Der Dichter und der Kaiser Ein chinesisches Märchen

Es lebte im alten China zur Zeit der Thangdynastie, wel­che in große und gefährliche Kriege gegen ihre Nachbarn verwickelt war, ein junger Dichter namens Hen-Tsch-Ke, der wagte es eines Tages, sich den Zopf abzuschneiden und also durch die Straßen von Peking zu spazieren. Der Wagemut dieses Unternehmens verblüffte die gelbmäntligen Polizisten derart, daß sie ihn für einen Irren hielten und ungehindert passieren ließen. Er wanderte durch Pe­king über Land — immer ohne Zopf – und gelangte über die Grenze nach der Provinz Tsch-Wei-Tz, welche sich in den Thangkriegen für neutral erklärt hatte. Von dort richte­te er schön auf Seidenpapier und anmutig und bilderreich stilisiert einen Brief an den Kaiser Thang, in dem er mit jugendlicher Freiheit zu sagen wagte, was eigentlich alle dachten, aber niemand sagte: nämlich: er, der Kaiser, möge doch sich selbst zuerst den veralteten Zopf abschneiden und so seinen Landeskindern (nicht: Untertanen – denn Untertan sei man den Göttern oder Buddha) mit erhabe­nem Beispiel vorangehen und der neuen Zeit ein leuch­tendes Symbol geben. Es sei eines großen und überaus mächtigen Reiches nicht würdig, nach außen so stark, nach innen so schwach zu sein. – Der junge Dichter las diesen Brief, von Reiswein und edler Gesinnung trunken, seinen Freunden in der neutralen Provinz Tsch-Wei-Tz eines Som­merabends vor, worauf er ihn mit einem reitenden Boten nach Peking sandte.

Die Ratgeber des Kaisers gerieten in große Bestürzung. Sie enthielten dem Sohn des Himmels das Schreiben des Poeten vor und verboten bei Todesstrafe, die darin enthal­tenen Ideen ruchbar werden zu lassen. Der junge Dichter liebte sein Vaterland sehr. Die Liebe zu ihm hatte ihm den Pinsel zum Brief in die Hand gedrückt und das Kästchen mit schwarzer Tusche. Aber seine wahrhaft unschuldig ge­tane Tat wurde ihm von allen Seiten falsch gedeutet. Die Denunzianten bemächtigten sich seiner, während er fern der Heimat weilte, und beschuldigten ihn bei den Behörden des Kaisers des Vaterlandsverrates, der Majestätsbeleidi­gung, der Desertion: ja: sie gingen so weit, zu behaupten, er habe den Brief im Auftrage der Feinde geschrieben und stehe im Dienste der mongolischen Entente. Er sei ein Ententespion. Andere wieder verdächtigten sein chinesi­sches Blut und schimpften ihn einen krummnäsigen Ko­reaner.

Der Dichter wagte eine heimliche Fahrt in die Heimat und erfuhr zu seinem Entsetzen, was über ihn gesprochen und geglaubt wurde. Er, der in der Ferne nur seinen blumenhaften Versen und zarten Tragödien gelebt hatte, wurde beschuldigt, revolutionäre Flugblätter über die Grenze an die Soldaten des Kaisers gesandt zu haben, die dazu auf­forderten, das Reich dem Feinde preiszugeben. Der junge Poet geriet in Bestürzung und Tränen. Er zog sich wie eine Schnecke ganz in sich selbst zurück, mißtraute auch sei­nen wenigen Freunden, und reiste heimlich, wie er ge­kommen war, in die Provinz Tsch-Wei-Tz zurück. Er dank­te es der Gnade der Götter, daß er die Grenze noch pas­sierte, denn die Häscher waren auf ihn aufmerksam ge­worden. Eine Militärpatrouille jagte hinter ihm her. Ein plötzlich einsetzender Platzregen hinderte sie am Vorwärts­kommen. Beauftragt, den Dichter nach der nordchinesi­schen Festung Küs-Trin zu bringen, erreichten sie eine hal­be Stunde zu spät die blauweißen Grenzpfähle. Der Kaiser erfuhr nichts von dem Dichter und seinem Brief und ließ das Schwert und nicht die Liebe regieren. Der Dichter lebte fürder einsam an einem melancholischen See der Provinz Tsch-Wei-Tz.

Er blickte, das Haupt auf das Kinn gestützt, auf die grünen Palmen und die violetten Berge. Die Möwen kreuzten krei­schend über ihm. Sein Herz suchte in manchen Nächten das Herz des Kaisers. Auch der Kaiser spürte auf seinem goldenen Thron zuweilen ein sonderbares Sehnen: er wußte nicht wohin … Er neigte das Haupt in die Hand und dachte angestrengt nach … Aber die Herzen des Dichters und des Kaisers fanden sich nicht. Ein Gebirge erhob sich steil und felsig, bäum- und weglos, zwischen ihnen, und wenn sie nicht gestorben sind, so leben sie heute noch …

(aus: Das junge Deutschland 1, 1918)