Der Fremdling

Figuren:

Maria
Doris
die Dienerin
Der Fremdling

Die Szene ist ein Zimmer in Grüngold. Maria sitzt, im der vornehmen Witwentracht einer entfernten Zeit. Schwarz mit violetter Seide, im Lehnstuhl an einem Bogenfenster und blickt in die mondbeschienene Landschaft. Im Zimmer brennt ein Kronleuchter. Rechts ein Sofa. Über dem Sofa zwei Bilder: Einen Knaben und einen Mann darstellend. Doris steht am Mitteltisch und deckt eine reiche Abendtafel für drei Personen.

MARIA Es ist wieder Herbst.
(Doris an Büffet)
MARIA Herbst …
(Doris am Tisch)
MARIA Und die Bäume stehen wie Reisigbündel im Mondlicht.
DORIS Es ist schon sehr kalt. Und die Nacht wird Reif fallen. Denn sehen die Weidenbüsche morgen früh aus. als hätten sie über Nacht Kätzchen bekommen und trügen Blüten.
MARIA Es sind sehr viel tote Blüten heut vom Wind herabgeweht. Am Tage liegen sie braun und schmutzig da. Nun versilbert sie das Mondlicht. Und ein Blatt, das jetzt in der Nacht sich von den Zweigen löst, klingt silbern und metallen wie ein Ton zu Boden.
DORIS (immer beim Decken): Ich habe die Abendblätter so gern, wenn sie im Sterben rot glühen.
MARIA Sie sind wie Märtyrer, Ihre Farbe jubelt in der Vernichtung.
DORIS (Kleine Pause): Welchen Wein befehlen gnädige Frau?
MARIA Warte … Seinen Lieblingswein … Magdalenentränen.
DORIS Gnädige Frau … und für den kleinen Hubert?
MARIA (lächelnd): Da hätte ich ihn beinah‘ ein klein wenig vergessen, Meinen Hubert. Gib ihm einen Süßwein, Doris einen griechischen oder italienischen. Er ist doch ein rechtes Leckermaul.
DORIS Jawohl gnädige Frau.
MARIA Wenn das Leben um uns ist, und Gatte und Kind uns umspielen, sind wir Frauen ganz Mutter, blühend Schenkende. Aber die Witwe ist Sehnsucht Empfangende, Liebende, die den Geliebten sucht. So nur konnte ich Hubert einen Augenblick vergessen.
DORIS Gnädige Frau haben aber doch daran gedacht, ihm heute aus der Stadt ein Spielzeug mitzubringen. Es ist noch verpackt, soll ich es bringen?
MARIA Ja, hole es, Doris.
(Doris geht durch die Tür links.)
MARIA Die Mauer des Kirchhofs hat der Mond so nahe gerückt. Als ob sie näher käme und ginge. Mit Schritten. Und Füße hätte. (Stöhnend.) Als ob sie sich dicht und immer dichter um mein Haus bauen wollte.
(Doris kommt mit den Weinflaschen und einem kleinen Paket.)
DORIS (gibt Maria das Paket): Soll ich den Wein aufkorken?
MARIA Wie spät ist es?
DORIS Bald zehn Uhr, gnädige Frau.
MARIA Wann sind sie das letztemal vor einem Jahr gekommen, Doris?
DORIS Um zehn Uhr, gnädige Frau.
MARIA Ja, dann darfst du die Flaschen immer entkorken. Vergiß aber nicht (sie ist mit dem Aufwickeln des Paketes beschäftigt), dem Kleinen eine Wasserkaraffe hinzustellen. Er hat immer so viel Durst, und zum Satttrinken ist der Süßwein nicht da. Es würde ihm schaden.
DORIS Gewiß, gnädige Frau. Sein Magen ist so empfindlich.
MARIA Wie gefällt dir das? (Sie hält einen Stoffbären hoch.) Ist er nicht entzückend? In seiner unbehilflichen Grazie?
