIAS: Dies: oder, Sokrates, spottet meiner. Hast du mich je für unaufrichtig erfunden?
SOKRATES: Gewiß nicht, Pausanias, ich scherzte. Denn das Ernsthafte kann nicht heiter genug gesagt werden. Laß hören, was dich in meinen Weg treibt. Denn wenn es dir angenehm ist, so wollen wir ihn zusammen weiter gehen.
PAUSANIAS: Ich fühle, daß ich betreffs der Politik und der politischen Dinge im Dunkeln tappe.
SOKRATES: Weihe mir deine Macht, so will ich gern der Mond sein, der sie durchleuchtet.
PAUSANIAS: Ich komme soeben von der Akropolis. Dort sprach Eusymachos, der Dichter, über den Ostrakismos. Er warf die Hände in die Luft wie ein Adler seine Flügel. Er schrie, daß es bis an das Tyrrhenische Meer schallte. Da nun klatschten ihm einige wenige, vorzüglich bartlose Jünglinge, heftigen Beifall, während doch die Mehrzahl seiner Zuhörer ihre Köpfe schüttelte und meinte, der Dichter solle sich nur mit Dichtung befassen, die Nymphen besingen und Orpheus grauen Gang in den Hades, die Hände aber von den Dingen lassen, von denen er nichts verstehe, nämlich von den politischen. Die Politik sei eine amusische Beschäftigung, und der Dichter dürfe nie und nimmer Politiker sein.
SOKRATES: Halt, Pausanias: was denn sind nach deiner Meinung die Politiker in ihrem Beruf? Denn sie haben doch, wenn sie nicht politisieren, einen Beruf wie Eusymachos, du und ich?
PAUSANIAS: Sie sind Advokaten, Lederhändler, Getreideverkäufer, Generäle, Possenreißer, Professoren der Wissenschaften und so weiter.
SOKRATES: Also gibst du zu, daß man neben seinem Berufe — Politiker ist?
PAUSANIAS: Ganz gewiß.
SOKRATES: Wie also willst du es einzig dem Dichter verübeln, Politiker zu sein? Ist also
Politik eine Wissenschaft wie nach den Sternen oder Tieren sehn oder ein Handelsgeschäft wie der Fleischverkauf?
PAUSANIAS: Nein.
SOKRATES: Was ist sie denn also?
PAUSANIAS: Sie ist, wie mir nunmehr scheint, die Beschäftigung der Menschen mit ihren äußerlichen Beziehungen zueinander.
SOKRATES: Ganz recht, Pausanias. Es wandelt sich — und spüre wohl dies Wörtchen: handeln! — um die Objektivierung des Subjektes. Daß wir miteinander reden, ohne uns wie die wilden Tiere einfach zu töten — dies ist Politik.
PAUSANIAS: Politik beruht also auf Erkenntnis.
SOKRATES: Ganz gewiß — und sollte ein Dichter weniger Erkenntnis für die Beziehungen der Menschen zueinander aufbringen als ein Lederhändler? Da es doch seine Pflicht ist, Menschen zu erkennen?
PAUSANIAS: Gehört nicht aber zur Politik ein gewisses Wissen: der ökonomischen und rechtlichen Verfassungen: wie wenig Wissenschaft also?
SOKRATES: Ganz gewiß, Pausanias: aber dieses Wissen ist in der Politik das Sekundäre. Das Primäre ist das Gewissen: der granitene Grundstein, ohne den das selbst mit größter Wissenschaft konstruierte Gebäude in sich zusammenfallen muß.
PAUSANIAS: So glaubst du, daß in der Politik das Gute herrschen muß, wenn anders die Herrschaft Bestand haben soll?
SOKRATES: Der Geist muß herrschen, und durch den Geist die Tugend.
PAUSANIAS: SO wünschest du, daß der Dichter, da er Politik treibt, auch nur Politisches schreibe?
SOKRATES: Gewiß nicht, Pausanias. Umfinstere dich nicht, nachdem es mir soeben gelungen, deine Dunkelheiten zu klären. Es ist ein Unterschied, ob der Dichter ein Politiker, oder ob die Dichtung Politik sei. Das Gute liegt in der Dichtung immanent, sonst wäre es keine Dichtung, und also bedarf es nicht lyrischer Programmatik, das Gute wirken zu lassen. Ich hörte einen jungen Schriftsteller. Er rief: Die Zeit der Dichtung ist vorbei. Die These, das Programm, das Pamphlet: fordert das Gebot der Stunde. Das Gebot der Stunde mag ihm so erscheinen, als fordere es den Schlaf der Musen. Er sollte aber das Gebot der Ewigkeit nicht vergessen. Denn diese will das Werk, nicht nur die Wirkung. Wer heute in den Wind spricht, dessen Worte sind morgen schon verflogen. Wer aber auf eherne Tafeln schreibt, das Wort wird bleiben – im Sturm der Zeiten.
PAUSANIAS: Der Dichter also handle im Politischen, denn dies ist etwas, was einem jeden zu tun geziemt, kraft seiner Seele und seiner Einsicht – er träume aber weiter seinen Traum der Worte. Denn diese sind wirklicher als manche schnell getane Tat.
SOKRATES: Dies ist es, Pausanias. Der Dichter sei gut, handle gut und schreibe gut. Aus dieser Dreiheit wächst seine Vollkommenheit. Wie etwa die Vollendung des Lederhändlers laute: daß er gut sei, gut tue und sein Leder recht zu gerben verstehe. Denn jeder soll in seinem Kreise das Rechte tun – so wird die Gerechtigkeit herrschen.

(aus: Das junge Deutschland 1, 1918)