Das Kirschblütenfest

Spiel nach dem japanischen von Klabund

Erschienen im Phaidon Verlag 1927

FIGUREN

GENZO, Lehrer in einem Dorf bei Tokio

TONANI, seine Frau

MATSUO, Kanzler des Tyrannen

GEMBA, Vasall des Tyrannen

CHIYO

KOTARO, ihr Kind

KOJIMA (Schüler)
TOBA (Schüler)
KEIKO (Schüler)
KWAN (Schüler)
MOTADA (Schüler)
ASON (Schüler)
WUSA (Schüler)

ERSTER
ZWEITER
DRITTER GREIS

VOLK, GEWAPPNETE, MASKEN, TÄNZER

Das Drama, frei nach Takeda Izumo, spielt in einer heroischen Zeit, im Jahre 902. Genzo, Gemba, Matsuo sollen aussehen wie etwa die japanischen Schauspielerportraits von Sharaku. Kotaro ist von einer zarten, aber glühenden jungen Schauspielerin zu spielen;‘ Kwan von einem ihr ähnlichen strahlenden jungen Schauspieler. 

Keine Pause

Spieldauer etwa zwei Stunden

Die Dichtung ist an geeigneten Stellen melodramatisch-musikalisch zu begleiten

Musik von Ernst Foch

Eine japanische Landschaft. Blühende Kirsch­bäume. Im Hintergrund der Fushijama. Den mittleren Vordergrund nimmt ein japanisches Haus ein, dessen Schiebewände auseinander­geschoben werden können, und dann das Innere: ein großes Schulzimmer: zeigen. Wenn der Vorhang aufgeht, ist früher Morgen. Der Fushijama erglänzt im Morgen­rot. Vögel singen. Man hört von einem nahen Tempel in regelmäßigen Abständen dreimal hintereinander eine Trommel anschlagen. Dann Gesang:

Fushijama Glanzfeuer
Berg des heiligen Schimmers
Senke deine Strahlenblicke gnädig
Einem neuen Tag
Ewig flammst du
Göttern selbst unlöschlich
Ohne Ruß und Rauch wie Menschenfeuer
Unwissend bist du
Der Jahreszeiten
Der Zeit des Jahres
Weißhaariger Weiser
Du bist der Gleiche
Durch tausend Geschlechter
Durch tausend Lenze
Aus deinen Augen fiel die erste Träne
Der Morgentau
Aus deinem Gletscherhaupt entsprang Der erste Gott
Die Blüte deines Anblicks pflückte Der erste Mensch
Du wirst dem letzten Menschen auf
Das Grab sie streun.
Menschen und Monde
Tage und Träume
Wechseln beständig
Gehen dahin
Du nur dauerst
Funkelnder Felsen
Blitzende Wahrheit
Glühender Stein!

Es ist hell geworden. Drei alte Pilger, die dem Fushijama unterwegs sind, haben Szene betreten.

DER ERSTE PILGER Wie weit noch der Weg — wie weit!

DER ZWEITE Wie hoch noch der Berg — wie hoch!

DER DRITTE Wie fern noch das Ziel — wie fern!

(Von einem blühenden Kirschbaum fallen Blüten zur Erde)

DER ERSTE Es schneit

DER ZWEITE Kirschblüten

DER DRITTE Frühling fällt in unsern Winter

DER ERSTE Als wir jung waren —

DER ZWEITE Da trank ich den Takiwein —

DER DRITTE Da liebte ich die Djoro, da liebte ich den Hokan —

DER ERSTE Da focht ich mit meinem Schwert für den Ruhm des Gottessohnes –

DER ZWEITE Der Wein ist verraucht —

DER DRITTE Die Djoro, die nicht für hundert Perlen feil war, bietet sich jetzt in der Straße der zwan­zig Sens den Kulis dar. Der Hokan, der den heiligen Schwertertanz und den Tanz des Gottes­sohnes tanzte, tanzt heute mit seinen klapp­rigen Greisengliedern auf den Jahrmärkten den Tanz der Warzenkröte und den Tanz der Stabheuschrecke.

DER ERSTE Frühlingswind über den Wiesen. Oktoberwind im Herzen. Mein rostig und schartig gewor­denes Schwert ist nur noch dazu gut, Disteln zu köpfen. Den Mikado, den Gottessohn, hat ein Teufelssohn ermordet und seinen erha­benen Thron sich angemaßt. Des Gottessohnes Sohn hält sich verborgen — wo weilt er?

DER ZWEITE Wo?

DER DRITTE Wo?

(Eine Wolke tritt vor die Sonne, Schatten auf der Bühne)

DER ERSTE Des Himmels Antwort

DER ZWEITE Schatten — nur Schatten —

DER DRITTE Der Lichtgott verhüllt sich —

DER ERSTE Keine Gnade —

DER ZWEITE Er schaudert vorm Anblick

DER DRITTE Verwesender Menschen —

DER ERSTE Wer ließ uns verwesen?

DER ZWEITE Das Schicksal —

DER DRITTE Die Schuld —

(In der Ferne wieder drei Trommelschläge. Die Schüler Aso, Keiko, Wusa, Toba, Motada, Kojima betreten auf dem Weg nach der Schule lachend die Szene. Sie sind alle im Alter von vierzehn bis fünfzehn Jahren)

KEIKO Heut ist das Fest der Kirschblüte. Seht euch mal die drei alten Wildschweine da an, denen schon alle Borsten ausgefallen sind. Das sind sicher die ersten Masken. Die gehen früh aufs Fest. Könnens kaum erwarten. Haben auch nicht mehr viel Zeit zu verlieren. 

(Gelächter der Schüler) 

DER ERSTE PILGER Wir wünschen euch einen gesegneten Morgen, ihr Jünglinge.

KEIKO Und wir wünschen uns einen gesegneten Ap­petit zum Frühstück, ihr Greise (Gelächter). Treffliche Masken habt ihr euch gemacht, treffliche Masken. Man kann den Menschen in euch kaum wiedererkennen (zum ersten, ihn an seinen weißen Bart zupfend) Du da — was stellst du denn vor?

DER ERSTE Ich erlaube mir, mich vorzustellen — mein Name ist Anatsu Kosen. Aber ich hieß früher Ohinumaru, auch wohl Akisuke. Viele Namen lang bin ich schon auf der Welt. Man sagt, dass ich einhundertvierzig Jahre zähle — ich selbst habe es ganz vergessen, wie alt ich bin — so alt bin ich. Als ich meinen ersten Namen trug, lebte Gott noch. Dann haben ihn die Teufelssöhne ermordet und nun trage ich meinen dritten Namen und suche Gottes Enkel. Weißt du vielleicht, Jüngling, wo Gottes Enkel zu finden ist? Du bist so viel jünger als ich, hast klare scharfe Augen und vermagst das Göttliche leichter zu schauen als ich mit meinem halberblindeten Blick.

KEIKO In dir, du geschwätziger Greis, vermag ich das Göttliche jedenfalls nicht zu erkennen. Du hast Triefaugen, einen zahnlosen Mund, Arme und Beine wie ein Skelett und duftest nicht nach Rosenwasser. Willst du als Abbild Gottes gelten?

DER ERSTE Ich will nichts für mich: weder sein noch gelten: dazu bin ich zu alt. Ich will nur Gott noch einmal in einem Menschenantlitz sehen. Aber Gott, du hast recht, bleibt immer jung, er ist ewig jung, er hat die Gestalt und die Seele eines Jünglings —

KEIKO (lachend) Dann sind wir alle Götter, ich und Ason und Wuso und Toba, Kojima und Mo-tada.   Vielleicht ist sogar Kwan ein Gott.

DER ERSTE Wer ist Kwan?

KEIKO Kwan ist ein Schüler wie wir. Aber er ist noch nicht da. Er ist der Lieblingsschüler des Herrn Genzo, ein Streber und ein Schwächling und deshalb liebe ich ihn nicht, nein, ich liebe ihn nicht. (In der Ferne wieder drei Trommelschläge.) 

ALLE KNABEN Die Schule wird gleich anfangen!

KEIKO Hört einmal, ihr Greise, damit ihr wenigstens zu etwas nütze seid: stellt euch hier in eine Reihe, so, und jetzt beugt euch nach vorn, so, und jetzt springen wir alle über euch hinweg! 

ALLE KNABEN (lachend) Keiko hat immer die lustigsten Einfälle! 

(sie springen alle lachend über die drei gebückt verharrenden Greise, dann ab in die Schule) 

DER ZWEITE Welch eine Jugend kommt herauf!

DER DRITTE Herrschsüchtig, boshaft und götterlos —

DER ERSTE Jugend bleibt Jugend zu allen Zeiten! War ich jung — was brauchte ich die Götter! Wäre ja selbst ein Gott!

(Die Wolke tritt von der Sonne fort. Licht überflutet die Bühne, und in ihm steht plötz­lich Kwan)

DER ERSTE Des Himmels Antwort!

DER ZWEITE Der Lichtgott enthüllt sich!

DER DRITTE Segen — Gnade!

KWAN Ich wünsche euch in Ehrerbietung einen ge­segneten Morgen, ehrwürdige Herren!

DIE DREI Wir danken dir — wir danken dir —

DER DRITTE Für deinen Gruß!

DER ZWEITE Für deinen Anblick!

DER ERSTE Für deine Freundlichkeit!

KWAN Ehrwürdige Herren — ich bin beschämt und weiß nicht, welchem Umstand der Schüler Kwan es zu verdanken hat, von euch so feierlich begrüßt zu werden.

DER ERSTE Es ist das Licht in dem du stehst!

DER ZWEITE Es ist deine Anmut!

DER DRITTE Es ist deine Demut!

DER ERSTE Es ist deine Jugend!

KWAN Es ist die Pflicht der Jugend, sich vor dem ehrwürdigen Alter zu neigen —

DER ERSTE Es ist die Sehnsucht des Alters, sich vor der Jugend zu neigen.

KWAN Steht auf! Ihr beschämt mich! Ihr ver­wirrt mich! Ich kenne mich nicht. Ich kenne euch nicht.

DER ERSTE Wir sind drei Pilger, auf der Wanderschaft nach dem heiligen Berg Fushijama begriffen. Dort wohnt Gott. Er weint am Grabe seines Sohnes, des Mikado, den Menschen ermordeten. Er ließ einen Sohn auf der Erde, Gottes Enkel, der sich verborgen hält vor den Mör­dern, die auch ihn morden wollen, damit die Teufelsbrut ungefährdet auf Erden re­giere. Uns wurde geweisagt, dass auf dem Wege nach dem Fushijama wir Gottes Enkel n einem Frühlingsmorgen begegnen würden – ein einziges Mal —

KWAN War es die Wahrsagung des heiligsten Tem­pels, so wird sie nicht lügen: so werdet ihr ihn sehen. 0 wie ich euch darum beneide. Wenn ihr ihm begegnet, so sagt ihm meinen Namen, nur meinen Namen: ich heiße Kwan und will für ihn leben und sterben.

DER ERSTE Vielleicht, wenn wir ihm begegnen, werden wir nicht wissen, dass er es ist —

KWAN: Vielleicht, wenn ihr ihm begegnet, wird er es nicht wissen, dass er es ist —

DER ERSTE Wir müssen gehen und du musst gehen. Unser Weg führt auf den Berg, der deine ins Tal. Wir segnen dich — so segne auch du uns!

KWAN Ich segne euch!

(In diesem Augenblick fällt das Licht stark auf die Greise, die wie geblendet stehen)

DER ERSTE Das Licht!