DORIS Und bewegliche Glieder hat er auch? Wie Hubert sich freuen wird!
MARIA Gib doch einmal sein Bild von der Wand. (Doris nimmt eines der Bilder, die rechts über dem Sofa hängen, herab. Es ist ein blonder Knabe von vielleicht sechs Jahren.)
DORIS Schau, Hubert, was die Mama dir mitgebracht hat!
MARIA Wirst du dafür auch recht artig sein und mich nicht mehr … betrüben … (fängt plötzlich an zu weinen).
DORIS Aber, gnädige Frau, weinen sie nicht, grade heute! Der Hubert wird auch immer recht brav sein und der Mama nimmer mehr weh tun, gell, Hubert? (Streichelt zärtlich das Bild, als ob sie einen Menschen streichelte.) Und wird auch nicht mehr, wenn es die Mama verboten hat, im nassen Wetter draußen herumtollen und sich erkälten und Lungenentzündung kriegen, und … und … (schluchzt auf).
MARIA (hat zu weinen aufgehört): Sterben … Was das für ein Wort ist! Gar nicht schwermütig, gar nicht traurig. Nur spitz, sehr spitz. Wie wenn … wenn man sich mit tausend Nadeln sticht. Sei ruhig, Doris. Komm. Nimm den Bären. Setz ihn auf seinen Stuhl. (Doris tut es.)
MARIA (geht ans Fenster): Ich sehe sie noch nicht. Aber sie müssen bald kommen. Der Mond scheint doch so klar. Und der Kirchhof kommt immer, immer näher. Weißt du, Doris, das vergangene Jahr! Es war ein fürchterliches Wetter. Seit zehn Tagen regnete es … unaufhörlich … in langen grauen Strähnen … und der Efeu faulte auf den Gräbern. In der Nacht aber fauchte der Sturm wie ein Drachen um unser Haus. Und einen Augenblick … da meinte ich, sie würden nicht kommen, sie könnten nicht kommen, sie würden überhaupt nicht mehr kommen. Denn, Doris, wenn sie einmal ausbleiben, dann kommen sie nie, nie mehr. Aber es ist nur unsere Schuld. Dann haben wir nicht heilig genug an sie gedacht.
DORIS Ich finde, gnädige Frau, der gnädige Herr zeigte das letzte Jahr eine so verdrießliche Miene. Als sei er uns um irgendeinen Fehl, den wir begangen hätten, böse. Und er trank fast gar keinen Wein.
MARIA (sinnend): Ich dachte, der schlimme Weg wäre daran schuld. Aber du hast recht. Lukas war anders als sonst. Er küßte mich nicht. Und Hubert sah mich so verwundert an. So verwundet, ich weiß nicht, über was.
DORIS: Es war voriges Jahr das erstemal, gnädige Frau, daß Sie, die schwarze Trauer des Gewandes zu mildern, es mit violetten Bändern umschlangen.
MARIA Ich mußte es, mußte es, mußte wieder einmal eitel sein dürfen. — Doris …
DORIS Gnädige Frau …
MARIA Gib mir den Spiegel.
(Doris reicht ihr vom Tischchen am Fenster den Handspiegel.)
MARIA (betrachtet sich): Diese Falte … war früher nicht… und diese … und diese … Aber mein Haar ist noch blond, Doris, ganz blond.
DORIS Gnädige Frau, nicht ein weißes Haar.
MARIA (tritt in den Mond, erschrickt): Doch, Doris … alle … ganz weiß … und mein Gesicht grün … wie Gift … wie Schwefel …
DORIS Es ist der Mond, gnädige Frau …
MARIA Nein, rede mir nicht vom Mond, Doris, der Wider¬schein vom Kirchhof, von der Kirchhofsmauer macht mich so weiß, so … tot.
