Der Herr im Zylinder

Ein Kriminalroman.

Die Uhr holte aus: vier kurze helle Töne, dann langsam, dumpf sechs schwere Schläge. Wie auf Kommando erhebt sich ein Ohren zerreißender Lärm: Durch den grauen Novembernebel schrillt und pfeift es, als wären alle bösen Geister der Winterdämmerung los­gelassen. Das grelle der Kulmann’schen Zuckerfabrik begann, wie eine Sirene in Sturmnacht stimmte die Pfeife von J.C. Robn’s Tuchfabrik heulend ein. Nach 5, 10 Sekunden hallte die Vorstadt von dem gräulichsten Konzert sämtlicher Fabrikpfeifen wider. Aus der Metallwarenfabrik Aktiengesellschaft A. Kerner ergoss sich schon der schwarze Strom der Arbeitsmassen. Ein dunkles unbestimmtes Gewühl wogte aus dem Tore, um sich draußen hundert Meter weiter in 10, 20, 30 kleinere Trupps aufzulösen. Wie Verschwörer und Aufrührer schlichen sie ge­duckt und gebückt durch den Nebel. In den ersten Gassen trennten diese Trupps wieder kleinere Gemeinschaften ab. Zu dreien, vieren stampften sie durch die schmutzigen Straßen, verbissen, einsilbig, bis das rohe Scherzwort eines Genossen sie hart auf­lachen ließ. –

Karl Schleifer ging allein seines Weges. Er beeilte sich, voran zu kommen, und keinen mehr vor sich zu haben.

Die linke Hand in der Hosentasche, schlenkerte er mit der rechten seine blaublecherne Kaffeekanne, die, wenn sie an seine Kniescheibe schlug, summte .. hmmm .. hmmm, immer dieselbe lang­weilige Melodie.

Er bog in eine belebte Straße ein. Ladenmädchen liefen eine ganze Kette lachend und kichernd übern Fahrdamm. Er blieb ste­hen und sah ihnen nach, Ein Unteroffizier, der vorbeihastete, stieß ihn aus   Versehen mit seinem Seitengewehr an.“ Pardong“ sagte er und  griüßte verbindlich. Karl Schleifer blickte ihm missgünstig nach. Er hasste das Militär. Und wenn ihn ein Soldat nur versehentlich berührte stieg heimtückische Wut in ihm auf. – Er trottete weiter. Vor den Schaufenstern flimmerten elektrische Lampen. Unwillkürliche hemmte er vor einer Schmucksachenauslage den Schritt. Mit gierigen glänzenden Augen huschte er über die glit­zernden Dinge und Kolliers.

Es nützt doch nichts, dachte er, es nützt doch nichts. Ich kann sie nicht stehlen. Sie fassen mich.

Langsam schob er sich weiter. Eine Erinnerung aus der Schul­zeit kam ihm plözlich unvermittelt.

Erdem fere tempore P. Crassus, com in Aquitania pervenisset, quae pars, ut ante dictum ist, et regionum latitudine et multitudine hominum est tertia Galliae existimanda, cum intellegeret ..

Es war eine schwierige Satzperiode. Er hatte sie einst in Untertertia nicht gekonnt   und als Strafarbeit auswendig lernen müssen. Sie war ihm im Gedächtnis haften geblieben. Nun zer­brach er sich den Kopf: Publius Crassus, wer ist das bloß? Wie komme ich nur auf ihn? Zum Teufel, was hab ich davon gehabt, dass ich bis Obertertia die höhere Schule besucht hab ? Nichts, rein garnichts! Bin ich darum etwas höheres geworden? Ein Lump, ein Arbeitstier, ein Bazillenschiucker bin ich wie alle andern. Schrauben drehn und Hähne drehn, welche wunderbar geist erquickende und gesundheitfördernde Beschäftigung, Tag für Tag, Jahr für Jahr. In eine andere Abteilung stecken sie einen doch nicht. Man ist doch Spezialist! Man kann doch nur Schrauben drehn, Tag für Tag, Jahr für Jahr.

Wie wär’s, wenn ich mir am Sonnabend mal statt Schnaps einen ausrangierten Cäsar kaufen täte? Vielleicht hilft das. Ich möchte zu gern wissen, was mit dem Publius Crassus war, cum in Aquitaniam pervenisset.

Karl Schleifer ging über die Elisenbrücke. Er musste seine Sportmütze festhalten. Der Westwind pfiff ihm gehörig um das blasse bartlose Gesicht, Er fröstelte, trotzdem er ein schwarzes schmutziges Jackett über den blauen Arbeitskittel gezogen hatte, fror ihn.

Die Landstraße begann. Vereinzelt standen nur Häuser am Wege: Einstöckig, höchstens zweistöckig, von einem kleinen Vorgarten umgeben.

Die Straße war leer. Nur in der Ferne tönten Schritte, die ihm entgegenkamen. Er blickte auf. Im leichten Nebel unterscheid er einen eleganten Herrn im Zylinder. Vielleicht ein Assistenzarzt des außerhalb der Stadt liegenden St. Georg-Hospitals, der zu einer Festlichkeit wollte. Oder der Direktor selber.

Es herrschte ziemliche Dunkelheit .Die Gaslaternen vor dem Hos­pital im Hintergrunde    schwammen wie blasse gelbe Kugeln in den Nebelschwaden.

Der Herr im Zylinder und Karl Schleifer begegneten sich jetzt. Karl Schleifer rempelte ihn an. Er war sinnlos vor Wut. Der Herr im Zylinder sagte nichts und ging ruhig weiter.

Das ist das niederträchtige, dachte Karl  Schleifer, er weiß, weshalb ich ihn anrempelte. Jetzt denkt er bei sich: so ein Plebejer, weil ich anständiger gekleidet bin als er, hasst er mich wie der Stier das rote Tuch. Er  kann sich nicht bezwingen! Welch ein niederer Charakter!

Und das niederträchtige dabei ist: er hat recht, es ist so. Warum geht er anständiger gekleidet als ich? Warum ist er feiner? Warum bin ich so gemein und muss ihn hassen? muss ihn hassen?

Karl Schleifer machte mit einem Ruck kehrt und lief dem Herrn im Zylinder nach. Der wandte sich um. In dem fahlen Licht glänz­ten seine beiden Augengläser.

Der Glanz stach Karl  Schleifer in die Augen und vermehrte seine Wut. Er schlug ihm den Kneifer aus dem Gesicht.

Der Herr im Zylinder machte eine Gebärde des Ekels: Sind Sie betrunken? Was fällt Ihnen ein?“

Wie ein Tier sprang ihm Karl an die Gurgel und würgte ihn.

Der Herr im Zylinder war zart gebaut und konnte sich nur schwach wehren.

Karl Schleifer stellte sich freiwillig der Polizei. Die Ge­richtsverhandlung bot ein seltsames Schauspiel. Der Angeklagte verweigerte jede Aussage und gab nur das Factum des Totschlages zu. Über die Motive zur Tat war man völlig im Unklaren. Uhr, Börse, Brieftasche hatte man unversehrt bei dem Toten gefunden. Irgend­welche Beziehungen zwischen Karl Schleifer und dem ermordeten jungen Arzte ließen sich nicht finden, ,waren schwer zu denken.

Karl Schleifer wurde unter Anrechnung mildernder Umstände zu 15 Jahren Zuchthaus verurteilt,

Erschienen 1911