DER ZWEITE Die Gnade!

DER DRITTE Der Gott!

KWAN Ehrwürdige Herren, allweise, allwissende, scheidet von mir nicht, ohne mir einen Rat hinterlassen zu haben: welches sind die höch­sten Tugenden des Menschen?

DER ERSTE Mut und Demut —

KWAN Und welches ist die höchste Tat, die ein Mensch zu tun vermag?

DER ERSTE Das Opfer aus Treue!

KWAN Das Opfer des Lebens?

DER ERSTE Das Opfer der Seele!

KWAN Aus Treue gegen einen Menschen?

DER ERSTE Aus Treue gegen Gott.   Gott opfert sich in seinen Söhnen für die Menschen — so müssen sich die Menschen für ihn, für seinen Sohn, für seinen Enkel opfern.

KWAN Ich kenne meinen Vater nicht, ich kenne meine Mutter nicht, ich bin eine Waise, keines Menschen, keines Gottes Sohn —

DER ERSTE Lebe, liebe, wandle, handle: so wirst du sie, so wirst du dich kennen lernen!

(Die drei ab unter dem Gesang: Fushijama usw.) (Die Wände des Hauses öffnen sich, die Schule wird sichtbar)

ASON Das Schlimmste an der Schule ist, dass man noch zu nachtschlafender Zeit aufstehen muss, wenn man noch gar nicht ausgeschlafen hat (gähnt) U—a—u

TOBA Was buchstabierst du da? Warte damit, bis der Herr Lehrer kommt.

KWAN Ich stehe gern früh auf. Ich freue mich, wenn ich als erster die Sonne begrüßen darf, wenn sie noch niemand vor mir gesehen hat, Übern Tempelhügel kommt sie herauf, und plötzlich springt sie ins Geäst eines Baumes und dann von Zweig zu Zweig: wie ein goldnes Eichhörnchen.

KOJIMA Die Sonne ist ein Gott.   Man darf sie nicht mit einem Eichhörnchen vergleichen.

KWAN Alle Geschöpfe sind göttlichen Ursprungs. Auch die Eichhörnchen.   Ich darf wohl Gott mit einem Eichhörnchen, aber ich darf nicht das Eichhörnchen mit Gott vergleichen.

KOJIMA Du bist mir zu gescheit. Das verstehe ich nicht.

KEIKO Wollt ihr unanständige Bilder sehen?

(Alle mit Ausnahme von Kwan laufen herzu)  

Ich kann sie euch aber nur unter der Bank zeigen — der Alte könnte plötzlich herein­kommen—

WUSA Hier tuts ein Mann mit einer Ziege —

ASON Hier tuts eine Frau mit einem Hund —

KEIKO Warum siehst du dir das nicht an, Kwan? Bist wohl zu fein, zu anständig, was? Zu vornehm? Du wärst nicht auf der Welt, wenn’s dein Vater nicht mit deiner Mutter ge­tan hätte — wenn auch niemand deinen Vater und deine Mutter kennt —

ASON Wir sind ehrliche Kinder — unsern Vater und unsere Mutter kennt man —

KEIKO Du meinst wohl, du bist aus den Wolken gefallen?

KOJIMA Oder aus der Sonne —

ALLE (umtanzen ihn höhnisch): Sonnensohn — Sonnensohn — Sonnensohn —

WUSA Der Lehrer kommt —

(Alle auf ihre Plätze. Jeder hat ein kleines Tischchen vor sich, mit Tusche, Pinsel etc.) (Genzo tritt ein)

GENZO Guten Morgen, Kinder

SCHÜLER Guten Morgen, Herr Lehrer

GENZO Lasset uns beten! (Die Schüler stehen auf) Das Lebendige ist das Opfer. Das Höchste ist das Opfer. Opfre sich der Diener dem Herrn, der Freund für den Freund, der Schüler dem Lehrer, der Lehrer dem Schüler, der Untertan dem Herrscher, der Herrscher dem Untertan, aber alle insgesamt dem Gott.

(Schüler setzen sich, Genzo geht unruhig auf und ab) 

GENZO Wo waren wir das letzte Mal stehen geblieben, —

WUSA Wir waren sitzen geblieben, Herr Lehrer (Ge­kicher) 

GENZO Du wirst bestimmt sitzen bleiben, vorlauter Bursche. Dein Vater wird deinethalb Harakiri verüben, vor Verzweiflung über den ungeratenen Sohn.

(Wusa schweigt betreten)

GENZO Kwan — wovon hatten wir zuletzt gesprochen?

KWAN Von der Gotteskindschaft und vom Gottes­sohn.

GENZO Und was hatten wir darüber zu sagen gewusst, Kwan?

KWAN Immer wieder steigt Gott auf die Erde her­nieder im Dairi, der sein Sohn ist. Immer wieder nimmt er die Gestalt eines Jünglings an, um dessen Stirne ein Glanz ist und in dessen Herzen ein Leuchten.

KEIKO: Herr Lehrer —

GENZO Was willst du?

KEIKO: Wenn Gott in einem Jüngling herniedersteigt, woher weiß der betreffende Jüngling, dass er Gottes Sohn ist? Wir, die wir die Ehre haben, vom Herrn Lehrer unterrichtet zu wer­den, sind Jünglinge. Wäre es nicht möglich, dass einer von uns Gottes Sohn ist?

(Gelächter der Schüler)  

GENZO Das ist allerdings möglich. Gott senkt den Samen der Göttlichkeit oft in das geringste Tongefäß. Er bläst seinen Atem in Zwerge, in Narren.

KEIKO: Wenn Gott seinen göttlichen Atem in Narren bläst, so ist Wusa sicher ein Sohn Gottes —

(Gelächter)  

GENZO Schweig, du Lästermaul —

(Ein Sonnenstrahl fällt durch das Fenster auf Kwan)

Hanami in der Nähe der Burg Himeji, Japan CC BY-SA 3.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=102422

GENZO Du leuchtest ja — Kwan —

KWAN Es ist die Sonne, Herr Genzo —

GENZO leuchtest von außen, du leuchtest von innen—

KWAN Ich bin bestrebt, Klarheit zu gewinnen, Herr Genzo —

GENZO Das Heil ist einem jeden gewiss, der es für gewiss hält. Glaubst du, Kwan?

KWAN Ich glaube —

GENZO An was? An wen?

KWAN An mich —

GENZO Du glaubst nicht an den Buddha und an den Aminabuddha?

KWAN Ich würde es für unredlich und unhöflich halten, bevor ich noch an mich selber glauben gelernt, an Buddha und an Aminabuddha zu glauben. Durch den Glauben an mich gelange ich zum Glauben an etwas Höheres und im­mer eine Stufe höher die Leiter des Glaubens bis zu Aminabuddha und Buddha.

GENZO Kwan — wie alt bist du jetzt?

KWAN Fünfzehn Jahre, Herr Genzo —

GENZO Verzeih mir — ich bin sehr zerstreut — die Frage war wohl überflüssig — ich vergaß —

KEIKO: Sie haben auch vergessen, Herr Lehrer, dass heute das Fest der Kirschblüte ist — und dass Sie uns einige Stunden freigeben wollten —

GENZO Ja — ja — ich erinnere mich — heute ist das Fest der Kirschblüte   (für sich) — heute vor zwölf Jahren wurde der Mikado er­mordet —

WUSA Auf den Straßen ist Maskentreiben — an diesem Tage dürfen die Schüler immer in Tiermasken ausgehen —

GENZO In Tiermasken — ja —

KEIKO: Dürfen wir die Tiermasken aufsetzen?

GENZO Ihr dürft, liebe Kinder.

ALLE (Geschrei, Jubel) Lang lebe unser ehrwürdiger Lehrer, Herr Genzo —

WUSA Die Masken liegen nebenan in der Kammer. Dürfen wir sie holen?

GENZO Ihr dürft, liebe Kinder.

(Alle bis auf Kwan ab. Genzo ist wieder nach­denklich auf und abgeschritten. Bleibt end­lich vor Kwan stehen) 

GENZO Du bist noch hier, Kwan? Willst du dir nicht eine Maske aufsetzen?

KWAN Herr Genzo — ich habe schon eine Maske auf — die Maske der Furcht und bösen Ahnung — Herr Genzo. Sie sind bewegt — Sie sind un­ruhig — es geht etwas vor in Ihnen — es geht etwas vor in der Welt

(Die fünf Schüler mit Tiermasken zurück:

Schwein, Drache, Pferd, Ochs, Affe. Keiko, in der Maske des Affen, trägt noch zwei Masken in der Hand: die des Tigers und des Hasen) 

KEIKO Für dich, Kwan, zarter Jüngling, den Hasen — und für den Herrn Lehrer den gewaltigen Herrn Lehrer: den Tiger —

(wirft die Masken hin. Die fünf Masken tanzen im grotesken Reigen ab) 

KWAN (hebt die Masken lächelnd auf, legt sie auf sein Tischchen) Hase und Tiger —

(Die Tür öffnet sich, herein tritt Frau Chiyo mit Kotaro, der ein Tischchen und ein Paket trägt) 

CHIYO Ist es mir vergönnt, Herrn Lehrer Genzo zu sprechen?

GENZO Sie sehen ihn vor sich, beste Frau —

CHIYO Ich bin gekommen, meinen Sohn Kotaro Ihrer pädagogischen Obhut zu vertrauen, Herr Gen­zo. Möge er zu Ihrer, meiner und aller Men­schen Freude unter Ihrer gesegneten Leitung wachsen — und reifen — und —

(Sie hält ergriffen inne, sinkt an den Tür­pfosten, Kotaro fängt sie auf) 

KOTARO Mutter, liebste Mutter —

GENZO Trocknen Sie Ihre Tränen, liebste Frau. Ihr Sohn ist in meinem Haus in bester Obhut und nicht außer aller Welt. Sie werden jederzeit Gelegenheit haben, ihn zu besuchen — Ich kenne Sie nicht, Frau —

CHIYO Chiyo

GENZO Frau Chiyo — Sie sind nicht aus dieser Ge­gend?

CHIYO Ich bin dreizehn Stunden von hier —

GENZO Dreizehn Stunden — und da bringen Sie Ihren Sohn zu mir —

CHIYO Ich bin von Tokio —

GENZO Von Tokio — ? Und da bringen Sie Ihren Sohn in meine armselige Dorfschule?

CHIYO Der Ruf Ihrer Gelehrsamkeit ist bis nach To­kio gedrungen.

(Kwan und Kotaro haben sich inzwischen be­trachtet)  

GENZO Wie heißt Ihr Sohn?

CHIYO Kotaro.

GENZO Ein   hübscher Name — und   ein hübscher Junge.

CHIYO Machen Sie ihn nicht eitel, Herr Genzo.

GENZO Du scheinst mir ein frischer, aufgeweckter Bursche.

KOTARO Ich klettere mit den Eichhörnchen um die Wette und laufe schneller als ein Rikschakuli.

GENZO Wie alt bist du?

KOTARO Fünfzehn Jahre —

GENZO Und was hast du bisher gelernt — außer klet­tern und mit den Rikschakulis um die Wette laufen?

KOTARO (verlegen) Wenig —

GENZO Kannst du schreiben?

KOTARO Ein wenig.

GENZO Kannst du lesen?

KOTARO Ein wenig.

GENZO Hast du etwas auswendig gelernt — einen Spruch ein Gedicht —

KOTARO Ich kenne das Gedicht, das der ermordete Mi­kado auf dem Totenbett schrieb für seinen Sohn.

