Zuchthaus hat der Herr Reichsanwalt Jörns gegen die beiden Angeklagten des letzten Leipziger Landesverratsprozesses beantragt. Ein kleines cadeau gewiß, den Manen der Fuchtelschwinger des Vormärz zugedacht, deren angebliche Besiegung vor achtzig Jahren die republikanische Presse in diesen Tagen feiert. Wir kennen Berthold Jacob als Freund und nahen Mitarbeiter und respektieren Fritz Küsters tapfere Arbeit. Dem Versuch des Herrn Reichsanwalts, die beiden ins Zuchthaus zu bringen, begegnen wir mit jener tiefinnerlichen, aus dem Herzen kommenden Mißachtung, die immer die einzige würdige Geisteshaltung gegenüber schlechter Justizmacherei bedeutet. Das Gericht hat sich, angeweht vielleicht von ähnlichem Empfinden, schließlich für neun Monate Festungshaft entschieden. Aber auch dieser mildere Spruch bleibt ein unentschuldbarer politischer Tendenzakt, ein Salut vor dem Militarismus, ein Plaidoyer für die Manager jener heimlichen Militärspielerei, die der böse Engel der ersten sieben Jahre der Republik war. Mag das Urteil auch im Namen des Reiches gefällt sein, es hat mit dem »Reich« so wenig zu tun wie mit dem Recht. Es ist geboren aus der Denkweise des neudeutschen militärischen Jesuitentums im Wehrministerium, dessen Politik zwar der neue Herr Minister, sei es aus Überzeugung oder aus taktischer Verlegenheit jetzt sehr gründlich preisgegeben hat, die aber während der durch Herrn Groener hervorgerufenen Interruption von dem höchsten deutschen Gericht wenigstens kommissarisch wahrgenommen wird. Das ist der Sinn seiner Conclusion im Fall Jacob-Küster: daß sich trotz offizellem Pazifismus und trotz Beteuerungen und Verheißungen des neuen Wehrministers nichts geändert hat, nichts ändern soll.
Im Mai 1925 ist im „Andern Deutschland“ der inkriminierte Artikel erschienen. Es war darin behauptet worden, daß sich unter den beim Veltheimer Pontonunglück ertrunkenen Soldaten Zeitfreiwillige befunden hätten. Ein paar Monate zuvor hatte Reichskanzler Luther zuerst die Erklärung abgegeben, daß zeitweilig Freiwillige eingestellt worden wären, zugleich aber versichert, daß das jetzt zu Ende sei. Das Verfahren kroch im Schneckentempo. Im August 1927 lag dem Reichsgericht ein Gutachten des Auswärtigen Amtes vor, worin die Frage, ob der Artikel den deutschen Interessen abträglich gewesen wäre, mit einem schallenden Ja beantwortet wurde. Doch zwei Monate später drückte sich das hohe Offiz schon viel gewundener aus. Die beiden Seelen unsrer Außenpolitik, die immer Gegenpole umspannen möchte. Schließlich, letzte Äußerung, ein synthetischer Versuch: Im Juni 1925 habe die Frage der Zeitfreiwilligen zu einem Rüffel durch die Mächte geführt, doch im Januar 1927 sei die Sache endgültig bereinigt worden. Das heißt, aus dem Auswärtigamtlichen in unser geliebtes Deutsch übertragen: als dieser Artikel erschien, gab es noch gewisse Dinge, die … Doch durch diese und andre Publikationen wurde ihre Abschaffung gefördert.
Politisch heißt das: die Jahre des getarnten Mars waren die elendesten der deutschen Republik. Die heimliche Militärspielerei schuf innere Unruhe, Drangsalierungen und überflüssige Demütigungen von außen. Die Entwicklung hat den Warnern recht gegeben. Kein Politiker von Verantwortung wünscht heute mehr die einst vielgefeierten Herren Geßler und von Seeckt zurück. Beide haben die öffentliche Meinung jahrelang irregeführt, der eine mit verlognen Reden, der andre mit verlognem Schweigen. Die Veröffentlichungen über die schwarzen Kadres und über die Verbindung der Wehrmacht mit den bewaffneten Verbänden waren nicht Denunziationen, sondern Desinfektionen. Sie waren von den segensreichsten Folgen. Sie haben der Geheimbündelei ein Ende bereitet, der Konsolidierung gedient, der Festigung der Republik.
Für das Reichsgericht bedeuten sie … Landesverrat. Trotzdem oder deshalb?
Vor zwei Wochen hat Oliver hier in knapper Dialogisierung von dem deutschen Gastspiel des sehr ehrenwerten John D. Gregory erzählt, weiland Direktor des Ressorts Osten im Foreign Office. Was hat sich damals abgespielt? Durch den oft erwähnten Herrn Kapitän Götting kam 1923 eine Verbindung zwischen Gregory einerseits, Ehrhardt und Claß andrerseits zustande, bei der der Engländer naturgemäß der finanzierende Teil war. Dabei dachte Gregory weniger an einen glorreichen Marsch von München nach Berlin als vielmehr an das Nächstliegende, an die Nordseeküste, an Schleswig-Holstein meerumschlungen, wo ein eignes Putschunternehmen etabliert wurde. Bei einem allgemeinen Durcheinander in Deutschland, so war Gregorys Plan, sollte England Hand auf Schleswig-Holstein legen und als Pfand für seine Reparationsforderungen einstweilen okkupieren, und zwar unter der Oberhoheit des politisch dilettierenden Herzogs von Schleswig-Holstein, um dem Kind einen anständigen deutschen Namen zu geben. Der Herzog wurde von Claß und Ehrhardt unterrichtet, aber siehe, der Herzog war gescheiter. Er entwich augenblicklich nach Italien, verfolgt von den Verwünschungen der enttäuschten deutsch-englischen Patrioten.