DORIS Gnädige Frau, bitte, treten sie hier unter die Ampel. (Hält ihr den Spiegel.) Wie schön Sie sind, gnädige Frau, wie schön, und ihre Augen leuchten zärtlicher denn je. Sie leben, gnädige Frau …
MARIA Ich lebe … (Blickt zum Fenster hin, erschrickt.) Doris … du mußt jetzt die Suppe auftragen.
DORIS Jawohl, gnädige Frau. (Doris links ab.)
MARIA (angstvoll ans Fenster gekauert): Hubert… Lukas …
(Man sieht durch das Fenster im Hintergrund zwei schattenhafte Gestalten schreiten, einen Knaben und einen Mann, Hand in Hand. Sie gehen auf dem Fahrweg, der vom Kirchhof her nicht weit am Hause vorbeiführt, nach links dem Hause zu. Plötzlich kommt von rechts ein Mann hinter ihnen her, langsam, stark. Er holt sie ein, geht an ihnen vorbei, gleichsam durch die hindurch; die Schatten verschwinden.)
MARIA (Schrei): Lukas!
(Der Mann kommt näher … von links tritt Doris mit der Suppe ein. Es klopft an der Tür links im Hintergrund.)
DORIS: Sie sind’s … (Stellt die Suppe auf den Tisch.)
MARIA Öffne …
(Doris öffnet die Tür, prallt zurück. Der Fremdling tritt ein.)
DER FREMDLING Guten Abend!
MARIA Guten … Abend …
FREMDLING Ich sehe, der Tisch ist bereitet.
MARIA Für … für … wen?
FREMDLING Für mich.
MARIA (klagend): Doris …
DORIS Wer gestattet Ihnen, Herr, hier ohne Erlaubnis einzudringen?
FREMDLING Ich … ich … ich gestatte es mir. Gehen Sie hinaus. Wir brauchen Sie nicht, solange die Suppe auf dem Tisch steht.
DORIS Gnädige Frau …
MARIA Geh‘, Doris, tue, wie er sagt.
(Doris ab.)
FREMDLING Es ist eine schauerliche Kälte … Ich werde diese Nacht hier bleiben müssen. Oder wollen Sie mich verjagen? In die Stadt zurück jagen?
MARIA (angstvoll, bittend): Nein, bleiben Sie.
FREMDLING In ein Hotel mit kalten Betten und lächerlicher Table Thöte — Es ist für … drei gedeckt?
MARIA Sind Sie einem … Herrn und einem … Knaben begegnet? Hier vor der Tür?
FREMDLING Nein. Ich habe niemand gesehen.
MARIA Sie haben Hunger?
FREMDLING (lächelt): Sehr! Ich bin zwölf Stunden mit der Eisenbahn gefahren … zu Ihnen.
MARIA (lächelnd): Zu mir?
FREMDLING Zu Ihnen! Ununterbrochen!
MARIA Setzen Sie sich hierher … nein … den Bären lassen Sie nur auf dem Stuhl … er tut Ihnen nichts … hierher. (Sie weist ihm den Stuhl rechts von sich an, wo ehemals Lukas saß, und tut ihm Suppe auf.)
FREMDLING Wie gut das tut… nach der langen Eisenbahn¬fahrt … und dem Marsch durch die Schneefelder…
MARIA Nehmen sie noch einmal Suppe?
FREMDLING Ja, bitte. (Er sieht, als sie ihm die Suppe hinstellt, auf ihre Hände.)
MARIA Was betrachten Sie meine Hände?
FREMDLING Ich liebe sie. Aber Sie dürfen sie nicht entstellen (wozu Sie Neigung haben)!
MARIA Womit – entstellen?
FREMDLING Mit Handarbeiten. Sie töten die feine Form der Hände, die selber Seele sind.
MARIA Sie arbeiten nie … oder nur selten?