(Genzo merkt auf) 

KOTARO:

Der Fels
Kann zwar den wilden Bergbach teilen
Doch wird er tief im Tal sich wieder einen
Zu einem Fluss
Zu einem Strom
Und immer wieder
Wird ein Mikado sein.

(Kwan sieht Kotaro leuchtenden Auges an) 

GENZO Wer hat dich das gelehrt, Kotaro?

KOTARO Meine Mutter —

GENZO Was weißt du von dem Sohn des Mikado?

KOTARO Niemand weiß von ihm. Die Freunde des Mikado haben ihn vor zwölf Jahren entführt, um ihn vor den Mördern zu schützen, die auch ihm nach dem Leben trachteten.

GENZO So — so — erzählt man sich das im Volk? Nun: das Volk liebt Märchen.

CHIYO Aber nur Märchen, die einmal Wirklichkeit waren — und wieder einmal Wirklichkeit werden können.

GENZO Gute Frau — der Sohn des Mikado ist tot — verlasst Euch darauf.

CHIYO (lächelnd) Habt Ihr ihn getötet, dass Ihr es so sicher wisst?

GENZO Reden Sie keinen Unsinn, Frau Chiyo —

KOTARO Der Sohn des Mikado ist — am Leben —

GENZO Er lebt in den Herzen einiger Menschen — gewiss — sonst nirgends.

KOTARO Wer in den Herzen der Menschen lebt, lebt unsterblicher, als wer auf ihren Lippen lebt. Er lebt ewig.

GENZO Du bist ein kleiner Philosoph. Aber wie steht es sonst noch mit deiner Wissenschaft? Sie ist nicht weit her, wie?

KOTARO (lächelnd) i, sie ist sehr weit her — von Tokio, Herr Lehrer —

ENZO Du hast Mutterwitz —

KOTARO schmiegt sich zärtlich an seine Mutter)

FRAU CHIYO fast in Schluchzen ausbrechend)

Kotaro — mein Engel — mein Liebstes, mein eitles Herz —

KWAN Frau Chiyo, Kotaro bleibt Ihnen ja erhalten

(Frau Chiyo bricht erneut in Weinen aus)  

er wird aus der Schule hier nicht gestohlen werden. Ich werde schon aufpassen, dass niemand ihm zu nahe kommt—.

KOTARO ich bin selbst Manns genug, für mich — und wenn nötig, auch für dich einzustehen —

GENZO Hm, und wie steht es mit dem Rechnen — um die Aufnahmeprüfung zu schließen?

KOTARO Zwei Mörder und zwei Räuber: das machen vier Verbrecher. Aber ein opferwilliger Held macht tausend weitere Helden. Das heißt: zweimal zwei ist manchmal vier. Aber einer allein ist zuweilen — tausend.

KWAN Wir beide vereint werden hunderttausend sein!

GENZO Nun — nun — Ihr werft mit Ziffern um Euch wie Gott mit Sternen — Kotaro, du wirst vor allem lernen müssen, deine Phantasie zu zügeln.

KWAN Ich werde ihm helfen, Herr Genzo, dann wird er das Pensum der Klasse bald erreicht haben.

KOTARO (leuchtenden Auges) Ja — willst du das? Willst du mir helfen?

KWAN Ja, das will ich —

KOTARO Und willst du mir auch als Gegendienst ge­statten, dir zu helfen, wenn es einmal not tut?

KWAN Wenn es einmal not tut — ja. Aber hoffent­lich kann ich mir immer selbst helfen.

KOTARO Kein Mensch kann bestehen, ohne dass ihm andere Menschen helfen. Die Mutter hilft dem Kind, der Sohn hilft dem Vater, der Lehrer hilft dem Schüler (ergreift seine Hand): der Freund dem Freund!

GENZO Darf ich Sie in das Nebenzimmer bitten, Frau Chiyo, damit wir noch die nötigen Formali­täten der Aufnahme Ihres Sohnes besprechen. Er hat die Prüfung glänzend bestanden —

FRAU CHIYO Ja, er hat die Prüfung bestanden. Wollte Buddha, dass auch ich sie bestehe —

(Genzo und Frau Chiyo ab. Kwan und Kotaro allein gelassen, sind zuerst verlegen.)  

KWAN Du gefällst mir!

KOTARO Du mir auch.

KWAN Du gefällst mir sehr.

KOTARO Du mir auch sehr.

KWAN Noch nie hat mir ein Mensch so gut gefallen wie du.

KOTARO Noch nie — wie du —

KWAN Mir ist, als ob ich einen Bruder in dir ge­funden hätte. Ich kenne dich kaum eine halbe Stunde — und ich glaube, dich schon lange zu kennen — so lange Jahre lang.

KOTARO Ich kenne dich — von Anbeginn meines Lebens — ich werde dich kennen — bis in meinen Tod. Ja, im Tode werde ich dich noch segnen — 

KWAN Segne mich, solange du lebst — und lebe im­mer i Gib mir deine Hand — o wie zart sie ist — fast wie eine Mädchenhand —

KOTARO (lächelnd) Du hältst wohl oft Mädchenhände in deiner Hand, dass du weißt, wie Mädchenhände aus­sehn —

KWAN Ich habe noch nie eine Mädchenhand in meiner Hand gehalten —

KOTARO Noch nie?

KWAN noch nie —

KOTARO Aber die Mädchen sind sehr hinter dir her — ^er du hinter ihnen — gesteh!

KWAN O, da ist nichts zu gestehen — weder das eine och das andere —

KOTARO So hast du noch nie Sehnsucht nach einem Mädchen gehabt? 

KWAN Noch nie. Aber ich habe manchmal Sehnsucht nach meiner Mutter.

KOTARO Und dann gehst du zu ihr oder sie kommt zu dir?

KWAN Ich kenne meine Mutter nicht —

KOTARO Nicht traurig sein — nicht traurig sein — du wirst schon noch eine Mutter finden, eine gute zärtliche Mutter, wie ich sie habe. Du bist ja noch so jung. Das ganze Leben liegt noch vor dir, und da wirst du schon noch eine Mutter finden —

KWAN Eine Mutter findet man nicht. Eine Mutter hat man. 0, wie sehr ich dich beneide, Kotaro, wie sehr ich dich beneide — um deine Mutter!

KOTARO Vielleicht findest du auch eine Schwester — die ist manchmal sogar noch zärtlicher als eine Mutter — ich werde helfen, dir eine Schwester zu suchen — komm — gehen wir auf das Fest — vielleicht finden wir eine für dich — und kann es keine Schwester sein — dann vielleicht — eine Liebste —

KWAN (vorwurfsvoll) Kotaro! Du sprichst wie ein Mann von zwan­zig Jahren—

KOTARO Oder   wie   eine   Frau — von   vierzehn. Die sprechen nämlich auch so —

KWAN Komm, wir wollen uns maskieren wie die andern. Hier sind zwei Masken übrig ge­blieben — welche willst du — den Hasen oder den Tiger?

OTARO (wägt sie beide in den Händen) Der Tiger sieht blutrünstig aus — und das Gesicht des ;en sehr ängstlich — wenn du mir erlaubst, zu wählen — so wähle ich den Ha­sen — denn ich bin solch ein Hasenfuß — ]a, ja, du wirst es nicht glauben — ich habe Angst — ich habe Furcht —

KWAN Aber Kotaro: wovor brauchst du Furcht zu haben?

KOTARO Ja — es ist lächerlich — und es ist unwürdig aber ich habe auf einmal Furcht — (an Kwans Brust stürzend) ich habe solche Furcht vor dem Tod —

KWAN Aber Kotaro, liebster Freund — du lebst — du lebst — und niemand will dich töten —

KOTARO Meine Selbstsicherheit — das ist alles Maske — laß dir nichts vormachen — ich bin kein Held ich bin nicht eins gleich tausend. Ich bin eins gleich Null. Eine Null bin ich. Ein Nichts. Ein hohles Nichts, angefüllt mit tönenden Phrasen — ich werde auch nie etwas lernen — hier auf der Schule — nie — nie — es ist aus mit mir — meine Mutter soll mich ruhig wieder mitnehmen —

(Frau Chiyo und Genzo treten wieder auf, Kotaro stürzt seiner Mutter entgegen)  

KOTARO Nimm mich wieder mit, Mutter. Ich bin dein Opfer nicht wert —

CHIYO Still, Kind — still, Kind — beruhige dich — mach es mir nicht so schwer, Kind, sei ein kleiner Held-

KOTARO Ein — kleiner — Held —

FRAU CHIYO Darf ich mich nun verabschieden, Herr Genzo. Ich lasse Kotaro vertrauensvoll in Ihren Händen. — Kotaro, gib jetzt dem Herrn Lehrer das für ihn bestimmte Geschenk —

KOTARO Sie dürfen es aber (mit einem Blick auf die Mutter) vor heute Abend nicht öffnen. Es ist eine Überraschung für Sie darin, Herr Genzo.

CHIYO Ja, es ist eine Überraschung darin für Sie.

GENZO Gut — gut — ich lasse mich gern überraschen.

CHIYO (tränenüberströmt) Kotaro — mein Herz — mein Liebling — meine Kirschblüte — meine Kirschblüte —

KOTARO Mutter — Mutter — laß mich nicht allein — geh nicht von mir —

CHIYO (trocknet ihre Tränen) Sei tapfer, mein Kind, tapfer wie es alle deine Ahnen waren —

GENZO Nun, so großer Worte bedarf es wohl nicht bei einem so harmlosen Ereignis, wie es der Eintritt in die Schule ist.

CHIYO (lächelnd) Es ist ein Muttersöhnchen (ihn streichelnd), ein rechtes Muttersöhnchen — der kleine Kotaro — ja das ist er — obwohl er zuweilen wild wie ein Wolf dreinschaut — dreinschaut —

KOTARO Mutter, ich will handeln, wie es die Pflicht des Sohnes gebietet —

CHIYO Brav, mein Kind, brav. Und nun lebe wohl —

(Umarmung. Chiyo schnell ab. An der Tür noch einmal zurück) Ich habe meinen Fächer vergessen — ich bitte um Vergebung — (nochmalige stürmische Umarmung — in der Tür­füllung bleibt sie nochmals mit dem Fächer stehen, den sie hin und her bewegt, um ihn mit einem Ruck zu schließen. Ab)  

GENZO Komm einmal her, Kotaro.

KOTARO Herr Genzo —

GENZO Näher.

KOTARO (tritt näher)  

GENZO Noch näher — hast du Furcht vor mir?