Ein Mal wollte die Kommunikation noch funktionieren. Man erinnert sich noch, oder man hat es vielmehr vergessen, daß 1926 durch die temperamentvolle Beredsamkeit eines hohen republikanischen Beamten, der dafür durch Verschickung in die Provinz büßen mußte, bekannt wurde, es habe eine Verabredung bestanden, wonach die englische Korrespondenz des Herrn Claß durch das Bureau des Reichspräsidenten in die diplomatische Post geschmuggelt werden sollte.
Das hört sich alles ein wenig wild an und liegt doch aktenmäßig bei der preußischen Regierung fest. Die sollte jetzt diese Dinge nicht mehr als Staatsgeheimnisse behandeln. Außenpolitische Rücksichten? Was geht es uns an, daß im Foreign Office, unter den Respektabelsten der Respektabeln, jahrelang ein Abenteuerer seinen Unfug getrieben hat!
Man hat Jacob und Küster zum Vorwurf gemacht, sie hätten der Regierung illegale Handlungen nachgesagt und seien schon aus diesem Grunde strafbar. Als der Reichsanwalt einem der Angeklagten vorhielt, auf ein Waffenlager bei Hamburg seien die Franzosen erst durch Zeitungen aufmerksam geworden, erwiderte dieser: „Das sind doch Stahlhelmwaffen gewesen!“ Worauf Herr Jörns in köstlicher Unbefangenheit bemerkte: „Das ist doch ganz gleich, ob Stahlhelmwaffen oder nicht …“ Hier liegt der Sinn der Anklage offen: nicht die gute Reputation des Reiches war zu schützen, sondern die Waffe, einerlei, ob Reichswehr- oder Stahlhelmwaffe. Waffe ist Waffe, also sakrosankt.
Die Blätter der Linken rühmen dem Vorsitzenden, Herrn Senatspräsidenten Reichert, vornehme Verhandlungsführung nach. Gewiß wars nicht à la Niedner, es ging ohne Krach, Polizei und alkoholische Intermezzi ab. Aber war der Endeffekt anders?
Der Publizist steht rechtlos vor diesem Tribunal. Berthold Jacob muß sich von Herrn Jörns fragen lassen, ob sein in Paris lebender Bruder nicht Beziehungen zum Deuxième Bureau, der französischen Spionageabteilung, unterhalte. Und der abgeklärte Vorsitzende fragt einmal tiefsinnig, ob ein Staatsbürger wohl das Recht habe, von sich aus auf Einhaltung der Gesetze zu dringen. Den Journalisten hält er zur politischen Beurteilung nicht für kompetent. Denn dem Journalisten fehle die Übersicht über das Ganze …
Doch der Richter hat sie. Der kann kraft einer mystischen Vereinigung mit dem Weltgeist über alles urteilen. Er kann zum Beispiel die Behauptung aufstellen, die jedem politisch Geschulten die Haare zu Berge treibt, daß es ein Unsinn sei, von Beziehungen der Reichswehr zu irgendwelchen Verbänden zu sprechen. Infolgedessen werden auch konsequent alle Zeugen abgelehnt, die etwa das Gegenteil beweisen könnten. Denn wo das Recht des Bürgers, auf Einhaltung der Gesetze zu dringen, fraglich wird, da wird auch die Pflicht des Gerichtes, die Wahrheit zu finden, fragwürdig. Nicht die Wahrheit ist das Ziel, sondern ein schönes rundes Urteil.
Dieser Prozeß war der erste einer Serie von dreizehn. Das Reichsgericht läßt verlauten, daß es nicht die Absicht habe, von seiner bewährten Praxis abzugehn. Zwölf also liegen noch vor uns. Das ist die Hybris, die den Umschwung anzukünden pflegt. Die Pontonkatastrophe von Veltheim, die vielen Dutzend Soldaten das Leben kostete, ist durch die Gottähnlichkeitsgefühle eines jungen Offiziers entstanden, der sich sagte, es wird schon gehen, wie es immer gegangen ist. Dem Reichsgericht ist bisher nur die Gerechtigkeit untern Ponton geraten, ein irrelevanter Bestandteil seines Fundus also nur, was seinen Betrieb gewiß nicht stören wird. Aber wie es seine dreizehn Fälle über die schwanke Notbrücke schleppen wird, ohne dabei selbst ins Wasser zu fallen, das ist noch ungelöst. Dreizehn ist eine Unglückszahl. Denk es, Reichsgericht!
Erschienen in der Weltbühne an 20. März 1928 – Autor Carl von Ossietzky