FREMDLING Schon lieber nie! Ich brauche den Berechtigungsnachweis für mein Dasein nicht erst mit der Mechanisierung meiner guten Kräfte zu erbringen. Ich bin weiß Gott zu besseren Dingen da.
MARIA Ja, was tun Sie dann ihm Leben?
FREMDLING Ich lebe! Genügt Ihnen das nicht? (Drückt auf eine Klingel. Doris erscheint.) Bitte, den Fisch! (Doris kommt mit dem Fisch. Ab.)
FREMDLING Ich sehe Ihre Tracht! Sie sind Witwe. Und schön. Ich habe mich in der Stadt genau erkundigt!
MARIA Sie beginnen mir ein wenig … widerwärtig zu werden.
FREMDLING Das ist das erste Symptom der tiefen Sympathie, die Sie für mich noch hegen — werden. — Was für einen Wein trinken Sie? Den Süßwein? Den feurigen, befeuernden?
MARIA Nein.
FREMDLING Den Süßwein??
MARIA Nein.
FREMDLING Den Süßwein?!?
MARIA (schwach, leise): Ja.
FREMDLING Sehen Sie, so gefallen Sie mir. (Schenkt zwei Gläser ein.)
MARIA (lächelnd): Ich freue mich, daß sie nun mit mir zufrieden sind.
FREMDLING Bin ich auch. Halt! Der Bär muß auch ein Glas erhalten. (Gießt ein drittes Glas ein.) So … stoßen wir an … auf unsere Freundschaft.
(Stoßen an, auch mit dem Bären.)
MARIA Sie sind ja schnell mit den Worten her.
FREMDLING: Und auch mit der Tat! (Zieht sie an sich und küßt sie.)
MARIA (springt auf und sieht zum Fenster hinaus): Ich sehe sie nicht mehr.
FREMDLING Wen?
MARIA Lukas und … Hubert.
FREMDLING Haben Sie ein Kind gehabt?
MARIA (leise): Ja.
FREMDLING (tritt an sie heran): Wie heißen Sie?
MARIA Maria.
FREMDLING Wollen Sie nicht wieder ein Kind haben, Maria? Wollen Sie nicht wieder Mutter sein?
MARIA (lehnt sich schluchzend an seine Schulter).
FREMDLING Maria …
MARIA: Du?
FREMDLING Soll ich bleiben, diese Nacht?
MARIA Immer, immer!
FREMDLING Du kennst mich ja noch gar nicht. Vielleicht würdest du mich dann nicht behalten.
MARIA Doch, doch. (Betastet seinen Kopf, seinen Körper.) Du, du lebst ja! Dich kann man greifen — und — küssen. (Küßt ihn.) Ich habe die letzten Jahre mit Schatten gelebt. Du hast sie getötet.
FREMDLING Die Toten sterben nicht so leicht. Man muß sie noch einmal totschlagen — mit dem Leben.
MARIA Du … Mörder. Siehst du, wie ruhig ich das Wort sagen kann. Es tut mir nicht einmal weh.
FREMDLING (klingelt, Doris erscheint): Den Braten, Teure. Und Champagner!
DORIS Gnädige Frau …
MARIA Gehorche dem gnädigen Herrn, Doris.
FREMDLING Und nehmen Sie diese Bilder mit hinaus (zeigt auf die Bildnisse von Lukas und Hubert), und werfen Sie sie in die Rumpelkammer. Warten Sie. (Springt auf das Sofa und reißt das Bild von Lukas herab.) da DORIS Gnädige Frau …?
MARIA (kämpfend): Tue es, Doris …
FREMDLING Nein, Doris, der Bär bleibt hier. Lassen Sie ihn sitzen. Das wird das Spielzeug unseres Buben werden.
MARIA (jubelnd): Und der soll Viktor heißen!
MARIA (kämpfend): Tue es, Doris …
MARIA (jubelnd): Und der soll Viktor heißen!
FREMDLING (lächelnd): Wie ich.

(Vorhang)