KOTARO (sieht ihn groß an und nicht dann leise mit dem Kopf) Ja —

GENZO (lacht dröhnend) Der Junge hat Furcht vor mir — ich fresse keine Kinder — so große wie du eines bist, fresse ich nicht mehr — nur die ganz kleinen — von drei, vier Jahren — die laß ich mir zum Nachtmahl braten — hi —

KWAN Erschrecken Sie Kotaro nicht, Herr Genzo. Er kennt Ihr gutes Herz noch nicht und glaubt womöglich, dass es Ernst ist, was Sie ihm er­zählen —

KOTARO (lächelnd) Ich weiß schon, was ich zu glauben habe —

GENZO (nimmt seinen Kopf in beide Hände) Hübsch bist du — einen hübschen Kopf hast du — so zart modelliert — vom Bildhauer über den Wolken — die schöne Schläfe — kein Bauern­schädel — wie die Schädel der andern Burschen hier — man sieht doch gleich, dass man etwas anderes vor sich hat — etwas Adliges fast —

(Genzo zieht Kwan und Kolaro beide an sich und hält sie mit den Köpfen gegeneinander) Ihr seht euch ja ähnlich wie zwei Brüder —

KWAN Ist das wahr, Herr Genzo? Das freut mich. Ich habe Kotaro sofort wie einen Bruder in mein Herz geschlossen —

KOTARO Kwan war in meinem Herzen, ehe ich ihn ge­sehen hatte —

GENZO Was redest du für Unsinn, Kotaro, schwär­merischer Knabe. Du hast von der Existenz Kwan’s ja bis heute nichts gewusst —

KOTARO Ich habe in meinen Träumen von ihr gewusst —

GENZO Wunderlicher Träumer! — Stellt euch mal hier nebeneinander ins Licht — die Profile — so — wirklich erstaunlich ähnlich — sogar das braune Muttermal hier an der Stirn — der braune Stern — ich freue mich, dass das Ge­schick dich in mein Haus geführt, Kotaro —

KOTARO Mich führte meine Mutter in Ihr Haus — und Buddha —

(Frau Tonani, die Frau Genzos, erscheint)  

GENZO Guten Tag, Frau. Hier stelle ich dir einen neuen Schüler vor, Kotaro heißt er und scheint ein lieber, gescheiter Bursche.

(Kotaro begrüßt höflich Frau Tonani) 

GENZO Ein schönes Geschenk habe ich auch von Kotaros liebenswürdiger Mutter bekommen. Aber ich darf es erst heute Abend öffnen, das Paket —

KOTARO Es ist nämlich eine Überraschung darin für Herrn Genzo —

TONANI Die Vorfreude ist die schönste Freude, da können wir uns bis zum Abend drauf freuen —

GENZO Da liegen die zwei Masken noch, Kinder. Geht auf das Fest: Ich habe mit Frau Tonani noch allerlei zu besprechen.

KOTARO (stülpt sich die Hasenmaske über, läuft ab) Fang mich, Tiger, wenn du kannst! (sie laufen lachend ab)

GENZO Kwan entwickelt sich prächtig.

TONANI Ich habe ihn lieben gelernt wie meinen Sohn —

GENZO Sein Vater — sähe er ihn, würde stolz auf ihn sein —

TONANI Wie wir —

GENZO Heut ist der Tag des Kirschblütenfestes —

Picknickgesellschaften in einem japanischen Park voller blühender Kirschbäume CC BY 1.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=18127

TONANI Ich habe ihn nicht vergessen. Heute vor zwölf Jahren färbten sich die Kirschblüten purpur­rot mit dem Blut des ermordeten Mikado —

GENZO Heute vor zwölf Jahren verriet ihn Matsuo, der Hund, um Geld, Gold und Kanzleramt —

TONANI Shihei, der Tyrann, herrscht schrecklich über Japan —

GENZO Geduld — auch seine Stunde wird einmal schlagen — und sinds nicht die Kirschblüten, so sinds die Chrysanthemen, die sein Blut rot färben wird —

TONANI Still —

(Gemba tritt ein; Komplimente zwischen Gemba, Genzo, Tonani) 

GEMBA Es grüßt Genzo, den weisen, den weisesten Mann, den Lehrer der Kinder, den Lehrer der Lehrer, den Füller des Leeren, es grüßt Genzo den Großen — Gemba der Kleine —

GENZO

Genzo der Zwerg sagt Dank — sagt Gegen­gruß dem Mann des Schwertes, dem Mann der Macht, dem Mann schlechthin — will der Herr mir die Ehre geben, in dieser Höhle Platz zu nehmen —

GEMBA Diese Höhle scheint mir die Höhle — des Tigers —

GENZO 0, Sie übertreiben, Herr —

GEMBA Des jungen Tigers — der hier draußen vor der Tür soeben bei mir vorbeisprang, auf der Ver­folgung des Hasen begriffen.

GENZO Sei reden dunkle Worte, Herr.

GEMBA Sie werden Ihnen schnell klar werden. Darf ich bitten, die Dame für ein kurzes Gespräch unter vier Augen zu beurlauben —

(Tonani zieht sich stumm zurück)

GEMBA Sie haben wie viel Schüler, wenn es erlaubt ist zu fragen?

GENZO Sieben —

GEMBA Sieben ist eine heilige Zahl. Ist nicht gar ein Heiliger unter ihnen?

GENZO 0, der Herr übertreiben! Wie sollte ein Heili­ger sich unter meinem bescheidenen Dache niederlassen. Es sind die Söhne einfacher Bauern und Landgutbesitzer, die ich in den Anfangsgründen des Lesens, Schreibens, der Geographie und Religion unterrichte —

GEMBA Seid Ihr in der Geometrie schon beim Gol­denen Schnitt angelangt?

GENZO Gewiss —

GEMBA Auch beim eisernen Schnitt — durch den Hals?

GENZO Ich verstehe den Herrn nicht —

GEMBA Nun — ich brauche einen Scharfrichter. Viel­leicht seid Ihr bereit, den gut dotierten Posten anzunehmen?

GENZO Ihr scherzt —

GEMBA Durchaus nicht — es ist mir blutiger Ernst damit —

GENZO Der Herr lieben die geistvolle Antithese —

GEMBA Ja besonders die: Kopf hoch, Kopf ab.

GENZO Die Lehren des Erhabenen, die ich zu ver­breiten die Ehre habe, gehn auf die Erhal­tung, Festigung, Heiligung des Lebens aus. Ihr liebt den Tod?

GEMBA Mein Herr, Seine Erhabenheit der Herrscher Shihei, liebt — die Toten. Sie können nicht mehr reden. Er liebt die Schweigsamkeit um sich. Die Einsamkeit. Das stumme Rascheln der Schlange oder des Salamanders. Alles, was laut lärmt, widersteht ihm. Esel, Affen und Elefanten gehören ausgerottet. Sie schreien. Auch erschreckte ihn kürzlich das Gebrüll eines jungen Tigers, das ihm aus diesem Hause zu kommen schien — Ihr werdet wissen, was Ihr — noch heute — mit dem jungen Tiger zu tun habt — wenn Euch Euer Leben lieb und wert ist. Ich fordere im Namen Seiner Er­habenheit Shihei den Kopf des Tigers. Matsuo, der Kanzler, wird kommen, den Kopf kas­sieren und auf seine Echtheit prüfen. Meine Mission ist zu Ende. Ich brauche nicht deut­licher zu werden. Ihr habt mich verstanden. (ab) 

(Genzo sieht ihm entsetzt nach, Tonani tritt wieder ein) 

GENZO sind entdeckt. Unser Geheimnis ist verraten …Shihei hat durch Gott weiß welche glückliche Fügung herausbekommen, dass wir Kwan erziehen, den künftigen Mikado. Shihei fühlt die unrechtmäßige Krone auf seinem Kopfe schwanken. Er fordert den Kopf des Kindes, dessen Gericht er zu fürchten hat, wenn es einmal heranwächst, wenn es einmal erfährt, dass Shihei seinen Vater ermordet hat, um Krone und heilige Priesterschaft sich an­zueignen.

TONANI Flieh mit Kwan!

GENZO Zu spät! (tritt ans Fenster) Gemba hat Be­waffnete unter das Volk gemischt. Sie meinen, es seien Masken — dort tollen Tiger und Hase — und immer ein halbes Dutzend Soldaten hinter ihnen her —

TONANI Kennt Shihei Kwan?

GENZO Er kennt ihn nicht. Es gibt nur einen Mann am Hofe Shiheis, der ihn kennt, das ist Matsuo, der Kwans Vater und Kwan abtrünnig gewor­den. Matsuo hat Kwan einst auf den Knieen gewiegt. Er kennt seine geheimsten körperlichen Merkmale. Ihn wird er schicken, den Kopf des Kwan auf seine Echtheit zu prüfen. Das Muttermal am Haaransatz der Stirn — der braune Stern verrät ihn dem Kenner un­trüglich.

TONANI Matsuo ist ein alter, halbtauber, halbblinder Mann —

GENZO Wir müssen einen Kopf finden, der dem Kopfe Kwans gleicht.

TONANI So sieh doch die Köpfe der Bauernlümmel alle an: Kürbisköpfe — Steckrüben — wo ist der Kopf eines edlen, adligen Menschen darunter?

GENZO Und dennoch müssen wir einen von ihnen opfern — einer muss für den jungen Mikado, . den Gottessohn, sterben —

TONANI Wer?

(Genzo beginnt umherzugehen, bleibt plötzlich stehen)

GENZO Sahst du den neuen Schüler?

TONANI Den, der sich Kotaro nannte?

GENZO Denselben.

TONANI Der in der Hasenmaske?

GENZO Den Hasen —

TONANI Was ist mit ihm?

GENZO Sahst du nicht, dass er Kwan geradezu auf­fallend ähnelt?

TONANI In der Tat —

GENZO Gott hat ihn geschickt, um seinen Sohn durch ihn zu retten — Er trägt wie Kwan das braune Muttermal auf der Stirn — ein Zeichen Gottes.

TONANI Du willst Kotaros —

GENZO Kopf.

TONANI Du meinst, dass Matsuo ihn für Kwan identi­fiziert?

GENZO Er wird — Gott wird helfen —

TONANI Und der Mord? Das unschuldige Blut?

GENZO Komme über Gemba, über Matsuo, über alle Verräter Gottes und des Mikado — die Pflicht gegen Gott ist höher als menschliches Gesetz — ist Shihei dann in Sicherheit gewiegt durch den abgeschlagenen Kopf, entfliehen wir mit Kwan über die Grenze — die Grundlage zu legen für ein neues Reich: der Treue, der Wahrheit, der Güte, der Gerechtigkeit, des Friedens —

TONANI (zählt an den Fingern die Kardinaltugenden noch einmal ab) Treue, Wahrheit, Güte, Ge­rechtigkeit, Friede — man wird uns jeden Finger einzeln abschlagen, ehe wir dazu kommen, unsere rechte Hand zur Faust zu ballen und auf Gemba und Matsuo niederzuschla­gen. Matsuo schwur einst auf die fünf Tugen­den Kwans Vater, dem Mikado, in die Stirn. Wo blieben Treue, Wahrheit, Güte, Gerech­tigkeit? Er zog die fünf Finger ein wie der Geier die Krallen, wenn er sich auf sein totes Opfer setzt. Wenn Matsuo das Kind nicht als Kwan er­kennt—was dann?

GENZO Dann ist sein Urteil gesprochen von ihm selbst. Mit dem Schwerte in der Hand werde ich ihn beobachten — die Blässe des Todes verwischt so manche Unähnlichkeit. Erkennt er ihn nicht — stirbt er im gleichen Augen­blick.

TONANI Und die Mutter des Kindes — wenn sie zur Unzeit käme?

GENZO Weh mir — Weh ihr — Ich müsste In Blut mich baden — Auch sie Sänke dahin vor meinem Schwert Wie der Halm vor der Sichel des Mähers —

Teuflische Taten zu tun Bin ich von Gott bestellt — So will ich denn ein ganzer Teufel sein —

TONANI Das arme Kind — die arme Mutter — Es krampft mein Frauenherz sich wild zu­sammen —

GENZO Verbanne deine Tränen Nach innen — weine in dein Herz. Dein Antlitz muss steinern sein wie meins — Und hart der Wille — Und die Faust Wie Eisen.

TONANI Sie hat das Kind uns anvertraut — wie können wir ihr Vertrauen so schändlich missbrauchen? Sind wir denn Henker?

GENZO Ja, wir sinds, wir sinds — Wir müssen morden, damit Gott am Leben bleibt!

TONANI Welch fürchterlicher Gott!

(Das Haus wird dunkel. Vordergrund hell) (Im Vordergrund Tanz von Masken und Mäd­chen. Der Reigen schlingt sich mehrmals über die Bühne, bis die Kette unter Gelächter reißt und Kotaro und Kwan allein auf der Bühne zurücklässt)

KWAN Es war sehr lustig.

KOTARO Sehr.

KWAN Ich kann kaum atmen, soviel habe ich ge­lacht.

KOTARO Ich habe mich an deiner Freude gefreut.

KWAN Kommst du aus der großen Stadt?

KOTARO Ich komme aus der großen Stadt —

KWAN Aus Tokio?

KOTARO Aus Tokio.

KWAN Erzähle mir von Tokio —

KOTARO Der große Fluss fließt. Er fließt von Nordwesten nach Südosten. Er durchschneidet die Stadt wie ein blitzendes Schwert.

Wer rechts des Flusses wohnt, wohnt im Stadtteil Schmerz. Wer links des Flusses wohnt, wohnt im Stadtteil Wehmut. Dem Fluss entlang läuft eine Hügelkette. Auf sieben Hügeln thronen sieben Tempel. Sind die sieben Tempel: des Schweigens, des Lä­chelns, der Sanftmut, der Freude, der Güte, der Anmut, der Ehrerbietung. Der große Fluss fließt.

Er steigt mit der Flut, und tausend kleine Flüsse, seine Kanäle, steigen mit ihm. Er sinkt mit der Ebbe, und tausend kleine Flüsse sinken mit ihm. Die allerkleinsten trocknen dann ganz aus: braune Kinder tanzen im Schlamm und fischen kleine Fische, Krebse und Seesterne. Tausende rosiger und violetter Quallen verdunsten im Licht. Die Sonne saugt sie zu sich empor. Sie, die Mutter der Qual­len, die selbst wie eine Qualle im Aethermeer schaukelt.

Dort, wo der große Fluss ins Meer einfließt — unmerklich fast sich Süß- und Bitter­wasser mengen — hocken auf morschen ver­faulten Pfählen Kormorane. Wer von der See in die Bucht fährt, sieht riesige blühende Kameliensträucher sich bis zur Baumgröße recken. Bambusröhricht stößt wie mit Speeren in Erde und Luft. Palmen und Bananenbäume werfen gezackten Schatten.

KWAN Das ist Tokio?

KOTARO Das ist Tokio —

KWAN Ich möchte es sehen —

KOTARO Du wirst es sehen —

KWAN Ich glaube nicht —

KOTARO Ja, glauben musst du es schon. Wer zweifelt, hat halb verloren —

KWAN Ich bin so schwach —

KOTARO Ich bin auch nicht stark — aber du wirst stark werden. In Tokio herrscht Shihei — ein böser Tyrann — ein Mörder — du wirst ihn bezwingen –

KWAN Ich? Ein Knabe?

KOTARO Du! Nur du! Du hast ein reines Herz — an dir muss er zuschanden werden —

KWAN Was du für große Worte — und für große Taten wägst.

KOTARO wenn man in zwanzig Jahren einen Eichenhain haben will, muss man heute die Eicheln pflanzen.

KWAN Heute?

KOTARO Noch heute!

KWAN Komm, setzen wir uns hier unter die Kirsch­bäume —

KOTARO Lauter Blüten — es schneit Blüten — wie wenige — werden Früchte tragen —

KWAN Man sagt, je weniger Früchte ein Baum trägt, desto bessere trägt er.

KOTARO Mag sein. Die vielzuvielen Blüten — verwelken.

KWAN Sie bringen gleichsam den wenigen Blüten, die reifen sollen, ein Opfer –

KOTARO Ja, die vielzuvielen tun am besten, sich zu opfern.

KWAN Ob sie sich dieses Opfers bewusst sind?

KOTARO Sie sind sich dieses Opfers bewusst — aber sie bringen es gern.

KWAN Welch ein Opfermut Welche Demut im Ver­zichten — ich glaube, ich könnte nicht ver­zichten — auf dich zum Beispiel —

KOTARO 0 — es lernt sich — das Verzichten — so, wie sich auch das Begehren lernt —

KWAN Könntest du zum Beispiel ein Opfer bringen?

KOTARO Was für ein Opfer?

KWAN Das Opfer deines Lebens.

KOTARO Wenn es sich lohnt — könnte ich das Opfer deines Lebens bringen —

KWAN Wann würde sich ein solches Opfer lohnen?

KOTARO Aus Liebe würde sich ein solches Opfer lohnen

KWAN Aus Liebe wozu?

KOTARO Zum Vaterlande.

KWAN Das ist ein Begriff — ein edler, hoher, strah­lender Begriff — aber ein Begriff —

KOTARO Aus Liebe zur — Gottheit —

KWAN Die Gottheit — das ist ein Symbol — ein leuchtendes, ein strahlendes, aber ein Symbol. Könntest du das Opfer deines Lebens einem Menschen bringen?

KOTARO (senkt den Kopf, schweigt)  

KWAN Könntest du dein Leben einem Menschen zu­liebe opfern?

KOTARO (hebt den Kopf, leise) Ja —

KWAN Wer ist dieser Mensch?

KOTARO   (senkt den Kopf, schweigt) 

KWAN Weißt du seinen Namen nicht?

KOTARO Ich weiß seinen Namen — seinen richtigen Namen —

KWAN Wer ist dieser Mensch — Kotaro, ich bin eifersüchtig auf ihn — dass du ihn so liebst, dass du dein Leben für ihn hingeben willst. Wer ist es?

KOTARO (hebt den Kopf, leise) Du.

KWAN Ich???

KOTARO Du.

KWAN Ja — liebst — du mich — so sehr — dass du —

KOTARO Ja ich liebe dich so sehr —

KWAN ‚umarmt Kotaro, der sich widerstandslos in seine Arme gleiten lässt)  

Kotaro — ich liebe dich — ich liebe — dich — ich danke dir für deine Liebe — für die Liebe deines Her­zens — für die Liebe deiner Seele — ich liebe deine Augen — sie sind wie Monde —

KOTARO Ich liebe deine Augen — sie sind wie Son­nen —

KWAN Ich liebe deine Stirne — sie ist aus Jade —

KOTARO Ich liebe deine Stirne — sie ist aus Diamant —

KWAN Ich liebe deine Hände — sie streicheln so sanft —

KOTARO Ich liebe deine Hände — sie halten so fest —

KWAN Ich liebe deine Wangen —

KOTARO Ich liebe deine Lippen —

KWAN Dich liebt meine Seele —

KOTARO Dich liebt mein Herz —

(Kotaro führt halb unbewusst seine Hände an ihre Brüste) 

KWAN Ich liebe — (erkennend) 

KOTARO — ein Mädchen —

(sinken sich in die Arme) 

KWAN 0 Kirschblütenfest! 0 süßester Tag!

KOTARO Verrate mich nicht, Liebster, verrate mich nicht! Heute ist Maskenfreiheit — laß mir heute meine Maske — die ich um deinetwillen angelegt — was morgen sein wird — wer weiß es — viele Blüten — sind morgen schon verwelkt, zertreten — zerstampft — der rauhe Nordwest — hat sie vom Zweig geweht —

KWAN Warum bist du als Knabe in die Schule ge­kommen?

KOTARO Frage nicht — liebe

KWAN Ich liebe — ich liebe —

Am Abend, wenn ich nach dir seufze, werden meine Ärmel Nass sein von Tränen, am Morgen wird salziger Tau auf allen Wiesen liegen.

KOTARO Ich bin glücklich, aber ich werde mein Glück nicht halten — wie Wasser wird es mir zwi­schen den Händen zerrinnen — wie Südwind verwehen — wie Tageslicht am Abend zer­fließen —

(Der Reigen der Masken tanzt wieder heran und nimmt sie in seine Mitte) 

DIE MASKEN (singen)

Es ist ein Schnee gefallen
Ein rosa Blütenschnee
Wie wird davon uns allen
So wohl

KOTARO So weh —

MASKEN So wohl —

KWAN Wir wollen tanzen, singen,
Solang am Baum die Blüte loht —
Zum Himmel solls uns schwingen

KOTARO Oder in den Tod —

MASKEN Wir wollen tanzen, singen, Solang am Baum die Blüte loht —

(Sie tanzen wieder. In den Reigen mischen sich Bewaffnete, die die Tanzenden zuerst für Masken halten)

KEIKO Sieh mal den Samurai dort — mit dem großen Schwert — der hat sich ein echtes Kostüm angezogen —

WUSA Und der mit der Lanze, der da auf mich zu­geht —• (tippt mit dem Finger an die Lanzen­spitze) Au — die ist ja scharf —

KWAN Was sind denn das für merkwürdige Masken?

KOTABO Soldaten aus Tokio — hast du noch keine gesehen?

KWAN Nein — sind das richtige Soldaten?

KOTARO Richtige Soldaten —

KWAN Das ist aber hübsch, dass sie gekommen sind, mit uns zu tanzen —

KOTARO Ja, sie werden bald sonderbar mit uns um­springen —

KWAN (zu dem Kommandanten) Herr Offizier — meinen Gruß — und den Gruß unseres be­scheidenen Dorfes — wir freuen uns, dass Sie gekommen sind, mit uns am Tage des Kirsch­blütenfestes fröhlich zu sein — und mit uns zu tanzen —

(Die Soldaten rücken mit gefällten Lanzen drohend gegen die Masken und Tänzer)  

GEMBA Im Namen Seiner Exzellenz Matsuo — habe ich den Befehl — die Straßen zu säubern —

KOTARO Aber säubern könnt Ihr sie doch morgen, nach dem Fest, wenn alle Straßen voll zertretener Kirschblüten liegen — warum stört ihr uns in unserer Freude?

GEMBA Das geht dich garnichts an, vorlautes Bürschchen — du gehörst wohl hier zur Schule des Herrn Genzo, wie?

KOTARO Ja —

GEMBA (auf Kwan weisend) Und der da auch?

KOTABO (zögernd) Ja —

GEMBA Was habt ihr hier auf der Straße zu suchen? Fort in die Schule —

(die Soldaten treiben die Schüler, die halb lachend davonlaufen, in die Schule. Dann fasst eine Schar Gewaffneter regungslos draußen an der Schule Posto. In der Schule, die sich wieder öffnet, begibt sich jetzt dies:) 

TONANI Da seid ihr ja, Kinder — habt ihr euch unter­halten?

KEIKO Danke, Frau Tonani, sehr gut —

ONANI Da werdet ihr aber Hunger haben —

WUSA Einen Bären-, einen Tiger-, einen Wolfshun­ger —

GENZO Geht mit Frau Tonani nach hinten — der Festkuchen ist schon gebacken — was zögerst du, Kotaro?

KOTARO Ich habe keinen rechten Hunger —

KWAN Nein — ich auch nicht —

TONANI Kommt nur, Kinder. Wenn ihr den Kuchen seht, wird euch das Wasser schon im Munde zusammenlaufen —

KWAN Haben Sie ihn selbst gebacken?

TONANI Selbst gebacken —

(schiebt die Knaben alle in den Hinterraum, wendet sich an der Tür noch einmal um, fasst sich ans Herz) Genzo, um Buddhas Willen —

GENZO Schweig. Fasse dich. Was geschehen muss — geschieht. Schick Kwan unter irgend einem Vorwand auf sein Zimmer.

(Draußen rechts ist Volk herbeigeströmt, Bauern, Bäuerinnen) 

EINER Was wollt ihr hier vor der Schule? Wollt ihr unsere Söhne zu Soldaten pressen? Sie sind noch zu jung.

EINE So jung ist mein Söhnchen — vierzehn Jahre — noch gar nicht richtig ausgewachsen — noch gar kein fertiger Mensch — kann euch nichts nützen —

GEMBA Ja, nichtsnutzig wird es schon sein — dein Söhnchen —

EINE Erbarmen —

EINER Ich habe nur einen Sohn — einen einzigen Sohn — er soll mein Haus erben —

GEMBA Da erbt er was Rechtes — und deinen blöden Verstand erbt er wohl obendrein —

EINER Ich werde mich bei Seiner Exzellenz dem Herrn Statthalter Matsuo beschweren über euch. Ich habe gute Beziehungen zu ihm. Meiner Schwe­ster Mann hat einen Vetter, der ist mit dem dritten Pastetenbäcker Seiner Exzellenz weit­läufig verwandt — der wird es euch geben —

GEMBA Ja, Pasteten soll er uns nur geben, da werden wir nichts dagegen haben.

EINE Gnade, Gnade für meinen Sohn, Euer Hoch­geboren —

GEMBA Halt deinen Mund, niedriggeborenes Weib­stück — es wird deinem Bankert schon nichts geschehen — heut geht es um ein edleres Wild —

EINER Wenn ein hoher Herr Tiger jagt, gehen immer ein paar Dutzend Kaninchen nebenbei drauf. Die Kaninchen, das werden unsre Söhne sein.

GEMBA Dein Sohn könnte froh sein, wenn er ein Kaninchen war —

EINER Du hast Recht — Kein Mensch sein — das ist schon ein Glück für alle Fälle —

(Matsuo wird in einer Sänfte durch das Spalier der Soldaten herbeigetragen, Gemba treibt das andrängende Volk zurück)  

GEMBA Platz für Seine Exzellenz den Statthalter Herrn Matsuo — Platz, ihr Bauernlümmel —

(Das Volk weicht zurück, Matsuo steigt langsam vom Tragsessel. Langsam schreitet er, auf sein langes Schwert gestützt, die Stufen zur Schule empor. Er bleibt auf der zweiten Stufe ste­hen) 

MATSUO Gemba —

GEMBA Exzellenz —

MATSUO Gemba — was für ein sonderbar süßlicher Duft weht hier — fast wie von Blut

GEMBA Die Kirschen stehen in Blüte, Exzellenz. Es ist heute der Tag des Kirschblütenfestes —

MATSUO So, so — der Tag des Kirschblütenfestes — wie vor zwölf Jahren — ein Freudentag —

FRAU Ein Schmerzenstag — deine Soldaten haben uns die Festtage versalzen —

GEMBA Still, Weib —

MATSUO (hat nicht hingehört) Ja — ja — ich war auch einmal jung — da war auch einmal ein Kirschblütenfest — es ist lange her —

EINER (sich niederwerfend) Exzellenz — was wir auch immer gefehlt haben mögen — wir sind uns keiner Schuld bewusst — lassen Sie unsere Kinder frei!

ALLE Gib uns unsere Kinder!

MATSUO (scharf) Gemba — Du kannst die Knaben noch nicht frei lassen — noch nicht. Ich — muss — meine — Pflicht — erfüllen — vor Gott — und den Menschen. Ich allein kenne den, um den es sich hier handelt —

EINER Den Tiger —

MATSUO Den — jungen Tiger — Er darf mir nicht ent­wischen — Ich will keinen Hasen an seiner Stelle in der Schlinge fangen

(er steht jetzt auf der obersten Stufe an der Tür): Ihr Bauern — ruft Eure Kinder jetzt mit Namen —

ALLE (rufen zusammen) Keiko — Wusa — Kojima –Ason —

MATSUO Langsam — langsam — einer nach dem andern rufe den Namen seines Sohnes. Der Sohn wird dann aus der Schule kommen — hier an mir vorbei — ich werde ihn genau betrachten – ob es der ist, den ich suche —

EINE Keiko, Keiko

(Keiko kommt als erster aus dem hinteren Raum, dann durch das Schulzimmer rechts zur Tür gelaufen) 

MATSUO (drückt ihn nieder, der zittert)   Halt — du heißt?

KEIKO: Keiko — Sohn meiner Mutter —

EINE Mein Sohn —mein Sohn —

MATSUO Bauernschädel — verschwinde —

(Mutter nimmt Keiko jubelnd in Empfang. Beide ab) 

EINER Ason!

TONANI (ruft drinnen weiter) Ason — dein Vater ruft —

(Ason kommt gelaufen, prallt gegen Matsuo)  

ASON Der Teufel — der Teufel — ein böser Dämon

MATSUO Ein Gesicht wie ein Kürbis. Geh — zum Teufel.

(Ason mit Vater, wie oben ab)

EINE Wusa!

T0NAN (wie oben) Wusal Wusa! Wo steckst du? (Wusa von drinnen) Ich will nicht. Meine Mutter will mich nur schlagen, weil ich heute morgen den ganzen Fisch allein aufgegessen habe.

(Tonani zerrt Wusa, den Widerstrebenden, nach draußen und hält ihn vor Matsuo fest)  

EINE Wusa! Mein süßer Wusal Er wird gefoltert — Seht doch — seht doch

GEMBA Rede keinen Unsinn, Höckerin, und hetze mir die Leute nicht auf!

MATSUO Ein längliches, sommersprossiges Gesicht — dazu mit vielen Fisteln. Unreines Blut. Das braune Mal? Nein. Ein Leberfleck. Von Hunden auf der Straße gezugt und geworfen. Geh. -~ Geh ab auf allen Vieren und belle —

WUSA (in seiner Angst auf allen Vieren bellend ab)  

(Matsuo ist jetzt in die Stube getreten)  

MATSUO (zu Tonani) Ruft mir die übrigen jetzt zusammen. Ich will das Verfahren — abkürzen.

(Tonani holt die übrigen außer Kolaro und Kwan. Matsuo betrachtet jeden einzelnen und entlässt ihn dann mit einem Wangenschlag) 

MATSUO Auf Stoppeläckern blühen keine Rosen — der ists nicht — und der nicht — und der nicht —

(die Knaben sind jetzt alle draußen. Gemba schließt die Tür. Matsuo und Genzo stehen ein­ander gegenüber. Die Nebenszene draußen verschwindet)  

MATSUO Genzo — handle jetzt — wie du geschworen — Tu deine Tat. Die Tat, die dich befreit — Und läutert. Die dir die Gnade deines Herr­schers neu gewinnt. In meiner Gegenwart hast du dem Knaben Szuhai Mit einem Schlag den Kopf herabzuschlagen Und mir den Kopf als Unterpfand zu über­geben —Dass der Gerechtigkeit genug getan —

GENZO Gerechtigkeit! Ich hab genug getan, Wenn ich es tu, dass ich die Hure Gerechtigkeit nicht noch notzüchtigen will.

MATSUO sprecht, was Ihr wollt. Doch handelt, wie Ihr müsst.

GENZO Geduld, Geduld! Nur eine kleine Weile, Die nicht zu Langerweil Euch werden soll — Vielmehr zur Kurzweil — Ja, fast deucht es mich Ich müsst zuvor zu Euren Ehren tanzen Den Schwertertanz, den Tanz des Samurais.

(Er zieht sein Schwert und tanzt in gemesse­nen Bewegungen vor ihm. Zuletzt schwingt „r sein Schwert mit beiden Händen, als wollte er Matsuo den Kopf abschlagen — und hält plötzlich inne. Matsuo saß unbeweglich)

ENZO Ihr habt viel Mut.

ATSUO ich bin nur alt.

ENZO Das Schwert ist neu geschärft.

MATSUO Für ihn? Bravo, Ihr seid ein treuer Knecht.

GENZO Seid Ihr ein Mensch?

MATSUO Gewesen, Freund, gewesen —

GENZO Ich gehe jetzt — und bringe Euch den Kopf

MATSUO Halt, einen Augenblick — für ihn und mich. Es wäre zwecklos List und Hinterlist. Von — beispielsweise — Flucht kann keine Rede sein. Und keine Tat. Das Haus ist rings umstellt.

GENZO Ich — weiß.

MATSUO Und ich erinnere nur daran. Ich kenne auch des Knaben Kopf zu gut — Den braunen Stern auf adeliger Stirn — Wie ich so gut den Kopf des Vaters kannte — Dass einen — falschen Kopf ich auf der Stelle Erkennen würde — und für einen falschen Kopf fiele sofort dein echter Kopf, Freund Genzo.

GENZO (mit Mühe an sich haltend) Ich werde Euch des königlichen Knaben Kopf so dicht vor Eure unterlaufenen Augen legen, Dass selbst ein Blinder ihn erkennen musste.

MATSUO Genug der Worte! Handle! Rede nicht!

(Genzo ab. Tonani und Gemba sind die ganze Zeit regungslos im Hintergrund gesessen. To­nani lauscht furchtsam nach hinten. Matsuo setzt sich, sieht sich um und zählt die Schreib­tische)

Hanami am Kamogawa in Kyōto CC BY-SA 3.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=102031

MATSUO Seltsam —

TONANI (ängstlich) Wie —

MATSUO Unerklärlich —

TONANI Wie — bitte —

MATSUO Hm. Sonderbar.

TONANI Exzellenz reden so geheimnisvoll —

MATSUO Dieses Zimmer — scheint mir geheimnisvoll — voller Geheimnisse.

TONANI Ich habe noch nichts Geheimnisvolles an ihm bemerkt. Es ist ein einfaches schmuckloses Schulzimmer —

MATSUO Schmucklos, ja. Zum Beispiel fehlt an der Wand das Bildnis Seiner Erhabenheit des jetzigen Herrschers, wie es sonst in allen Schulen zu hängen pflegt. Woher kommt das?

TONANI Ich — weiß — nicht — Exzellenz. Vielleicht ein Versehen, Exzellenz.

MATSUO Ich werde darüber an die vorgesetzte Schul­behörde berichten lassen. Notieren, Gemba.

GEMBA Sehr wohl, Exzellenz.

MATSUO Und dann — fällt mir noch einiges an dem Zimmer auf — die Zahl der Schüler, die ich laufen ließ, betrug

GEMBA Sechs, Exzellenz.

MATSUO Sechs. Sehr wohl. Hier sind aber acht kleine Tische. Einer gehört dem, dessen Namen ich nicht nennen will und dessen Name ausge­löscht sein soll wie er selbst. Wem aber ge­hört der achte Tisch? (Zeigt auf Kotaros Tisch.) Die Knaben pflegen sich ihre Tische immer selbst in die Schule mitzubringen.

TONANI (verwirrt) Der gehört — der gehört — einem neuen Schüler —• was sage ich, wir haben hier gar keinen neuen Schüler. Euer Exzellenz Gegenwart verwirrt mich so sehr, dass ich zu schwätzen beginne. Verzeihen Exzellenz — es ist ein überflüssiges Tischchen — sozusagen‘ ein Ersatztisch, wenn —

MATSUO Schon gut. Ich glaube es — aber Genzo täte gut, sich zu beeilen. Meine Zeit drängt — (wie für sich) Ich bin alt — und müde —

(Hinter der Szene ertönt der dumpfe Fall eines Körpers. Tonani erbebt. Ebenfalls Mat­suo, der aufgestanden ist. Er schwankt, stützt sich, steht wieder. Tonani macht Miene, nach hinten zu laufen, hat aber nicht die Kraft. Die Tür öffnet sich, herein tritt Genzo, in der Hand eine Holzschachtel, die er vor Matsuo hinstellt. Es herrscht Totenstille) 

GENZO Eurem Befehl — ist Genüge getan. Hier — Kwans Kopf. Seht ihn Euch an, Matsuo, seht ihn an Genau — und prüft, ob es der richtige sei —

(bleibt stehen und betrachtet Matsuo, auf sein Schwert gestützt) 

MATSUO Gemba!

GEMBA Exzellenz?

MATSUO Soldaten!

GEMBA (geht an die Außentür, ruft hinaus) Zehn Mann ins Haus

(Zehn Bewaffnete treten ein) 

MATSUO Dorthin! Dort hinter Genzo und die Frau da! Und aufgepasst! Bei dem geringsten Flucht­versuch Stecht Ihr sie nieder —

(Matsuo rückt die Holzschachtel zu sich heran, öffnet mit geschlossenen Augen den Deckel, öffnet dann langsam die Augen. Sieht unbe­weglich den Kopf an, berührt ihn leise mit zitternden Fingern. Über sein Gesicht fahren dahin: Entsetzen, Bitterkeit, tiefster Schmerz, Dokumente eines mörderischen inneren Kamp­fes. Schließlich beruhigt sich sein Gesicht. Alles verharrt in furchtsamer und furchtbarer Erwartung)

MATSUO (nach einer Weile) Ja — kein Zweifel — der abgeschlagene Kopf — ist der Kopf von — Kwan.

(Matsuo setzt den Deckel wieder auf. Genzo und Tonani werfen sich verständnis­volle Blicke zu und atmen erleichtert auf)  

GEMBA Wacker gehalten, Genzo, wacker, wacker! Exzellenz wird Euch zu einem hohen, sagen wir mittleren Orden vorschlagen. Zum Orden der Perlhahnfeder. Ihr habt Euch aus der Patsche gezogen, in der Ihr ziemlich tief drinsaßt. Der Tod war Euch so sicher wie einer Jungfrau das Kind — denn Seine Ex­zellenz und Seine Herrlichkeit waren außer sich, als sie erfuhren, dass Ihr den Sohn des Mikado, den Sohn unseres Erzfeindes, heim­lich in Eurer Schule verbargt. Nun — jetzt ist alles gut. Erledigt. Ihr habt gesühnt. Euch sei vergeben, (zu Matsuo) Ich eile, Ex­zellenz, Seiner Erhabenheit die frohe Nach­richt, die freudige Botschaft vom Ableben des Mikadosohnes zu überbringen. Er wird den Boten nicht ohne gebührenden Lohn entlassen.

MATSUO Höre, Gemba — überbringe ihm nicht nur die Botschaft — überbringe ihm auch gleich das Zeichen der vollbrachten Tat: den Kopf. Ich bin schwach — alt — müde. Das Beisen in der Sänfte wird mir schon beschwerlich. Sagt auch gleich Seiner Erhabenheit, dass ich ihn bitte, künftig auf meinen Dienst zu verzichten. Er versprach mir, nach diesem letzten Dienst mich zu entlassen. Ich bin zu alt ge­worden und tauge zu solchem Handwerk nicht mehr. Lebt wohl —

(geht ab, sich mit Mühe auf sein Schwert stützend, ihm folgt)  

GEMBA Seine Erhabenheit wird untröstlich sein — Ex­zellenz sollten wirklich mehr auf Ihre Ge­sundheit achten — sich vielleicht ganz aufs Land zurückziehen — ich empfehle mich — und folge Eurem Befehl.

(Nimmt die Holz­schachtel, geht mit den Soldaten ab) (Genzo und Tonani bleiben wie erstarrt zurück und sehen den Abgesandten nach. Tonani fällt zu Boden und beugt sich wie in einem heißen Gebet immer wieder schweigend zur Erde)  

GENZO (steht da, die Hände hoch erhoben) Dank Buddha dir! Und Dank den hundert Göttern, Den kleineren, die alle im Verein den Blick des fürchterlichen Dämon trübten, Ihm Schleier um die alten Augen hingen, Mit Blindheit seine böse Seele schlugen, dass er den Kopf des Toten nicht erkannt! Tonani, freue dich, sei herzensfroh: Der Gottessohn, der Sprosse des Mikado: Er lebt! Er lebt!Er lebt! Er lebt! Kwan — lebt!

TONANI Kotaro starb — um eines Höhern willen —

GENZO Er starb, auf dass Kwans Sendung sich erfülle Ein Menschenkind starb für ein Gotteskind — Preis sei dem Buddha! Ehrfurcht vor dem Opfer,

Wenn es auch unbewusst geschah —

(Es klopft an die Tür. Erst leise, dann heftiger. Genzo und Tonani fahren erschreckt zusam­men) 

TONANI Hast du zugeschlossen?

GENZO Die Tür ist verschlossen.

TONANI Um aller Götter willen — wer ists — kehrt der fürchterliche Dämon zurück — uns dennoch zu vernichten —

GENZO Ich rette Kwan — oder ich sterbe.

CHIYO (draußen) Öffnet! öffnen Sie doch bitte! Ich bin Kotaros, des neuen Schülers Mutter —

TONANI Es ist des Toten Mutter! Wir sind verloren! Was willst du ihr sagen?

CHIYO öffnet! So öffnet doch! (klopft stärker)  

GENZO (entschlossen) Still . . was begonnen wurde, muss zu Ende geführt werden — Es steht zu viel auf dem Spiel. Es sei!

(öffnet die Tür und lässt Chiyo eintreten)  

CHIYO Herr Genzo — ich brachte heute mein Kind zu Ihnen in die Schule — wo ist es? Hoffentlich-führt es sich gut auf und fällt Ihnen nicht beschwerlich?

GENZO Gewiss nicht — gewiss nicht — der Knabe ist —

TONANI Der Knabe ist im Nebenzimmer

GENZO Ja — der Knabe ist im Nebenzimmer und spielt dort mit seinen Schulkameraden — Sie wollen ihn sehen?

CHIYO Ja — das will ich — so gern will ich ihn sehen —•

GENZO Dann, bitte, treten Sie ein —

(Chiyo dreht sich zur Hintertür. Genzo hebt sein Schwert und will ihr einen Hieb ver­setzen — in diesem Moment wendet sich Chiyo um. Erschreckt sucht sie hinter den Schreib­tischen Zuflucht, nimmt Kotaros Tisch, auf dem das „Geschenk an den Lehrer“ liegt und versucht, sich so gegen den zweiten Hieb zu wehren) 

CHIYO Um der Götter willen — halten Sie ein  Er­barmen

GENZO Wer hat Erbarmen mit mir? Wer nahm mir die Last des Töten-müssens ab? Ich musste es allein tun — ich ganz allein — mit meinem Gewissen. Tod auch Euch!

(unter seinem Schlag zerspringt Kotaros Tisch und ein weißes Hemd, Papierstreifen mit Ge­beten beschrieben, ein Leichentuch, eine kleine Puppe fallen heraus) 

GENZO (erstaunt, lässt das Schwert sinken) Was be­deutet das? Ein Leichentuch? Totengebete? Ein Aufbahrungshemd?

TONANI Eine Puppe? Eine Puppe?

CHIYO (fällt in die Knie, weinend) Herr Genzo, sagen Sie, ob denn mein Kind des Opfertodes starb —

GENZO — des Opfertodes?

CHIYO Des Opfertodes starb für Japans Zukunft, Für seinen jungen Herrscher Kwan Szühai. Wie — oder lebt sie noch?

GENZO Wer — sie?

CHIYO mein liebes Mädchen — Kotaro — war kein Knabe — war Komachi Meine Tochter —

TONANI Tochter?

GENZO Eure Tochter — und sie starb Vorsätzlich — wissentlich — den Opfertod?

TONANI Den Opfertod?

CHIYO So ists.

GENZO Ihr habt sie wissentlich

CHIYO Buddha geopfert

GENZO Und sie?

CHIYO Freiwillig ging sie in den Tod. Und nahm sich selbst die Leichenkleider mit Sowie die Lieblingspuppe — denn so klug sie war und ernst und ihrem Alter weit voraus, Sie spielte noch mit Puppen — wie das Schicksal Mit ihr und uns gespielt.

GENZO Entsetzlich, Weib. Wir waren nur Figuren, die ein Gott Ein Dämon nach Belieben hier und dorthin schob. Jedoch das braune Mal auf ihrer Stirn, dass sie dem Knaben Kwan so ähnlich machte?

CHIYO Hat sorgsam sie sich selbst vorm Spiegel Mit brauner Tusche auf die Stirn gemalt.

GENZO Frau, ich begreif Euch nicht. Wer seid denn Ihr Und wer ist Euer Mann?

(Es klopft. Matsuo tritt sofort ein, schließt die Tür und setzt sich nieder) 

ATSUO Ich bins — Sei stolz, du treue, du getreue Frau, dein einziges Kind starb einen heiligen Tod.

(Chiyo sinkt weinend nieder) (zu Genzo) Verzeiht, wenn sich ihr weibliches Gefühl In allzu heftiger Erregung äußert Und so die Bahn der Schicklichkeit verlässt —

GENZO (verwundert, bewegt) Noch Fass ichs nicht, noch weiß ich nicht, was Wahrheit, Was Wirklichkeit, was Ahnung oder Träume — Chiyo ist Euer Weib, Kotaro Eure Tochter? Seid Ihr, Matsuo, des Shihei Vasall, Gleichwohl nicht unser Feind? So glühen die Gefühle, die Euch einst An den erhabenen Mikado banden,

Noch unversehrt in Eurer Brust? Und klaren Sinnes opfertet Ihr Euer Kind,

Den Gottessohn vor dem Tyrann zu retten?

MATSUO – 0 unglückseliges Geschick, das mich Zum Hüter dessen machte, den ich hasste, Zum Feinde dessen, der mein Heiligtum. 0 viel erlitt ich. Und mein Haar ward weiß, Und meine Knie zittern vor der Zeit. Ich rang mit mir wie rauhe Binger ringen — Im Hahnenkampf zerfleischte ich mein Herz — Was muss in früherer Gestalt, im vorigen Leben Ich Schreckliches verschuldet haben, dass so schwer Mich das Geschick bestrafte. Eines Tages Vernahm ich, dass man das Geheimnis, dass Ihr treu So viele Jahre hier gehegt, enthüllt. Shihei erfuhr, dass Ihr den Knaben Kwan, Die Hoffnung Japans, heimlich hier erzogt. Shihei befahl mir, gleich zu Euch zu eilen, Den Knaben Kwan zu fangen und zu töten, Bevor Ihr selbst von anderen gewarnt. Und zum Beweise des vollzogenen Urteils — Denn ohne Zeugnis, das man greifen kann, Glaubt der Tyrann dem eignen Bruder nicht — Sollt ich den Kopf des Knaben zu ihm schicken,. Es war der letzte Dienst, den er erbäte, Vollzog ich ihn, so ließe er mich frei. Ich trug seit jenem grauen Jahr, Da ich den Herrn, den ich mir einst erwählt, Um Ruhm und Gut und Kanzleramt verriet — Ich trug in meinem Herzen eine Natter, Die mich von innen ganz und gar zerfraß. Ich wüsste, sie würde eher Ruh nicht geben Bis der Verrat gesühnt, die Schmach getilgt, Die ich auf meinen edlen Namen häufte. Ich wusste, dass Ihr alles würdet wagen, Um Kwan zu schützen; — da die Flucht verstellt, So konnte nur ein andrer Kopf ihn retten. Ich spielte meine Tochter Euch ins Haus, Wohlwissend, dass des Todes rote Blume Ihr blühen würde — und sie selber wüsst es. Sie selber war bereit, für mich zu sterben, Für meine Schuld, die ja des Hauses Schuld — Und für den jungen Prinzen, den sie liebte Als den von Buddha uns erkornen Herrn. So bracht Chiyo, mein treues, tapfres Weib Die Tochter Euch als Schüler in das Haus.

TONANI Ein Mutteropfer — stolz und riesengroß, Dass es nur Himmlische begreifen können.

MATSUO Als ich ins Haus kam und das Tischchen sah, Das selbst ich für Komachi hergerichtet — Da wusste ich, ’s ging alles seinen Lauf Und Gott nahm unser aller Opfer an — 0 Tochter! Kind! Du sühntest meine Schuld Und gabst mir die verlorne Ehre wieder.

GENZO Und Japan des Mikados edlen Sohn.

CHIYO 0 lässt noch einmal mich mein totes Kind sehn, Und einen letzten Kuss auf seine Hände drücken.

(wirft sich weinend zur Erde)  

TONANI Unseliges Mutterherz, du hast gelitten Wie nie auf Erden eine Frau. Mein Herz Es ist zerrissen wie das deine Um so viel Leid. Sie ist mir fremd gewesen, Eure Tochter, Doch traure ich um sie wie um ein eignes Kind —

MATSUO Beherrsche dich, Chiyo, und mindre nicht Das Opfer durch die Leichtigkeit der Klage —

CHIYO Verzeiht —

MATSUO Sie wusste, Genzo, was ihr drohte, als Sie heute Morgen in die Schule ging — Ich sagt ihrs selbst, sie ging erhobnen Hauptes. Wie starb sie, Genzo?

GENZO Wie ein Held. Sie sah dem Tode offen ins Gesicht. Als ich ihr drohte, dass sie sterben musste, Entblößte lächelnd sie den Hals, als war Ein Henker ich — und ach, mit Schmerzen nur, mit Ekel vor mir selbst tat ich den Streich Und litt um meine Henkersarbeit Qualen. Ich musste töten — niemand nahm mirs ab. Ich werde bis ans Ende meiner Tage Das Lächeln nicht vergessen, als sie starb.

MATSUO 0 tapfres Kind! 0 meiner Seele Seele! Verzeiht!

(Er schluchzt, alle weinen mit ihm. Herein stürzt Kwan, den in weiße Tücher gehüllten Leichnam Komachis auf den Armen)  

KWAN Ich war in meinem Zimmer, las im Buch Der sieben Siegel, als ich einen Schrei Und einen Fall vernahm. 0, was geschah, dass man das Liebste mir, Was ich auf Erden hatte, scheußlich mordete Mit einem Hieb das Haupt vom Rumpfe trennte —

GENZO Um dich — um dich geschah es — und um Gott — Du bist die Waise nicht — wie du geglaubt — Du bist des toten Kaisers einziger Sohn, Den ich vor dem Tyrannen hielt verborgen, Dass er dich nicht wie deinen Vater morde — (Kwan steht ganz betroffen) Doch kam er hinter meine List — und sandte Mir Schergen, die mich zwingen sollten, dich Japans rechtmäßigen Herrscher — zu ermorden. Er forderte als Zeichen des vollzogenen _ Gerichtes deinen Kopf — da opferte Die, die hier liegt, sich für uns alle auf. Sie gab für dich den Kopf —für uns das Leben.

Die schönste Kirschenblüte brach der Tod.

MATSUO Es sei das letzte Kirschenblütenfest, an dem die Blüten edles Blut befleckt; Tyrannenmacht kann nicht bestehn. Es bringt ein Mädchenherz den stärksten Thron zum Schwanken. Komachi starb, doch tausend ihresgleichen Sie leben unerkannt im Lande, bald Wird Japans Jugend gottgeweihte Tat Aus Dämmrung in das Sterngefunkel reißen. Du, Kwan, fliehst heute noch mit Genzo über Die Grenze — eh ein volles Jahr verging, Wird ein Mikado über Japan herrschen. Gedenke derer dann, die dich gerettet, Ein Mädchen mit dem Herzen einer Löwin, Und sei bereit, wie sie für einen Höhern, Für Japans Wohl das Leben hinzugeben. Und lächle, lächle, wenn du stirbst — wie sie.

KWAN Komachi starb. Nicht eine ihresgleichen Wird man im ganzen Erdenrunde finden. Ich habe sie geliebt.

MATSUO Sie liebte dich, Und liebte mehr als dich — sie liebte Buddha, Den Gottessohn in dir, den wir verehren, vor dem wir zärtlich unsre Knie beugen

(alle brechen ins Knie)  

KWAN Steht auf, ich bitte euch — beschämt mich nicht, Ich bin nicht wert auch nur der kleinsten Krone. Ich war ein Jüngling, wurde heut zum Mann, Und handeln will ich, wie’s dem Manne ziemt — (zur Leiche am Boden)

Du bist die Herrin! bist die Herrschaft! Du bist das Reich! der Reichtum du! Du bist das Licht! du bist der Leuchter! (hebt die Hand mit den fünf Fingern) Du bist die Treue, Wahrheit, Güte, Gerechtigkeit! Der Friede du, Der ewige Friede und die ewige Ruh! (alle heben die rechte Hand mit den gespreiz­ten fünf Fingern) Ich heiß‘ das Opfer, das Ihr alle mir In diesem Kind gebracht, nicht gut noch gütig: Es stürzt mich in das Grab der tiefsten Qual. Die, die hier liegt, ich habe sie geliebt — Sie hat sich mir als Mädchen offenbart, Als Heldin und Geliebte. Soll ein Mann, Soll der Geliebte ihr an Mut und Demut, An Opfermut zurückstehn? Nein, ich will Ihr folgen auf dem Weg, den sie gegangen. Nun bist du tot. Das Leben schwand so leicht Wie Rauch und Duft. Doch werden in den Lüften Sich unsre Seelen stürmisch bald vereinen. Komm, Drache Tod, und fahr mit mir dahin!

(er stößt sich ein Messer ins Herz und fällt über die Leiche Komachis)

MATSUO Zu spät — all unser Opfer war umsonst —

GENZO Kein   Opfer ist umsonst,   das sühnt und läutert. Wer keine Tat tut, der hat kein Gewissen. Aus ihren toten Leibern flammt die Fackel Der Liebe in des Daseins Finsternis. Der Liebe und der Klarheit — unauslösch­lich.

Wir haben mit Prinzipien, mit Symbolen, Mit Paragraphen, Ethik und Sentenzen Das Hirn und dann die Tat umnebelt: hier, Hier starb ein Mensch, weil er den andern Menschen nicht sterben sehen konnte, den er liebte. Sein Opfer hat uns alle tief beschämt, Es ist das Opfer, das die Liebe brachte, i Sein Opfer war das menschlichste, indes Wir Menschenopfer brachten.

MATSUO Ach, es bleibt Uns nur die Pflicht, die Toten zu bestatten, Es wird der Sarg ihr heiliges Brautbett sein.

(Matsuo und Genzo heben die beiden Leichen stark auf ihre Schultern, sie schreiten nach rechts ab, gefolgt von Tonani und Chiyo, die von Chiyo mitgebrachte weiße Totengewänder überwerfen. Hintere Bühne dunkel) 

(Die drei Greise haben inzwischen im Vorder­grund ein Grab gegraben. Das Haus im Hinter­grund ist verschwunden. Man sieht nur noch den Fushijama und die Kirschbäume) 

DER ERSTE Einen Blick nur haben wir in das Auge des Gottessohnes getan, ehe es erlosch.

DEB ZWEITE Ein Lächeln nur von Gottes Tochter emp­fangen, da ihr Antlitz schon erstarrt war.

DER DRITTE Genug für unser Leben.

DER ERSTE Genug für unsern Tod —

DIE DREI Wir danken dir — wir danken dir, Buddha —

DER DRITTE Für deinen Gruß!

DER ZWEITE Für deinen Anblick!

DER ERSTE Für deine Gnade!

DER ZWEITE Was göttlich ist, besteht nicht auf der Erde —

DER ERSTE Wir Menschen selber graben ihm das Grab —

(Von allen Seiten kommen Menschen und werfen Kirschblütenäste in das Grab; schließlich erhebt sich ein Hügel von Kirschblüten über dem Grab.)  

DER ERSTE GREIS Lasst uns den Bon-odori, den Tanz des Todes tanzen. Gebt eure Hand, dass eine Kette wir Des gegenseitigen Vertrauens bilden, Gemeinschaft, die den Geist der Liebe hegt Und Liebe in Gemeinschaft mit dem Geiste.

(Musik. Flöte, Laute, Tamburin, Trommel beginnen zu tönen: die Menschen tanzen um das Grab den Tanz des Todes, es werden ihrer immer weniger — schließlich ist alles ver­schwunden. Es ist ganz dunkel geworden. Der Mond steigt herauf. Weiß leuchtet der Fushi-jama. Gong und Flötentöne von den Tempeln. Stille. Plötzlich beginnt der Kirschblütenhügel sich wie ein Maulwurfhügel zu regen — und die Geister von Kwan und Kotaro steigen herauf aus dem Grab)  

KOTARO Komm, komm, Liebster —

KWAN Ich komme, Geliebte — 

KOTARO Ich schwebe wie ein Vogel — ich fühle keiner­lei Schwere mehr —

KWAN Ich habe meinen Leib verloren — und dich gewonnen -—

KOTARO Sieh den Mond — den Mond — binde ihn an einen Kirschblütenzweig! Welch herrlicher Fächer!

KWAN Fliegt dort nicht eine Blüte zum Baume zurück?

KOTARO Es ist ein Nachtfalter —

KWAN Nun können wir uns lieben — eine Ewigkeit — wir können nicht mehr sterben —

KOTARO Wir sind tot — und doch lebendiger, als da wir lebten —

KWAN 0 keine Furcht zu haben, dass das Gefühl der Geliebten schwinde —

KOTARO Die Liebe, das ist die Ewigkeit — die Ewig­keit — das ist die Liebe-

KWAN Lohnt nicht ein jedes Opfer sich um diesen Preis?

KOTARO Ich würde siebenmalsiebenmalsieben sterben wollen, um einmal eine Sekunde so zu sein! Tausend Tode für eine Sekunde Ewigkeit!

KWAN Für einen Hauch deines Mundes!

KOTARO Für einen Schlag deines Herzens!

KWAN Sie haben um uns den Tanz des Todes ge­tanzt —

KOTARO Komm — wir wollen zusammen im Mond den Tanz des Lebens tanzen — des ewigen Lebens — der ewigen Liebe — der Unvergänglichkeit zweier liebender Herzen — komm — wir wollen auf den “ Mondstrahlen tanzen — geradewegs in Gottes leuchtendes Herz hinein —

(sie entschweben in den Mondstrahlen aufwärts)  

(Von den Tempeln tönt Gesang)  

Fushijama
Glanzfeuer
Berg des heiigen Schimmers
Menschen und Monde
Tage und Träume
Taten und Opfer
Wechseln beständig
Gehen dahin
Du nur dauerst
Funkelnder Felsen
Blitzende Wahrheit
Glühender Stein!

© Hartmut Deckert – geschrieben nach Klabund